Zwangsräumung verhindert


Eine Lichtenberger Familie kann vorerst in ihrer Wohnung bleiben. Mietschulden waren längst bezahlt

Solidarische Nachbarn und Aktivist*innen haben am Dienstag eine Zwangsräumung in Lichtenberg verhindert. Bereits eine halbe Stunde vor dem angesetzten Räumungstermin hatten sich vor der Haustür etwa 60 Menschen versammelt, die auf Transparenten ihre Absicht bekundeten, die Räumung zu verhindern. Neben AktivistInnen des Bündnisses „Zwangsräumung verhindern“ standen auch solidarische NachbarInnen vor der Tür.
„Die Familie ist 2001 mit ihren beiden Söhnen hier eingezogen. Es kann nicht sein, dass sie wegen der Schlamperei des Jobcenters ihre Wohnung verlieren“, meinte eine Frau aus dem Nachbarhaus. Das Jobcenter hatte die Miete für die Familie direkt an den Eigentümer überwiesen. Der Antrag zur Kostenübernahme musste regelmäßig erneuert werden. Wegen einer schweren Krankheit hatten die Mieter eine Frist verpasst. Es kam zu Mietrückständen, die mittlerweile zwar komplett beglichen wurden. Dennoch führten sie zu einem Räumungstitel, der am Dienstag vollstreckt werden sollte. Über den Termin wurde die betroffene Familie erst vor fünf Tagen durch ein Schreiben der Wohnungshilfe Lichtenberg informiert. „Diese kurze Frist ist eindeutig rechtswidrig“, erklärte Tim Riedel von „Zwangsräumung verhindern“ gegenüber der taz.

„Der Widerstand geht weiter“
Anna Weber vom Bündnis Zwangsräumung schließt aus dem Engagement der NachbarInnen, dass der Widerstand gegen Gentrifizierung auch nach der großen MieterInnendemo im April weitergeht. „Heute nehmen es viele nicht mehr einfach hin, dass Menschen zwangsgeräumt werden.“
Auch Hans Georg Lindemann vom Kreuzberger Laden M99 im Exil war mit seinem Rollstuhl bei der Blockade. „Ich habe selber viel Solidarität erfahren, als mein Laden geräumt werden sollte“, erklärt er. Der Gerichtsvollzieher und die Mitarbeiterin der Hausverwaltung hatten ihr Auto gar nicht erst verlassen, nachdem sie die Menschen vor dem Hauseingang gesehen hatten.

mittwoch, 23. mai 2018 taz

„Es geht um die Umwandlung ganzer Stadtteile zu Google-Cities“

US-Google-Kritikerin berichtet über Widerstand in San Francisco und warnt vor Hoffnung auf Politiker/innen

Der Andrang war groß am Mittwochabend vor dem S0 36. Unter dem Motto „Warum Google kein guter Nachbar ist“ wollten sich 350 Menschen über den Widerstand gegen den Google-Campus in den USA und in Berlin informieren. Eingeladen waren die Google-Kritikerin Erin McElroy vom Anti-Eviction Mapping Project aus San Francisco sowie Conni Pfeiffer und Stefan Klein von der Kreuzberger Stadtteilinitiative GloReiche, die sich gegen den Google-Campus engagiert, der im Juli 2018 im ehemaligen Umspannwerk in der Ohlauer Straße eröffnet werden soll. Doch bevor die Diskussion begann, besetzte eine anarchistische Fraktion der Kreuzberger Google-Kritiker/innen mit einem Transparent die Bühne. In einem Redebeitrag wandte sie sich gegen die Vereinnahmung der Proteste durch die Senatspolitik. Schließlich wurde die Veranstaltung vom der Linkspartei nahestehenden Bildungsverein Helle Panke organisiert und die Sprecherin für Stadtentwicklung und Tourismus der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus Katalin Gennburg war Teil des Podiums. Allerdings dauerte der Protest nur wenige Minuten und die Rednerin konnte sogar ein Veranstaltungsmikrophon benutzen.

Mapping und Busblockaden

Im Anschluss berichtete Erin McElroy vom Anti-Google-Widerstand in San Francisco. Sie beteiligt sich an einem Mapping-Projekt, das die Gebiete sichtbar macht, in denen die Gentrifizierung besonders weit vorangeschritten ist. Außerdem werden die Akteure der Gentrifizierung auf der Mappe öffentlich gemacht. Es handelt sich um Start Up-Unternehmen aus dem Bereich des Plattformkapitalismus. „Es geht um die Umwandlung ganzer Stadtteile zu Google-Cities“, beschreibt McElroy die Veränderungen in und San Francisco. Das nahe Silicon Valley übt eine Sogwirkung aus. Viele der Beschäftigten wohnen in San Francisco und werden täglich in firmeneigenen Bussen zu ihren Arbeitsplätzen gefahren. An der Route und den Bushaltestellen sei die Gentrifizierung besonders stark angestiegen, berichtet McElroy über ihre Untersuchungen. Google-Kritiker/innen blockierten häufig die Busse, die Beschäftigte von ihren Wohnungen zum Arbeitsplatz bringen sollen. Hier schilderte McElroy ein auch in Berlin wohlbekanntes Phänomen. Die Beschäftigten der IT-Branche wohnen gerne in angesagten Bezirken mit viel Kultur vor der Haustür und treiben dort die Mieten in die Höhe. In Berlin sind die Bezirke Kreuzberg-Friedrichshain oder Nord-Neukölln besonders betroffen. In San Francisco ziehen Google-Mitarbeiter/innen bevorzugt in Bezirke, in denen einkommensschwache Teile der Bevölkerung, oft mit lateinamerikanischem Hintergrund, leben. Ehemalige Arbeiter/innenquartiere werden nicht nur umstrukturiert, auch ihre alten Namen werden getilgt, betont McElroy. Google benennt sie um, damit sie für ihre Klientel interessanter werden. McElroy verwies darauf, dass nur die Selbstorgansierung der von Verdrängung betroffenen Bevölkerung Erfolge bringt und nicht die Hoffnung auf die Politik. So haben Stadtteilinitiativen in San Francisco ein Google-Büro besetzt, um gegen die Kündigung von Mieter/innen zu protestieren. Sie wurden polizeilich geräumt, doch die Kündigung wurde zurückgenommen. Bei der anschließenden Diskussion kam die Frage zu kurz, was die Berliner Initiativen gegen Google von den Erfahrungen aus San Francisco lernen können. Zudem wurde deutlich, dass nicht alle im Publikum der Google-Ansiedlung ablehnend gegenüber stehen. Ein junger Mann erklärte, dass er in dem von Google finanzierten Start-Up-Projekt Mozilla arbeite, das mit der Parole wirbt, „Produkte für Menschen nicht für Profite“. Auch hier wäre eine genauere Debatte nötig gewesen.

Nachbar/innen positionieren sich gegen Google
Die Aktivist/innen der Stadtteilinitiative „Die GloReichen“ stellten ihr neuestes Mapping-Projekt vor. Aufgeführt werden dort Nachbar/innen, die sich gegen den geplanten Google-Campus in Kreuzberg positionieren. Die Gewerbetreibenden sind namentlich aufgeführt, bei den Mieter/innen werden nur die Adressen genannt. Zudem wurde für den 14. Juni zum Google-Campus eingeladen. Die genaue Uhrzeit und Details zur Aktion werden noch bekannt gegeben.

aus: MieterEcho online 21.05.2018
https://www.bmgev.de/mieterecho/mieterecho-online/nachbar-google.html

Peter Nowak

In Berlin gab es Proteste gegen den Rüstungskonzern Rheinmetall

Bombengeschäfte für die Aktionäre
Ausgerechnet am 8. Mai, dem Tag der Niederlage Nazideutschlands, veranstaltete der Rüstungskonzern Rheinmetall in Berlin seine Jahreshauptversammlung. In der NS-Zeit hatte das Unternehmen Tausende Zwangsarbeiter ausgebeutet.

»Rheinmetall rechnet 2018 mit einem starken Wachstum und erhöht die ­Dividende im dritten Jahr in Folge«, schrieb das Handelsblatt vergangene Woche. Die Leser der wirtschaftsnahen Zeitung dürften es mit Freude vernommen haben. Auf der Jahreshauptversammlung des Rüstungskonzerns am Dienstag vergangener Woche in Berlin stand die Frage im Mittelpunkt, mit welchen Geschäften der Konzern seine Gewinne so kräftig erhöhen konnte. So veranlassten die Geschäfte der Unternehmenstochter RWM Italia Menschenrechtsorganisationen in verschiedenen Ländern dazu, Strafanzeige zu erstatten. Die NGOs werfen RWM Italia Mittäterschaft beim Mord an Zivilisten vor. Am 8. Oktober 2016 schlug in einem Dorf im Nordwesten des Jemen eine Bombe ein. Sechs Menschen kamen ums Leben. Mitarbeiter der jemeni­tischen Menschenrechtsorganisation Mwatana fanden unter den Trümmern Splitter mit einem Code, der nahelegt, dass RWM den Sprengkörper hergestellt hatte.

Dass Rheinmetall Bomben an Saudi-Arabien liefert, ist bekannt. Bereits 2015 berichtete das ARD-Politikmagazin »Report München«, dass sie im Krieg im Jemen eingesetzt und dort damit auch zivile Ziele wie Krankenhäuser, Schulen und Wohnviertel bombardiert worden waren. Nach deutschem Recht müssten die Waffenlieferungen an Saudi-Arabien daher sofort beendet werden. Doch Rheinmetall lässt die Bomben von der Konzerntochter RWM Italia in Italien produzieren. Die Bundes­regierung folgt der Behauptung von Rheinmetall, wonach RWM Italia ein ­eigenständiges Unternehmen sei, für das die deutschen Exportregeln nicht gelten. Der Gewinn allerdings fließt am Ende in die deutsche Konzernkasse.

Lange Zeit hat sich die Öffentlichkeit nur in geringem Maß für die todsicheren Gewinne deutscher Waffenproduzenten interessiert. Zu den Kritikern gehört die Stiftung Ethecon, die bereits im vergangenen Jahr dem Rhein­metall-Vorstandsvorsitzenden Armin Papperger und dem Aufsichtsratsvor­sitzenden Ulrich Grillo sowie den Großaktionären Larry Fink und Paul Man­duca den Negativpreis »Black Planet Award« verlieh. In der Begründung verwies Ethecon auf das Geschäftsmodell von Rheinmetall, das nicht nur im Jemen tödliche Folgen habe: »In ­geschäftlich für Rheinmetall wichtigen Ländern hat der Konzern Tochter- und Gemeinschaftsunternehmen aufgebaut, um von dort aus alle Krisenregionen der Welt beliefern zu können, für die er in Deutschland keine Exportgenehmigung bekommen würde. Mittlerweile macht das Geschäft außerhalb Europas über die Hälfte des jährlichen Umsatzes aus.« Besonders problematisch ist es nach Auffassung von Ethecon, dass es zur Strategie von Rheinmetall gehöre, Ländern in Krisenregionen beim Aufbau eigener Rüstungsindustrien bereitwillig zu helfen und im Ausland Rüstungsgüter herzustellen, für die dann keine Genehmigungen aus Deutschland nötig seien.

Dieses Jahr protestierten nicht nur Menschenrechtsorganisationen gegen die Geschäfte von Rheinmetall. Bereits am Vorabend der Jahreshauptversammlung demonstrierten mehrere Hundert Menschen gegen die Rüstungsgeschäfte des Konzerns mit der Türkei, da die gelieferten Waffen auch im Krieg gegen die kurdische Region Rojava in Nordsyrien eingesetzt worden seien. An der von der »Interventionistischen ­Linken« (IL) organisierten Demonstration beteiligten sich viele Kurden. Im niedersächsischen Unterlüß blockierte die Gruppe »Solidarische Interventionen gegen menschenrechtswidrige Angriffskriege und Rüstungsexport«, kurz Sigmar, am Dienstagmorgen voriger Woche mehrere Stunden den Zufahrtsweg zum dortigen Rheinmetall-Werk.

Zu Beginn der Jahreshauptversammlung in Berlin fand vor dem Tagungs­hotel eine weitere Demonstration statt. Zu den Rednern auf der Kundgebung gehörte neben Vertretern von Ethecon, Bündnis 90/Die Grünen, der Links­partei und antimilitaristischen Gruppen auch der Bundessprecher der ­»Ver­einigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten« (VVN-BdA), Ulrich Schneider. Er erinnerte auch an die ­Geschichte des Konzerns während der Nazizeit: Tausende Zwangsarbeiter aus vielen Ländern waren damals bei Rheinmetall in der Rüstungsproduktion eingesetzt worden. 1966 hatten Abgeordnete des US-amerikanischen Kongresses gegen einen Rüstungsauftrag des Pentagon an Rheinmetall im Wert von 200 Millionen DM protestiert. Auch die jüdische Organisation B’nai B’rith hatte Protest eingelegt: Das Unternehmen habe während des Zweiten Weltkriegs »Sklavenarbeiter aus den Konzentrationslagern« beschäftigt und »wiederholt jegliche legale und moralische Verantwortung abgelehnt«.

Das Magazin Der Spiegel war Rheinmetall beigesprungen und hatte nicht mit antisemitischen Untertönen gespart. »Der ehemalige Rechtsanwalt der Jewish Claim Conference (…) hielt die Gelegenheit für günstig, Rheinmetall über eine massive öffentliche Kampagne doch noch zu Zahlungen zu bewegen, die weder rechtlich noch moralisch begründet sind«, hatte der Spiegel schon damals den Ton vorgegeben, der bei der Abwehr von Ansprüchen ehemaliger Zwangsarbeiter immer wieder zu hören war. Im Jahr 2018 erinnerte die Taz an die NS-Geschichte von Rheinmetall: Als »geschichtsvergessene, historische ­Geschmacklosigkeit« bezeichnete es der Autor Daniel Kretschmar, dass der Konzern am 8. Mai, dem Tag, an dem die letzten noch lebenden Zwangsarbeiter befreit wurden, seine Hauptversammlung abhielt und die Dividenden für seine Geschäfte in aller Welt verteilte.

https://jungle.world/artikel/2018/20/bombengeschaefte-fuer-die-aktionaere

Peter Nowak

Sorgt Italiens Rechtsregierung für neue EU-Turbulenzen?

Die Rolle als Sand im Getriebe haben aufgrund der Verabschiedung der Linken in Italien mit der Lega Nord und der Fünf-Sterne-Bewegung zwei rechte, europakritische Parteien übernommen

Bei manchen EU-freundlichen Politikern und Medien klingeln die Alarmglocken, nachdem sich die Sieger der letzten italienischen Wahlen[1] doch noch auf eine Regierung zu einigen scheinen. Nun gibt es tatsächlich genügend Grund für Widerstand gegen die Regierung. Schließlich haben zwei Varianten der Rechten eine Regierung gebildet, deren Kennzeichen Flüchtlingsabwehr und Vorteile für das Kapital sind.

Die von der Lega Nord durchgesetzte flat tax bei der Einkommens- und Unternehmensbesteuerung kommt mittleren und höheren Einkommen zugute. Das war seit jeher das Ziel der Wirtschaftspolitik der Lega Nord, die beispielsweise in Norditalien Logistikunternehmen seit Jahren den roten Teppich auslegt. Dagegen wehren[2] sich ebenfalls seit Jahren migrantische Beschäftigte nicht ohne Erfolg.

Das neue Steuerrecht sieht nur noch zwei Steuersätze vor: 15 oder 20 Prozent. Unternehmen sollen generell nur noch mit dem 15-Prozent-Satz besteuert werden. Doch auch für die Einkommensarmen gibt es einige Verbesserungen. Ein nicht bedingungsloses Grundeinkommen, das auch im Interesse des Kapitals ist, konnte die 5-Sterne-Bewegung durchsetzen[3]. Mit einer geplanten Änderung der Rentenreform soll es Lohnabhängigen wieder möglich sein, mit 62 Jahren in Pension zu gehen.

Die Rentenreform war auf Druck der EU-Gremien zustande gekommen und war in Italien äußerst unpopulär, wurde aber von dem größten Teils der sozialdemokratischen Linken unterstützt. Sie hatte dafür bei den letzten Wahlen[4] die Quittung erhalten. Nicht nur die größte Partei der Sozialdemokraten, die unter Mario Renzi offen zu Wirtschaftsliberalen und Verteidigern des Status quo in der EU geworden ist, auch die kleineren linken Parteien haben eine Niederlage erlitten. Das liegt auch daran, dass diese sogenannte kritische Linke, wenn es zum Schwur kam, immer wieder auf Seiten der Sozialdemokraten Maßnahmen mitgetragen haben, die Zumutungen für einen Großteil der Lohnabhängigen bedeutet haben.

Neue linke Kräfte, die nicht an solchen Bündnissen beteiligt waren, hatten nicht genügend Zeit, sich als Alternative zu entwickeln und konnten bei den Wahlen ebenfalls keine Erfolge erringen. Die jahrzehntelange Funktion der Regierungslinken als Hüterin des EU-Status-Quo das Vertrauen in die Linke insgesamt geschwächt.

Zwei neue Formationen der Rechten

Profitiert haben davon zwei unterschiedliche Parteien der politischen Rechten: die Lega Nord und die Fünf-Sterne-Bewegung. Letztere wurde nach ihrer Gründung auch von ehemaligen Linken unterstützt. Das war auch eine Reaktion auf den Bankrott der linken Parteien und deren Akzeptanz des Wirtschaftsliberalismus. Selbst viele Aktivisten des neuen Mittelstands, die sich vor 15 Jahren noch gegen die Prekarität ihrer Lebens- und Arbeitsverhältnisse organisiert haben, gehören zur Basis der 5-Sterne-Bewegung.

Nun wurden sie Teil einer neuen rechten Bewegung, die sich aber mit dem Slogan „Weder Rechts noch Links“ überdies zur alten Rechten in Opposition befunden hat. Diese hatte sich mehr als 20 Jahre um Berlusconi gruppiert, jetzt ist im Rechtslager die Lega Nord zur stärksten Kraft geworden. Sie ist der Typus einer neuen europäischen Rechten und kooperiert mit dem Front National und der FPÖ.

Die Fünf-Sterne-Bewegung hatte sich hingegen auf europäischer Ebene mit den nicht ganz so rechten Parteien in einem Bündnis befunden, in dem auch die AfD-Europaabgeordnete von Storch vertreten ist. Stärkste Gruppierung dort war die rechte britische UKIP-Partei, die mit dem Brexit ihre Mission erfüllt hat und verschwindet. Seitdem ist auch das europäische Bündnis, in dem die Fünf-Sterne-Bewegung nun die stärkste Kraft ist, in der Krise.

Die europäische Positionierung zeigt aber auf, dass hier zwei Rechtsformationen zur stärksten Kraft in Italien wurden. Der Grund, warum vor allem in der Fünf-Sterne-Bewegung Teile der Linksopposition der Jahrtausendwende nach rechts gegangen sind, liegt an einer doppelten Enttäuschung über die linken Parteien und deren Einschluss in das alte System und in der Erfahrung, dass starke außerparlamentarische linke Bewegungen, wie es sie in Italien in dem Zeitraum von 1995 bis 2002 gegeben hat, mit allen Mitteln bekämpft und auch repressiv zerschlagen wurden. Der 19./20. Juli 2001 war da eine Zäsur, als tausende Gegner des G8-Gipfels in Genua mit einer Staatsmacht konfrontiert waren, die brutale faschistische Methoden einsetzte. Die chilenische Nacht von Genua[5], als zahlreiche Oppositionelle direkter Folter ausgesetzt waren, hat auch bei denen Angst ausgelöst, die nicht selber damit konfrontiert waren.

Fünf-Sterne-Bewegung – Podemos Italiens?

So zeigte sich an der Entwicklung der Fünf-Sterne-Bewegung und ihrer Basis, dass die Zerschlagung von oppositionellen Bewegungen die Rechtsentwicklung forciert. Wo keine grundsätzliche Opposition gegen die bestehenden Verhältnisse mehr ohne Gefährdung der eigenen Gesundheit und Freiheit mehr möglich ist, richtet man sich im System ein.

Dazu trug auch die grundlegende Umwälzung der italienischen Gesellschaft unter Berlusconi bei, der dem schrankenlosen Wirtschaftsliberalismus in Italien den Weg geebnet hat. Wer eben nicht so reich ist wie er, kann dann immer noch auf individueller Ebene seinem Egoismus frönen. Das Ergebnis ist dann eine Gesellschaft, in der die Linke marginalisiert ist und zwei rechte Formationen die parlamentarische Ebene beherrschen. Wenn dann die Fünf-Sterne-Bewegung von manchen italienischen Linken weiterhin als links bezeichnet wird, will man sich die Niederlage der Linken nur schönreden und verhindert eine Neuorientierung. So wird in der trotzkistischen SoZ eine Einschätzung[6] von verschiedenen Autoren der linken Zeitung Il Manifesto zitiert[7]:

Die Fünf-Sterne-Bewegung geht aus diesen Wahlen nicht nur gestärkt hervor, ihre wahlpolitische Prägung rückt sie auch näher an Podemos als an die verschiedenen souveränistisch-populistischen Strömungen auf der Rechten, die in Europa in den letzten Jahrzehnten gewachsen sind. Diese Tatsache könnte die Fünf Sterne früher oder später in Richtung einer Öffnung nach links treiben.

Marco Valbruzzi, Il Manifesto

Da steckt natürlich der Wunsch dahinter, sich dieser neuen Bewegung anzubiedern, indem ihr eine linke Identität angedichtet wird. Doch umgekehrt kann diese Einschätzung durchaus eine Plausibilität erhalten. Podemos mit ihrem klassenübergreifenden Oben-Unten-Diskurs und ihrer Orientierung an einem „Volk“ kann schnell nach rechts gehen, wenn die Linke in Spanien in und außerhalb des Parlaments in die Krise gerät. Es gab vor einigen Jahren innerhalb von Podemos Richtungsauseinandersetzungen, ob man Richtung Fünf Sterne-Bewegung geht oder zum Teil einer sozialdemokratischen Linken wird. Einstweilen haben die Anhänger der letzten Option den Sieg davon getragen.

Töne wie 2015 aus Griechenland

Wenn schon im Inland eine strikt prokapitalistische Politik betrieben wird, werden die künftigen italienischen Regierungsparteien Änderungen im EU-Regime anstreben. Sie können dann ähnlich wie in Polen auf die EU verweisen, wenn es mit den Wahlversprechen nichts wird. Genau deshalb schalten die Lordsiegelbewahrer des gegenwärtigen EU-Status schon mal einen Gang höher und warnen vor einer neuen EU-Krise. Sogar ein Ausschluss Italiens aus der Eurozone wird als Drohung geäußert.

Italien ist eine größere Wirtschaftsmacht in der EU und kann nicht so einfach zur Ordnung gerufen werden wie Griechenland im Jahr 2015. Es ist die große Tragik der Kritiker des EU-Status-Quo, dass ihr Einfluss in den jeweiligen Ländern ungleichzeitig ist. 2015 hätte die griechische Regierung die Unterstützung von Italien dringend gewünscht, aktuell könnte der längst ins EU-System integrierte Tsipras in der italienischen Regierung lästige Störfaktoren sehen, die ihm den Spiegel vorhalten, wenn sie nicht so schnell einknicken wie er vor drei Jahren.

Es muss sich noch zeigen, wie lange es im Fall Italien dauert, bis sie im Sinne der Deutsch-EU funktioniert. Vielleicht bleibt es auch ein Dauerkonflikt, der der italienischen Rechten innenpolitisch nutzen könnte. Das einzig Gute an der aktuellen italienischen Regierung ist, dass die Verteidiger der aktuellen EU wieder etwas unruhig werden. Hatten sie doch lange mit der Arroganz der Macht verkündet, alles Störende im EU-Gefüge sei beseitigt.

Für eine Linke, die ernst genommen werden will, sind die gegenwärtigen italienischen wie auch die polnischen Verhältnisse eine Warnung. Das passiert mit ihr, wenn sie sich selber überflüssig macht und zum Vollstrecker von Kapital und EU wird. Ihre Rolle als Sand im Getriebe übernehmen dann wie in Italien zwei rechte Parteien. Derweil werden die Rechte für Migranten und Lohnabhängige weiter abgebaut und das Land fit für das Kapital gemacht.

Peter Nowak
https://www.heise.de/tp/features/Sorgt-Italiens-Rechtsregierung-fuer-neue-EU-Turbulenzen-4052622.html

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[1] https://www.heise.de/tp/features/Ein-Sieg-der-Rechten-und-eine-Niederlage-fuer-die-Deutsch-EU-3986924.html
[2] https://de.labournet.tv/die-angst-wegschmeissen
[3] https://www.stern.de/wirtschaft/news/grundeinkommen–italien-will-das-grundeinkommen—aber-nicht-fuer-alle-7987336.html
[4] http://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/265565/parlamentswahlen-in-italien
[5] http://akj.rewi.hu-berlin.de/vortraege/sose04/230604.html
[6] http://www.neldeliriononeromaisola.it/2018/03/226188/
[7] http://www.sozonline.de/2018/04/parlamentswahlen-in-italien/

Terrortribunal

Wilhelm Lehmann war 73, als er an die Wand eines Toilettenhäuschens am Mariannenplatz in Berlin-Kreuzberg Parolen gegen Hitler und den Krieg schrieb. Er wurde denunziert und vom »Volksgerichtshof« zum Tod verurteilt. Der Rentner war einer von 5700 Opfern des Terrortribunals. Dieses war am 24. April 1934 als Sondergericht zur Aburteilung von Gegnern des NS-Regimes eingerichtet worden. An dessen unheilvolles Wirken erinnert jetzt in der Topographie des Terrors eine Sonderausstellung, die die Opfer in den Mittelpunkt rückt.

Gewürdigt wird unter anderen Bankdirektor Georg Miethe, der sich kritisch über Hitler geäußert hatte und von einer Angestellten verraten wurde. Auf einem anderem Foto ist der Pianist Karlrobert Kreiten zu sehen, der von einer Jugendfreundin seiner Mutter angezeigt worden ist und dessen Hinrichtung der spätere WDR-Journalist Werner Höfer am 20. September 1943 im »12-Uhr-Blatt« bejubelte. Das Klaviertalent niederländischer Abstammung nannte er einen »ehrvergessenen Künstler«. Obwohl bundesdeutsche Antifaschisten schon Anfang der 1960er Jahre darauf verwiesen, endete Höfers TV-Karriere erst 1987. Auch dem spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt begegnet man hier – in Wehrmachtsuniform. Er war mit seiner Kompanie zum Besuch der Prozesse gegen die Verschwörer des 20. Juli 1944 abkommandiert worden.

Der Vorsitzende des »Volksgerichtshofes« Roland Freisler wird als einen gnadenloser Richter vorgestellt, der Todesurteile in Serie fällte. Ein Filmausschnitt lässt ihn in Aktion erleben; mit geifernder, sich überschlagender Stimme beschimpft er die Angeklagten als »Volksverräter«. Freisler starb im Februar 1945 bei einem alliierten Bombenangriff auf das Gebäude des »Volksgerichtshofs« in Schöneberg. Weniger bekannt als er sind seine Vorgänger und Nachfolger sowie die Staatsanwälte des »Volksgerichtshofs«, über die hier ebenso berichtet wird. Die meisten von ihnen wurden in der Bundesrepublik mit hohen Pensionen belohnt, nicht wenige konnten ihre juristische Karriere ungehindert fortsetzen. Freislers Witwe bezog nicht nur die Pension ihres Mannes, sondern erhielt 1974 auch eine Schadensausgleichsrente. Erich Geißler war einer der wenigen Juristen des »Volksgerichtshofes«, der 1982 zu einer 15-jährigen Haftstrafe verurteilt wurde – in Ostberlin. In der DDR unter falschem Namen getaucht, wurde er erst spät enttarnt.

»Der Volksgerichtshof 1934 – 1945. Terror durch Recht«, bis 21. Oktober, Topographie des Terrors, täglich 10 bis 20 Uhr, Eintritt ist frei.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1088672.terrortribunal.html

Peter Nowak

Wie der Verfassungsschutz beim Maoismus-Export in die BRD half

Durch die maoistischen Schriften sollte „Verwirrung und Streit“ in die Kommunistische Partei getragen werden

Man stelle sich vor, irgendwo im Stasi-Nachlass fänden sich Dokumente, die belegen, dass die DDR-Staatsorgane maoistische Gruppen in den 1970er Jahren in Westdeutschland unterstützt haben.

Die Schlagzeilen wären groß und sofort würde es Kommentatoren geben, die die DDR und die Stasi hinter allen Oppositionellen in der BRD wähnten. Doch es wurde kein Dokument gefunden, das eine Unterstützung der westdeutschen Maoisten durch die DDR anzeigt.

Belegt ist hingegen, wie schon in den frühen 1960er Jahren der westdeutsche Geheimdienst maoistische Propagandamaterialien nutzte, um die in der BRD illegale KPD zu unterwandern und zu schwächen. Darüber schrieb schon der langjährige Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Günther Nollau, in seinem Buch Das Amt.

Wie fast alle BRD-Verfassungsschutzleute lernte Nollau die Verfolgung der Linken von der Picke auf, wie man sagt. Seine Mitgliedsnummer in der NSDAP lautet 8974972. In dem Buch beschrieb Nollau, wie sein Amt den Transport maoistischer Propaganda förderte. Der VS schickte Karten mit den Adressen von KP-Mitgliedern, die dem VS bekannt waren, an die Bestelladresse der Broschüren, für die in Zeitungsanzeigen unter Anderem in der FAZ geworben wurden.

Es sei darum gegangen, die KP zu unterwandern und durch die maoistischen Schriften Verwirrung und Streit in die Partei zu tragen, so Nollau. Diese Darstellung wurde bisher weder von den Medien, noch von Politik und Wissenschaft registriert und diskutiert.

Schließlich war ja der westdeutsche Geheimdienst involviert und dem wird ja anders als der Stasi West grundsätzlich unterstellt, dass er ganz im Sinne von Freiheit und Demokratie handelt. So sorgte es vor Jahren auch kaum für Schlagzeilen, als der Historiker Josef Foschepoth bekannt machte, dass der westdeutsche Geheimdienst eine große Menge von Paketen aus der DDR beschlagnahmte und vernichtete.

Diese innerdeutsche Zensur sorgte für viel weniger Aufmerksamkeit auch die ebenfalls von Foschepoth bekannt gemachten Aktivitäten der US-Geheimdienste in Deutschland. So konnte man die nationalistische Mär von der fehlenden deutschen Souveränität verbreiten, die dann nur hieß, „am schönsten schnüffeln nur deutsche Schlapphüte“.

Verwirrung in die Reihen der Kommunisten

Hintergrund der Hilfe des Verfassungsschutzes beim Maoismus-Export war der sino-sowjetische Streit, der Anfang der 1960er Jahre eskalierte. Die chinesische KP beschuldigte die ehemalige sowjetische Bruderpartei und deren Verbündete als Revisionisten, die vom rechten marxistisch-leninistischen Weg abgewichen sei.

Wenn nun die illegalisierten Kommunisten in der BRD solche Schriften in ihren Briefkästen vorfanden, wurden diese oft auch gelesen und diskutiert. Dass das Kalkül des VS in mancher Hinsicht aufging, zeigte ein wütender Artikel im Neuen Deutschland Anfang der 1960er Jahre. Dort wurde die KP-China beschuldigt, sich schamlos in die inneren Angelegenheiten der Bruderparteien einzumischen, wenn sie deren Mitgliedern unaufgefordert ihre Schriften zuschickt.

Es ist lustig zu sehen, dass selbst die DDR-Nomenklatura stalinistischer Provenienz, die doch sonst gerne und überall Zersetzer aus den USA und Westdeutschland vermutete, nicht mal in ihrer Propaganda den westdeutschen Geheimdienst für die maoistischen Sendungen verantwortlich machte.

Dabei gingen deren Aktivitäten noch weiter. Sie gründeten eine Zeitung mit dem scheinbar unverfänglichen Titel Der 3.Weg – Zeitschrift für einen modernen Sozialismus als Forum für dissidente Sozialisten in Ost und West. Der ehemalige VS-Präsident schrieb über diese Zeitung die von1959 bis 1964 erschien, aber keine größere Aufmerksamkeit erregte:

Im Mai 1959 starteten wir unser Blättchen mit dem Artikel Zwischen Stalinismus und Kapitalismus. Die Angriffe auf den Stalinismus fielen uns leicht. Aber um glaubwürdig zu sein, mussten wir auch den Kapitalismus und die Bundesregierung kritisieren. Das war zwar nicht schwer, denn an der damaligen Ostpolitik gab es manches zu beanstanden. Aber die Angriffe mussten so dosiert sein, dass sie […] vor der Dienstaufsichtsbehörde zu vertreten waren.

Günther Nollau

Ein großer Teil der linksreformistischen Autoren ahnte wahrscheinlich gar nicht, dass sie in einem vom VS geförderten Forum publizierten. Zur selben Zeit haben auch in den USA und anderen europäischen Ländern erklärte Linke wie Herbert Marcuse in Zeitungen publiziert, die vom US-Geheimdienst gefördert wurden. Manche wussten nichts davon, anderen war es egal.

Die Hamburger Historikern Mascha Jacoby betonte auf einer Veranstaltung in Berlin, dass es falsch wäre, das Anwachsen des Maoismus Ende der 1960er und mehr noch in den 1970er Jahren mit den Aktivitäten des Verfassungsschutzes in Verbindung zu bringen.

Jacoby ist bei ihren Forschungen über die Rezeption des Maoismus in Deutschland auch auf die Hilfe des Verfassungsschutzes gestoßen. Es handelt sich aber um Aktivitäten in den frühen 1960er Jahre, die sich gegen die illegalisierte KPD richten.

Es wäre noch ein lohnender Forschungsgegenstand die Rolle des Verfassungsschutzes bei den Konflikten zwischen den verschiedenen maoistischen Organisationen in den 1970er Jahren zu untersuchen. Da wurde der Streit um die richtige Linie schon mal handgreiflich ausgetragen.

Die Konflikte waren real, aber es ist gut möglich, dass sie von den Diensten entsprechend zugespitzt wurden, wie es das FBI bei den Auseinandersetzungen der Black Panther Bewegung ebenfalls tat.

Doch die dahinterliegenden Konflikte wurden nicht von den Geheimdiensten erfunden, sondern nur ausgenutzt. Das Wachstum der maoistischen Bewegung in aller Welt Ende der 1960er ist zumindest kein Werk der Geheimdienste. Es war die chinesische Kulturrevolution, die Menschen in aller Welt begeisterte, nicht nur Parteikommunisten, sondern auch Libertäre aus der Welt. Die Geheimdienste konnten vorhandene Konflikte verschärfen, aber nicht erfinden.

https://www.heise.de/tp/features/Wie-der-Verfassungsschutz-beim-Maoismus-Export-in-die-BRD-half-4050189.html

Peter Nowak

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[1] https://www.zvab.com/buch-suchen/titel/das-amt-50/autor/nollau/
[2] http://portal.uni-freiburg.de/herbert/mitarbeiter/foschepoth_josef
[3] http://www.bpb.de/shop/buecher/schriftenreihe/174685/ueberwachtes-deutschland
[4] http://www.bpb.de/shop/buecher/schriftenreihe/174685/ueberwachtes-deutschland
[5] http://archive.is/3ZAF
[6] https://www.gwiss.uni-hamburg.de/einrichtungen/graduiertenschule/doktorandenkolleg-deutschland-china/doktoranden-projekte/mascha-jacoby.html
[7] https://www.helle-panke.de/topic/3.html?id=2442
[8] https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/ein-kleines-rotes-buch.html
[9] http://inthesetimes.com/article/15949/how_the_fbi_conspired_to_destroy_the_black_panther_party

Wenn schwerreiche Populisten in die Politik streben


Der ARD-Beitrag „Ungleichland“ über den Bauunternehmer Christoph Gröner zeigt auch, warum Trump, Berlusconi und Macron von nicht wenigen Subalternen gewählt und bewundert werden

Es gibt wohl kaum was, für das man den Kurzzeit-Gesundheitsminister Jens Spahn loben könnte. Nur, seine Weigerung, der Aufforderung einer Hartz IV-Gegnerin zu folgen und eine Woche nach den finanziellen Sätzen zu leben[1], die der Gesetzgeber für sie vorgesehen hat, sollte nicht Gegenstand der Kritik sein.

Schließlich hätte die „sinnlose Armutsshow“[2] keinen Hartz-IV-Empfänger ein besseres Leben beschert, sie hätte nicht einmal aufklärerische Impulse gesetzt. Sie hätte sich vielmehr eingereiht, in die Banalisierung und Eventisierung der staatlichen Verarmungspolitik.

Promis auf Hartz IV

Schon längst gibt es im Unterhaltungsfernsehen die Sendung Promis auf Hartz IV[3]. Dort können Reiche einen Monat Hartz-IV als spannendes Erlebnis zelebrieren. Die Ankündigung spricht Bände über das Selbstverständnis der Sendemacher.

Heinz und Andrea sind ein Leben im Luxus gewohnt. Angefangen bei der 1.000 Quadratmeter großen Villa Colani über eine Haushälterin bis hin zu den nicht vorhandenen Geldsorgen. Genau diesen Luxus lässt das Fürstenehepaar in den nächsten vier Wochen zurück, um das Leben aus Sicht von Hartz-IV-Empfängern zu erleben. Heinz und Andrea leben während des Experimentes von 736 Euro im Monat. Schon bei der Ankunft sitzt der erste Schock tief – die neue Bleibe ist bis auf einen Herd und zwei Feldbetten komplett unmöbliert. Ihre erste Aufgabe ist somit das Möblieren ihrer kleinen Wohnung. Werden sie das Experiment durchstehen?“

TV-Sendung Promis auf Hartz IV

Die Verachtung der Armen spricht aus jeder Zeile dieses Sozialexperiments für Vermögende. Christoph Gröner würde nur lachen, wenn man ihm vorschlagen würde, einen Monat unter Hartz IV zu leben. Der Gründer und Namensgeber der CG-Gruppe[4] ist schließlich der Prototyp eines Neureichen, der gar kein Hehl daraus macht, dass er mit seinen Vermögen Macht hat und die auch einsetzt.

Gröner hat erst kürzlich eine Debatte über die Macht des Kapitals ausgelöst. Schließlich war er in der letzten Woche Hauptfigur[5] des Films Ungleichland[6]. Der Untertitel „Wie aus Reichtum Macht wird“ ist der rote Faden und der anschließenden Diskussion „Hart aber fair“[7], in der der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert Gröner als „Oligarch“ bezeichnete[8].

Die Reaktionen waren voraussehbar und haben eher Gröner in die Hände gespielt. Denn der ARD-Beitrag war ja keine Untercover-Recherche. Gröner ließ sich bei seiner Arbeit begleiten und konnte so Einfluss nehmen auf das Bild, das von ihm in der Öffentlichkeit gezeigt wird. Und das ist das eines Neureichen, der Kapital hat und es nutzt, um ganze Stadtteile umzustrukturieren und auch politisch Einfluss zu nehmen.

Politische Ambitionen

Wie sehr bei der anschließenden Diskussion der stellenweise durchaus kritisch fragende Moderator Teil von Gröners Konzept war, zeigte sich dann, wenn es um dessen politische Ambitionen ging. Da reichte die vage Ankündigung, dass er mal eine Partei gründen wollte, um das Thema immer wieder anzusprechen.

Selbstverständlich widersprach Gröner nicht, wenn er mit dem Moderator mit Macron und seiner Bewegung verglichen wurde. Dabei ist einerseits erstaunlich, wie realistisch hier der französische Präsident eingeschätzt wird, der schließlich in Teilen des grünennahen linksliberalen Milieus zum Hoffnungsträger verklärt wurde.

Nun mutiert in einer solchen Talkshow Macron zum Interessenvertreter des Kapitals und zum Rechtspopulisten. Gleichzeitig wird mit einen solchen Vergleich Gröner erst zu einem potentiellen Politiker aufgebaut, obwohl er noch wenige Minuten vorher erklärte, dass käme für ihn erst in einigen Jahren infrage. Vorher wollte er noch kräftig in der Immobilienbranche mitmischen.
Eine solche Talk-Show ist für Gröner und Co. auch ein Stimmungstest dafür, wie eine solche Inszenierung bei der Zielgruppe ankommt. Und der fiel für Gröner nicht so schlecht aus. Schließlich wurden während der Sendung eingehende Mails verlesen, in denen einkommensarme Menschen schrieben, dass sie wissen, dass sie allerhöchstens als Wachmann in einen von Gröners Objekten eine Chance haben, aber trotzdem zufrieden sind, dass sie sehen, wie jemand reich werden kann.

„Wir, die Leute, die Gas geben, (…) wir sind der Staat“

Es ist der Vom Tellerwäscher zum Millionär-Mythos, der auch immer wieder Millionen Menschen Lotto spielen lässt. Dabei ist es weniger der Glaube, bald ebenso reich zu sein, der Menschen wie Gröner auch bei Armen populär macht. Es ist vielmehr deren Attitüde, sein Kapital in Macht und Einfluss umzuwandeln und das auch offen zu propagieren.

„Wir, die Leute, die Gas geben, die Geld haben, müssen uns einbringen, wir sind der Staat“, ist eines der in der Internetgemeinde heftig diskutierten Zitate[9]. Das ist genau die Geisteshaltung eines Macron, eines Berlusconi oder eines Trump, oder wie die populistischen Millionäre mit Regierungsambitionen auch immer heißen.

Wenn dann der Moderator Gröner mit Macron vergleicht und nicht mit den beiden anderen, hat das den einfachen Grund, dass die eben weniger populär in Deutschland sind.

Subtile Vorteilsnahme für Gröner

Eine weitere Vorteilsnahme für Gröner leistete sich der Moderator, als er darüber redete, warum Gröner unbedingt eine eigene Partei gründen will und nicht in eine bestehende eintreten und dort Einfluss nehmen will. Da kamen die Grünen, die FDP, die SPD und sogar die Linke zur Sprache. Nur die AfD wurde ausgeblendet.

Dabei ist die einmal von wirtschaftsfreundlichen Ökonomen gegründet worden, denen die FDP damals an der Regierung nicht wirtschaftsliberal genug war. Und auch wenn mittlerweile viele von diesen neoliberalen Führungsleuten mit Bernd Lucke die Partei verlassen haben, ist der wirtschafts- und sozialpolitische Teil des AfD-Programms noch stark von ihnen geprägt.

Auch viele Wirtschaftsliberale aus der zweiten Reihe sind noch fest in die AfD integriert. Dass Gröner auch ideologische Schnittmengen mit der AfD hat, zeigte sich bei einem seiner kaum skandalisierten Sätze in der Talk-Show. Zumindest Kevin Kühnert fragte da noch mal nach.

Gröner echauffierte sich darüber, dass das Finanzamt Reichen wie ihm das Leben schwer mache und die Steuerhinterziehung im Görlitzer Park in Berlin-Kreuzberg nicht mit ebensolcher Verve verfolge. Nun ist der Görlitzer Park der Ort, wo Menschen Drogen verkaufen, die von Staatsseite als illegal erklärt wurden. Dadurch wird überhaupt erst ein Markt geschaffen.

Mittlerweile gibt es immer mehr Juristen und auch Fachleute bei der Polizei, die sich für eine Legalisierung dieses Drogenhandels aus sehr pragmatischen Gründen aussprechen. In den letzten Monaten sind die repressiven Elemente bei der Handhabung des Drogenhandels rund um den Görlitzer Park, wie sie unter der Ägide des Berliner Innensenators Henkel gang und gebe waren, etwas zurückgefahren worden.

Man setzt mehr auf die Regulierung auch mit Nachbarschaftsinitiativen. Dafür bekommt der aktuelle Berliner Senat Lob von Fachleuten unterschiedlicher politischer Couleur. Doch für Gröner wird der Drogenhandel am Görlitzer Park zur Chiffre für einen Machtverlust des Staates, der von Rechten dann noch rassistisch aufgeladen wird.

Es ist kein Zufall, dass zivilgesellschaftliche Organisationen in der Vergangenheit immer wieder gegen Racical Profilierung[10] im Görlitzer Park[11] protestiert haben.

Gröner setzt hier nur den eigenen populistischen Akzent, dass er millionenschwere Steuerverweigerer gegen Menschen ausspielt, die sich mit Drogenhandel über Wasser halten.

„Fragen Sie mal meinen Wachmann“

Was einkommensschwache Menschen von einer Gröner-Partei zu erwarten hätten, erfahren sie auch en passant, wenn er berichtet, dass er immer im Dienst ist.

Ich bin seit 30 Jahren drei Tage nicht zur Arbeit erschienen wegen Krankheit, fragen Sie mal meinen Wachmann, wie oft der wegen Krankheit nicht da war. Wenn meine Frau mit mir Krach macht und mich die Nacht nicht schlafen lässt, bin ich bei der Arbeit. Fragen Sie mal meinen Wachmann.

Christoph Gröner, Hart aber fair

Hier steckt eine doppelte Drohung für alle Menschen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen. Es ist die Botschaft, dass man sich notfalls auch krank zur Arbeit schleppen sollte und möglich Tag und Nacht Leistung zeigen sollte. Der bei Gröner mehrmals zitierte Wachmann wäre im Falle der Lohnabhängigen das Wachpersonal, der Aufseher oder auch die Überwachungs-App, die auf die Sekunde genau die Leistung misst.

Amazon-Beschäftigte sprechen davon, dass sie schon angesprochen werden, wenn sie mal zwei Minuten nicht arbeiten. So ist Gröner hier durchaus nicht der besonders egozentrische Neureiche, der nicht nur seine Macht und seinen Einfluss ausübt, sondern das auch propagiert.

Er ist gleichzeitig der prototypische Vertreter eines Kapitalismus, der möglichst rund um die Uhr die Menschen auspressen will, der es zur Tugend erklärt, in dreißig Jahren nur 3 Tage krank geschrieben gewesen zu sein und auch nachts am Arbeitsplatz erscheint.

Die Gefahr, die von Mächtigen wie Gröner ausgeht, liegt vor allem darin, dass solche Bekenntnisse auch bei Menschen auf Zustimmung stoßen, die von ihrer sozialen Lage eigentlich vehement dagegen protestieren müssten. Denn sie haben die Hoffnung, dass die Knute nicht sie, sondern die Menschen trifft, denen es vielleicht noch schlechter als ihnen geht und die das angeblich verdient haben.

Wie eine solche sozialchauvinistische Ideologie funktioniert, haben Julia Frank und Sebastian Dörfler in ihren hörenswerten Radio Feature „Warum unsere Gesellschaft die Armen verachtet“[12] thematisiert.

Hier liegt auch ein Grund dafür, weshalb rechter Millionärspopulismus von Trump, Berlusconi und Macron Erfolg hat. Ob man Gröner in diese Reihe stellen kann, ist noch nicht ausgemacht. Denn einstweilen kann der seine Investorenwünsche auch noch ganz gut mit dem aktuellen politischen Personal durchsetzen.

Roter Teppich für Investor Gröner

Das zeigte sich bei dem Projekt der CG-Gruppe[13] im Friedrichshainer Nordkiez. Da wurde schnell mal der Denkmalschutz[14] Makulatur[15], damit der millionenschwere Investor nicht ungnädig wird.

Eine der Linkspartei angehörende Senatorin hatte dann angeblich auch keine Möglichkeit, Gröner die Baugenehmigung zu verweigern. Da hatte es Gröner nicht schwer, gegen das CG-Projekt[16] protestierenden Nachbarn[17] zuzurufen: „Glaubt Ihr ich baue nicht, wenn Ihr hier schreit?“ „Seit ihr wirklich so blöd?“

Schon vor 2 Jahren erklärte Gröner im Tagesspiegel-Interview[18]: „Wir Unternehmer wissen uns selbst zu helfen.“ Daher wäre es wirklich eine Bedrohung für große Teile der Bevölkerung, wenn er nicht nur die Politik für sich arbeiten lässt, sondern selber in die Politik geht.

So könnte der ARD-Beitrag auch der Anlass für eine Diskussion über den Klassenkampf von Oben sein. Und es könnte darüber diskutiert werden, warum Teile der Subalternen ideologisch so zugerichtet werden, dass sie mächtigen Männern, die die Knute zeigen, applaudieren.

Mit einer Diskussion allein über Ungleichheit kommt man dem Phänomen der Millionen schweren Populisten nicht bei. Das zeigte sich bei Berlusconi und Trump und das wird sich auch bei Gröner zeigen.

Peter Nowak

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http://www.heise.de/-4049070

https://www.heise.de/tp/features/Wenn-schwerreiche-Populisten-in-die-Politik-streben-4049070.html

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.sueddeutsche.de/politik/online-petition-kein-hartz-iv-fuer-jens-spahn-1.3961116
[2] https://www.tagesspiegel.de/politik/jens-spahn-und-hartz-iv-eine-sinnlose-armutsshow/21132088.html
[3] http://www.rtl2.de/sendung/promis-auf-hartz-iv/folge/folge-1-140
[4] https://www.cg-gruppe.de/
[5] https://www.mdr.de/brisant/ungleichland-wie-aus-reichtum-macht-wird-100.html
[6] https://www.mdr.de/brisant/ungleichland-wie-aus-reichtum-macht-wird-100.html
[7] https://www.huffingtonpost.de/entry/hart-aber-fair-forderung-eines-unternehmers-verargert-juso-chef-kuhnert_de_5af11c51e4b0ab5c3d690b40
[8] https://www.focus.de/politik/deutschland/hart-aber-fair-juso-chef-wirft-immobilien-mogul-christoph-groener-oligarchie-vor_id_8896884.html
[9] http://www.bento.de/tv/ard-ungleichland-dokumentation-christoph-groeners-haerteste-zitate-2363649/
[10] http://www.deutschlandfunkkultur.de/racial-profiling-rassismus-per-gesetz.976.de.html?dram:article_id=395051
[11] https://www.kop-berlin.de/beitrag/die-berliner-kampagne-ban-racial-profiling-gefahrliche-orte-abschaffen
[12] http://sebastian-doerfler.de/2015/07/radio-feature-warum-unsere-gesellschaft-die-armen-verachtet/
[13] https://www.cg-gruppe.de/Standorte/Berlin/Carre-Sama-Riga?sortBy=date&sortOrder=DESC
[14] https://samariga.noblogs.org/abriss-trotz-denkmalschutz/
[15] http://www.taz.de/!572584/
[16] https://nordkiezlebt.noblogs.org/post/category/plaene-der-cg-gruppe/
[17] https://nordkiezlebt.noblogs.org/rigaer-71-73-cg/
[18] https://www.tagesspiegel.de/berlin/carre-sama-riga-in-berlin-friedrichshain-wir-unternehmer-wissen-uns-selbst-zu-helfen/13867196.html
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Protestmarsch für bessere Pflege


Beim „Walk of Care“ am Samstag demonstrieren rund achthundert Menschen für mehr Personal und Geld in der Pflegebranche

Mit Musik und Luftballons demonstrierten am Samstagnach- mittag Auszubildende und PflegerInnen für bessere Bedingungen in ihrer Branche. Rund 800 Menschen kamen beim „Walk of Care“ zusammen und zogen von Berlin-Mitte vorbei am Bundesgesundheitsministerium hin zur Senatsverwaltung für Gesundheit in Kreuzberg. Die Stimmung war fröhlich, bei einem Zwischenstopp am Checkpoint Charlie wippten auch einige der zahlreichen PassantInnen im Takt der Musik mit. Doch es ging nicht nur um Spaß beim zweiten Berliner Walk of Care.

Immer wieder skandierten die DemonstrantInnen „Die Pflege steht auf“. Der Berliner Pflegestammtisch nutzte den Internationalen Tag der Pflege am 12. Mai, um die Forderung nach einer gesetzlichen Personalbemessung, mehr Raum für Praxisanleitung und guter Ausbildung auf die Straße zu tragen. „Mehr Zeit für Pflege“ hatte eine Frau auf einen Karton geschrieben. Eine andere Demonstrantin forderte „Respect Nurses.“

„Mehr Zeit für Pflege“, hatte eine Frau auf einen Karton geschrieben

Der Walk of Care startete in unmittelbarer Nähe der Charité, wo es in den letzten Monaten Arbeitskämpfe gab, die andere inspirierten. Markus Mai von der Pflegekammer Rheinland- Pfalz berichtete von ähnlichen Demonstrationen in verschiedenen Städten in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern am 12. Mai.

Für die Berliner Vorbereitungsgruppe macht die große Resonanz des Walk of Care deutlich, dass sich in den letzten Jahren die unterschiedlichen Pflegebeschäftigten gegen ihre schlechten Arbeitsbedingungen zu wehren begonnen haben. „Ältere KollegInnen haben oft noch die Vorstellungen vom Ehrenamt im Kopf. Jüngere Beschäftige im Care-Bereich begreifen ihren Beruf als Arbeitsplatz, der auch gut bezahlt werden muss“, benennt Valentin Herfurth vom Berliner Pflegestammtisch die Unterschiede zwischen den Generationen.

Dabei bekommen sie Unterstützung aus der Bevölkerung, wie der aussichtsreiche „Volksentscheid für gesunde Krankenhäuser“ zeigt, in dem mehr Personal und höhere Investitionen in Berliner Krankenhäusern gefordert werden. „Wir haben das nötige Quorum der Unterschriften bereits erreicht, sammeln aber noch bis 11. Juni weiter“, sagte Dietmar Lange, der auf der Demonstration für das Volksbegehren warb.

Solidarität bekamen die Care- Beschäftigten auch von Feuerwehrleuten, die kürzlich eine fünfwöchige Mahnwache gegen schlechte Bezahlung, zu wenig Personal und veraltete Ausrüstung vor dem Roten Rathaus be- endet haben. Dort entstand auch der Protest-Rap „Berlin brennt“, den der Feuerwehrmann Christian Köller am Samstag unter großem Applaus aufführte.

Die Brandenburger Linke startete unterdessen am Tag der Pflege eine Kampagne für mehr Personal und eine bessere Bezahlung in den Pflegeberufen. „Wir fordern einen Pflegemindestlohn von 14,50 Euro und einen flächendeckenden Tarifvertrag“, sagte Landesgeschäftsführer Stefan Wollenberg zum Auftakt in Potsdam.

montag, 14. mai 2018 taz

Peter Nowak

»Wir sind auch nur Menschen«


In Berlin demonstrierten Hunderte für bessere Bedingungen in der Pflege

Rund 800 Menschen zogen am Samstagnachmittag von Berlin-Mitte nach Kreuzberg, um gegen die schlechte Arbeitssituation im Pflegebereich zu protestieren. Es war eine Mischung aus Feier, guter Laune und Protest. Auf einem weißen Transparent waren zehn ausdrucksstarke Gesichter zu sehen – mehr als zwei Drittel davon Frauen. Es sind die Konterfeis von Beschäftigten aus dem Pflegebereich. Auf jedem Gesicht war ein Buchstabe gemalt. »Walk of Care« war dort zu lesen. Der Berliner Pflegestammtisch nutzte den Internationalen Tag der Pflege am 12. Mai, um die Forderungen nach einer gesetzlichen Personalbemessung, mehr Raum für Praxisanleitung und guter Ausbildung auf die Straße zu tragen. 

Viele Teilnehmer trugen ihre Anliegen auf selbstgemalten Schildern mit sich. »Mehr Zeit für Pflege«, »Wir sind auch nur Menschen«, »Keine Profite mit der Pflege« lauteten drei von vielen Parolen. Auch die Redner an den verschiedenen Kundgebungsorten gaben sich kämpferisch. Der »Walk of Care« startete in unmittelbarer Nähe der Charité, wo es in den letzten Monaten vielbeachtete Arbeitskämpfe im Pflegebereich gab, auf die sich mehrere Rednerinnen bezogen. Ein Vertreter der studentischen Organisation »Kritische Medizinerinnen« überbrachte Solidaritätsgrüße und erklärte, dass für sie als zukünftige Ärzte Gesundheit keine Waren sondern ein Recht sei, dass allen Menschen unabhängig von ihrer Herkunft zustehe. 

Markus Mai von der Pflegekammer Rheinland-Pfalz berichtete, dass in Berlin der größte, aber nicht der einzige »Walk of Care« stattgefunden habe. Kleinere Aktionen gab es auch in Stuttgart und Dresden. In anderen europäischen Ländern hat es schon in den vergangenen Jahren ähnliche Pflegemärsche gegeben. In Berlin waren im vergangenen Jahr erstmals knapp 200 Menschen zu einem deutschen »Walk of Care« auf die Straße gegangen. Dass sich die Zahl jetzt vervierfacht hat, ist für Tim von der Berliner Vorbereitungsgruppe ein klares Indiz, dass sich die unterschiedlichen Pflegebeschäftigten gegen ihre schlechten Arbeitsbedingungen zu wehren begonnen haben. »Die Pflege steht auf«, lautete denn auch eine häufig skandierte Parole.

Auf die Unterstützung auch außerhalb der Pflegeberufe wies Dietmar Lange hin. Er trug auf der Demonstration ein Transparent der Initiative für den »Volksentscheid für gesunde Krankenhäuser«, der mehr Personal und höhere Investitionen in Berliner Krankenhäusern fordert. »Wir haben das nötige Quorum der Unterschriften bereits erreicht, sammeln aber noch bis zum 11. Juni weiter«, betonte Lange. 

Valentin Herfurth vom Berliner Stammtisch erklärt gegenüber »nd«, dass vor allem die jungen Pflegekräfte bereit seien, für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen. »Ältere Kollegen haben oft noch die Vorstellungen von Pflege als Ehrenamt im Kopf, die Kämpfe erschweren.« 

Solidarität bekamen die Pflegekräften von Berliner Feuerwehrleuten, die kürzlich eine fünfmonatige Mahnwache gegen schlechte Bezahlung, zu wenig Personal und veraltete Ausrüstung vor dem Roten Rathaus beendet hatten. Dort ist auch »Berlin brennt« entstanden, der Protest-Rap des Feuerwehrmanns Christian Köller, den er am Samstag auf der Care-Demonstration unter großen Applaus aufführte. 

Im März 2014 trafen sich in Berlin über 500 Menschen zur Konferenz Care-Revolution. Er war der Beginn eines bundesweiten Netzwerkes, das die Bedürfnisse der Menschen statt die Profite in den Mittelpunkt stellen will. 

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1088018.wir-sind-auch-nur-menschen.html

Peter Nowak

Die Polizei schießt, Fulda streitet

In Fulda hat ein Polizist einen Flüchtling erschossen. Die Reaktionen darauf zeigen, wie nahe sich CDU und AfD in der Region mittlerweile stehen.

Nach tödlichen Schüssen der Polizei auf einen Flüchtling in Fulda wird die Stimmung rechtspopulistisch angestachelt

»Solidarität mit unserer Polizei« lautete das Motto einer Kundgebung der AfD im osthessischen Fulda am Montag. Die Unterstützung galt einem Polizisten, der Mitte April vor einer Bäckerei in Fulda zwölf Schüsse auf einen 19jährigen afghanischen Flüchtling abgegeben und ihn mit zwei Kugeln tödlich getroffen hatte.

Der junge Mann war von seiner Flüchtlingsunterkunft zur nahegelegenen Bäckerei gegangen, um Brötchen zu holen. Die Kassiererin weigerte sich, ihn zu bedienen, da die Kasse noch nicht geöffnet war. Der junge Mann fühlte sich offenbar als Flüchtling diskriminiert und begann zu randalieren. Im Laufe der Auseinandersetzung warf er Steine gegen die Fenster der Bäckerei und verletzte einen Lieferfahrer mit einem Stein schwer am Kopf. Nach Darstellung der Polizei attackierte der 19jährige dann einen Beamten einer eintreffenden Streife, entriss ihm den Schlagstock und schlug mit diesem auf den am Boden liegenden Polizisten ein. Die Beamten einer zweiten Streife, zu der der spätere Schütze gehörte, griff er demnach ebenfalls mit dem Schlagstock an. Daraufhin habe der Polizist das Feuer eröffnet, so die Polizei. Neben der Leiche sei ein Schlagstock gefunden worden.

Augenzeugen geben hingegen an, dass der junge Mann sich bereits beruhigt und von der Bäckerei entfernt hatte, als die Schüsse fielen. Er sei erschossen worden, als er vor der Polizei weglief.
Unter dem Motto »Gerechtigkeit für Matiullah!« demonstrierten Mitbewohner des Getöteten später in der Fuldaer Innenstadt. Dass sie bei den Protesten eine afghanische Flagge bei sich trugen, wurde ihnen von CDU-Politikern als besonderer Akt der Illoyalität gegenüber Deutschland angekreidet.

Es sei den eingesetzten Beamten in solch einem Fall nicht immer möglich, nur Arme oder Beine zu treffen, zitiert die Welt den Sprecher des hessischen Landeskriminalamts (LKA). »Die Beamten lernen, so lange zu zielen, bis die Gefahr gebannt ist.« Die Frage, welche Gefahr der Mann zum Zeitpunkt der Schüsse darstellte, stellte öffentlich nur Abdulkerim Demir vom Fuldaer Ausländerrat. »Die afghanische Gemeinschaft in Fulda und ich fordern Konsequenzen nach den tödlichen Schüssen«, sagte er.

»Wenn dieser Fall nicht aufgeklärt wird, dann wird die Polizei das nächste Mal den nächsten Mann erschießen«, so Demir. Seitdem ist er ­einer Kampagne ausgesetzt, an der sich auch Fuldas Oberbürgermeister Heiko Wingenfeld (CDU) beteiligte.

Dieser sprach von einer Vorverurteilung der Polizei und forderte Demir auf, sich von seinen Äußerungen zu distan­zieren.
Bei so viel Parteinahme für die Polizei und derartiger Abwehr eines Kritikers musste sich die AfD offenbar bemühen, noch eigene Akzente zu setzen. »Merkels Zuwanderungspolitik endet tödlich – auch in Fulda«, schrieb sie in einer Pressemitteilung. Den Polizisten sei »für ihre Entschlossenheit zu danken. Diese Entschlossenheit sollte als Signal dafür verstanden werden, dass bei uns nicht jeder machen kann, was er will.« Mit der Kundgebung Anfang dieser Woche setzte die AfD ihre Hetzkampagne fort.

Zu den Rednern gehörte Martin Hohmann, der vor knapp 15 Jahren bundesweit bekannt und in der rechten Szene populär wurde. Der damalige Bundestagsabgeordnete der CDU hatte sich in einer Rede am 3. Oktober 2003 zustimmend auf antisemitische Verschwörungstheorien bezogen, die Juden für die Oktoberrevolution verantwortlich machen. So zitierte er aus dem von Johannes Rogalla von Bieberstein herausgegebenen Buch »Der jüdische Bolschewismus« und der von Henry Ford herausgegebenen Schrift »Der internationale Jude«, die seit ihrer Veröffent­lichung in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein Standardwerk für Antisemiten in aller Welt ist. Auf Druck der CDU-Spitze wurde Hohmann schließlich aus Fraktion und Partei ausgeschlossen. 2016 urteilte das Landgericht Dresden, dass man ihn wegen der Rede als Antisemiten bezeichnen darf.

Als Kandidat der AfD hat Hohmann im Herbst 2017 den Weg zurück in den Bundestag geschafft. Dass er weiterhin zu seiner inkriminierten Rede steht, machte er in einem Wahlkampfflyer deutlich. Darin warf er der CDU-Spitze vor, sie habe ihn zum Sündenbock ­gemacht. »Lieber bleibe ich bei der Wahrheit als bei der CDU« – Hohmann ließ diesen Satz aus seiner damaligen Einlassung vor dem Bundesparteigericht der CDU auf dem Wahlkampfflyer fett markieren. So kann er sich vor seinen Anhängern als Mann inszenieren, der nichts bereut.

Noch immer hat Hohmann viele Anhänger an der Basis der Fuldaer CDU. Schließlich stehen viele von ihnen in der Tradition des rechten Stahlhelmflügels des langjährigen Fuldaer Oberbürgermeisters und Bundestagsabgeordneten Alfred Dregger, der der politische Ziehvater Hohmanns war.

https://jungle.world/artikel/2018/19/die-polizei-schiesst-fulda-streitet

Peter Nowak

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Gegendarstellung

Veröffentlicht am 04.06.2018, 13:55 Uhr

In dem Artikel unter der Überschrift „Die Polizei schießt, Fulda streitet“ des Autors Peter Nowak vom 9. Mai 2018 auf der Internetseite „jungleworld“ heißt es:

„2016 urteilte das Landgericht Dresden, dass man ihn wegen der Rede als Antisemiten bezeichnen darf.“

Hierzu stelle ich fest:
Zu keinem Zeitpunkt hat das Landgericht Dresden geurteilt, dass man mich wegen meiner Rede vom 3. Oktober 2003 als Antisemiten bezeichnen darf.

Neuhof, den 23. Mai 2018
Martin Hohmann

Sind offene Grenzen die halbe Revolution?

Die Debatte um die Einwanderungspolitik in der Partei Die Linke geht vor dem Leipziger Bundesparteitag in die nächste Runde. Die Anhänger einer linken Sammlungsbewegung können sich in Freiburg bestätigt sehen

n den letzten Tagen hat sich gezeigt, dass die Gefahr für den Rechtsstaat eher aus dem Innenministerium als von den rechten Rändern kommt. Spätestens seit der CSU-Vorsitzende Seehofer das Innenministerium besetzt hat, vergeht kaum ein Tag, an dem nicht er oder seine politischen Freunde gegen wesentliche Essentials eines bürgerlichen Rechtsstaats mobil machen und dabei ungeniert Begriffe übernehmen, die vom rechten Rand populär gemacht werden.

So hat der CSU-Politiker Alexander Dobrindt, der erst vor einigen Wochen zur konservativen Revolution[1] aufrief (Rechter Schulterschluss[2]), mit der Anti-Asyl-Industrie einen rechtsaußen populären Begriff unternommen.

Wenn Migranten den Rechtsweg ausschöpfen

Im Kern geht es darum, dass auch Migranten und ihre Unterstützer alle Mittel des Rechtsstaats ausschöpfen, um sich gegen Abschiebungen oder andere Sanktionierungen zu wehren. Zivilgesellschaftliche Organisationen geben dazu Tipps, solidarische Juristenorganisationen ebenso. Das alles geschieht im Rahmen des bürgerlichen Rechtsstaats.

Die Migranten gehen den Rechtsweg und zivilgesellschaftliche Organisationen helfen ihnen bei diesem durchaus beschwerlichen Weg. Es ist schließlich für die Betroffenen nicht leicht, oft über lange Zeit nicht zu wissen, ob sie sich in Deutschland ein Leben aufbauen können oder ob sie eine ungewisse Zukunft entweder in einem anderen europäischen Land oder gar in ihrem Herkunftsland erwartet. Von den juristischen Entscheidungen hängt schließlich ihre gesamte Lebensperspektive ab.

Hinter der Polemik gegen die angebliche Anti-Abschiebe-Lobby steht der Versuch, einer bestimmten Menschengruppe den Rechtsweg zu erschweren oder gar unmöglich zu machen. An den Migranten wird wieso oft exemplarisch vorexerziert, was Politiker wie Dobrinth auch für andere Subalterne umsetzen wollen. Schließlich gibt es schon lange das Lamento der Agenda2010-Politiker, dass sich Hartz IV-Bezieher auf dem Rechtsweg gegen die Sanktionen wehren und dabei oft auch Erfolg haben. Schon lange gibt es vielfältige Versuche, diesen Rechtsweg für Erwerbslose einzuschränken, indem beispielsweise der Klageweg gebührenpflichtig wird.

Kampf um das Asylrecht

Angesichts dieser Angriffe auf die Grundrechte für Migranten ist es nicht unwichtig, wenn die Linkspartei in einem Thesenpapier[3] zur Einwanderungspolitik gleich am Anfang festhält:

DIE LINKE muss konsequent für eine humanitäre Flüchtlingspolitik eintreten. Der Schutz von Menschen in Not, die vor Krieg oder politischer Verfolgung fliehen, kennt keinerlei Einschränkungen.

Thesenpapier der LINKEN

Dort wird auch klar erklärt, dass es nicht nur um das Recht in Deutschland geht, sondern dass es sichere Zugangswege in die Europäische Union geben muss. Doch der paternalistische Ton in dem Papier zeigt, dass die Autonomie der Migration für die Autoren des Papiers keine große Rolle spielt. Die Migranten sind Objekt von Caritas, daher fragen sich die Autoren des Thesenpapiers auch nicht, wo die Menschen leben wollen. Vielmehr wird über die Kapazitäten der Aufnahmeländer geredet, nicht aber über die Wünsche der Migranten.

Es gibt also viele Gründe, das Thesenpapier wie alle Formen von paternalistischer Migrationspolitik kritisch zu betrachten. Doch das Papier wurde vor allem diskutiert vor dem Hintergrund der in der Linkspartei virulenten Debatte um offene Grenzen[4]. Ein Teil der Partei steht hinter dieser Formulierung, die vor allem von der Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht abgelehnt wird. Die Autoren des Thesenpapiers haben sich in dieser Frage ebenso positioniert:

Unbegrenzte Schutzgewährung für Menschen in Not ist etwas anderes als eine unbegrenzte Einwanderung, die auch all diejenigen einschließen würde, die lediglich ein höheres Einkommen erzielen oder einen besseren Lebensstandard genießen wollen. Im ersten Fall geht es um eine Schutz- oder Rettungsmaßnahme für Menschen in einer lebensbedrohlichen Not- oder Zwangslage. Im anderen Fall ist die Migration ein sozio-ökonomisch motivierter Akt, der weder alternativlos ist, noch den letzten Strohhalm darstellt, sondern bei dem eine Wahl unter verschiedenen möglichen Optionen getroffen wird. Hier haben die Aufnahmeländer ein Recht zur Regulierung der Migration.

Thesenpapier

Das ist natürlich ein ordnungspolitischer Zugang und die Umsetzung dieser Vorstellungen würde auch Institutionen voraussetzen, die entscheiden, wer in die EU reinkommt oder wer nicht. Wenn dann nebulös erklärt wird, dass man an einer Gesellschaft ohne Grenzen festhalte, nur sei dafür die Zeit noch nicht reif, klingt das so, als wenn Funktionäre der Nomenklatura im Nominalsozialismus vor 1989 erklärten, man strebe noch immer das Absterben des Staates an, aber das sei nicht aktuell.

Der linke Theoretiker Mario Neumann[5] hat die Autoren des Thesenpapiers daher auf der Seite der Ordnung statt der Revolte verortet[6].

Die Botschaften des Papiers sind eindeutig: Die Partei soll ihr bisheriges, in Partei- und Wahlprogrammen verankertes Bekenntnis zu „offenen Grenzen“ räumen und stattdessen Vorschläge für eine staatliche „Regulierung“ machen. Auf acht Seiten entfalten die Autor*innen ihre in die Partei gerichtete Erzählung: Asyl und Einwanderung seien politisch voneinander zu trennen und ein globales Recht auf Einwanderung weder juristisch gegeben noch pragmatisch machbar.

Mario Neumann

Offene Grenzen als Mittel der Revolte?

Neumann benennt auch, was die Aufgabe einer linken Partei wäre:

Wer die Gesellschaft verändern will, muss sich daher zum Recht der Menschen bekennen, die Ordnung in Frage zu stellen und Konflikte zu eröffnen. Genau das Gegenteil ist das Ziel einer „Position offener Grenzen“ und der Sinn eines programmatischen Bekenntnisses zu ihnen: Sie ist keine ordnungspolitische Position, sondern zielt auf eine Politik der Kämpfe. Sie behauptet nicht, dass offene Grenzen hier und heute harmonische Zustände herstellen würden.

Mario Neumann

Doch so pointiert Neumann die sozialdemokratischen Ordnungspolitiker kritisiert, so nebulös bleibt sein eigenes Konzept. Das könnte man schon in dem von Neumann herausgegebenen Buch „Jenseits von Interesse und Identität[7] beobachten.

Bei Neumann fällt auf, dass er offene Grenzen fast schon zum revolutionären Fetisch erklärt und nicht erwähnt, dass sie im realen Kapitalismus auch stabilisierende Wirkungen haben. Es ist ja keine Erfindung, wenn die Kritiker der Forderung nach offenen Grenzen in- und außerhalb der Linkspartei darauf hinweisen, dass dadurch auch der Druck auf die Löhne und die sozialen Errungenschaften erhöht werden. Diese im Kapitalismus eintretenden Effekte können nur dadurch neutralisiert werden, dass sich die Menschen, egal woher sie kommen, gewerkschaftlich organisieren, um für ihre Rechte als Arbeiter zu kämpfen.

In den Gewerkschaften wären sie dann auch mit Beschäftigten organisiert, die schon länger in Deutschland lebten. So würde auch die Konkurrenz zwischen den Lohnabhängigen minimiert. Dafür gibt es genügend historische Beispiele und auch aktuell gewerkschaftliche Debatten[8].


Gibt es nicht auch ein Recht zu bleiben?

Nur findet man darüber bei Neumann kein Wort, kein einziges Mal wird die Migration in den Kontext einer Klasse von Lohnabhängigen gestellt, die historisch schon immer auf der Suche nach Arbeit, von der man leben kann, um die Welt gewandert ist. Über die desaströsen Folgen, die diese Migration für die Heimatländer der Migranten hat, erfährt man bei Neumann auch nichts Nur deshalb kann er Migration fast zu einer revolutionären Tat verklären. Die wäre es aber nur dann, wenn sie den Keim für eine Organisation der Lohnabhängigen weltweit legen würde.

Es wäre doch die Aufgabe einer Linken, die nicht auf Seiten der Ordnung steht, dazu einen Beitrag zu leisten. Kann es nicht auch eine revolutionäre Tat sein, wenn sich Menschen entscheiden, in ihren Ländern zu bleiben und dort für bessere Lebens- und Arbeitsverhältnisse zu kämpfen? Diese Frage muss man Neumann stellen, der schon allein deswegen, weil er nur die Migration zum quasirevolutionären Fetisch erklärt, diese Menschen vergisst. Wäre es nicht auch eine Aufgabe einer Linken, die nicht auf Seiten der Ordnung steht, die Forderung zu stellen, dass Menschen, die in ihren Heimatländern bleiben wollen, genauso ein Recht auf ein würdiges Leben haben müssen? Die Forderung nach einer Vereinigung des Proletariats, wie sie in der Arbeiterbewegung vertreten wurde, bedeutete nicht, dass dazu alle in einer bestimmte Region leben müssen.

So zeigt auch die aktuelle Debatte über die linke Migrationspolitik, dass es da vor allem um Positionierungen innerhalb einer linksreformistischen Partei geht. Auf dem Bundesparteitag der Linkspartei[9], der in wenigen Wochen in Leipzig beginnt, wird man versuchen, die unterschiedlichen Positionen irgendwie handhabbar zu machen, damit sie nicht zur Gefahr für die Partei werden.

Neben der Forderung nach offenen Grenze wird die von Wagenknecht favorisierte linke Sammlungsbewegung für Zoff auf dem Parteitag sorgen. Dabei können die Befürworter einen Erfolg verbuchen. In Freiburg konnte die parteilose, von Linken in und außerhalb einer Partei unterstützte Oberbürgermeisterkandidatin Monika Stein[10] erzielen, die keine linke Partei alleine geschafft hat. Das zeigt, dass zumindest in bestimmten Regionen das Potential für eine Sammlungsbewegung jenseits von Parteien besteht.

Peter Nowak
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https://www.heise.de/tp/features/Sind-offene-Grenzen-die-halbe-Revolution-4046223.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.welt.de/debatte/kommentare/article174088983/Alexander-Dobrindt-Die-Volkspartei-der-Zukunft-ist-buergerlich-konservativ.html
[2] https://www.heise.de/tp/features/Rechter-Schulterschluss-bei-CSU-Klausur-3935010.html
[3] http://www.linksdiagonal.de/politik/dokumentiert-thesenpapier-linke-einwanderungspolitik/
[4] https://www.taz.de/!5501604/
[5] https://www.solidarische-moderne.de/de/topic/32.presse.html
[6] http://www.taz.de/!5500678/
[7] https://www.laika-verlag.de/laika-diskurs/jenseits-von-interesse-identitat
[8] http://www.labournet.de/interventionen/asyl/arbeitsmigration/gewerkschaften-und-migrantinnen/fluchtlinge-und-ver-di-am-bsp-lampedusa-in-hamburg/?cat=7784
[9] https://www.die-linke.de/partei/parteistruktur/parteitag/leipziger-parteitag-2018/
[10] https://fritz.freiburg.de/wahl/ob18-2.htm

Europaweit Demonstrationen für menschenwürdige Pflege

Berlin. Anlässlich des »Internationalen Tags der Pflege« gehen am 12. Mai in vielen europäischen Ländern Beschäftigte des Pflege- und Gesundheitssektors auf die Straße. Auch in zahlreichen deutschen Städten wollen vor allem junge Auszubildende mit einem »Walk of Care« für bessere Arbeitsbedingungen und eine menschenwürdige Pflege demonstrieren. Dabei stehen Forderungen nach einer gesetzlichen Personalbemessung sowie nach mehr Raum für Praxisanleitung und gute Ausbildung im Mittelpunkt. Angekündigt sind Aktionen unter anderem in Dresden und Stuttgart. Die größte Demonstration wird allerdings in Berlin stattfinden, die vor das Bundesgesundheitsministerium und zur Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung führen wird. Beim ersten »Walk of Care« vor einem Jahr gingen in Berlin bereits mehrere Hundert Pflegebeschäftigte auf die Straße. Valentin Herfurth vom Berliner Pflegestammtisch, der die Proteste vorbereitet, betont im Gespräch mit »nd« den organisationsübergreifenden Charakter. »Bei uns engagieren sich Mitglieder der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di ebenso wie Mitglieder von Berufsverbänden, aber auch Unorganisierte für bessere Pflege.« Für jüngere Pflegebeschäftigte sei klar, dass sie für Veränderungen in der Pflege selbst aktiv werden müssen. »Ältere Kolleg_innen haben oft noch die Vorstellungen vom Ehrenamt im Kopf«, benennt Herfurth Unterschiede zwischen den Generationen. Dabei gehe es allerdings nicht darum, sich von den älteren Beschäftigten abzugrenzen. So wird in Berlin eine 86-jährige Pflegerin über den Wandel im Carebereich sprechen. Auch ver.di beklagt anlässlich des »Tags der Pflege« Arbeitsüberlastung und Tarifflucht in Kliniken und Pflegeeinrichtungen. Dies führe zu Pflegenotstand.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1087796.europaweit-demonstrationen-fuer-menschenwuerdige-pflege.html

Peter Nowak

Es war auch Traumabewältigung


Henning Fischer würdigt den Kampf und das Leid der Frauen von Ravensbrück

Diese Arbeit ist von einer großen Empathie für die Frauen der Lagergemeinschaft Ravensbrück geprägt«, erklärte der Historiker Mario Keßler zur Buchpremiere im Salon der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Jenen Antifaschistinnen ist die Kollektivbiografie des Historikers Henning Fischer gewidmet. Die Frauen, die in der Öffentlichkeit als politisches Kollektiv handelten, beschreibt der Autor als Individuen mit Ängsten und Sehnsüchten, Hoffnungen und Enttäuschungen. 

Seit mehreren Jahren forscht Fischer zur Geschichte des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück. Er verfolgte die Wege der ehemaligen deutschen Häftlinge von ihrer Politisierung in der Weimarer Republik bis hin zu ihrem späteren Leben in der Bundesrepublik oder der DDR. Sehr anschaulich schildert er, wie diese Frauen nach 1933 eine solidarische Gemeinschaft bildeten, die sich allerdings auf die eigene politische Gruppe beschränken musste. Wer nicht auf der Parteilinie lag, hatte es schwer. Beispielsweise Margarethe Buber-Neumann, die im sowjetischen Exil unter Stalin mit ihrem Mann als »Abweichlerin« verfemt, verfolgt und schließlich, nach dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt 1939, an Nazideutschland ausgeliefert wurde. Bis zur Befreiung vom Faschismus war Buber-Neumann in Ravensbrück inhaftiert. Obwohl sie noch bis 1946 KPD-Mitglied blieb, wurde sie von ihren Genossinnen und Genossen auch nach dem Krieg als Dissidentin mit Argwohn beobachtet. Nach ihrem Parteiaustritt schrieb sie ihre Erinnerungen nieder, nicht nur an die Zeit unter Stalin, auch an ihre Haft im faschistischen KZ. 

Die meisten Ravensbrückerinnen stürzten sich in Ost- wie in Westdeutschland sofort wieder in die politische Arbeit, was der Autor auch als eine Form der Traumabewältigung deutet. Der Kalte Krieg führte dazu, dass die Ravensbrückerinnen in der BRD bald erneut gesellschaftlich marginalisiert und oft kriminalisiert wurden. Erst ab Mitte der 1980er Jahre konnten sie ihre Erfahrungen als Zeitzeuginnen an eine jüngere Generation vermitteln. Am Beispiel der Ärztin Doris Maase zeigt Fischer, wie ehemalige NSDAP-Mitglieder nun als Richter in der Bundesrepublik die Verfolgung der Kommunistinnen fortsetzten. Doris Maase wurde die Rente gestrichen, die sie als NS-Verfolgte erhielt. Schon erhaltene Gelder sollte sie zurückzahlen, weil sie weiterhin politisch aktiv blieb.

Sensibel schildert Fischer auch den Prozess gegen die Kommunistin und Ravensbrück-Gefangene Gertrude Müller, die 1947 angeklagt war, jüdische Zwangsarbeiterinnen geschlagen zu haben. Zunächst schuldig gesprochen und zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt, musste Müller ihre Zelle mit ehemaligen Aufseherinnen von Ravensbrück teilen. Welch eine Zumutung. In einem zweiten Prozess wurde sie schließlich freigesprochen. Fischer stellt fest, dass letztlich nicht mehr geklärt werden kann, was damals tatsächlich geschah und wie es zu dem Vorwurf kam. Dass in ihrem ersten Prozess ein kommunistisches und zwei jüdische Opfer des NS-Systems gegeneinander klagten, ist dessen ungeachtet tragisch. Gertrud Müller war noch bis ins hohe Alter in der Organisation der NS-Verfolgten tätig. In den 1980er Jahren lud sie ehemalige Zwangsarbeiterinnen zu einer Podiumsdiskussion über die von der Bundesrepublik bis dato verweigerten Entschädigungszahlungen ein. 

In der DDR waren die Ravensbrückerinnen Teil der offiziellen Erzählung vom antifaschistischen Staat, den viele von ihnen bedingungslos verteidigten. Zwei der Frauen sahen auch ihre Arbeit für das MfS als eine Fortsetzung ihres kommunistischen Kampfes. Fischer weiß aber auch vom Eigensinn einer Frau zu berichten, der es gelungen ist, trotz parteioffizieller und staatlicher Vorgaben in der Gedenkarbeit eigene Akzente zu setzen. Es war Erika Buchmann, die sich hierbei selbst bei einstigen Leidensgenossinnen nicht nur Freunde machte. Der Kampf um die Erinnerung wurde unter den überzeugten Kommunistinnen hart ausgefochten. Schwer hatte es in der DDR zum Beispiel auch Johanna Krause, die unterm Hakenkreuz als Jüdin und Kommunistin verfolgt wurde und später als »renitente Quertreiberin« aus der SED ausgeschlossen wurde. 

Fischer beschreibt die Frauen in all ihrer Widersprüchlichkeit als selbstständig und selbstbewusst handelnde Individuen. Dieses Einfühlungsvermögen ließ die Leiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Insa Eschebach, bei der Buchvorstellung leider vermissen. Sie sprach von einer totalitären Einstellung ehemaliger Ravensbrückerinnen in der DDR und warf jenen gar vor, ihre Verfolgungsbiografien retuschiert zu haben. Anwesende Angehörige protestierten – zu Recht.


Henning Fischer: Überlebende als Akteurinnen. Die Frauen der Lagergemeinschaften Ravensbrück: Biografische Erfahrung und politisches Handeln, 1945 bis 1989. Universitätsverlag Konstanz, 542 S., br. 29 €.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1087751.es-war-auch-traumabewaeltigung.html

Peter Nowak

Riot – Was war los in Hamburg? Theorie und Praxis der kollektiven Aktion

Berlin
Größenwahn K9,

Kinzigstraße 9,

10.5.2018, 19 Uhr

Die vielfältigen Formen von Protest und Widerstand gegen den G20-Gipfel in Hamburg liegen mittlerweile ein dreiviertel Jahr zurück. Sie haben ein sehr unterschiedliches mediales und politisches Echo hervorgerufen und der öffentliche Kampf um die Deutungshoheit über das Geschehen dauert weiter an. Aber auch innerhalb der linken Bewegung sind die Ereignisse umstritten und die diesbezüglichen Positionen sehr heterogen, insbesondere was die Bewertung der Vorgänge während des G20-Wochenendes am Freitagabend , den riot, betrifft, um den es bei der Veranstaltung gehen soll. Achim Szepanski wird das von ihm mit herausgegebene Buch „Riot – Was war los in Hamburg – Theorie und Praxis der kollektiven Aktion“ vor- und zur Diskussion stellen. Der Journalist Peter Nowak widmet sich in seinem Beitrag der Repression als Gradmesser der autoritären Verfasstheit der deutschen Gesellschaft.

non.copyriot.com/vorankuendigung-riot-theorie-und-prais-der-kollektiven-aktion/

Das APO-Lexikon: Menschenrechte

Lexikon der Bewegungssprache

Menschenrechte

»Die Internationale erkämpft das Menschenrecht«, heißt es im Refrain des wohlbekannten Kampfliedes der Arbeiter*innenbewegung. Damals kämpften Proletarier*innen darum, überhaupt als Menschen, die eigene Rechte haben, anerkannt zu werden. Doch spätestens nach der Oktoberrevolution wurde die Frage relevant, wie es denn eine Linke mit den Menschenrechten hält, wenn sie Macht hat. Im Kalten Krieg wurden die Menschenrechte als Waffe gegen autoritäre Sozialismusmodelle benutzt und oft instrumentalisiert. Der Westen inszenierte sich als Hüter der Menschenrechte, hatte oft keine Probleme, mit Faschisten zu paktieren oder wie in Vietnam Krieg mit Napalm zu führen. Die außerparlamentarische Linke bleibt von der Debatte um die Menschenrechte nicht verschont. Feministinnen erinnerten nach 1968 daran, dass die Menschenrechte nicht geschlechtsblind sind. Antifaschist*innen müssen bei ihren Aktionen berücksichtigen, dass auch Neonazis Menschenrechte haben. Für innerlinke Konflikte sorgte in den vergangenen Jahren zunehmend die Positionierung zu Kriegen, die im Namen der Menschenrechte geführt werden. Während manche Linke angesichts von regressiven Ideologien wie den Islamismus ein bloßes Nein zu einfach finden, betonen andere Linke, dass jeder Krieg per se eine Menschenrechtsverletzung darstellt.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1087708.menschenrechte.html

Peter Nowak