Dora Tieger ermittelte über Machenschaften ihres Arbeitsvermittlers – und geriet ins Fadenkreuz des Jobcenters. „So eine wie Sie würden wir nie anbieten“, hieß es. Sanktioniert bis zum Exodus wurde sie trotzdem. Ein erschütternder Bericht

Täglich 15 Briefe, Sanktion-Drohung: So werden Bürgergeld-Empfänger im Jobcenter behandelt

Nach wochenlangen Verhandlungen hat die Bundesregierung beschlossen, dass aus dem Bürgergeld die neue „Grundsicherung“ wird. Dabei sollen Sanktionen und Bestrafungen im Mittelpunkt stehen: „Wir können die Leistungen auf Null setzen“, sagte Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) nach dem Abschluss der Verhandlungen im ZDF. Wie wirkt sich der neue Druck auf Betroffene aus? Dora Tieger* hat das Jobcenter als Bestrafungsanstalt erlebt und wäre daran fast zugrunde gegangen. Hier berichtet sie von Demütigungen durch Mitarbeiter, von Arbeitsvermittlern mit finsteren Absichten und einer Gerichtsvollzieherin, die am Ende doch Mitleid mit ihr bekam.

der Freitag: Frau Tieger, was denken Sie, wenn Sie von diesen Verschärfungen hören?

Dora Tieger: Ich habe große Angst, dass noch mehr Menschen hilflos den Jobcentern und ihren Sachbearbeitern ausgeliefert sind. Ich weiß aus eigenem Erleben, wie schnell das gehen kann.

Wie sind Sie in die Job-Center-Maschine geraten?

Ich hatte über mehrere Jahre eine geförderte Stelle in einem Bezirksmuseum. Fast die gesamte Museumslandschaft in den Bezirken konnte nur mit diesen Ein-Euro-Jobs existieren. Mit dem Wechsel der Museumsleitung lief die Förderung aus. Zu dieser Zeit hatte ich immer ein sehr gutes Verhältnis mit den Mitarbeitern des Jobcenters.

Was hat sich für Sie dann geändert?

Ich bekam eine ganz andere Vermittlerin, die sofort einen rauen Ton mir gegenüber anschlug. Sie gab mir zu verstehen, dass ich wohl nicht wisse, wie die Leute draußen über Menschen wie mich denken. Sie wollte mit mir auch gar nicht reden und mich nicht nach meinen Bedürfnissen befragen. Sie wies mich, ohne das Gespräch mit mir zu suchen, einer Maßnahme zu. Sie gab dies als Bewerbungstraining aus. Ich dachte mir nicht viel dabei und unterschrieb die Eingliederungsvereinbarung.

Der Vermittler sagte vor versammelter Runde: So eine wie Sie würden wir unseren Geschäftskunden gar nicht anbieten

Was sollte der Inhalt dieser Maßnahme sein?

Dazu gehörten neben der üblichen Stärken- und Schwächenanalyse Punkte wie „mein Konsumverhalten“, Wohlfühlen trotz Arbeitslosigkeit, Fahrwegplanung ÖPNV und Haushaltsführerschaft. Sie sollte acht Wochen gehen. Als ich die Eingliederungsvereinbarung später genauer durchlas, wurde ich doch etwas stutzig.

Was fiel Ihnen da auf?

Der Träger sollte vollen Zugriff auf meine jobcenterinternen Daten haben, und ich sollte unter Androhung von Sanktionen jede Stelle annehmen, die mir der Maßnahmeträger anbot. Daraufhin habe ich recherchiert, was genau hinter diesem Träger steckt. Die Arbeitslosenforen waren voll mit Schreckensnachrichten, und ich fand heraus, dass dieser Träger seit Jahren im Zeitarbeitsmarkt aktiv ist und in Berlin gerade eine neue Filiale eröffnet hat. Die Geschäftsführer waren identisch.

Wie haben Sie reagiert?

Ich bin dann am Anfang zur Maßnahme hingegangen. Dort hat ein junger Mann einen Vortrag gehalten, in dem von 80 Prozent Vermittlungserfolgen die Rede war. Das hat mich noch stutziger gemacht. Er sagte in einem paternalistischen Ton: „Heute könnt ihr früher gehen, ihr müsst nur noch Einiges unterschreiben.“ Uns wurden fünf oder sechs Blätter ausgehändigt, unter anderem eins, in dem ich den vollen Zugriff auf meine Jobcenter-Daten erlauben sollte, und ein weiteres, dass sich der Maßnahmeträger in meinem Namen bewerben darf und Kontakt zu zukünftigen Arbeitgebern halten kann. Ich habe mir gedacht, das will ich nicht unterschreiben. Als ich das äußerte und die anderen Teilnehmer ebenfalls stutzig wurden, wurde er richtig wütend. Er sagte vor versammelter Runde: „So eine wie Sie würden wir unseren Geschäftskunden gar nicht anbieten.“ Ich wurde zu einem Gespräch geholt, und dort hat man versucht, mich völlig niederzumachen.

Eine Firma, die pleite gegangen war, rette sich mit Menschen wie mir vor der Insolvenz: Als ich das verstand, habe ich mich wie eine Sklavin gefühlt

Wie genau?

Das waren Methoden, wie man sie bei Scientologen liest. Ab da wurde ich völlig isoliert, indem sie mich in den Pausen zu weiteren Gesprächen beordert haben. Ich habe in dem Gespräch gefragt, ob ihre Vermittlungsquote über das halbe Jahr bei der Zeitarbeit hinausgeht. Darauf habe ich keine Antwort bekommen. Doch ich habe mich weiterhin geweigert, zu unterschreiben. Dann sagten sie, dass sie mit mir nichts anfangen könnten. Da war ich zunächst froh und dachte, ich könne endlich gehen. Doch das durfte ich nicht. Ich sollte weiterhin zu dem Maßnahmeträger kommen und an einem Computer nach Stellenangeboten suchen.

Haben Sie sich gewehrt?

Ich bin wieder zum Jobcenter gegangen und dachte, ich habe da etwas Skandalöses über diesen Maßnahmeträger aufgedeckt, der Geld dafür bekommt, dass er die Menschen in die eigene Zeitarbeitsfirma vermittelt. Doch meine Fallmanagerin wollte wieder nicht mit mir reden. Sie hat mir gleich das Wort abgeschnitten und gesagt, ich solle meine Beschwerde schriftlich an die oberen Instanzen im Jobcenter richten. Für meine Situation hat sich nichts geändert. Ich musste in der Maßnahme bleiben.

Wie haben Sie sich gefühlt?

Ich habe mich weiter schlau gemacht und erfahren, dass dieser Träger gerade aus der Insolvenz kommt. Ich habe nicht verstanden, dass eine Firma, die eben erst pleitegegangen ist, praktisch mit Sklaven wie mir ihre Firma rettet. Ich habe mich tatsächlich wie eine Sklavin gefühlt, denn weil ich vom Jobcenter gekommen bin, hätte ich die Arbeitsangebote nicht ablehnen können. Ich fühlte mich gefangen und ausgeliefert.

Wie sind Sie mit der Situation umgegangen?

Ich habe mir extra einen neuen Block gekauft und angefangen, die bisherigen Ereignisse zu dokumentieren. Ich wollte in der weiteren Maßnahme alles festhalten. Doch dann hatte ich Pech. Ich hatte mich zum Schreiben in ein Café gesetzt. Da hat mir jemand unter dem Tresen die Tasche mit allen Dokumenten weggeklaut. Ich hatte keine Fahrkarte mehr, keinen Ausweis und keine Bankkarte. Inzwischen konnte ich mich nicht mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln fortbewegen. Ich bin dann nicht zu der Trainingsmaßnahme gefahren, sondern beim Jobcenter vorstellig geworden. Dies brachte mir die erste Sanktion ein.

Die Fallmanagerin fing an, mir fast täglich bis zu 15 Briefe, darunter Stellenangebote aus dem gesamten Bundesgebiet, zu schicken. Ich wusste mir nicht mehr zu helfen

Die Fallmanagerin fing an, mich fast jeden Tag anzurufen, um mir irgendwas mitzuteilen. Sie hat sogar beim österreichischen Konsulat angerufen, ohne meine Erlaubnis und ohne mein Wissen, weil ich als Österreicherin in Deutschland neue Papiere brauchte. Dann habe ich mich krankschreiben lassen. Dies war aber nur ein Aufschub, weil sich die Maßnahme durch die Krankheitstage regelmäßig verlängerte.

Hatten Sie dann erst mal Ruhe vor dem Jobcenter?

Nein, im Gegenteil. Die Fallmanagerin fing an, mir fast täglich bis zu 15 Briefe, darunter Stellenangebote aus dem gesamten Bundesgebiet, zu schicken. Ich wusste mir nicht mehr zu helfen und bin zum Ombudsmann des Jobcenters gegangen. Doch auch er konnte nichts für mich tun. Ich war auch bei einer Arbeitslosenberatung, die aus dem Wust von Akten, die ich mittlerweile vom Jobcenter hatte, nicht durchblickte. Da habe ich angefangen, durchzudrehen. Ich habe keine Briefe mehr geöffnet. Ich wurde völlig apathisch. Zwischen den vielen Stellenangeboten war eine Einladung zum Jobcenter. Die hatte ich auch nicht geöffnet und den Termin verpasst. Ab da hat mir die Fallmanagerin die Briefe an die Filiale einer Pin-AG geschickt. Da musste ich fast täglich mehrere Kilometer zu dieser Filiale gehen, um die Briefe abzuholen, weil ich ja weiterhin keine Fahrkarte hatte.

Wie ging es weiter?

Ich war weiterhin krankgeschrieben, und das wurde durch ärztliche Atteste bestätigt, die ich beim Jobcenter abgegeben habe. Weil ich ein Folgeattest um einen Tag zu spät abgegeben hatte, erfolgte dann eine weitere Sanktionierung. Meine Leistungen wurden um 60 Prozent gekürzt. Zugleich wurde mir vom Jobcenter mein Konto gepfändet, trotz regelmäßiger Ratenzahlung eines alten Darlehens. Ich hatte kein Pfändungsschutzkonto und war damit ohne einen Cent.

Welche finanziellen Folgen hatte das für Sie?

Die nächste Zahlung vom Jobcenter belief sich nur noch auf 120 Euro monatlich plus Miete. Die habe ich selbstverständlich gezahlt, um nicht auch noch meine Wohnung zu verlieren und in der Obdachlosigkeit zu landen. Es kamen natürlich auch weitere Rechnungen, dann auch Mahnungen, die ich wie alle Briefe gar nicht mehr öffnete. Ich hatte komplett die Übersicht verloren.

Wie kamen Sie aus dieser Apathie raus?

Eines Tages klopfte es Sturm vor meiner Wohnungstür. Vor der Tür stand die GASAG mit einer Gerichtsvollzieherin, um mir das Gas abzustellen. Die Gerichtsvollzieherin war unheimlich nett und hat sofort gemerkt, dass es mir nicht gut geht. Sie hat mir gesagt, dass es ganz in der Nähe eine Beratungsstelle gibt. Da bin ich dann hingegangen und habe endlich mal geweint, habe richtig einen Heulkrampf bekommen. Die Sozialarbeiterin dort hat mir geraten, in eine Tagesklinik zu gehen. Dem Rat bin ich gefolgt. Die Sozialarbeiterin dort hat sich mit dem Jobcenter in Verbindung gesetzt.

Es kann nicht sein, dass ein Verwaltungsfachangestellter im freien Ermessen Menschen die Lebensgrundlage entziehen kann

Mit welchen Reaktionen?

Nach einigen Tagen wurden die Sanktionen aufgehoben. Ich war natürlich froh, dass der Sanktionsdruck weg war. Aber ich habe es auch als eine richtige Farce empfunden, dass man mich da erst so krank gemacht hat. Doch die Folgen spüre ich heute noch. So muss ich noch immer in Raten die Schulden bei der GASAG zahlen, die sich durch Inkassogebühren und Gerichtskosten fast verzehnfacht haben.

Glauben Sie, dass die Erfahrungen, die Sie mit dem Jobcenter machen mussten, eine Ausnahme sind?

Nein, in meinem Bekanntenkreis gibt es mehrere Personen, die ähnlichem Druck ausgesetzt wurden.

Sie haben die vielen Schreiben vom Jobcenter in großen Aktenordnern gesammelt. Was wollen Sie damit machen?

Am liebsten würde ich die ganzen Papiere verbrennen, damit ich mich endgültig davon befreien könnte.

Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie hören, dass die Sanktionen wieder verschärft und bis zu hundert Prozent gekürzt werden können?

Ich denke, dass es die sogenannten Totalverweigerer nicht gibt. Denn jemand, der Sozialbetrug begehen will, stellt sich auch schlauer an. Es kann nicht sein, dass einVerwaltungsfachangestellter im freien Ermessen Menschen die Lebensgrundlage entziehen kann. Die Betonung darauf, dass physisch Kranke von Sanktionen ausgeschlossen werden, macht mir Angst. Ich befürchte wie in meinem Fall eine Psychiatrisierung der Menschen. Damit werden Missstände zu persönlichen Schicksalsschlägen umgedeutet.

Interview: Peter Nowak