Geschichte der kommunistischen Dissidenz

Kürzlich ist im Klartext-Verlag eine umfassende Darstellung der kommunistischen Opposition in der Weimarer Republik erschienen. Das Buch spart zwar die räte- und einige Teile der linkskommunistischen Dissidenz aus, bleibt aber dennoch eine guten Überblick über die Opposition in der KPD.

Kommunismus wird in der Öffentlichkeit  noch immer weitgehend  mit dem  Stalinismus gleichgesetzt. Nur wenig bekannt ist von der  vielfältigen Opposition, die es bereits in den 20er Jahren im Umfeld der KPD gegen die Politik der Stalinisierung gab.

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»Am Rande der Legalität«

Mayte Marin ist Mitglied der ›Grupo de Acción Sindical‹, die bessere Arbeitsbedingungen für ausländisches Pflegepersonal in Deutschland erreichen möchte. Anfang Februar hat die Gruppe ihre neue Kampagne »Die Vertragsstrafe bringt mich um« begonnen.

Um was geht es bei Ihrer neuen Kampagne?

Grundsätzlich möchten wir mit dieser Kampagne die ungerechten Arbeitsbedingungen des ausländischen Krankenpflegepersonals in Deutschland an die Öffentlichkeit bringen. Wir haben herausgefunden, dass den spanischen und deutschen Institutionen, die diese Vereinbarungen abschließen, die Ungerechtigkeiten gar nicht bewusst sind.

Wie sehen die Arbeitsbedingungen aus?

Die Krankenpflegerinnen und -pfleger müssen zwölf bis 14 Tage lang ohne Pause arbeiten und bekommen bis zu 40 Prozent weniger Lohn als die deutschen Kollegen. Manche arbeiten ohne Vertrag, bis sie das Deutsch-Niveau B2 erreichen. Manchmal müssen sie Tätigkeiten verrichten, die nicht in den Bereich der Krankenpflege fallen. Und wenn sie den Job kündigen wollen, bekommen sie eine Konventionalstrafe, die in einigen Fällen bis zu 12 000 Euro beträgt.

Warum betrifft das vor allem ausländisches Pflegepersonal?

Ich nehme an, weil diese Menschen einfach nicht dagegen kämpfen können. Einerseits beherrschen sie manchmal die Sprache nicht gut genug, andererseits kommen sie aus einem Land mit einer hohen Arbeitslosigkeit und sehen sich deswegen nicht in der Position, Beschwerden vorzubringen.

Wie ließe sich die Situation verbessern?

Wir fordern, dass das ausländische Krankenpflegepersonal hier in Deutschland Unterstützung von den verschiedenen Institutionen erhält, die in diesem Bereich eine Rolle spielen. Wir möchten, dass alle Krankenpflegerinnen und -pfleger in Deutschland die gleichen Arbeitsbedingungen haben, da sie die gleiche Arbeit machen. Darüber hinaus möchten wir natürlich auch Schluss mit dieser Strafe machen, da sie am Rande der Legalität ist. Des Weiteren fordern wir Personen in der Krankenpflege in ganz Deutschland zur aktiven Teilnahme an der Kampagne auf, indem sie Berichte, Fotos und Dokumente über diese Missstände veröffentlichen.

Arbeiten Sie mit deutschen Gewerkschaften zusammen?

Ja, wir setzen uns ab und zu in Verbindung mit Verdi oder mit der FAU, je nachdem, wie sie uns im einzelnen Fall unterstützen und helfen können.

http://jungle-world.com/artikel/2015/07/51431.html

Small Talk von Peter Nowak

»Staatliche Zulagen helfen da kaum«

Im österreichischen Graz ist der Wohnungsmarkt zu teuer für viele Menschen

Elke Kahr ist seit 2005 Stadträtin für Wohnungsangelegenheiten in Graz, der zweitgrößten Stadt Österreichs. Sie ist Mitglied der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ), die bei den letzten Grazer Gemeinderatswahlen im Jahr 2012 mit rund 20 Prozent zweitstärkste Kraft wurde. Am Donnerstag berichtete sie im Rahmen der Veranstaltungsreihe »Wohnen in der Krise«  https://www.youtube.com/user/WohneninderKrise der Berliner Mietergemeinschaft  über ihre Arbeit. Mit ihr sprach Peter Nowak.

nd: Warum ist bei der KPÖ gerade die Wohnungsfrage so zentral?
Kahr: Weil viele Menschen mit niedrigen Einkommen Probleme haben, ihre Wohnungen sowie Strom und Heizung bezahlen zu können. Auch staatliche Zulagen helfen da kaum. Vielen Politikern war lange Zeit völlig egal, wie die Menschen mit wenig Einkommen lebten. Sie setzten auf den Markt, der alles regeln sollte.

Was setzt Ihre Partei gegen dieses Marktvertrauen?
Als Wohnungsstadträtin war es mein zentrales Ziel, die Zahl der Gemeindewohnungen zu erhöhen. Wer seinen Hauptwohnsitz oder seinen Arbeitsplatz in Graz hat, kann ein Gesuch stellen, das dann nach Kriterien wie Einkommen, gesundheitlicher oder familiärer Situation bewertet wird. Damit haben die Menschen mit wenig Einkommen eine Alternative zu den teuren Marktpreisen. Bei den Neubauprojekten der letzten Jahre liegen die Mieten der Gemeindewohnungen mit Betriebskosten und Heizung bei sechs Euro pro Quadratmeter. Für 50 Quadratmeter sind das 300 Euro im Monat. Auf dem privaten Wohnungsmarkt muss man dagegen mit 540 bis 700 Euro rechnen.

Ist mit den Gemeindewohnungen das Wohnungsproblem in Graz gelöst?
Nein, denn sie machen derzeit nur acht bis zehn Prozent des gesamten Wohnungsbestands aus.

Was sind die Hürden einer sozialen Wohnungspolitik?
Dem globalen Druck des Neoliberalismus sind wir natürlich auch ausgesetzt. Auf Bundes- und Landesebene gibt es in Österreich fast nur vermieterfreundliche Gesetze. Zudem kommt Druck aus den europäischen Institutionen in Brüssel, die Stabilitätskriterien einzuhalten.

Sehen Sie eine Gefahr, als Stadträtin Teil der Macht zu werden?
Nein, denn die KPÖ ist keine Koalition eingegangen und stimmt keinen Gesetzen und Maßnahmen zu, die die soziale Situation der Menschen verschlechtert.

Dennoch hat ihre Partei im vergangenen Jahr dem Doppelhaushalt der Stadt Graz zugestimmt.
Ja. Wir konnten mit den anderen Parteien Vereinbarungen erzielen, die die Lebensbedingungen vieler Menschen verbessern. Dazu gehören der Bau von 500 neuen Gemeindewohnungen, die Verhinderung von Streichungen im Sozial- und Kulturbereich und von Privatisierungen.

Kooperieren Sie auch mit den sozialen Bewegungen?
Ja, immer wenn wir an die parlamentarische Grenzen stoßen, wenden wir uns an die Bevölkerung und soziale Bewegungen. So konnten wir 2005 mit einem Volksbegehren verhindern, dass der Bestand an Gemeindewohnungen weiter verringert wird. Auch im Kampf gegen Sozialkürzungen arbeiten wir mit außerparlamentarischen Bewegungen zusammen.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/961795.staatliche-zulagen-helfen-da-kaum.html

Peter Nowak

„Der Abschied von der subkulturellen Identität ist notwendig“

Über die möglichen Perspektiven von Hausbesetzungen heute - ein Gespräch mit Armin Kuhn

In den letzten Wochen wird in Berlin wieder über Hausbesetzungen[1] als Aktionsform zur Verhinderung von Vertreibungen von Mietern diskutiert[2]. Allerdings wird es ein Revival der alten Berliner Besetzerbewegung kaum geben, meint Armin Kuhn[3].

Der Politologe hat kürzlich im Dampfbootverlag das Buch…

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»Gemeinsamkeiten betonen«


Der in Berlin-Neukölln lebende Psychologe und Soziologe Kazim Erdogan über Männergewalt, Jihadismus und Prävention

Ihnen wurde in der Presse schon mal der Titel »Kalif von Neukölln« verliehen, weil Sie den Verein »Aufbruch Neukölln« gegründet haben. Welche Ziele verfolgen Sie damit?

Ich wollte mich für benachteiligte Familien in Neukölln einsetzen. Es ging mir dabei nicht nur um Familien mit Migrationsgeschichte, sondern um alle Familien, in denen es generell Probleme gibt, die Beratung im Bereich Erziehung und Bildung benötigen.

Warum haben Sie in Ihrem Verein auf die Einrichtung von Vätergruppen so großen Wert gelegt?

Wir müssen die Väter bei der Erziehung und Bildung mit ins Boot holen. Gerade die Jungen brauchen ihre Väter als Vorbilder. Wir wollen, dass die Väter und Männer in allen gesellschaftlichen Bereichen mehr mitwirken. Deshalb haben wir die Vätergruppen gegründet. Wir treffen uns jede Woche und reden über alle Themen, die im Leben eines Menschen eine Rolle spielen. Wir sprechen über Kindererziehung und Gewalt. Aber auch über Begriffe wie Ehre, Erziehung, die Rolle der Frau, des Islams und des Christentums und über das leidige Thema »Integration«, was ich ja als Integration gar nicht bezeichnen will. Wir reden über Inklusion und Partizipation und gesunde Ernährung. Wir laden aus unterschiedlichen Institutionen Fachleute ein, die aufklären. Es gibt also kein Tabuthema, das wir nicht behandeln.

Bei Ihnen haben Männer das Weinen gelernt, heißt es. Wie erreichen Sie das?

Wenn Männern, die für Gewalt in der Familie verantwortlich sind, klar wird, was sie den Menschen angetan haben, dann kann es vorkommen, dass sie weinen. Es bedarf allerdings einer bestimmten Gesprächsatmosphäre, damit sich die Männer öffnen und die Vorwürfe an sich heranlassen. Oft gelingt das nicht, oft bleiben sie hart wie ein Stein am Berg Ararat.

Können Sie sich vorstellen, auch eine Atmosphäre zu schaffen, die überzeugte Islamisten zum Weinen bringt?

Bei einem überzeugten Islamisten ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich ihn zur Umkehr bewegen kann, kleiner als bei einem Mann, der Gewalt in der Familie ausgeübt hat. Doch auch das schließe ich nicht aus. Dazu bedarf es einer längeren intensiven Arbeit mit den Menschen. Die Gespräche müssen auf gleicher Augenhöhe und in einer Sprache geführt weden, die die Betroffenen verstehen.

Kamen schon Islamisten zu Ihren Gesprächsveranstaltungen?

Ja, das ist schon öfter geschehen. Erst in der letzten Woche sprach ich mit zwei jungen Muslimen, die sich innerhalb weniger Wochen radikalisiert haben. Sie haben sich innerhalb kurzer Zeit von der weltlichen Gesellschaft abgewandt und nur noch den Koran als gültige Instanz akzeptiert. Natürlich kann man mit wenigen Gesprächen keine Veränderung bewirken.

Wie erklären Sie es sich, dass junge Menschen, die oft eine sehr weltliche Lebensweise hatten, auf einmal radikale Islamisten werden?

Videos im Internet und manche Moscheen sorgen dafür, dass sich junge Menschen innerhalb kurzer Zeit radikalisieren können. Wenn man einem benachteiligten Menschen sagt, du bist benachteiligt, weil du Muslim bist, kann diese Hinwendung zur Religion sehr schnell gehen. Wenn man den jungen Menschen schließlich zu überzeugen versucht, dass das wahre Leben im Jenseits beginnt und dass sie für Gott das irdische Leben opfern sollen, dann kann man manche von ihnen beeindrucken. Viele dieser Menschen haben ein geringes Selbstwertgefühl und das begünstigt die Hinwendung zur Religion.

Sie sprechen von benachteiligten Menschen. Aber haben nicht einige Attentäter studiert und hätten durchaus Karriere machen können?

Nein, dieser Eindruck täuscht. Tatsächlich kommen die meisten der jungen Leute, die Jihadisten werden, aus benachteiligten Familien. Durch die Attentäter vom 11. September 2001 ist weltweit der falsche Eindruck entstanden, dass es sich vor allem um Studenten handelt. Aber das war eine Ausnahme. Für das Attentat wurden Männer mit Flugkenntnissen gebraucht. Doch um Flugunterricht zu nehmen, ist das Abitur eine Voraussetzung. Das trifft aber nicht auf die Mehrheit der jungen Islamisten zu.

Warum ist der Jihadismus auch für junge Frauen attraktiv, obwohl sie dort all ihrer Rechte beraubt werden?

Tatsächlich ist die Zahl der jungen Frauen, die sich von den Islamisten rekrutieren lassen, in der letzten Zeit gestiegen. Sie werden mit Jihadisten verheiratet und wollen sich als Frauen von Märtyrern darstellen. Auch für sie gilt, dass sie sich in ihrem alten Leben benachteiligt fühlten. Auch wenn ihre Zahl gestiegen ist und es in letzter Zeit eine größere Aufmerksamkeit für diese Frauen gibt, sind es doch weiterhin hauptsächlich Männer, die sich rekrutieren lassen. Die sind leichter bereit, als Helden für den Islam zu sterben.

Welche Maßnahmen schlagen Sie vor, um junge Menschen gegen solche Rekrutierungsmethoden zu immunisieren?

Wir müssen in die Bildungseinrichtungen gehen, um die jungen Menschen zu erreichen, bevor neue Attentate passieren. Wenn wir immer erst nach solchen Vorfällen reagieren, ist es zu spät. Wir reden immer so viel über Prävention und warten ab, bis der nächste Vorfall passiert. Wir sollten weniger in Talkshows über die jungen Islamisten reden und mehr mit ihnen, dort wo sie leben.

Sind da nicht auch die islamischen Verbände und Moscheen gefragt, wo viele dieser jungen Menschen sich aufhalten?

Ich appelliere seit langen an diese Einrichtungen, nicht nur einmal im Jahr einen Tag der offenen Tür zu veranstalten. Das ganze Jahr über sollten Moscheen und Vereine ihre Türen offen halten. Zudem sollten sie den Schulterschluss mit anderen Religionsgemeinschaften suchen. Sie sollten weniger von »ihr« und »wir« reden, sondern die Gemeinsamkeiten betonen. Wir sind nicht in erster Linie Christen, Muslime und Juden, sondern Menschen.

Nach den islamistischen Anschlägen in Paris weigerten sich Schüler in Frankreich, an den Gedenkveranstaltungen für die Opfer teilzunehmen. Halten Sie Sanktionen bis zum Schulverweis für den richtigen Weg?

Solche Sanktionen werden kaum dazu führen, dass sich die jungen Leute von den islamistischen Organisationen trennen. Man sollte die Menschen in erster Linie mit Worten überzeugen. Ich würde die Schüler nach den Gründen fragen, warum sie sich nicht an den Gedenkveranstaltungen beteiligten, um sie dann in eine argumentative Auseinandersetzung zu bringen. Damit erreiche ich mehr als durch Sanktionen.

http://jungle-world.com/artikel/2015/06/51396.html

Peter Nowak

Rechte Sammlungsbewegung AfD

Ein jüngst erschienener Band beschreibt die Entwicklung der „Alternative für Deutschland“ und die „neokonservative Mobilmachung in Deutschland“.

Als Niederlage des rechten Parteiflügels wird der Parteitag der „Alternative  für Deutschland“ (AfD) am Wochenende in Bremen in vielen Medien kommentiert. Dieser These widerspricht der Publizist Sebastian Friedrich in seinem kürzlich im Verlag Bertz + Fischer veröffentlichten Buch.

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Keine Beerdigung

Neues vom Kommunismus? Peter Nowak stellt zwei neue Studien vor

Kommunismus wird in der Öffentlichkeit noch immer weitgehend mit Stalinismus und dessen Verbrechen gleichgesetzt. Nur wenig bekannt ist von der vielfältigen Opposi­tion, die es bereits in den 20er Jahren im Umfeld der KPD gegen die Politik der Stalinisierung gab. In den letzten Jahren haben junge HistorikerInnen begonnen, sich mit den dissidenten Strömungen der kommunistischen Geschichte zu beschäftigen. Erst nach der Öffnung der Archive in den nominalsozialistischen Ländern wurden viele Quellen zugänglich. So konnten die vergessenen Spuren einer dissidenten Geschichte des Kommunismus wieder aufgenommen werden – zwei Publikationen geben einen Eindruck von dieser verdienstvollen Forschungsarbeit.

Der Historiker Marcel Bois stellt im Klartext-Verlag auf knapp 600 Seiten relevante Strömungen der Kommunistischen Opposi­tion in der Weimarer Republik vor. Um eine erste Gesamtdarstellung der kommunistischen Opposition, wie auf der Rückseite des Buches angekündigt, handelt es sich allerdings nicht. Schließlich wird auf die räte- und linkskommunistischen Strömungen in der Kommunistischen Internationale, die bereits 1919 oder nach der Niederschlagung des Aufstands von Kronstadt mit der Politik der Komintern gebrochen haben, ebenso wenig eingegangen wie auf die bordigistische Strömung, die Mitte der 20er Jahre in Opposition zur Politik der sowjetischen Machthaber geriet. In verschiedenen Länden, auch in Deutschland, bildeten sich Gruppen, die die Kritik des italienischen KP-Vorsitzenden Amadeo Bordiga an der Entwicklung der Kommunistischen Internationale teilten und für einen strikt antiparlamentarischen Kurs eintraten. Bois erwähnt diese Strömung nur in einer Fußnote. Diese Feststellung ist wichtig, weil so verhindert wird, dass vorschnell neue Schließungen in der Forschung der dissidenten kommunistischen Strömungen erfolgen und kleinere, weniger bekannte Gruppen unerwähnt bleiben. Bois ist es allerdings nicht zum Vorwurf zu machen, dass er nicht sämtliche Facetten der kommunistischen Dissidenz berücksichtigt. Werden doch bei seiner Arbeit die großen Schwierigkeiten deutlich, das Phänomen des Linkskommunismus begrifflich zu fassen. Bois macht deutlich, dass das Gemeinsame dieser Strömung gar nicht so einfach zu benennen ist. Selbst die Ablehnung der Stalinisierung kann als kleinster gemeinsamer Nenner erst in der zweiten Hälfte der 20er Jahre geltend gemacht werden. Zuvor haben einige der späteren linkskommunistischen Akteure wie Werner Scholem in Stalin einen Bündnispartner und in Trotzki einen Exponent der Rechten in der kommunistischen Bewegung gesehen.

Zudem wurde ein gemeinsames Vorgehen der Opposition dadurch erschwert, dass einige führende Linkskommunisten wie Scholem oder Ruth Fischer die Vorzüge einer innerparteilichen Demokratie erst entdeckten, als sie in Opposition zur Parteitagsmehrheit gerieten. Als Exponenten der Parteiführung haben sie noch selber ausgiebig Gebrauch von administrativen Maßnahmen gegen vermeintliche Oppositionelle gemacht.

Bis zum Ende der Weimarer Republik spielten diese und andere Widersprüche in der linken Opposition eine wichtige Rolle und erschwerten eine Kooperation. So wollten einige Oppositionelle auf keinen Fall in eine Nähe zu Trotzki gebracht werden. Andere verweigerten Unterschriften unter Aufrufe, unter denen Ruth Fischer oder Werner Scholem standen. Das sind nur einige der von Bois detailliert beschriebenen Widersprüche, die ein gemeinsames Auftreten der kommunistischen Opposition erschwerten. Grund dafür waren neben inhaltlich-politischen Differenzen auch persönliche Animositäten.

Diese internen Probleme wurden von der KPD-Führung natürlich weidlich ausgenutzt. So wurden oppositionelle Kommunisten mit wenig innerparteilichem Rückhalt, wie die Gruppe um den besonders sektiererisch auftretenden Iwan Katz, schnell ausgeschlossen. Wesentlich bekannter war die Gruppe »Entschiedene Linke«, die maßgeblich von Karl Korsch mitbegründet wurde, dessen Texte zur marxistischen Philosophie in den 60er Jahren für die Neue Linke bedeutsam werden sollten. Sein Wirken als marxistischer Politiker nach seinem Parteiausschluss 1926 wird von Bois nachgezeichnet.

Echte Pionierarbeit leistet Bois mit seiner Darstellung der »Weddinger Opposition«, eine vor allem aus dem Arbeiterradikalismus gespeisten linken Parteiflügel, der über den Berliner Stadtteil hinaus landesweit aktiv wurde. Ihr gelang es noch bis Anfang der 30er Jahre, in der KPD aktiv zu bleiben. Die Parteiführung ging mit der gut verankerten Strömung vorsichtiger um als mit marginalen Oppositionsgruppen. Bois zeigt allerdings auch, dass vor allem in den frühen 30er Jahren manche oppositionellen Kommunisten wieder die Nähe zur KPD suchten. Die Gefahr des Nationalsozialismus ließen für manche die Differenzen in den Hintergrund treten.

Doch gerade Trotzki erregte zu dieser Zeit auch über das kommunistische Milieu hinaus Beachtung, weil er für eine Aktionseinheit von SPD und KPD eintrat und den NS viel gründlicher als die KPD-Führung analysierte. Anders als diese sah er in den verschiedenen Faschismen kein Werkzeug des Großkapitals, sondern eine eigenständige Bewegung des abstiegsbedrohten Mittelstands, die von Teilen der Eliten und der Wirtschaft allerdings für ihre Zwecke benutzt wurde. Auch mit seinen frühen Warnungen vor den Gefahren des NS für die Arbeiterbewegung und alle demokratischen Bewegungen sollte Trotzki wesentlich realitätsnäher sein als die KPD-Führung mit ihrem Zweckoptimismus, die ein Hitlerregime für eine kurze Zwischenstation auf dem Weg zur Revolution erklärte. Davon unabhängig kamen auch die als Rechtsabweichler aus der KPD ausgeschlossenen Kommunisten Heinrich Brandler und August Thalheimer zu einer ähnlich realistischen Einschätzung des NS wie Trotzki. Alte Feindschaften aus den 20er Jahren verhinderten allerdings eine Kooperation dieser unterschiedlichen kommunistischen Dissidenten. Auch hier zeigte sich wieder die Unfähigkeit selbst der schlaueren Köpfe der kommunistischen Opposition, auf der Basis eines Minimalkonsenses zu kooperieren.

Umso wichtiger waren die wenigen Menschen, die sich nicht an kleinlichen innerorganisatorischen Streitereien beteiligten, wie die Publizisten Alexandra Ramm und Franz Pfemfert. Wie Bois nachweist, haben sie einen großen Anteil an der Veröffentlichung von Texten dissidenter Kommunisten und sorgten dafür, dass der exilierte Trotzki in Deutschland seine Positionen bekannt machen konnte.

Der große Vorzug von Bois’ Arbeit besteht darin, dass er keine Heldengeschichte der linken Opposition schreibt, sondern detailliert zeigt, dass sie oft nicht weniger autoritär auf abweichende Meinungen reagierte als die stalinistische Mehrheitsströmung. Daher bleibt Bois bei der Frage vorsichtig, ob die dissidenten Kommunisten, hätten sie sich durchgesetzt, eine Alternative gewesen wären: »Möglicherweise wäre tatsächlich ein unabhängiger deutscher Kommunismus entstanden, der nicht jeden Schwenk aus Moskau mitgemacht hätte. Doch denkbar ist, dass … die Entdemokratisierung der Partei fortgesetzt worden wäre.« (S. 529) Kritisch anzumerken bleibt dagegen, dass Linkskommunisten wie Werner Scholem einen Kommunismus ohne nationale Vorzeichen anstrebten, deshalb auch gegen das Konzept vom »Sozialismus in einem Land« auftraten. Ein spezifisch deutscher Kommunismus hätte ihm ferngelegen – auch hätte eine erfolgreiche Revolution in Deutschland die weitere Entwicklung der Sowjetunion nicht unberührt gelassen.

Rollentausch – die Bremer Linksradikalen

Anders als der Spartakusbund orientierten die Bremer Linkradikalen schon 1915 auf eine eigenständige Organisierung außerhalb der SPD. Diese Strömung, die in der frühen KPD eine wichtige Rolle spielen sollte, ist heute (jenseits der Publikationen von Hans Manfred Bock) weitgehend vergessen. Einen ihrer Exponenten, den Lehrer Johann Knief, hat der Historiker Gerhard Engel in seiner im Dietz-Verlag erschienenen Biographie dem Vergessen entrissen. Hier wird uns die Gedankenwelt eines Linksradikalen vor 120 Jahren nahegebracht, und es wird der Kampf gegen die »reformorientierten« Kräfte in der Sozialdemokratie verdeutlicht, die bereits lange vor dem ersten Weltkrieg Kurs auf eine Mitgestaltung des imperialistischen Deutschlands nahmen. Die Bewilligung der Kriegskredite durch die SPD 1914 ist dann nur der Schlusspunkt einer längeren Entwicklung.

Die Bremer Linksradikalen setzten sich auf dem Gründungsparteitag der KPD mit ihrer antiparlamentarischen Linie durch. Mehrheitlich stimmten die Delegierten gegen die Beteiligung an den ersten Wahlen zum Reichstag der Weimarer Republik. Zu den strikten Gegnern dieser Linie gehörten damals noch Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg sowie eben Johann Knief, der damit in Widerspruch zu der von ihm repräsentierten Strömung geriet.

Knief starb bereits im Frühjahr 1919 kurz nach der Niederschlagung der Bremer Räte­republik. Obwohl es nach seinem Tod in Bremen einen großen Trauermarsch von ArbeiterInnen gab, wurde er bald vergessen. Weil das Geld für die Beerdigung fehlte, stand die Urne bis 1926 im Büro der Bremer KPD. Wegen seiner schweren Erkrankung und des frühen Tods konnten die Widersprüche nicht mehr ausdiskutiert werden. Mit dem Buch erinnert Engel nicht nur an Knief, sondern an eine wichtige linke Strömung, die bald zur ersten Opposition in der frisch gegründeten KPD gehörte.

Literaturliste

  • Marcel Bois: »Kommunisten gegen Hitler und Stalin. Die linke Opposition der KPD in der Weimarer Republik«, Essen 2014, 613 Seiten, 39,95 Euro, ISBN 978 3-8375-1282-3
  • Gerhard Engel: »Johann Knief – ein unvollendetes Leben« (Geschichte des Kommunismus und Linkssozialismus, Bd. XV), Berlin 2011, 467 Seiten. 29,90 Euro, ISBN: 978-3-320-02249-5

express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit http://www.labournet.de/express/

„Ohne sie hätte die Verdrängung viel früher eingesetzt“

BESETZERSZENE Armin Kuhn hat ein Buch über Häuserkampf geschrieben und vergleicht darin die Besetzungsbewegung vor und nach dem Mauerfall

taz: Herr Kuhn, in Ihrem neuen Buch „Vom Häuserkampf zur neoliberalen Stadt“ vergleichen Sie die Besetzungsbewegung in Westberlin der 70er Jahre und die nach dem Mauerfall in Ostberlin. Wo sehen Sie die größten Unterschiede?

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Lucke ist Teil des rechten Hegemonieprojekts

»Die Empörung ist recht groß«

Konferenz »Hände weg vom Streik« wendet sich gegen das neue Tarifeinheitsgesetz

Hände weg vom Streikrecht fordert eine Tagung am Wochenende in Kassel. Die Zeit drängt: Bereits im März will der Bundestag ein entsprechendes Gesetz verabschieden. Gewerkschafter warnen, dass der Arbeitskampf dadurch behindert werde.

Jakob Schäfer ist Mitglieder der IG Metall und aktiv im Arbeitsausschuss der Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken. Er gehört zu den Organisatoren der Aktionskonferenz »Hände weg vom Streikrecht«, die am Samstag in Kassel stattfindet.

Die Bundesregierung will mit einem neuen Gesetz zur Tarifeinheit das Streikrecht für kleinere Gewerkschaften erheblich einschränken. Wie weit ist Schwarz-Rot damit?
Für Anfang März ist die erste Lesung des Tarifeinheitsgesetzes vorgesehen, für den 23. 3. die öffentliche Anhörung im Ausschuss »Arbeit und Soziales« und für den 26.3. die zweite und dritte Lesung.

Innerhalb der DGB-Gewerkschaften gibt es Befürworter und Gegner der Gesetzesinitiative. Haben Sie Kontakt zu den Gegnern und werden sie an dem Kongress teilnehmen?
Ver.di, NGG und GEW haben sich entschieden gegen dieses Gesetzesvorhaben positioniert. Eine ganze Reihe von ver.di-KollegInnen hat sich für die Konferenz angemeldet. Aber es werden auch Mitglieder der IG Metall da sein. Die Empörung über die Zustimmung des IG Metall-Vorstands zu diesem Gesetzesvorhaben ist in den Reihen meiner Gewerkschaft, der IG Metall, recht groß.

Gibt es Kontakte außerhalb des DGB wie zur Basisgewerkschaft FAU oder zu den Lokführern der GDL?
Unser Aktionsbündnis gibt es seit dem ersten Versuch im Jahr 2011, ein solches Gesetz einzuführen. Seitdem gibt es den Kontakt zur GDL. Die ist aber zurzeit durch ihre Tarifrunde stark in Beschlag genommen, so dass wir nicht wissen, ob sie Vertreter schicken kann. Die FAU ist von Anfang an in dem Bündnis aktiv dabei. Schließlich ist sie ja in ihren basisgewerkschaftlichen Aktivitäten direkt und indirekt betroffen.

Während der GDL-Streiks Ende 2014 spielte das Thema Tarifeinheit eine große Rolle. Hat dieses Interesse sich auf Ihre Arbeit ausgewirkt?
Durch die GDL-Streiks wurde die praktische Bedeutung dieses Gesetzesvorhabens unmittelbar deutlich. Eine Gewerkschaft, die zumindest etwas kämpferischer für die Interessen ihrer Mitglieder eintritt, soll faktisch ausgeschaltet werden. Damit ist so manchen unserer KollegInnen klarer geworden, worum es eigentlich geht.

In den letzten Wochen wurden mehrere Streikzeitungen herausgegeben, die sich gegen die Tarifeinheit wandten. Soll dieses Projekt fortgesetzt werden?
Die Streikzeitung hat mit ihren drei Nummern und einer Auflage von mehreren Zehntausend einen tollen Beitrag zur Aufklärung in Sachen Tarifeinheit und zur Organisierung der Solidarität mit den GDL-KollegInnen geleistet. Ob es zu weiteren Ausgaben kommt, hängt vom Verlauf der Tarifverhandlungen ab. Ich verweise auf die ausgezeichnete Website der Streikzeitung: pro-gdl-streik14.de.

Die Bundesregierung plant mit der Einführung von Zwangsschlichtungen und der Sicherung der Daseinsfürsorge weitere Einschränkungen gewerkschaftlicher Rechte. Können Sie diese Pläne präzisieren?
Am weitesten ausgeführt sind diese Vorstellungen in einem Gesetzentwurf, den die Carl-Friedrich-von-Weizsäcker-Stiftung vorgelegt hat. Darüber wurde der stellvertretende CDU-Fraktionsvorsitzende Arnold Vaatz in den Stuttgarter Nachrichten vom 2. April 2014 mit dem Satz zitiert: »Die Schäden, die ein Arbeitskampf auslöst, müssen im Verhältnis zum Anlass stehen.«

Gewerkschaftsrechte werden in vielen Ländern eingeschränkt. Werden auch Gewerkschafter von anderen Ländern auf der Konferenz anwesend sein?
Durch die Mitarbeit der Streikrechtsinitiative »tie germany« im Europäischen Netzwerk der BasisgewerkschafterInnen gibt es einen ständigen Austausch über die Situation in den verschiedenen europäischen Ländern. Auf dem letzten Treffen in Toulouse im Oktober 2014 wurde ausführlich über die Streiks und das geplante Tarifeinheitsgesetz informiert.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/959487.die-empoerung-ist-recht-gross.html

Interview: Peter Nowak

Er hatte das Pech, sich in eine FBI-Agentin zu verlieben

Der Fall von Eric McDavid sollte auch hierzulande Anlass sein, die Rolle der Geheimdienste bei der Kriminalisierung kritischer zu betrachten

Fast 10 Jahre war Eric McDavid[1] inhaftiert. Als er kürzlich aus dem Gefängnis von Sacramento entlassen[2] wurde, strahlte er über das Gesicht. Denn eigentlich war der Ökoanarchist im Jahr 2008 zu einer Freiheitsstrafe von 19 Jahren und 7 Monate verurteilt worden.

Vorgeworfen wurde ihm eine ökoterroristische Verschwörung. Konkret soll er Attentate gegen Handymasten, Forschungseinrichtungen und Staudämme geplant haben. Dabei handelt es sich um Objekte, die bei einer größeren ökoanarchistischen Szene[3] in der Kritik stehen. Bomben hatte McDavid nie gelegt. Seine Verurteilung basiert im Wesentlichen auf Briefen, die er mit seiner vermeintlichen Freundin gewechselt hatte, die in Wirklichkeit eine FBI-Agentin war und für ihren Job 65.000 US-Dollar bekam.

Doch die 17-jährige Frau, die im Anarcholook in der US-Szene auftauchte, war nicht nur eine stille Beobachterin. Sie muss es verstanden haben, idealistische junge Menschen, die sich gegen Ungerechtigkeiten engagieren und die sich abseits von Großdemonstrationen engagieren wollten, zu motivieren. Sie organisierte eine ökoanarchistische Gruppe. Die Autos, mit denen sie die weit entfernt wohnenden Menschen zusammenbrachte, waren vom FBI verwanzt. Wenn die drei jungen Menschen Zweifel an der Aktion hatten, war es die FBI-Agentin, die sie antrieb. Eric McDavid erpresste sie regelrecht damit, dass erst die revolutionären Aufgaben erfüllt werden müssten, bevor eine romantische Beziehung infrage komme.

Dazu kam es nie. Denn nachdem die FBI-Agentin die Materialien zum Bombenbau geliefert hatte, ließ sie das Trio auffliegen. Schließlich war nun Gefahr im Verzuge. Für die jungen Aktivisten war es ein doppelter Schock. Eine angebliche Genossin entpuppte sich als FBI-Agentin, die alle ihre Schritte mit dem Geheimdienst abgestimmt hatte. Auch die Liebesbriefe zwischen ihr und McDavid wanderten zum Geheimdienst. Zudem drohten ihnen nun langjährige Haftstrafen. Daher erklärten sich zwei der Angeklagten schuldig im Sinne der Anklage und belasteten McDavid, der ein Schuldgeständnis ablehnte. Dafür wurde ihm die fast 20jährige Haftstrafe aufgebrummt, während seine Gruppenmitglieder geringe Gefängnisstrafen bekamen.

Eine kleine Gruppe hatte die Forderung nach der Freilassung von McDavid nie aufgegeben. Eine seiner Freundinnen sorgte auch für seine Freilassung. Sie bemühte sich beharrlich um die zurückgehaltenen FBI-Dokumente, darunter die Liebesbriefe, die sich die FBI-Agentin und McDavid schrieben. Während des Verfahrens hatte das FBI gegenüber seinen Anwalt bestritten, dass es diese Briefe überhaupt gibt. Nun wurde offensichtlich, in welcher Weise das FBI die angebliche Terrorgruppe überhaupt erst geschaffen hat. Es scheint vor allem darum gegangen sein, kritische Menschen zu kriminalisieren.

Hunderte weitere Menschen wurden unter ähnlichen Umständen verurteilt

Nach McDavids Freilassung erinnerte die Freundin in einen Brief[4]daran, dass nach dem 9.11. zahlreiche Menschen auf ähnliche Weise zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden.

We are anxious to celebrate! But we also must remember that Eric’s case is just one among many – and it is by no means the most egregious. Since 9/11 the state has engaged in political prosecutions of hundreds of people in this country – the majority of them from Muslim communities – for their religious and political affiliations. And our comrades continue to be targeted and arrested for daring to dream. We are overjoyed that Eric is coming home. But we also know that we must never rest until all are free.

Diese Sätze sind sicher in einer Zeit nicht populär, wo nach den dschihadistischen Anschlägen in großen Teilen der Öffentlichkeit die Devise gilt, der Staat müsse Härte zeigen. Doch damit wird unterschlagen, dass oft junge Menschen in eine Falle gelockt und über Jahre weggesperrt werden.

Das aktuelle Beispiel ist er wenige Tage alt. Der 20jährige Christopher Lee Cornell, der sich auf Twitter als Sympathisant des „Islamischen Staats“ dargestellt hatte, hatte im Internet einen FBI-Agenten, der sich als Gesinnungsfreund ausgab, von einem geplanten Anschlag berichtet[5], heißt es in den Meldungen[6], die oft kaum kritisch hinterfragt werden. Festgenommen wurde er, nachdem er sich eine Schusswaffe und Munition gekauft hatte.

Der Fall McDavid macht misstrauisch. Was genau hat der junge Mann gesagt und welche Rolle spielte der FBI-Mann? Hat der ihn vielleicht erst auf die Bomben und wie er sie beschaffen kann, hingewiesen? Das geht aus der Anklage[7] nicht näher hervor. Schließlich ist es für eine Verurteilung nötig, dass der Beschuldigte mehr als nur vage Bekundungen, einen Anschlag zu planen, äußert. Wenn dann ein vermeintlicher Freund im Internet auftritt, mit angeblichen Kontakten angibt und weitere Details beisteuert, wird aus solchen vagen Plänen schnell die konkrete Vorbereitung eines Anschlags, was für eine langjährige Verurteilung nötig ist.

Nach diesem Muster[8] sind in den letzten Jahren zahlreiche Verurteilungen junger Islamisten abgelaufen (Das FBI als Terrorhelfer[9], Wie man einen Terroristen macht[10]). Meist suchten sie Kontakt im Internet und stießen auf Gesinnungsfreunde, die sich als FBI-Agenten entpuppten. Natürlich könnte man einwenden, hier sei Schlimmeres verhindern wurden. Was wäre gewesen, wenn diese jungen Islamisten im Internet nicht auf Geheimdienstler, sondern auf tatsächliche Gesinnungsfreunde gestoßen wären?

Dieser Einwand kann nicht einfach beiseite gewischt werden. Denn tatsächlich handelt es sich bei den Menschen, die im Internet Kontakte suchen, oft schon um Islamisten. Doch der Zweck heiligt auch hier nicht die Mittel. Man muss mit der Gegenfrage antworten, was geschehen wäre, wenn die jungen Islamisten im Internet auf vermeintliche Gesinnungsfreunde gestoßen wären, die aber kein Interesse haben, sie über Jahre wegzusperren, sondern die den Zweifel an in ihnen wachrufen wollen? Schließlich handelt sich bei jungen Menschen, die im Internet nach Unterstützung für einen Anschlag suchen, nicht um ideologisch gefestigte Menschen, die eine Gruppe hinter sich haben.

Wenn dann der Geheimdienst den jungen Menschen überhaupt erst die Mittel an die Hand gibt, die sie zu einer terroristischen Gefahr machen würden, wenn sie nicht verhaftet werden, handelt es sich endgültig nicht mehr um Gefahr im Verzug, sondern um eine Radikalisierung, die vom FBI orchestriert und dann kontrolliert an die Justiz übergeben wird. Gerade in einer Zeit, in der die Gefahr vor islamistischen Anschlägen durchaus real und keineswegs von Geheimdiensten erfunden wurde, ist es wichtig, auch für die Einhaltung der Menschenrechte der Beschuldigten einzutreten. Das gilt in den USA genau so wie in allen anderen Teilen der Welt. In den letzten Tagen war immer wieder die Rede davon, dass vermeintliche Islamisten festgenommen wurden, wesentlich geringer ist die öffentliche Resonanz, wenn sie wie jetzt in Belgien wieder freigelassen werden mussten, weil die Beschuldigungen so schwerwiegend nicht sind.

Erinnerungen an den Agenten Mark Kennedy

Der Fall McDavid hätte durchaus auch in Deutschland passieren könnten. Er erinnert an den britischen Agenten Mark Kennedy, der auch in Deutschland in linken Zusammenhängen aktiv war (Grenzüberschreitende Spitzel[11]). Auch er hat vor allem globalisierungskritische und ökoanarchistische Strukturen infiltriert und ist dabei gezielt in Absprache mit den Geheimdiensten eine Liaison mit Aktivistinnen eingegangen. Mehrere der betroffenen Frauen führen seit Jahren eine juristische Auseinandersetzung mit den verantwortlichen Geheimdiensten.

Bis heute ist nicht klar, ob es je zu einer Anklage kommt, weil die Geheimdienste alles tun, um einen öffentlichen Prozess zu verhindern. Eine der betroffenen Frauen hat kürzlich in einen Interview[12] ihre Beweggründe für die juristischen Schritte erklärt und kritisiert auch die Berichterstattung der meisten Medien:

Vom ersten Tag an waren Journalisten heiß auf diese Geschichte. Das Problem ist: Es geht nicht um den Sex, es ist keine James-Bond-Story. Es geht um etwas ganz anderes: Mein Leben wurde zum Gegenstand einer staatlichen Invasion. So viel von dem, was ich lebte, stellte sich als Lüge heraus. Es ist irreal. All die Jahre verschwinden, alles verschwindet. Der Blick auf dein Leben verändert sich komplett. Es ist schwer, wieder Vertrauen aufzubauen.

Über ihren vermeintlichen Geliebten, den sie als Mark Stone kennenlernte, schreibt die Frau:

Diese Figur gibt es nicht. Mark Stone war keine Person. Er wurde erfunden. Er bekam Pässe und einen Führerschein, hatte Befehle, reagierte auf Anweisungen. Seine Chefs haben operative Entscheidungen über mein Leben geführt. Sie haben entschieden, ob wir zusammen zu Abend essen. Er war keine Person, er war das Werkzeug.

Diese eindrücklichen Worte bekommen durch den Fall McDavid noch eine zusätzliche Bestätigung. Es ist auch ein Plädoyer dafür, gerade in Zeiten der weltweiten Verunsicherung nicht in scheinbar kurzen Prozessen, harten Strafen und der Staatsgewalt die Lösung von Problemen zu sehen.

http://www.heise.de/tp/artikel/43/43896/1.html

Anhang

Links

[1]

http://supporteric.org/

[2]

http://supporteric.org/updates.htm#ericisfree

[3]

http://earth-liberation-front.com/

[4]

http://supporteric.org/updates.htm#ericisfree

[5]

http://www.washingtonpost.com/world/national-security/ohio-man-arrested-in-alleged-plot-to-attack-capitol/2015/01/14/044e9ca8-9c36-11e4-96cc-e858eba91ced_story.html

[6]

http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-01/usa-anschlag-kapitol-vereitelt

[7]

https://s3.amazonaws.com/s3.documentcloud.org/documents/1502448/criminal-complaint-for-islamic-state-sympathizer.pdf

[8]

http://www.washingtonpost.com/national/details-on-fbi-sting-operations-since-2001-terror-attacks/2015/01/15/bff79b52-9cfa-11e4-86a3-1b56f64925f6_story.html

[9]

http://www.heise.de/tp/artikel/42/42333/

[10]

http://www.heise.de/tp/artikel/37/37645/

[11]

http://www.heise.de/tp/artikel/33/33938/

[12]

http://www.taz.de/!152839/

»Die soziale Frage hinter Gittern aufwerfen«

Im Mai 2014 wurde in der JVA Tegel in Berlin die Gefangenengewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO) gegründet. Oliver Rast ist einer der Gründer und seit dem Ende seiner Haftzeit Sprecher der Gewerkschaft. Er ist seit Jahren in der radikalen Linken aktiv. 2011 wurde Rast wegen angeblicher Mitgliedschaft in der »militanten gruppe« zu eine dreieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt. Mit ihm sprach die Jungle World über die Arbeit der Gefangenengewerkschaft und Möglichkeiten der Organisation von Häftlingen.

In jüngst veröffentlichten Beiträgen aus Ihrer Anfangszeit in der JVA Tegel schreiben Sie, dass der Klassenkampf hinter Gittern vorbei sei. Die Individualisierung sei so groß, dass Inhaftierte eher mit der Anstaltsleitung paktierten, als sich untereinander zu solidarisieren. Sind Gefangenenproteste passé?

Als ich im Mai 2013 vom sogenannten offenen in den geschlossenen Vollzug verfrachtet wurde, wurde ich erstmal mit der Situation konfrontiert, dass vom pulsierenden Klassenkampf hinter Gittern nichts wahrzunehmen war. Als jemand, der in den achtziger Jahren politisch sozialisiert wurde, musste ich nun kapieren, dass die Zeiten der Knastkollektive politischer Gefangener und breit getragener Kampagnen für deren Forderungen vorbei sind. Ich musste die Bilder, die sich in meiner Vorstellungswelt festgesetzt hatten, wegräumen, um einen klareren Blick auf die Verhältnisse vor Ort zu entwickeln. Der Klassenkampf lässt sich in der Parallelwelt des Knastes weder inszenieren noch von außen hineintragen.

Für mich stellte sich also die Frage, wie ich als politisches Subjekt im Knast auftreten will. Gefangenenhilfs- und Solidaritätsorganisationen versuchen im Rahmen ihrer Möglichkeiten, Haftbedingungen zu thematisieren und das Knastsystem in Frage zu stellen. Aber eine wirkliche Zugkraft für die Mehrheit der Gefangenen stellen sie nach meinen Erfahrungen nicht dar. Es brauchte einen inhaltlichen Aufhänger und einen praktischen Anlass, damit Gefangene unabhängig von ihrer Herkunft und ihrem Hintergrund zusammenfinden konnten.

Wie kam es dann dazu, dass Sie schließlich aus dem Knast heraus eine Gefangenengewerkschaft ins Leben riefen?

Das sieht in der Rückschau sicherlich durchdachter und planvoller aus, als es in dem Moment tatsächlich ablief. Sowohl bei mir als auch bei meinen Mitdiskutanten vor und hinter der Knastmauer war viel Skepsis vorhanden, wie weit die vage Idee einer Gefangenenunion tatsächlich umgesetzt werden könnte. Letztlich war es das Zusammenspiel von drei Hauptfaktoren, das dazu führte, dass mein inhaftierter Kollege Mehmet Aykol und ich die »Gefangenengewerkschaft der JVA Tegel« gründeten, die wenig später in »Gefangenengewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO)« umbenannt wurde.

Welche Faktoren waren das?

Erstens bin ich seit einigen Jahren Mitglied der Industrial Workers of the World (IWW), auch Wobblies genannt, sowie der gleichfalls traditionsreichen Freien Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union (FAU). Ich wollte mein basisgewerkschaftliches und revolutionär-unionistisches Engagement auch unter den widrigen Knastbedingungen fortsetzen.

Zweitens stützen wir uns auf geltendes Recht. Zum einen berufen wir uns auf ein Grundrecht, das auch für Inhaftierte nicht außer Kraft gesetzt ist: die Koalitionsfreiheit nach Artikel 9, Absatz 3 des Grundgesetzes. Zum anderen haben wir uns, wie es eine gängige Rechtspraxis von Gewerkschaften ist, als »nicht rechtsfähiger Verein« nach dem BGB konstituiert.

Und drittens sahen wir die dringende Notwendigkeit, die soziale Frage hinter Gittern aufzuwerfen, womit wir den neuralgischen Punkt vieler, wenn nicht gar aller Gefangenen getroffen haben.

Sie sind mit zwei Hauptforderungen angetreten: Mindestlohn und Rentenversicherung für Inhaftierte. Wie wollen Sie diese durchsetzen?

Wir haben uns bewusst auf ein Minimalprogramm beschränkt. Die Klarheit der Forderungen nach Mindestlohn und Rentenversicherung für Gefangene ist ein Teil des »Erfolgsrezepts« der GG/BO. Das entspricht absolut lebensnahen Bedürfnissen von Inhaftierten. Dadurch entsteht eine Interessengemeinschaft, die die sonst so übliche Fraktionierung unter Gefangenen punktuell überwindet. Außerdem bringen wir uns in allgemeine öffentliche Debatten nach einem Mehr an sozialer Gerechtigkeit ein. Das verschafft uns eine doppelte Anschlussfähigkeit, die uns eine relativ breite Resonanz beschert hat.

Jetzt wird es darauf ankommen, dass wir uns im Bündnis mit anderen Kräften in sozialen Bewegungen verankern. Hierüber hoffen wir, Kräfteverhältnisse verschieben zu können. Wir wissen aber auch, dass wir gegen gewichtige Akteure in Bund und Ländern anlaufen, die jede sozialreformerische Veränderung, auch wenn sie lediglich auf den Gleichbehandlungsgrundsatz pocht, für einen Akt der Meuterei halten.

Gleich nach der Gründung der GG/BO wurden gewerkschaftseigene Unterlagen beschlagnahmt. Hat die Repression der Anstaltsleitung der JVA Tegel die Gefangenenbewegung beschleunigt?

Zweifellos haben die Zellenrazzien in Tegel den Grad des öffentlichen Interesses erhöht und somit unsere anfängliche Entwicklung etwas beschleunigt. Allerdings bezwecken solche Maßnahmen immer, uns die Legitimität als gewerkschaftliche Initiative abzusprechen. Das soll unter den Gefangenen Verunsicherung erzeugen. Uns ist klar, dass potentiell interessierte Insassen davon abgehalten werden sollen, sich der GG/BO anzuschließen.

Nun haben die Damen und Herren im Justizapparat das Problem, dass wir existieren – und zwar, wie erwähnt, auf einer formaljuristisch fundierten Basis. Wir nehmen lediglich ein Grundrecht in Anspruch, das der bürgerliche Staat selbst einer »sozialen Randgruppe« wie Inhaftierten nicht vorenthalten will.

Einige unserer aktivsten Mitglieder erfahren momentan die »Klassenjustiz« ganz reell. Insbesondere für agile Gewerkschafter hinter Schloss und Riegel zeigt sich, wie weit es mit dem vielbeschworenen liberalen Rechtsstaat in Wirklichkeit her ist. Als GG/BO gehen wir gegen die schikanösen Behandlungen unserer Mitglieder politisch und juristisch vor.

Wie können die Kolleginnen und Kollegen in den unterschiedlichen Gefängnissen in den Entscheidungsprozess der GG/BO einbezogen werden?

Eine basisdemokratische Organisation stößt im Knast sprichwörtlich auf Grenzen. Es können derzeit keine JVA-Versammlungen unserer Mitglieder einberufen werden, um zum Beispiel mit auswärtigen GG/BO-Mitgliedern in direkten Austausch zu treten. Vieles läuft zäh über Schriftverkehr, der natürlich durch das Eingreifen der Vollzugsbehörden gestört werden kann.

Ist die GG/BO dann überhaupt arbeitsfähig?

Doch, wir haben viel vor: Mit unserem bundesweiten Aktionstag »Schluss mit der Billiglöhnerei hinter Gittern!«, der im April 2015 in mehreren Städten stattfinden wird, soll durch eine »aktivierende Untersuchung« die Betriebslandschaft in den Knästen unter die Lupe genommen werden. Mit einem Fragebogen an unsere Mitglieder wollen wir in Erfahrung bringen, wer dort unter welchen Bedingungen zu Billiglöhnen und im Akkord produzieren lässt. Wir hoffen, dass das innerhalb und außerhalb der Knäste einen weiteren Mobilisierungsschub geben wird.

Die Solidarität zwischen inhaftierten und nicht inhaftierten Kollegen ist ganz wichtig für das Funktionieren unserer Organisation. Indem wir sowohl drinnen als auch draußen über Standbeine verfügen, haben wir viel größere Handlungsspielräume und sind als Gesamtorganisation nicht gleich durch jede JVA-Schikane zu erschüttern.

Wie gestaltet sich der Kontakt zu anderen Gewerkschaften, zum DGB oder auch zur FAU und den Wobblies? Gibt es einen solidarischen Austausch?

Von den Basisgewerkschaften FAU und IWW haben wir rasch positive Signale erhalten. Sie stehen Selbstorganisationsprozessen und der Gefangenenfrage ja grundsätzlich offen gegenüber. Berührungsängste sind vereinzelt bei Vertretern von DGB-Gewerkschaften spürbar. Allerdings haben wir aus DGB-Basisstrukturen frühzeitig Zuspruch erfahren, insbesondere seitens der Erwerbslosenausschüsse von Verdi und der Verdi-Jugend. Dort ist schnell begriffen worden, dass prekäre Arbeitsverhältnisse aus gewerkschaftlicher Sicht generell inakzeptabel sind – ob nun außer- oder innerhalb der Knastmauern. Und ein Mindestlohn greift erst, wenn er tatsächlich flächendeckend und ausnahmslos gilt. Als GG/BO wollen wir die bestehenden Kontakte im breiten Gewerkschaftsspektrum vertiefen und die begonnene punktuelle Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen weiter ausbauen.

Wo wird die GG/BO in einem Jahr stehen?

Wir befinden uns im Übergang von der Aufbau- in die Stabilsierungsphase. Vieles an Struktur der GG/BO ist weiterhin fragil, da wir mit der gewerkschaftspolitischen Selbstorganisation hinter Gittern bei null angefangen haben. Hinzu kommt, dass wir am Rande unserer Kapazitäten arbeiten. Sowohl personell, infrastrukturell als auch finanziell muss spätestens im Frühjahr einiges neu strukturiert werden. Wir sind längst über das Stadium eines kleinen Projektversuchs hinaus. Wir sind ein Verbund von mehreren Hundert Menschen in über 30 Knästen, der in Bewegung bleiben will. Und das setzt einen bestimmten Grad an Professionalisierung voraus.

Ohne mich der Idealisierung verdächtig machen zu wollen, behaupte ich, dass die GG/BO bereits zu einem kleinen Faktor vor und hinter den dicken Gitterstäben geworden ist. Eine Entwicklung, die ermutigen sollte, die volle Gewerkschaftsfreiheit hinter Gittern Etappe für Etappe durchzusetzen.

http://jungle-world.com/artikel/2015/02/51219.html

Interview: Peter Nowak

Martin Matthias Becker: Mythos Vorbeugung

Warum Gesundheit sich nicht verordnen lässt und Ungleichheit krank macht.
Wien: Promedia, 2014. 224 Seiten, 17,90 Euro

Esse viel frisches Obst und Gemüse! Vermeide fetthaltige Nahrung und Süßigkeiten! Mit solchen Aufforderungen sind wir heute ständig konfrontiert. Auf dem ersten Blick scheinen diese Ratschläge sehr vernünftig. Wer wollte bestreiten, dass ein frischer Apfel bekömmlicher ist als ein überzuckerter Powerdrink? Der Medizinjournalist Martin Matthias Becker beginnt sein Buch Mythos Vorbeugung deshalb ebenfalls mit einem Ratschlag: «Lieber nicht rauchen! Oder wenigstens weniger. Steigt auf eure Fahrräder, es wird euch nicht schaden! Wahrscheinlich.»

Auf den folgenden 220 Seiten des gut lesbaren Buches begründet Becker dann kenntnisreich, dass auch eine gesunde Ernährungs- und Lebensweise keine Garantie für ein Leben ohne Krankheiten ist. Dieser Eindruck wird aber bei vielen Kampagnen für eine gesunde Lebensweise erzeugt, und das hat Konsequenzen. Wenn Krankheiten vor allem als Folge der eigenen Lebensführung und Ernährung dargestellt werden, wird Krankheit schnell zum individuellen Versagen.

Im Zeitalter leerer Kassen wird den Patienten noch vorgeworfen, die sozialen Sicherungssysteme durch ihre ungesunde Lebensweise zu belasten. Dabei zeigt Becker in seinem Buch immer wieder auf, dass Gesundheit und Krankheit durchaus eine Klassenfrage ist: «Eine herausragende Rolle für Gesundheit und Krankheit spielt die gesellschaftliche Position», schreibt er mit Verweis auf engagierte Mediziner und Sozialpolitiker wie den ehemalige Präsidenten der Berliner Ärztekammer, Ellis Huber. Der hat schon in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf den Zusammenhang von Armut und Gesundheit hingewiesen.

«Wenn Sie sich in die U1 setzen und in Richtung Krumme Lanke fahren, dann verlieren Sie an jeder Station zwei Monate Lebenserwartung», zitiert Becker Ellis Huber über einen Streifzug durch das Westberlin der frühen 80er Jahre. Zwischenzeitlich hat sich die Linienführung der U-Bahn in Berlin geändert, nicht aber das Gefälle in der Lebenserwartung zwischen bürgerlichen und proletarischen Stadtteilen. Noch deutlicher ist die Differenz bei der Lebenserwartung in London. «In der britischen Hauptstadt beträgt der Unterschied zwischen den wohlhabenden und den ärmsten Bezirken 17 Jahre», schreibt Becker.

Becker weist an vielen Einzelbeispielen nach, dass die Ungleichheit für viele gesundheitliche Probleme in der Gesellschaft verantwortlich ist. Dabei geht es nicht nur um das Erleiden von Mangelsituationen. Auch Stress und Arbeitshetze sind krankmachende Faktoren. Eine politisch gewollte Überwindung ungleicher Verhältnisse wäre demnach die beste Vorbeugung.

Auch diese Erkenntnis ist keineswegs neu, wie Becker am Beispiel des jungen Mediziners und Sozialpolitikers Rudolf Virchow zeigt. Als Teil einer Expertenkommission besuchte dieser im Frühjahr 1848 das von einer schweren Epidemie betroffene Oberschlesien und fand dort Menschen in unbeschreiblicher Armut und katastrophalen hygienischen Verhältnissen vor. Virchow merkte schnell, dass er sich mit seinen sozialen Bestrebungen in der preußischen Feudalgesellschaft viele Feinde machte, und konzentrierte sich ganz auf seine medizinische Arbeit, für die er heute bekannt ist.

Becker zeigt auf, dass gerade im Zuge der jüngsten Weltwirtschaftskrise in Ländern wie Griechenland und Spanien Krankheiten, die bisher als beherrschbar galten, wieder eine tödliche Gefahr, vor allem für arme Menschen, werden.

Beckers Buch gut lesbares und dennoch informatives Buch ist auch eine Streitschrift für eine egalitäre Gesellschaft – gegen die Privatisierungstendenzen, die auch im deutschen Gesundheitswesen unübersehbar sind.

Martin Matthias Becker: Mythos Vorbeugung

Peter Nowak

Überwindung der Fraktionierung

Oliver Rast über die Forderungen und Pläne der Gefangenengewerkschaft

Oliver Rast gehörte im Mai 2014 in der Berliner Justizvollzugsanstalt Tegel zu den Mitbegründern der Gefangenengewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO), deren Sprecher er nach dem Ende seiner Haftzeit ist. Mit ihm sprach Peter Nowak.

Wieso gründeten Sie im Gefängnis eine Gewerkschaft?

Erstens bin ich seit einigen Jahren Mitglied bei den Industrial Workers of the World (IWW), auch »Wobblies« genannt, sowie in der gleichfalls traditionsreichen Freien Arbeiter Union (FAU). Ich wollte mein basisgewerkschaftliches und revolutionär-unionistisches Engagement auch unter den widrigen Knastbedingungen fortsetzen. Zweitens stützen wir uns – ganz unspektakulär – auf geltendes Recht. Zum einen berufen wir uns auf ein Grundrecht, das auch für Inhaftierte nicht außer Kraft gesetzt ist: die Koalitionsfreiheit nach Art. 9, Abs. 3 des Grundgesetzes. Zum anderen haben wir uns, wie es eine gängige Rechtspraxis von Gewerkschaften ist, als sogenannter »nicht rechtsfähiger Verein« nach dem BGB konstituiert. Und drittens sahen wir die dringende Notwendigkeit, die soziale Frage hinter Gittern aufzuwerfen, womit wir den neuralgischen Punkt vieler, wenn nicht gar aller Gefangenen getroffen haben.

Warum haben Sie sich auf die zwei Hauptforderungen Mindestlohn und Rentenversicherung für Inhaftierte beschränkt?

Wir haben uns bewusst auf ein Minimalprogramm beschränkt. Die Klarheit der Forderungen nach Mindestlohn und Rentenversicherung für Gefangene ist ein Teil des »Erfolgsrezepts« der GG/BO. Das entspricht absolut lebensnahen Bedürfnissen von Inhaftierten. Dadurch entsteht eine Interessengemeinschaft, die die sonst so übliche Fraktionierung unter Gefangenen punktuell überwindet. Außerdem bringen wir uns in allgemeine öffentliche Debatten nach einem Mehr an sozialer Gerechtigkeit ein. Das verschafft uns eine doppelte Anschlussfähigkeit, die uns eine relativ breite Resonanz beschert hat.

Wie wollen Sie die Forderungen durchsetzen?

Jetzt wird es darauf ankommen, dass wir uns im Bündnis mit anderen Kräften in sozialen Bewegungen verankern. Hierüber hoffen wir, Kräfteverhältnisse verschieben zu können. Wir wissen aber auch, dass wir gegen gewichtige Akteure in Bund und Ländern anlaufen, die jede sozialreformerische Veränderung, auch wenn sie lediglich auf den Gleichbehandlungsgrundsatz pocht, für einen Akt der Meuterei halten.

Wie werden die Mitglieder in den unterschiedlichen Gefängnissen in den Entscheidungsprozess der GG/BO einbezogen werden?

Wir sind ein Verbund von mehreren Hundert Menschen in über 30 Knästen, der in Bewegung bleiben will. Und das setzt einen bestimmten Grad an »Professionalisierung« voraus. Eine basisdemokratische Organisierung stößt im Knast sprichwörtlich an Grenzen. Es können derzeit keine JVA-Versammlungen unserer Mitglieder einberufen werden. Vieles läuft zäh über Schriftverkehr, der natürlich durch das Eingreifen eigenmächtiger Vollzugsbehörden gestört werden kann.

Ist die GG/BO dann überhaupt arbeitsfähig?

Wir haben viel vor: Mit unserem bundesweiten Aktionstag »Schluss mit der Billiglöhnerei hinter Gittern!«, der im April 2015 in mehreren Städten stattfinden wird, soll durch eine »aktivierende Untersuchung« die Betriebslandschaft in den Knästen unter die Lupe genommen werden. Mit einem Fragebogen an unsere Mitglieder wollen wir in Erfahrung bringen, wer dort unter welchen Bedingungen zu Billiglöhnen und im Akkord produzieren lässt. Wir hoffen, dass das innerhalb und außerhalb der Knäste einen Mobilisierungsschub geben wird.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/956876.ueberwindung-der-fraktionierung.html

Interview: Peter Nowak

Rückenwind für die Streikenden

Gewerkschafterin Mechthild Middeke über Solidarität mit den Amazon-Beschäftigten

Mechthild Middeke ist Gewerkschaftssekretärin bei ver.di-Nordhessen. Mit der Streikleiterin bei Amazon sprach Peter Nowak über Solidarität mit den Amazon-Beschäftigten.

nd: Warum hatte ver.di den Amazon-Streik am Sonntag ausgesetzt und dann die Fortsetzung bis zum 24. Dezember beschlossen?
Middecke: Die Fortsetzung des Streiks bis zum 24. Dezember wurde am Freitag beschlossen. Wir haben den Streik am Sonntag nicht ausgesetzt. Das wurde in den Medien teilweise falsch dargestellt. Der Sonntag ist kein regulärer Arbeitstag. Deshalb wurde an diesem Tag auch nicht gestreikt.

Wehrt sich Ihre Gewerkschaft aber nicht auch gegen die Einführung der Sonntagsarbeit bei Amazon?
Ver.di hat am Freitag vor den Verwaltungsgerichten Kassel und Leipzig Klage gegen die vom Regierungspräsidium Kassel und der Landesdirektion Sachsen für die Standorte Bad Hersfeld und Leipzig bewilligte Sonntagsarbeit am 21. Dezember eingereicht. Die eingereichte Klage entfaltet eigentlich umgehend aufschiebende Wirkung. Da die Klagen den zuständigen Behörden allerdings nicht rechtzeitig zugestellt wurden, konnte diese aufschiebende Wirkung nicht in Kraft treten.

Wie ist die Stimmung bei den Beschäftigten, nachdem der Streik bis Weihnachten fortgesetzt wird?
Die letzten Streiktage haben den Beschäftigten Rückenwind gegeben. Besonders erfreut reagiert haben die Beschäftigten, dass am Montag mit Koblenz ein weiterer Amazon-Standort in den Streik getreten ist. Zudem hat die Nachricht, dass auch bei drei Amazon-Standorten in Frankreich seit Montag bis zum 24. Dezember gestreikt wird, die Stimmung unserer Kollegen gehoben.

Geht es bei den Streiks in Frankreich um ähnliche Forderungen wie in Deutschland?
Es geht bei dem Streik in Frankreich um die Verbesserung der Löhne und um die Festanstellung der bisher prekär beschäftigten Arbeitskräfte sowie um die Erhöhung der Pausenzeiten und um einen besseren Gesundheitsschutz. Das sind Themen, die auch die Kollegen bei Amazon in Deutschland beschäftigen.

Wie wurden die verschiedenen Solidaritätsaktionen von außerparlamentarischen Initiativen für den Amazon-Streik in der letzten Woche von den Kollegen aufgenommen?
Wir stehen in Bad Hersfeld schon länger in Kontakt mit einem Kasseler Solidaritätsbündnis. Am letzten Mittwoch besuchte uns die Gewerkschaftsjugend aus Frankfurt am Main. Am Donnerstag waren zudem Mitglieder eines größeren außerparlamentarischen linken Bündnisses vor Ort. Diese Unterstützungsaktionen werden von den Kollegen überwiegend positiv gesehen. Es gab aber auch manche, die vor Instrumentalisierung durch Gruppen von Außen warnen.

Sind Auswirkungen der Streikaktionen auf den Versandhandel feststellbar?
Da die Bestellungen zentral erfolgen und Amazon auch Standorte in Polen hat, können wir die Folgen nicht genau benennen. Was wir aber feststellen, ist, dass Amazon viel Geld ausgibt, um die zeitnahe Erledigung der Aufträge trotz des Streiks zu ermöglichen.

Wird der Streik nach Weihnachten fortgesetzt?
Nein, am 24. Dezember ist definitiv der letzte Streiktag bei Amazon in diesem Jahr. Das ist auch wegen der Zulagen der Beschäftigten notwendig. Wie es mit dem Arbeitskampf weitergeht, werden wir gemeinsam mit den Beschäftigten im nächsten Jahr entscheiden. Davor werden wir ausführlich die aktuellen Streiks auswerten.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/956352.rueckenwind-fuer-die-streikenden.html

Interview: Peter Nowak