Und sie macht nicht frei

Anne Allex im Gespräch über die »Arbeitsscheuen«- Verfolgung im Faschismus und zum Umgang mit Erwerbslosen damals wie heute

Vor zehn Jahren hat Anne Allex den »Arbeitskreis Marginalisierte gestern und heute« mitbegründet. Jetzt hat sie den Sammelband »Sozialrassistische Verfolgung im deutschen Faschismus« herausgegeben, in dem eine erste Bilanz der Gedenkarbeit für als »asozial« und »kriminell« stigmatisierte Menschen im Nationalsozialismus (NS) gezogen wird. Mit ihr sprach Peter Nowak.

Ihr neuer Band gibt einen Überblick über das Gedenken an die im NS als »asozial« stigmatisierte Menschen. Warum war das Thema lange auch bei den politisch Verfolgten der Arbeiterbewegung tabu?
Die Wissenschaft »Rassenhygiene« trugen in der Weimarer Republik alle weltanschaulichen Strömungen. Daher gingen auch politisch Verfolgte der Ideologie des angeblich verschiedenen »Wertes der Menschen« auf den Leim. Dieses Phänomen der Teile-und herrsche-Politik ragte bis in die Strafgesetzgebung der DDR hinein.

In welcher Form beispielsweise?
Es gab den Paragrafen 249 im DDR-Strafgesetzbuch, der die Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten näher bestimmte. Dort wurde unterstellt, dass Personen sich aus Arbeitsscheu einer geregelten Arbeit hartnäckig entzögen, obwohl sie arbeitsfähig sind.

Der Arbeitskreis »Marginalisierte« kooperiert mit der Lagergemeinschaft Ravensbrück, einst gegründet von Überlebenden der Frauenkonzentrationslager. Wie sieht diese Zusammenarbeit aus?
Die Lagergemeinschaft Ravensbrück hat sich seit ihrem Bestehen dafür eingesetzt, alle Lagerflächen für die Gedenkarbeit zugänglich zu machen. Sie unterstützen die Ansinnen der jungen Frauen der Uckermark-Initiative für einen Gedenkort an das KZ Uckermark seit Beginn. Als Arbeitskreis arbeiten wir mit beiden Organisationen gut zusammen. Für uns ist es immer wieder erfrischend, zu bemerken, dass wir als Kinder und Enkel von Verfolgten gleiche Gedanken und Empfindungen zur Zeitgeschichte und recht analoge Kritiken an den Institutionen entwickeln.

Sie waren ursprünglich Aktivistin der Erwerbslosenbewegung. Warum haben Sie vor zehn Jahren den »AK Marginalisierte gestern und heute« mitbegründet?

Erwerbslosen im deutschen Faschismus wurde grundsätzlich »Arbeitsscheu« unterstellt; das beinhaltete einen »Hang zum Verbrechen«. In der deutschen Geschichte wurde Erwerbslosen durchgehend die Schuld an ihrer Situation in die eigenen Schuhe geschoben. Das war bereits vor 1933 so, was sich beim Phänomen der sogenannten Arbeitshäuser zeigt. Die Faschisten wollten Erwerbslose als »Minderwertige« ausrotten. Nach 1945 wurde in der BRD die Zwangsarbeit laut Bundessozialhilfegesetz eingeführt, die verfälschend »Hilfe zur Arbeit« hieß. Seit 2005 kennen wir Zwangsarbeit – so nennt es auch die Internationale Arbeitsorganisation ILO – in Form von »Ein-Euro-Jobs«. Deutschland erweist sich im Umgang mit Erwerbslosen seit mehr als einem Jahrhundert als lernunfähig. Breite Gesellschaftsteile unterstützen süffisant verletzende Diffamierungen Dritter, weil sie Sündenböcke brauchen. Mangelndes Einfühlungsvermögen und auch die Faulheit in der Auseinandersetzung mit den NS-Postulaten bei Gedenkverwaltungen zeigen dies.

Können Sie ein Beispiel dafür nennen?
Die Aufschriften auf Stolpersteinen Gunter Demnigs und der Stolpersteinkoordinierungsstellen Hamburg und Berlin deuten auf vermeintliche Charaktereigenschaften hin, die von den Nazis unterstellt wurden. Auch wurden 2016 an der Weltzeituhr am Berliner Alexanderplatz fünf Stolpersteine verlegt, die unter anderem »Vorbeugehaft« und »Arbeitshausaufenthalte« in Rummelsburg anführen.

Wo sehen Sie heute Kontinuitäten bei der Ausgrenzung von einkommensarmen Menschen?
Im abschätzigen Umgang mit Erwerbslosen sehe ich erschreckende Parallelen zu den Jahren ab 1924. Jobcenter versuchen die kläglichen Arbeitslosengeld-II-Leistungen zum Beispiel mit Sanktionen zu beschneiden, sie probieren auch, Personen mit Mitwirkungsregelungen aus dem Leistungsbezug zu kicken, in völliger Unkenntnis von Verwaltungsverfahren und aufgrund juristischer Fehlannahmen. Als gelegentlicher Beistand erlebe ich alle Facetten von Anmaßung, Kriminalisierung und Psychiatrisierung, dass mir die Haare zu Berge stehen.

Wo werden Ihre Schwerpunkte in nächster Zeit liegen?
Neben Buchpräsentationen denken wir im Arbeitskreis über die Weiterführung unserer Arbeit zum ehemaligen Berliner Arbeitshaus Rummelsburg nach. Gegenwärtig sind wir stärker mit anderen Verfolgtengruppen im Gespräch, um unser Wissen über »Asoziale« und »Kriminelle« in allen Organisationen, die sich mit Gedenkarbeit und dem Kampf gegen Faschismus beschäftigen, zu erweitern.

Anne Allex (Hg): Sozialrassistische Verfolgung im deutschen Faschismus. Kinder, Jugendliche, Frauen als sogenannte »Asoziale« – Schwierigkeiten beim Gedenken, Verlag AG Spak, 2017, 447 Seiten, 28 €.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1059923.und-sie-macht-nicht-frei.html

Peter Nowak

Eine Familie im Visier der Nazis

WIDERSTAND „Stolpersteine“ in Neukölln zum Gedenken an Else und Emil Linke und ihre Kinder

Am heutigen Donnerstag ab 16 Uhr verlegt der Künstler Günther Demnig in der Böhmischen Straße in Neukölln fünf Stolpersteine für Else und Emil Linke und deren drei Kinder.

Das Ehepaar lebte seit 1924 in Neukölln, sie waren als aktive KommunistInnen bekannt. Als die SA 1931 in der Richardstraße 35 ein Lokal einrichtete, initiierten sie Proteste. Der Naziladen im Vorderhaus der als „Richardsburg“ bekannten Mietskaserne wurde von vielen BewohnerInnen als besondere Provokation angesehen. Schließlich war das Gebäude mit fünf Hinterhöfen eine Hochburg der linken Parteien. BewohnerInnen klagten über ständige Provokationen der SA.

Darin liegt auch der Grund, dass die Richardsburg eine deutschlandweit wohl einmalige Aktionsform entwickelte: den antifaschistischen MieterInnenstreik. Die BewohnerInnen gründeten einen Mieterrat, an dem SozialdemokratInnen, KommunistInnen und Parteilose beteiligt waren, und verweigerten die Mietzahlungen bis zur Schließung des Naziladens. Fast täglich gab es antifaschistische Straßenproteste. Dabei wurde im Oktober 1931 der Wirt des SA-Ladens Heinrich Böwe von einem Querschläger getroffen und starb.

Die Linkes standen besonders im Visier der Nazis und flüchteten bereits 1933 über Prag nach Moskau. Dort wurde Emil Linke 1938 Opfer des stalinistischen Terrors. Eine Tochter starb 1945 an Typhus, der älteste Sohn kam 1947 bei einem Arbeitsunfall ums Leben. In der Galerie Olga Benario in der Richardstraße 104 wird der jüngste Sohn, Wolfgang Linke, ab 19.30 Uhr über das Leben seiner Eltern berichten. Musikalisch wird die Veranstaltung von der Gruppe Band Cosma begleitet. Der Schlagzeuger ist ein Urenkel der Linkes und lebt heute in Neukölln.
http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ba&dig=2013%2F09%2F19%2Fa0137&cHash=a957fabcf4c5a48beaf077cdab622843

Peter Nowak