sommer 2017/420 graswurzelrevolution 17
Feminismus,  Selbstverwaltung und  Basisorganisierung  im kurdischen  Rojava. Ein  Interview mit  der  den  kurdischen  Publizisten  Ercan   Ayboğa.  Ercan Ayboğa lebt in Deutschland und ist seit Jahren aktiv in der Solidarität mit der kurdischen Bewegung. Er hat dazu in verschiedenen Zeitungen publiziert und Bücher zum Thema veröffentlicht. Mit ihn sprach für die Graswurzelrevolution Peter Nowak. (GWR-Red.)
GWR: Sie haben Ende April auf  der  von  außerparlamentarischen Linken organsierten Konferenz zur Basisorganisierung, Gegenmacht und Autonomie in Berlin auf mehreren Podien  über  die  aktuelle  Situation  in  Rojava  diskutiert. Wo sehen Sie da Zusammenhänge?
Ercan  Ayboğa:  In  Rojava  organisiert  sich  die  Gesellschaft weitgehend  selber.  Nach  der Befreiung vom IS hätte die PYD [Partei  der  Demokratischen Union, eine kurdische Partei in Syrien  und  Mitglied  der  syrischen  Oppositionsgruppe  Nationales  Koordinationskomitee für  Demokratischen  Wandel] als  entscheidende  Kraft  beim Kampf  gegen  die  IslamistInnen  entscheiden  können,  ihre Parteistrukturen auf die gesamte Gesellschaft auszuweiten. Doch sie  hat  sich  zurückgezogen, damit  sich  die  Gesellschaft  in Räten, Kommunen, Akademien und Kooperativen selber organisieren kann.
Können Sie ein konkretes Beispiel  für  diese  Selbstverwaltungsstrukturen nennen?
Es wurden Räte für Gesundheit aufgebaut,  an  denen  fast  alle, die  in  diesem  Sektor  beteiligt sind,  zusammenarbeiten.  Das sind Ärztinnen und Ärzte, ApothekerInnen  und  Pflegekräfte. Da  wird  niemand  instrumentalisiert.  Ähnlich  verlief  es  mit JuristInnen.  Die  Idee  ist  klar, alle gesellschaftlichen AkteurInnen sollen kooperieren und eine neue Gesellschaft aufbauen.
Welche Rolle spielen die Frauen dabei?
Die  Selbstorganisierung  der Frauen ist ein zentraler Bestandteil  des  Selbstverwaltungsprojekts. Es existiert in jeder Kommune, Rat und Kooperative ein Frauenkomitee,  das  nur  von Frauen gewählt wird. Sie alleine wählen die weibliche Ko-Vorsitzende,  dürfen  den  männlichen mitwählen. So bilden die Frauen eigene Strukturen und organisieren sich selbstständig. Auf dieser  Grundlage  können  sie Einfluss  auf  die  Räte  nehmen, um eine Politik im Interesse der Frauen durchzusetzen.
Die  PYD  hat  sich  aber  als Partei nicht aufgelöst. Welche Rolle spielt Sie?
Sie hat keine avantgardistische Rolle, weil sie sich entschieden hat,  dass  sich  die  Gesellschaft durch Räte selber regieren soll. Sie versteht sich als eine ideologisch  arbeitende  Struktur  im gesamten System.
Aber kann es nicht, wie schon häufig  in  der  Geschichte,  zu Konflikten  zwischen  den  Räten  und  der  Partei  kommen, wenn es politische Differenzen gibt? 
Die Selbstverwaltung durch die Räte steht im Einklang mit der Programmatik der PYD. Sie hat diese  Selbstverwaltung  durch ihren  Kampf  möglich  gemacht und so für die Räte das Terrain eröffnet. Sie hat wegen ihrer historischen Rolle bei der Befreiung vom IS eine wichtige Rolle als Ideengeber. Die PYD ist ein kleiner  Teil  des  Rätesystems, welches viele weitere Dynamiken haben, die Tendenzen von PYD‘lern  genau  beobachten. Lokale  Auseinandersetzungen kommen selten vor, sind insgesamt unbedeutend.
Gibt es neben PYD noch andere Parteien?
Es gibt fünf weitere Parteien im Rätesystem, die mitmachen. Dabei ist sowohl die kommunistische als auch die liberale Partei von Rojava. Alle Parteien sind gleichermaßen ab den mittleren Stufen im Rätesystem vertreten. Doch  diese  fünf  Parteien  sind eher passiv, die Initiativen kommen meistens von der PYD.
Die Selbstverwaltung setzt ein hohes  Maß  an  Engagement aller  Menschen  voraus.  Gibt es  da  nicht  auch  Probleme, dass manche Menschen dieses Engagement gar nicht immer aufbringen wollen?
Das ist in der Tat ein großes Problem.  Es  gibt  Kommunen  und Räte,  an  denen  beteiligen  sich sehr viele Menschen, in anderen Sektoren gibt es Probleme, Leute zu finden, die sich engagieren. Sie wollen lieber, dass jemand verantwortlich  ist.  Die  Partei oder  der  Rat  sollen  es  regeln. Es liegt dann an den Aktiven in den  Räten,  Vorschläge  zu  machen und die Menschen immer wieder  zu  motivieren,  sich  zu engagieren. Dabei spielt die Bildungsarbeit eine zentrale Rolle. Die  Menschen  lernen  so,  dass das eigene Engagement wichtig ist, für die Veränderungen in ihren Alltag.
Wie steht es mit der Selbstorganisierung der Menschen am Arbeitsplatz in Rojava?
Fabrikräte gibt es nicht, weil es keine große industrielle Produktion  gibt.  Es  gibt  aber  immer mehr Komitees der arbeitenden Menschen  bei TaxifahrerInnen, in Autowerkstätten  und  in  der Verwaltung,  die  in  einer  übergeordneten  Struktur  zusammen kommen. Daneben gibt es immer mehr Kooperativen, wo die Mitglieder kommunal entscheiden.
Ist  es  nicht  ein Widerspruch zu  den  Rätestrukturen,  dass die Rolle des PKK-Vorsitzenden Öcalan sehr groß ist?
Tatsächlich ist Öcalan in Rojava überall präsent, was keine Verordnung  ist,  sondern  von  den Menschen  selbst  kommt.  Das liegt auch daran, dass er bereits in den frühen 1980er Jahren, bevor die PKK in Nordkurdistan ihren  bewaffneten  Kampf  begann, in Rojava Versammlungen abgehalten  und  Tausende  für den  Kampf  in  Nord-Kurdistan gewonnen hat. Heute ist es das von Öcalan entwickelte Projekt des demokratischen Konföderalismus, das in Rojava umgesetzt wird.
Die  Perspektive  der  Region wird auch von vielen anderen Mächten, wie der Türkei, den USA  und  Syrien,  abhängen. Ist damit die Selbstverwaltung nicht massiv eingeschränkt?
In Rojava macht sich niemand Illusionen, dass alle diese Mächte  das  Projekt  der  Selbstverwaltung vernichten wollen. Die einzige  Chance  ist  daher,  die momentanen Widersprüche zwischen diesen Ländern zu nutzen und so stark zu werden, dass es schwer  wird,  Rojava  anzugreifen. Im Idealfall gelingt es uns, dass sich das Modell der Selbstverwaltung ausbreitet. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit.
aus:   sommer 2017/420  graswurzelrevolution   
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Interview: Peter Nowak.