Wolfgang Hien, Herbert Obenland, Peter Birke, Das andere 1968 - Von der Lehrlingsbewegung zu den Auseinandersetzungen im Speyer-Kolleg 1968-72, 260 Seiten / ISBN 978-3-9823317-3-7, Die Buchmacher,

Die Verbindung von Arbeitskämpfen und Umweltbewegung ist notwendig

Es ist ungesund, unter kapitalistischen Bedingungen zu arbeiten - das gilt besonders für körperliche Tätigkeiten. Der Arbeitswissenschaftler Wolfgang Hien berichtet über die Gründung der Arbeitergesundheitsbewegung im Zuge von '68 und zieht Parallelen zur Pandemiesituation


„Das andere 1968″ lautet der Titel eines Interviewbandes, den Sie mit herausgegeben haben. Was war bei Ihnen 1968 anders?

… Wir kamen aus der Lehrlingsbewegung, Herbert und ich hatten eine Ausbildung zum Chemielaboranten in der BASF Ludwigshafen gemacht und dann noch einige Zeit in der Fabrik gearbeitet, bis wir uns dann entschlossen, am Speyer-Kolleg das Abitur nachzumachen. Das war eine besondere Zeit. Nicht nur an den Universitäten passierte etwas, sondern auch in den Betrieben, da gärte es, was sich dann auch in den Septemberstreiks 1969 und der Welle der spontanen Streiks 1973 zeigte. Und es waren eben nicht nur Lohnforderungen, sondern es gab auch da Ideen eines anderen Lebens, die Sehnsucht nach Freiheit und auch die Sehnsucht nach mehr Wissen, wenn man so will, ganz klassisch die Sehnsucht nach Bildung und Aufklärung. 

Die Auseinandersetzungen am Speyer-Kolleg stehen im Mittelpunkt des Buches. Was war das Besondere an dieser Schulform? 

Hier sollten jungen Menschen, die aus der Arbeitswelt kamen, eine sogenannte höhere Bildung bekommen können. Wir dachten, wir würden behandelt wie erwachsene Menschen. Doch das war leider nicht so. Die damalige Landesregierung unter Helmut Kohl sah in uns einfach nur Schüler•innen, die sich dem Erziehungsauftrag des Staates zu unterwerfen haben. Und es ist auch der gesellschaftliche Kontext zu beachten: Wir wollten Bildung, aber die kapitalistische Wirtschaft verlangte nach Qualifizierung. Wirtschaft und Politik sprachen damals vom »Ausschöpfen der Bildungsreserven“ – natürlich für die produktive Arbeit. 

Bei Ihrem Kampf um eine Schulreform ging es auch um eine Alternative zum Fach Religion. Warum spielte das für Sie damals eine so wichtige Rolle? 

Wir wollten Psychologie und Philosophie statt Religion. Es war wohl schwierig, Lehrer*innen dafür zu gewinnen. Wir haben dann jemanden aus dem Umfeld des SOS in Heidelberg gefunden. Doch dem damaligen Schulleiter passte das nicht. Die Auseinandersetzungen spitzten sich zu, unsere Studierendenvertretung lud den Heidelberger Psychologen Born ein, den wir als Lehrenden am Kolleg haben wollten. Der Direktor pochte auf sein Hausrecht und wir pochten darauf, dass die SV einen Gast haben darf. Daraufhin boykottieren die Lehrer den weiteren Kollegunterricht. Das fühne zu einer kritischen Situation, denn dadurch waren ja auch die Abschlüsse, das Abi und so weiter gefährdet. 

Sie kämpften um eine grundlegende Schulreform innerhalb der Institutionen des Kollegs. Warum wurden Sie und Ihre Mitstreiter*innen bald als »Linksextremisten mit anarchistischen Tendenzen« bekämpft?
Nun, in dieser Zeit entwickelte sich auf der Basis des sowieso in der Nachkriegszeit vorhandenen Antikommunismus eine Hetz-Stimmung gegen alles, was links ist. Schon die Forderung nach mehr Freiheit und Autonomie geriet unter den Verdacht, von Leuten gesteuert zu sein, die am Umsturz des Staates arbeiten. Es ging und geht dabei immer um die Frage der Demokratie. Wir wollten nichts »unterwandern«. Aber genau das war von den Herrschenden nicht gewollt.


Sie beschreiben, dass Sie Unterstützung von Gewerkschaftler*innen, darunter Betriebsräte aus der Region, bekommen haben. Wieso unterstützen Arbeiter*innen einen Kampf von Hochschüler*innen?

Wir haben nie die Beziehungen zu Gewerkschaften, Vertrauensleuten und Betriebsrät*innen abgebrochen. In Speyer gab es damals einige große Betriebe, zum Beispiel Siemens, Romeka und VFW Fokker, die Flugzeugwerke. Bei VFW hatten wir im Vertrauenskörper an Schulungen mitgearbeitet. Wir haben über einen »Betriebsreport« die betrieblichen Auseinandersetzungen im Sinne der Interessen der Arbeitenden unterstützt. Die Kolleg*innen haben uns daher ebenfalls unterstützt, als wir in die Bredouille kamen. 

In der Geschichte der Apo wird viel von der proletarischen Wende gesprochen, als die – häufig bürgerlichen – Studierenden die Arbeiter*innen agierten wollten. Wie wirkt das auf Sie, der aus der Fabrikarbeit gekommen ist?
Naja, darüber habe ich mich immer schon geärgert. Obwohl es auch da Unterschiede gibt. Ja, es gab tolle Leute aus einem bürgerlichen Elternhaus, die ganz bewusst ihre Klasse verlassen haben, dann auch im Betrieb geblieben sind und eine gute Interessenvertretung aufgebaut haben. Doch in der 1968er-Geschichtsschreibung wird oft vergessen, dass es eine breite Lehrlings- und Jungarbeiter*innenbewegung gab.

Sie hatten auch als Kollegiat Kontakt zu Fabrikarbeiter*innen, unter anderem durch die Erstellung der Zeitung »Betriebsreport«. Wie sah die Zusammenarbeit aus?
Es kamen Leute aus Betrieben auf uns zu und erzählten über ihre Konflikte dort. Da gab es beispielsweise einen Werftarbeiter, der erzählte, dass es in seinem Betrieb keine Toiletten gibt. Darüber haben wir dann berichtet und Forderungen aufgestellt. Wir haben Betriebsrät*innen interviewt und durften aus gewerkschaftlichen Versammlungen berichten. Wir haben aber auch über kommunale, nationale und weltweite Themen informiert, von Kindergartenplätzen über Notstandsgesetze und den Vietnamkrieg.

Der Kampf um Reformen im Speyer-Kolleg ging zunächst verloren. Welches Resümee ziehen Sie heute über Ihre Aktivitäten?
Es war ein Versuch, der bei den nachfolgenden Generationen nachwirkt. Zum einen haben sich gewisse Dinge durchaus verbessert, zum anderen aber bleiben die zentralen Konfliktlinien bestehen: zwischen einer angepassten Ausbildung und dem Interesse an emanzipatorischer Bildung. 

Sie gehörten später zu den Mitbegründer*innen der Arbeiter*innengesundheitsbewegung. Was waren die Ziele, und wie kamen Sie zu diesem Engagement?
Ich war in der Fabrik über Jahre immer wieder sehr gefährlichen Substanzen ausgesetzt, Benzol, Styrol, Vinylchlorid, auch Schwermetallen wie Cadmium und Chrom. Zum einem gibt es da durchaus akute Wirkungen, es wird einem schlecht und man hat neurologische Symptome. Zum anderen begann ich mich in den 1970er Jahren mit diesen Fragen auch wissenschaftlich auseinanderzusetzen. Etwa erschienen in der Taschenbuchreihe »rororo« damals Titel wie »PVC zum Beispiel. Krebserkrankungen bei der Kunststoffherstellung«. Als dann 1976 der Chemieunfall im norditalienischen Seveso passierte, die Verseuchung mit Dioxin, war für mich klar, dass eine Verbindung von Umweltbewegung und Arbeiterbewegung absolut notwendig ist.

Fanden Sie dabei Unterstützung?
Ja. Überall gab es an den medizinischen Fakultäten Basisgruppen, aus denen heraus sich Gesundheitsläden entwickelten. Dort waren Leute, die sich aus der Universität heraus Fragen des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz widmen wollten. Es gab aber auch viele Initiativen in den Betrieben, beispielsweise beim Bremer Vulkan, bei den Hamburger Aluminiumwerken, bei Höchst und bei Bayer. Natürlich auch bei der BASF, wo ich mich dann in den 1980er Jahren wieder stark engagierte. Inspiriert waren wir von der italienischen Arbeitermedizinbewegung, die das Motto hatte: »Non delegata!« Was so viel bedeutet wie, wir geben unsere Angelegenheiten, unsere Gesundheit, unseren Körper nicht in die Hände von Expert*innen – insbesondere dann nicht, wenn die auf der anderen Seite stehen. Wir nehmen unsere Angelegenheiten selbst in die Hand. Die Idee war, dass Menschen aus dem Betrieb in Arbeiter*innen-Gesundheitsgruppen mit medizinischen, toxikologischen und sonstigen Expert*innen zusammenarbeiten. Diese Gruppen existierten in den 1980er Jahren in vielen Städten und Regionen in Deutschland. Einen sehr schönen Ausdruck fand diese Bewegung in den alternativen Gesundheitstagen in Berlin 1980, Hamburg 1981, Bremen 1984 und Kassel 1987, an denen auch ich mitwirkte. 

Sie engagieren sich nun unter anderem in der Initiative Zero Covid, die in der Pandemie für einen solidarischen Lockdown eintritt. Sehen Sie hier Verbindungen zur Arbeiter*innengesundheitsbewegung?
Ich sehe darin ihre Fortsetzung. Wenn ich mir vergegenwärtige, dass seit Pandemiebeginn mehr als 7000 Erwerbstätige, also Menschen unter 65 Jahren an Covid-19 verstorben sind, erschreckt mich das. Das sind mehr Opfer, als Asbest sie fordert. Und viele dieser schweren und tödlichen Krankheitsverläufe hätten durch frühere und systematischere Schutzmaßnahmen verhindert werden können. Mir liegt eine Fülle von Betriebsberichten vor, aus denen hervorgeht, dass oftmals nur mangelhafte oder gar keine Schutzmaßnahmen stattfanden. Menschen, die Kopf an Kopf und Schulter an Schulter mit defekten Masken arbeiten, Werkshallen ohne jegliche Lüftung.
Das stellt sich niemand vor, wie insbesondere in den sogenannten prekären Arbeitsbereichen gearbeitet wurde und bis heute wird. Aber auch in klassischen Bereichen wie der Automobilindustrie gibt es nach wie vor Fließbandabschnitte, wo Menschen sehr nah beieinander stehen und schuften. Ich war noch kurz vor der Pandemie in einem großen Werk, aus dem ich dann während der Pandemie derartige Berichte bekommen habe. Daher sehe ich immer noch und erneut den dringenden Bedarf, betriebliche Gesundheitsgruppen zu bilden, zum Gesundheitsschutz aufzuklären und zu mobilisieren! Interview: Peter Nowak

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