Mit Tsipras lassen sich soziale Grausamkeiten besser umsetzen

Wie manche konservative Kommentatoren und Ökonomen den griechischen Ministerpräsidenten lieben lernten

Der griechische Ministerpräsident Tsipras verliert zumindest in seiner Syriza-Partei an Unterstützung. Dafür findet er neue Anhänger, ausgerechnet in der konservativen FAZ [1].

Ja, Griechenland kann es schaffen. Vorbei ist die Zeit des schillernden Giannis Varoufakis mit viel Show und noch mehr Bluff. Die neue Mannschaft von Ministerpräsident Alexis Tsipras hat sich offenkundig ernsthaft an die Arbeit gemacht; ein Lichtblick ist vor allem Finanzminister Euklid Tsakalotos. Mittlerweile hebt sich die Regierung sogar wohltuend von der Anfang 2015 abgewählten Regierung Samaras ab, die gegen Ende ihrer Amtszeit kraftlos war und nichts mehr anpackte.

Plötzlich wird der Ministerpräsident, der noch vor Wochen als linksradikaler Populist und Gegner Deutschlands galt, zum Hoffnungsträger der FAZ, der sogar die in dem Blatt so umsorgten griechischen Konservativen in den Schatten stellt. Der Grund dafür ist nicht schwer zu finden und wird vom FAZ-Autor auch offen dargestellt: „Die Leute glauben an ihn, und das bietet die Chance, dass selbst harte Einschnitte akzeptiert werden.“

Ein Rätsel bleibt Ministerpräsident Tsipras, der nun das völlige Gegenteil dessen macht, was er bis zum Referendum am 5. Juli propagiert hatte. Er hat erkannt, dass es zu dem Hilfspaket und dessen Auflagen keine praktikable und vernünftige Alternative gibt, und deshalb die Kehrtwende vollzogen. Das wirft ihm kaum einer in Griechenland vor; wie bei einer Teflonschicht bleibt an ihm nichts hängen – auch nicht, dass die Kreditgeber heute auf ungleich härteren Bedingungen bestehen als zu Jahresbeginn. Die Leute glauben an ihn, und das bietet die Chance, dass selbst harte Einschnitte akzeptiert werden. Der dysfunktionale griechische Staat wird aus den neuen Gesetzen gewiss nicht das machen, was die Gläubiger erwarten. Die Chance besteht aber, dass die Krise einen Modernisierungsschub in Gang setzt, den das Land so dringend braucht.

Es sind nun nicht das erste Mal, dass ein Sozialdemokrat die unpopulären Maßnahmen umsetzen soll, die Konservative und Liberale nicht mehr umsetzen können.

„Diesmal gibt es in Athen keine Opposition mehr“

Daniel Gros [2] vom wirtschaftsliberalen Think Thank CEPS [3] ist der Überzeugung, dass mit Tsipras die Politik umgesetzt werden kann, die in den letzten Jahren in Griechenland durch Massenproteste zumindest behindert [4] worden war:

Es wäre schon ein großer Erfolg, wenn die Reformen umgesetzt werden. Die Chancen stehen besser, denn diesmal gibt es in Athen keine Opposition mehr, das Memorandum wird regelrecht durch das Parlament fliegen! Das heißt aber nicht, dass alles gut wird. Griechenland kann sich glücklich schätzen, wenn es in einigen Jahren so dasteht wie Portugal heute.

Nun könnte man denken, dass Gros mit seiner Einschätzung, dass es in Griechenland keine Opposition mehr gibt, doch etwas voreilig unterwegs ist. Schließlich versucht die Syriza-Linke gerade eine neue Front gegen die Austeritätspolitik zu kreieren und in Griechenland dürfte sich auch die lange Zeit starke außerparlamentarische Opposition wieder zurückmelden.

Doch die Vorstellung, dass nun eine neue parlamentarische und außerparlamentarische Bewegung einfach da weitermacht, wo Tsipras vor vier Wochen vor „Deutsch-Europa“ eingeknickt ist, wäre naiv. Dabei darf die Enttäuschung nicht unterschätzt werden, die viele Menschen nicht nur in Griechenland befallen hat, die mit dem Wahlsieg von Syriza eine neue Alternative erhofften. Der Europakorrespondent Eric Bonse spricht von einer „Schockstarre in Euroland“ und schreibt in der Taz: „Vier Wochen nach dem Krisengipfel zu Griechenland wagt es in Brüssel niemand mehr, Berlin zu widersprechen“.

Dabei geht er von weiteren Auseinandersetzungen aus: „Der deutsche Durchmarsch in Griechenland wäre, so gesehen, nur das Vorspiel auf einen viel größeren Kampf. Wenn es Berlin gelänge, Paris an den Rand zu drängen, und Brüssel zu schwächen, hätte das deutsche Europa gesiegt.“

Tsipras wird von manchen Konservative deshalb im Moment gelobt, weil er durch sein Festhalten an der Eurozone um jeden Preis für diese Situation mit verantwortlich ist. In einem auch im Neuen Deutschland veröffentlichten [5] Interview [6] versucht Tspiras seinen Kurs zu verteidigen und spart nicht mit revolutionären Floskeln.

Ich denke, und das habe ich auch dem Parlament gesagt, dass das, was unsere europäischen Partner und Gläubiger errungen haben, ein Pyrrhus-Sieg ist, dass dieser aber gleichzeitig für Griechenland und seine Linksregierung einen großen moralischen Sieg darstellt. Es ist ein schmerzhafter Kompromiss, sowohl auf der wirtschaftlichen als auch auf der politischen Ebene. Sie wissen, Kompromisse sind Teil der politischen Realität und auch Teil der revolutionären Taktik. Lenin war der erste, der über den Kompromiss gesprochen hat und zwar in seinem Buch „Der ‚Linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit im Kommunismus“, in dem er mehrere Seiten lang erklärt, dass Kompromisse Teil revolutionärer Taktik sind. In einer Passage erwähnt er das Beispiel eines Banditen, der seine Pistole gegen dich richtet und sagt: „Geld oder Leben?“ Was tut ein Revolutionär in dieser Situation? Sein Leben hergeben? Nein, er muss das Geld hergeben, um sein Recht zu leben zu behaupten und den Kampf fortführen. Wir sahen uns mit einem Dilemma unter Gewaltandrohung konfrontiert. Heute machen die Oppositionsparteien und die etablierten Medien viel Aufhebens, wobei sie sogar so weit gehen, dass sie strafrechtliche Schritte gegen Yanis Varoufakis fordern. Es ist uns völlig bewusst, dass wir in diesem politischen Kampf unseren Kopf riskieren. Aber wir führen ihn gemeinsam mit der überwiegenden Mehrheit der griechischen Bevölkerung an unserer Seite. Und das ist es, was uns Kraft verleiht.

Tsipras verrät nicht, wo der moralische Sieg bei der Unterwerfung lag. Unverständlich ist auch, dass er von der Alternative „Geld oder Leben“ redet, wo es nur um die Frage gegangen wäre, unter allen Bedingungen im Euro zu bleiben oder tatsächlich alternative Wege zu gehen. Dass er dann noch Lenins Lieblingsschrift aller linken Realpolitiker zitierte, dürfte vor allem auf die Syriza-Basis zielen.

Es ist erstaulich, dass Tsipras nicht den Frieden von Brest Litowsk erwähnte, den die deutschen Militärs von der jungen sowjetischen Revolutionsregierung erpressten. Die Mehrheit der Bolschewiki und ihr Koalitionspartner, die linken Sozialrevolutionäre, waren dagegen. Damals ging es wirklich um Leben und Tod und Lenins Kalkül, das der erpresste Vertrag nach dem Sturz der deutschen Monarchie zerrissen wird, ging auf. Sollte Tsipras doch noch die Hoffnung haben, dass auch die neue deutscheuropäische Macht auf Sand gebaut ist?

http://www.heise.de/tp/news/Mit-Tsipras-lassen-sich-soziale-Grausamkeiten-besser-umsetzen-2779916.html

Peter Nowak

Links:

[1]

http://www.faz.net/aktuell/politik/europaeische-union/griechenland-krise-alexis-tsipras-bleibt-ein-raetsel-13745636.html

[2]

http://www.ceps.eu/profiles/daniel-gros

[3]

http://www.ceps.eu/

[4]

http://www.taz.de/!5219891/

[5]

http://www.neues-deutschland.de/artikel/980098.die-austeritaet-ist-eine-sackgasse.html

[6]

http://www.transform-network.net/de/blog/blog-2015/news/detail/Blog/alexis-tsipras-austerity-is-a-dead-end.html

Care Revolution – oder Wege in eine solidarische Welt

„Warum wird der Streik der Lokführer in der Öffentlichkeit als viel dramatischer wahrgenommen als die gleichzeitig stattfindenden Warnstreiks des Kita-Personals?“ Diese Frage stellte die Journalistin Ulrike Baureithel am 23. April d.J. in der Wochenzeitung Freitag und versuchte sich gleich selbst an einer Antwort: „Die Mobilität ist für den kapitalistischen Kreislauf  unabdingbar. „Piloten und Lokführer im Ausstand signalisieren: Hier kommt der  Verwertungsprozess des Kapital ins Stocken. Während aus der Kita keine Rendite zu ziehen ist und man sich beim höchsten Gut, den Kindern, immer sicher sein kann: Irgendjemand wird sich schon um sie kümmern, wenn nicht die bezahlten Care-Arbeiter, dann eben Eltern, Großeltern oder andere“. Die geringere Beachtung des Kitastreiks ist also noch immer eine Folge der geringeren Achtung der oft von Frauen geleisteten Care-Arbeit. Dies zu ändern ist das Ziel einer Care-Bewegung, die in den letzten Jahren gewachsen ist und im März 2014 in Berlin einen großen bundesweiten Kongress organisiert hatte. Er war aber nicht der End-, sondern der Ausgangspunkt vieler weiterer Aktivitäten. Die feministische Sozialwissenschaftlerin Gabriele Winker hatte großen Anteil an der Entstehung des Kongresses. Nun hat sie im transcript-Verlag unter dem Titel “Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft“ ein Buch veröffentlicht, dass einen guten Einblick in die theoretischen Prämissen und die praktischen Schritte dieser neuen Care-Bewegung gibt. Winkers Prämisse lautet: Die kapitalistische Gesellschaft ist nicht in der Lage, Sorgearbeit für alle Menschen zu garantieren. Dazu gehören die Kindererziehung, die Bildung, aber auch die immer wichtiger werdende Pflegearbeit für ältere Menschen. Winker zeigt, dass diese Vernachlässigung nicht auf moralische Defizite, die Schlechtigkeit von Menschen oder Institutionen zurückzuführen ist, sondern mit Verwertungsinteresse des Kapitals zusammenhängt. „Entscheidend ist, dass die entstehenden Reproduktionskosten die Profitrate nicht allzu sehr belasten und gleichzeitig zur Reproduktion einer Arbeitskraft führen, die hinsichtlich ihrer Qualifikation und ihrer physischen und psychischen Gesundheit in der Warenproduktion rentabel einsetzbar ist.“ (S. 21)
Winker zeigt auch, dass die Ablösung des Familienernährermodells in erster Linie dem Interesse des Kapitals und weniger feministischen Kämpfen geschuldet ist. „Das Ernährermodell wird für die Kapitalverwertung wegen der zunehmenden internationalen Konkurrenz unattraktiv“ (S. 28). Dieser Aspekt spielt eine große Rolle, wenn heute im politischen Mainstream die Kitaerziehung eine so große politische Unterstützung erfährt. Das Bundesfamilienministerium setzt daher neben der Erhöhung der Geburtenrate als zentrale  Aufgabe, die Frauenerwerbstätigkeit zu steigern… Diese Entwicklung führt dazu, dass Teile der Sorgearbeit aus dem Haushalt ausgelagert und auf kommerzieller und sozialstaatlicher  Grundlage neu organisiert werden. Daraus erklärt sich beispielsweise der schrittweise Ausbau der Kita-Betreuung auch für kleinere Kinder“(S. 29).

Streiks der Kita-Beschäftigten
In dem Buch stellt sie die unterschiedlichen Facetten einer Care-Bewegung vor, die sich eben nicht mit den Sachzwängen zufrieden geben will. Dazu gehören auch gewerkschaftliche Kämpfe. So streiken MitarbeiterInnen an der Berliner Charité für einen Personalschlüssel, der eine gute Pflege für alle überhaupt erst möglich macht. Ein anderes Beispiel ist der Arbeitskreis Erziehung und Bildung der Gewerkschaft ver.di in der Gemeinde Tamm bei Stuttgart. „Hier organisieren sich Erzieher_innen, die in kommunalen Kitas tätig sind. Zentrales Thema ihres politischen Engagements ist die unzureichende Personalbemessung in den Kindertagesstätten und Gemeinden“ (S. 120). Auch die Gruppe „Armut durch Pflege“, in der sich Angehörige und FreundInnen von Pflegebedürftigen zusammengeschlossen haben, die Assistenzgenossenschaft Bremen, die von Personen gegründet wurde, die Pflege brauchen, und die Organisation geflüchteter Frauen (Women in Exile) werden von Winker als Teil der Care-Bewegung vorgestellt. Sie macht damit deutlich, wie vielfältig diese Bewegung ist. Dabei betont Winker, dass es bei der aktuellen Care-Revolution-Bewegung  nicht um ein Nebeneinander von Initiativen in völlig unterschiedlichen Lebenslagen, sondern um eine solidarische Bezugnahme gehen soll.  Dabei sollen Initiativen und Einzelpersonen in einer schwachen Position von Gruppen in einer stärkeren Position unterstützt werden.
Wege jenseits des Kapitalismus
Auch Gruppen aus der außerparlamentarischen Linken wie die AG Queerfeminismus bei der „Interventionistischen Linken“ (IL) werden von Winker gewürdigt. Dieser ist es mit zu verdanken, dass die Care-Revolution mittlerweile Teil von großen politischen Demonstrationen geworden ist. So gab es bei den Blockupy-Protesten am 18. März 2015 in Frankfurt/Main eine deutlich sichtbare Teilnahme und bei der Revolutionären 1. Mai-Demonstration in Berlin eigene Blöcke, die unter Motto „Tag der unsichtbaren Arbeit“ die Care-Revolution ausriefen.
Besonders überzeugend ist Winkers Plädoyer da, wo sie deutlich macht, dass der Kampf um Veränderungen hier und heute beginnen, aber über die kapitalistische Gesellschaft hinausweisen muss. „Ursächlich für die Unterversorgung (im Carebereich; P.N.) auch in reicheren Ländern ist der Druck auf Löhne und Transfereinkommen, der im Kapitalismus unvermeidlich ist. Denn diese Produktionsweise ist zwar auf Menschen als Arbeitskräfte angewiesen, da ohne sie keine Kapitalverwertung möglich ist. Gleichzeitig finden jedoch der Ausbau des Bildungs- und Gesundheitssystems und die Steigerung der Reallöhne (….) dort ihre Grenzen, wo die Standortvorteile in der globalen Konkurrenz in Gefahr sind“ (S. 140).
Winker entwickelt dann am Beispiel der Care Revolution ein Konzept von radikalen Reformen und einer antikapitalistischen Transformation. Dabei soll der Kampf um Reformen neben konkreten Verbesserungen im Care-Bereich auch dazu beitragen, dass sich die Menschen gemeinsam organisieren und solidarisch für die Verbesserungen ihrer Lebens- und Arbeitssituation kämpfen. Dabei ist eben die Nennung der verschiedenen Initiativen, von gewerkschaftlichen Arbeitsgruppen bis zu den Women in Exile, besonders wichtig. Es geht um einen Kampf ohne Ein- und Ausgrenzung. Indem Teile des Care-Bereichs der Profitlogik entzogen werden, wird für viele Beteiligte die Frage aufkommen, ob nicht die kapitalistische Verwertungslogik überhaupt der Vergangenheit angehören sollte. Dabei benennt sie als Schritte zur radikalen Reform auch Forderungen wie die nach einer massiven Verkürzung der Lohnarbeitszeit. So hätten die Menschen mehr Zeit für Sorgearbeit für sich und ihre FreundInnen. Daneben betont Winker die Bedeutung der Ausbau der sozialen Infrastruktur und der Demokratiserung und Selbstverwaltung im Carebreich als Kernpunkte dieser radialen Reform.“Bei der Demokratisierung der vorhandenen Care-Infrastruktur gilt einerseits  darum zu kämpfen, dass Privatisierungen aber auch die Übertragung staatlicher Aufgaben an Wohlfahrtsverbände, zurückgenommen werden. Gleichzeitig geht es darum, demokratische Strukturen aufzubauen, die auf allen Ebenen die Bedürfnisse, Interesse und Wünsche der Beteiligten zusammenführen“ (S. 166).
Winker geht in einem Absatz auf die Entwicklung im Bereich der 3-D-Drucker ein, mit denen Güter in dezentralen Nachbarschaftszentren hergestellt und viele stupide Lohnarbeitsplätze eingespart werden könnten. Es ist eine Stärke von Winkers Buch, dass sie hierin keine Drohung, sondern eine Chance sieht, wenn man kapitalistische Verwertungsinteressen nicht als unhintergehbare Tatsache, sondern als historisch überwindbar betrachtet. Mit dem – historisch allerdings nicht neuen – Verweis auf die Chance, dass Maschinen Menschen die stupide Lohnarbeit abnehmen, bringt Winker einen Akzent in die Debatte ein, der das Terrain der bloßen Abwehrhaltung und der Verteidigung des Status Quo, aber auch die Sehnsucht nach einer imaginierten heilen keynesianischen Arbeitswelt verlässt und Raum für Utopien lässt. Am Beispiel Care Revolution eine Verbindung von Alltagskämpfen mit der Zielvorstellung einer nichtkapitalistischen Gesellschaft zu diskutieren, macht das Buch zu einer Rarität in linken Debatten.

aus: express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit,

8/2015

Peter Nowak
Gabriele Winker: „Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft“, Bielefeld 2015, 11,99 Euro, 208 Seiten, ISBN 978-3-8376-3040-4

Geflüchtete, lasst uns mit den Pegida-Deutschen nicht allein

„Griechenland ist ein Ort, wo der Kapitalismus die Demokratie bekämpft“

Erst Rausschmiss, dann Reglementierung

WOHNEN Vor einem Jahr wurde Tina S. zwangsgeräumt. Seither kämpft sie um ihre Privatsphäre
Über ein Jahr ist her, dass Tina S. aus ihrer Wohnung in der Buttmannstraße 18 im Wedding geräumt wurde. Am kommenden Freitag lädt die Stadtteilinitiative „Hände weg vom Wedding“ ab 17 Uhr in den Nachbarladen in der Buttmannstraße 16 zum Kiezpalaver mit Büfett – auf den Treffen wird es auch um die seit einem Jahr leer stehende Wohnung von Tina S. gehen, die nach der Sanierung wesentlich teurer zur Neuvermietung angeboten wird. „Wir wollen darüber sprechen, wie die Probleme im Kiez gemeinsam angegangen werden können“, erklärte Martin Steinberg von dem Weddinger Stadtteilbündnis. Tina S. würde gern wieder in ihre alte Wohnung zurückkehren.  Sie lebt zurzeit bei UnterstützerInnen, muss aber in nächsten Monaten eine neue Wohnung finden. Davor hat sie mehrere Monate in der Einrichtung der Berliner Wohnungsnothilfe FrauenBeDacht in Berlin-Mitte gewohnt. Dort geriet sie mit der Hausordnung in Konflikt. „Die erste Abmahnung erhielt ich, weil ich in der Gemeinschaftsküche geraucht habe, was ein Verstoß gegen die Hausordnung ist. Drei Abmahnungen führen zur Kündigung“, berichtet Tina S. gegenüber der taz. Sie habe sich in der Einrichtung reglementiert gefühlt und juristisch um ihre Privatsphäre kämpfen müssen, betont sie. So habe sie dem Personal erfolglos mehrmals verboten, ihr Zimmer ohne ihre Einwilligung zu betreten. Erst nachdem sie einen Anwalt einschaltete, erhielt sie von der Geschäftsstelle der Gebewo Soziale Dienste, die die Einrichtung
betreibt, per SMS die Mitteilung, dass alle MitarbeiterInnen angewiesen wurden, das Zimmer nicht ohne ihre Einwilligung zu betreten.

Kündigung nach vier Tagen
Robert Veltmann von der Geschäftsstelle der Gebewo Soziale Dienste wehrt sich gegen die Vorwürfe. „Da wir in solch einer Unterkunft auch viele Menschen mit erheblichen sozialen Problemen beherbergen, dient es allen Bewohnerinnen im Haus, eine verbindliche Hausordnung zu pflegen.“ Die von Tina S. kritisierte Regelung, dass Bewohnerinnen gekündigt wird, wenn sie vier Tage nicht in der Einrichtung übernachten, begründet Veltmann mit der Kooperationsverpflichtung gegenüber den Jobcentern. „Die von Ihnen bemängelte Regelung beruht darauf, dass wir als Trägerorganisation unabgesprochenes Fernbleiben der Bewohnerinnen nach spätestens drei Werktagen dem zuständigen Kostenträger mitteilen müssen, der dann seinerseits wegen fehlender Mitwirkung die Zahlung für die Unterhaltskosten einstellt“, schreibt Veltmann an den Rechtsanwalt von Tina S. Henrik Solf.
aus Taz vom 12.8.2015
PETER NOWAK

Wie Richterentscheidungen Vermieter begünstigen

Wenn die Dampfwalze rollt

Jobcenter kooperieren mit Wohnungseigentümern, vernachlässigen aber ihre Pflicht zur Mietübernahme. Berichte von Betroffenen zeigen, dass hinter skandalösen Wohnungsräumungen System steckt.

Eigentlich müsste das Jobcenter Meißen mit Stefan Klausner* zufrieden sein. Der Mann musste nach einem längeren Auslandsaufenthalt ALG-II-Leistungen beantragen, wollte sich aber schnell im Internetbereich selbstständig machen. Zur Vorbereitung stellte er eine Website online, die dazu dienen sollte, sich potentiellen Kunden vorzustellen. Doch schon nach wenigen Tagen meldete sich das Jobcenter und unterstellte Klausner, er generiere durch die Website Einkünfte, die er nicht gemeldet habe. Daraus ­erwuchs eine mehrjährige Auseinandersetzung, die Klausner mittlerweile als Fortsetzungsgeschichte in sechs Akten auf dem Internetportal Erwerbslosenforum.de dokumentiert. Klausner wurden im Verlauf des Konflikts mit dem Jobcenter immer wieder die finanziellen Leistungen ­gekürzt oder ganz gestrichen. Auf umfangreichen Fragebögen sollte er detaillierte Auskünfte über sämtliche Ausgaben geben, darunter die Finanzierung seiner Hochzeit. »Im März dieses Jahres wollte das Jobcenter die Telefondaten bei meinem Provider einsehen und drohte bei Weigerung mit den Einstellungen der Leistungen«, berichtet Klausner im Gespräch mit der Jungle World. Solche Informationen könne das Amt verlangen, wenn es um die Mitwirkungspflichten eines Arbeitslosen geht, sagte ein Mitarbeiter des Mei­ßener Jobcenters.

Auch Erfolge auf dem Rechtsweg halfen Klausner wenig. »Durch Vorlage aktueller Kontoauszüge sowie eidesstattlich versicherter Erklärungen ist hinreichend glaubhaft gemacht worden, dass der Antragsteller über keine nennenswerten Vermögenswerte oder Einkommen verfügt, aus denen er seinen Lebensunterhalt und den seines Sohnes zunächst vollständig bestreiten kann«, begründete das Dresdner Sozialgericht seine verpflichtende Aufforderung an das Jobcenter Meißen, die Leistungssperre gegen Klausner aufzuheben. Doch schon wenige Tage später erreichte den Erwerbslosen ein neues Schreiben vom Jobcenter, in dem er erneut bei Androhung des Leistungsentzugs zur Beantwortung eines Fragenkatalogs aufgefordert wurde.

»Kaum hast du einen gerichtlichen Erfolg gegen das Jobcenter errungen, kommt der nächste Brief und die Auseinandersetzung beginnt von Neuem. Es ist wie eine Dampfwalze, die dich überrollt«, beschreibt ein Mann, der ehemals im Finanzsektor beschäftigt war, seine Erfahrungen mit dem Meißener Jobcenter. Ute, eine Frau Ende 40, nickt zustimmend. Auch ihr warf das Jobcenter Vernachlässigung ihrer Mitwirkungspflichten vor und strich die finanziellen Leistungen. Sie konnte ihre Miete nicht mehr zahlen und erhielt die Kündigung, der vom Amtsgericht Meißen stattgegeben wurde. Einen Räumungsaufschub lehnte es mit der Begründung ab, Ute und ihre Mitbewohnerin hätten Passivität bei der Wohnungssuche gezeigt und ihre Ansprüche zu hoch geschraubt. Erst als sie das Berliner Bündnis gegen Zwangsräumung einschalteten, konnten die beiden Frauen eine neue Wohnung beziehen und die Obdachlosigkeit abwenden.

Auch Stefan Klausner bekommt Unterstützung von außerhalb. Bei einem Treffen der unzufriedenen Kunden des Meißener Jobcenters boten die FAU Dresden und die Berliner Erwerbslosenini­tiative Basta ihre Unterstützung an. Auch ein Mitarbeiter einer SPD-Bundestagsabgeordneten war gekommen, um sich über die Probleme zu informieren. Die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei in Meißen, Bärbel Heym, hatte hingegen abgesagt und dies damit begründet, dass bei aller notwendigen Kritik an Hartz IV Pauschalisierungen nicht hilfreich seien: »Wir sollten uns in der aufgeheizten politischen Atmosphäre nicht zu Skandalisierungen verleiten lassen, sondern um vernünftige Lösungen kämpfen«, so beschied Heym einem der Koordinatoren des Treffens. Dabei geht es den Organisatoren gerade nicht darum, einzelne Jobcenter als besonders skandalös darzustellen, sondern darum, Selbstorganisierung voranzutreiben und konsequente Interessenvertretung von Erwerbslosen zu ermöglichen.

Die Erwerbslosen betonten auf dem Treffen, das Problem sei das Hartz-IV-System. Es liefert erst den Rahmen, in dem dann Jobcenter besonders restriktiv agieren. In Berlin wurde das Jobcenter Neukölln vor einigen Wochen von Erwerbsloseninitiativen und dem Bündnis gegen Zwangsräumungen mit einen Negativpreis ausgezeichnet. Während der Aktion hielten die Kritiker Schilder mit der Aufschrift »Jobcenter Neukölln ist Verdrängung« hoch. Kurz zuvor hatte eine von der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität erarbeitete Studie mit dem Titel »Zwangsräumungen und die Krise des Hilfesystems« wissenschaftlich bestätigt, was viele Betroffene seit Jahren kritisieren. Das Verhalten der Jobcenter spielt bei Zwangsräumungen eine gewichtige Rolle. So lehnt der Studie zufolge die Neuköllner Behörde in 85 Prozent der Fälle eine Mietschuldenübernahme ab und gibt damit den Weg zur Räumung frei. Das ist in Berlin der absolute Spitzenwert. Auch verursacht das Jobcenter Zwangsräumungen dadurch, dass es Mietzahlungen an ALG-II-Bezieher zu spät leistet, Sanktionen verhängt oder die Mieten auf falsche Konten überweist.

Vor einigen Wochen hat Margit Englert die Zwangsräumung der Rentnerin Rosemarie F. aufgrund der hinterlassenen Dokumente in dem Buch »Rosemarie F. Kein Skandal« akribisch aufgearbeitet. Dabei wird deutlich, wie das Amt, das eigentlich für die Grundsicherung zuständig ist, im Zusammenwirken mit der Wohnungseigentümerin den Hinauswurf der schwerkranken Frau erreichte, die zwei Tage später in einer Obdachloseneinrichtung starb.

»Wenn so ein Fall wie Rosemaries Tod öffentlich als Skandal wahrgenommen wird, geht man in der Regel schnell wieder zur Tagesordnung über. Und auf der Tagesordnung steht halt, Gewinne mit Immobilien zu machen oder sich mit gutem Einkommen in Berlin eine der frei werdenden Wohnungen zu nehmen oder sich vorbildlich um die eigene Altersversorgung zu kümmern – durch Investition in Immobilien«, betont Englert. Sie spricht von einem regelrechten »sozialstaatlich-immobilienwirtschaftlichen Komplex«, der sich da gegen die grundlegenden Interessen und Bedürfnisse von Mietern, die auf Grundsicherung angewiesen sind, zusammenschließt.

Darum, dass genau diese Verschiebung der Aktivitäten der Jobcenter zugunsten der Eigentümer und zuungunsten der Mieter nicht mehr so reibungslos funktioniert und, dass das Systematische dieser Skandale offenkundig wird, geht es Erwerbsloseninitiativen wie Basta, die sich deshalb auch um die solidarische Kooperation der vom Hartz-IV-System Betroffenen über Städte­grenzen hinweg bemühen. Der Besuch in einer Stadt wie Meißen, die viele Linke in Berlin vor allem als Hort von Neonazis und Rassismus wahrnehmen, kann auch für eine differenziertere Sicht sorgen. Schließlich bekommen auch Berliner Mieter, denen Zwangsräumung droht, aus anderen Städten Unterstützung. So informiert die Kölner Initiative »Recht auf Stadt« einmal die Woche über die der 56jährigen Berliner Mieterin Andrea Borschert drohende Zwangsräumung. Die Kündigung ihrer Wohnung wird von den Kölner Wohnungseigentümern vorangetrieben.

*Name von der Redaktion geändert

http://jungle-world.com/artikel/2015/32/52439.html

Peter Nowak

Bizim-Initiativen wehren sich gegen Verdrängung

Mieter der Häuser in der Kreuzberger Admiralstraße lehnen teure Sanierungsmaßnahmen des Vermieters ab

Nach Gemüseladen nun Häuserkampf: Erneut hat sich in Kreuzberg eine gentrifizierungskritische Gruppe gegründet: diesmal in der Admiralstraße.

Wie immer an heißen Sommerabenden ist die Admiralbrücke in Kreuzberg voller Menschen, die in den Sonnenuntergang feiern. Da sticht die kleine Gruppe heraus, die Flugblätter verteilte. «Bizim Admiralstraße – das ist unsere Straße» lautete das Motto. Hinter der Aktion stehen Mieter der Häuser Admiralstraße 18 und 19. Sie haben die Flugblätter verfasst. «Wir wollen den Menschen hier auf der Brücke mitteilen, dass ganz in der Nähe Menschen Angst haben, ihre Wohnung verlassen zu müssen», sagt Dominik Flügel. Er ist Mieter in der Admiralstraße 18 und hat mit Nachbarn an diesem Donnerstagabend ein Straßenfest gegen Verdrängung vorbereitet. «Vor einigen Wochen haben wir eine Modernisierungsankündigung bekommen. Wir wurden dort informiert, dass die Dornröschen Immobilen GmbH, der beide Häuser gehören, neben einer energetischen Fassadendämmung einen Dachgeschossausbau und den Anbau von Balkonen plant, berichtet Flügel.

Seine Nachbarin Jeanette Holdersdorf erzählt von der Angst vieler Bewohner vor dem Verlust ihrer Wohnung. »Wenn die angekündigten Maßnahmen in der geplanten Form umgesetzt werden, müssen sie ausziehen. Denn die angekündigte Mieterhöhung von bis zu 100 Prozent der Kaltmiete können sich viele Bewohner nicht leisten.«

Die Dornröschen Immobilen GmbH habe bereits angekündigt, eine Zustimmung zur Modernisierung gerichtlich durchsetzen zu wollen. Für eine Stellungnahme war das Unternehmen nicht zu erreichen.

Ein Großteil der 30 Mietparteien sucht jetzt die Öffentlichkeit. Inspiriert wurden sie von der Mieterbewegung »Bizim Bakkal«, die seit Wochen für den Erhalt eines Gemüseladens in der Wrangelstraße auf die Straße geht. Mittlerweile wehren sich in Kreuzberg weitere von Verdrängung bedrohte Initiativen. Doch »Bizim Admiralstraße« will bewusst auch die vielen Berlin-Besucher ansprechen, für die die Admiralbrücke ein beliebter Treffpunkt ist.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/980516.bizim-initiativen-wehren-sich-gegen-verdraengung.html

Peter Nowak

Schlüssel und das Hausrecht

Eine Zwangsgeräumte berichtet über den Kampf um  ihre Privatsphäre in der  Einrichtung Frauenobdacht. Mittlerweile droht ihr erneut die Obdachlosigkeit

Täglich werden wie in anderen Städten auch in Berlin Menschen  zwangsgeräumt. Wir erfahren in der Regel nur davon, wenn sie an die Öffentlichkeit gehen und sich wehren. Tina S., die ihren vollständigen Namen nicht in der Zeitung lesen will, gehörte zu den Menschen, die es nicht hinnehmen wollten, dass sie ihre Wohnung in der Weddinger Bultmannstraße, in der sie fast 40 Jahre lebt, räumen sollte, weil es das zuständige  Jobcenter trotz schriftlicher Zusage versäumt   hatte, die Miete pünktlich an den Eigentümer zu überweisen. Tina S. erhielt die Kündigung, die gerichtlich bestätigt wurde. Wegen Krankheit verfügte das Gericht zunächst  einen einjährigen Räumungsaufschub, der dann auf 6 Monate verkürzt wurde. Im Sommer 2014 stand dann die Zwangsräumung unmittelbar bevor. Tina S. wandte sich an das Bündnis „Zwangsräumung verhindern“, das eine erste Räumung am 20.Juni 2014 durch eine Blockade verhindern konnte. Doch beim zweiten Termin am 15. Juli letzten Jahres war die Räumung trotz erneuter Mobilisierung des Bündnisses nicht mehr zu verhindern. Auch nach mehr als einem Jahr findet man an manchen Weddinger Häuserwänden noch vergilbte Plakate, die unter dem Motto „Zwangsräumung von Tina verhindern“ zu den Protesten mobilisierten.
Kampf um die Privatsphäre
Doch wie ging es mit der Frau weiter, nachdem die Räumung vollstreckt war? Tina S. konnte vorübergehend in der Wohnung von Unterstützer/innen leben.  Danach  bezog  sie  in der frauenspezifischen Einrichtung der Berliner Wohnungsnothilfe FrauenbeDacht in der Bornemannstraße 12 in Berlin-Mitte ein Zimmer. „Eine vorübergehende Unterbringung in einem Einzelzimmer, alltagsorientierte Unterstützung und grundsätzliche Parteinahme für wohnungslose Frauen“ bietet „FrauenbeDacht“ auf ihrer Homepage an. Doch für Tina S. war die Einrichtung eher „eine Frauenbeobachtung“. Denn schon unmittelbar nach ihren Einzug begann der Kampf um ihre Privatsphäre und gegen Reglementierungen, die sie als bevormundend und einengend erlebte. So müssen die Bewohnerinnen im „FrauenbeDacht“ ihr Zimmer räumen, wenn sie 4 Werktage nicht dort übernachtet haben. Auch drei  Abmahnungen führen zur Räumung. Wie schnell man beim „FrauenbeDacht“ eine Abmahnung erhält, konnte sie bald erfahren. So habe das Rauchen in der Gemeinschaftsküche als Verstoß gegen die Hausordnung  bei ihr für eine Abmahnung gesorgt. „Was kann ich mir noch leisten?“ Diese Frage stellte sich Tina S. Denn gegen die Hausordnung  des   „FrauenbeDacht“  zu vestoßen war nicht schwer.  Widerstand der BewohnerInnen habe sie kaum erlebt. Die Angst, das Zimmer zu verlieren und dann wieder  wie mindestens 13000 wohnungslose Menschen in Berlin auf der Straße zu leben ist zu groß. Zumal viele der BewohnerInnen gesundheitliche Probleme der verschiedenen Art haben. Tina S. hatte auch nach der Räumung ihre Widerständigkeit nicht verloren. So ging sie juristisch dagegen vor, dass  das Personal ihr Zimmer ohne Erlaubnis und Rücksprache betreten hat. Sie hatte zuvor mehrmals darauf hingewiesen, dass sie ein Betreten ihres Zimmers ohne ihre Einwilligung nicht wünsche.
Schlüssel und Hausrecht
„Ich habe  den Schlüssel und das Hausrecht und komme in jedes Zimmer“, sei ihr geantwortet worden. Erst als S. einen Rechtsanwalt einschaltete, wurden die MitarbeiterInnen  von der  Geschäftsstelle der Gebewo Soziale Dienste, die für das FrauenbeDacht zuständig ist, angewiesen, das  Zimmer von Tina S. ohne deren Zuständigkeit und Anwesenheit nicht  mehr zu betreten. In einen MieterEcho vorliegenden Schreiben an den Anwalt von Tina S. weist Robert Veltmann von der Geschäftsstelle der Gebewo  Soziale Dienste den Vorwurf zurück, dass bei FrauenbeDacht die Menschenwürde der BewohnerInnen verletzt werde. „Ich möchte Ihnen versichern, dass wir jegliche Grundrechte und natürlich auch die geltenden Vorschriften des BGB sehr ernst nehmen… Gleichwohl bewegen wir uns täglich im Spannungsfeld zwischen Verwaltungs- Sozial- und Ordnungsrecht auf der einen Seite und Individualrechten und individuellen akuten Notlagen auf der anderen Seite“, schreibt Veltmann. Dass die Wohnungsnot von Tina S. kein individuelles Problem sondern die Konsequenz des  Nichthandelns ihres Jobcenters war, bleibt dabei unberücksichtigt. Wie das Sanktionsbegehren der Jobcenter in das Leben der Frauen in der Einrichtung eingreift, macht Veltmann in seinen Schreiben an den Rechtsanwalt auch deutlich: “Die von Ihnen bemängelte Regelung, bei „eigenmächtigen Fernbleiben“ beruht darauf, dass wir als Trägerorganisation unabgesprochenes  Fernbleiben der Bewohner spätestens nach drei Werktagen dem zuständigen Kostenträger mitteilen müssen, der dann seinerseits wegen fehlender Mitwirkung die Zahlung für die Unterhaltskosten einstellt“. Tina S. wurde nach drei Abmahnungen  das Zimmer  gekündigt. Zurzeit lebt  sie wieder in der Wohnung, in der sie auch nach ihrer Zwangsräumung Asyl fand. Doch in einigen Wochen muss sie das Zimmer verlassen.

MieterEcho online 07.08.2015

http://www.bmgev.de/mieterecho/mieterecho-online/frauenbedacht.html

Peter Nowak

Wenn der Betriebsarzt mobbt und schweigt

Transnational streiken

»Wir unterstützen die Streiks bei Amazon in Deutschland« – Transparente mit diesem Motto hingen in der letzten Junihälfte rund um das Amazon-Werk in Poznań (Polen). Es blieb nicht bei Bekenntnissen. Die Nachtschicht bei Amazon in Poznań solidarisierte sich vom 24. auf den 25. Juni durch demonstratives Bummelstreiken mit dem Streik bei Amazon-Deutschland. Andere Beschäftigte stellten kurzfristig Urlaubsanträge, um keine Streikbrecher zu werden. Tage vorher hatten Mitglieder der anarchosyndikalistischen Inicjatywa Pracownicza (IP) in dem Werk Flugblätter über den Verdi-Streik in Deutschland verteilt und dabei T-Shirts mit dem Slogan »Pro Amazon mit Tarifvertrag« getragen. Noch im Dezember 2014 bei der Eröffnung der Werke in Poznań und Wrocław erklärte der Logistikchef von Amazon Europe, Tim Collins, dass die polnische Dependance für pünktliche Lieferungen an Amazon-Kunden sorgen werde, auch wenn Verdi in Deutschland zum Arbeitskampf aufrufe. Doch schon vor Weihnachten 2014 hatte sich ein Teil der Belegschaft an die IP gewandt, weil sie mit den Arbeitsbedingungen unzufrieden war. Mitte Mai organisierte die Gewerkschaft unter der Parole »My Prekariat« (Wir Prekären) eine erste Warschauer Mayday-Parade mit knapp 350 Teilnehmern. Neben Beschäftigten von Universitäten, Bauarbeitern, Theaterleuten und Erziehern beteiligten sich auch Arbeiter von Amazon daran. Vom 2. bis zum 4. Oktober 2015 haben auch die Amazon-Beschäftigten Gelegenheit, Kontakt zu den polnischen Kollegen aufzunehmen. Am ersten Oktoberwochenende wird zu einer Tagung mit dem Thema transnationaler sozialer Streik in Poznań aufgerufen. In Arbeitsgruppen soll erörtert werden, wie man sich kollektiv gegen die Fragmentierung und Individualisierung der Arbeit wehrt. Es geht um die Vernetzung fester und befristeter Angestellter und die Frage, wie die kapitalistische Ausbeutung länderübergreifend angegriffen werden kann.

http://jungle-world.com/artikel/2015/31/52416.html
Peter Nowak

Städtepartnerschaftlicher Aktivismus in Mietfragen

PROTEST Unterstützung über die engen Stadtgrenzen hinweg: Solidarität für eine von Zwangsräumung bedrohte Berlinerin, am Wohnort ihrer Vermieterin

„Alle für Andrea, Zwangsräumungen verhindern“, skandierten etwa 25 MietrebellInnen und „Recht auf Stadt“-AktivistInnen vor einigen Tagen. Sie taten es zur Unterstützung der 54-jährigen Andrea B., die aus ihrer Wohnung  in der Blumenthalstraße in Tempelhof zwangsgeräumt werden soll. Doch die Kundgebung fand nicht vor deren Wohnung in Berlin statt, sondern etliche hundert Kilometer weiter weg, im noblen Kölner Stadtteil Lindenthal. Dort hat die Vermieterin von Andrea B. ihren Wohnsitz. Sie hat der langjährigen Mieterin gekündigt, nachdem das Grundsicherungsamt, von dem B. eine Erwerbsunfähigkeitsrente bezieht, die vollständige Miete zu spät überwiesen hatte. Die Vermieterin hatte die Miete um 70 Euro erhöht, was Andrea B. auch dem Grundsicherungsamt mitteilte. „Weil ich den Mietrückstand zwei Tage zu spät beglichen habe, wurde mir sofort gekündigt“, empört sich die Mieterin. Sie wandte sich an das Berliner Bündnis gegen Zwangsräumungen. Dass nun in ihrem Fall auch am Wohnort der Vermieterin in Köln protestiert wurde, geht vor allem auf eine Initiative von Kalle Gerigk zurück. Der wurde 2014 zwangsgeräumt. Initiativen aus Köln und Umgebung hatten unter dem Motto „Kalle für Alle“ vergeblich dagegen mobilisiert. In Folge engagierte sich Gerigk nun für andere von Zwangsräumung bedrohte MieterInnen. „Ich will die unglaubliche Solidarität, die ich damals erfahren habe, weitergeben“, begründete der 56-Jährige sein Engagement für die Berliner Mieterin.
Die Mietrebellen
„Das Gefühl, dass eine Zwangsräumung rechtlich und sozial ungerecht ist und man sich dagegen wehren muss, teilen auch viele Menschen, die bisher nie politisch aktiv waren“, sagt der Berliner Regisseur Matthias Coers. Sein gemeinsam mit Gertrud Schulte Westenberg gedrehter Film „Mietrebellen“ über die Geschichte des jüngeren Berliner MieterInnenwiderstands kam im vergangenen Jahr in die Kinos. Mittlerweile wurde der Film in zahlreichen Städten bundesweit aufgeführt. „Oft diskutierten die Menschen danach, wie sie sich zusammenschließen und engagieren können“, so die Erfahrung von Coers. Auch Grischa Dallmer, der an dem Film mitgearbeitet hat, beobachtet in der letzten Zeit eine größere Bereitschaft, auch über Stadtgrenzen hinweg Widerstand gegen Verdrängung zu leisten. Wichtig sei allerdings auch im Internet-Zeitalter der persönliche Kontakt, betont er. „Es bringt wenig, einen bundesweiten Aktionstag gegen Zwangsräumungen auszurufen.“ Es sind, sagt Dallmer, die „konkreten Schicksale von Menschen, die ihre Wohnung verlieren sollen, die den Widerstand mobilisieren“.

aus Taz: 5.8.2015

Peter Nowak

Die ewige Merkel und die deutsche Volksgemeinschaft

Sechs Monate Kampf und noch immer kein Lohn

Die Auseinandersetzung migrantischer Arbeiter der „Mall of Berlin“ für ihren Lohn und ihre Würde geht weiter

„Sie haben die Arroganz der Macht, doch sie haben nicht mit unserer Bereitschaft zum Widerstand gerechnet. Was das Aufgeben betrifft, da haben sie bei uns keine Chance.“ Die knapp 200 TeilnehmerInnen der Demonstration „Sechs Monate Kampf und noch immer kein Lohn“ brechen in Applaus aus, als einer der rumänischen Kollegen spricht, die um ihren Lohn kämpfen (DA berichtete). Ein Stundenlohn von sechs Euro sowie Kost und Logis war ihnen versprochen worden. Der Betrag ist wesentlich niedriger als der im Baugewerbe gültige Mindestlohn. Aber selbst dieser Niedriglohn wurde den Bauarbeitern vorenthalten.

Im Oktober 2014 hatten sie sich zunächst an den DGB Berlin-Brandenburg gewandt. Das im dortigen Gewerkschaftshaus angesiedelte „Beratungsbüro für entsandte Beschäftigte“ nahm Kontakt mit dem Generalunternehmer der Baustelle, der Firma Fettchenhauer Controlling & Logistic, auf und schrieb Geltendmachungen. Außer Abschlagszahlungen, die nur einen Bruchteil des vorenthaltenen Lohnes ausmachten, konnten die Bauarbeiter auf diesem Weg allerdings nichts erreichen. Sie hatten weder Arbeitsverträge noch Gewerbescheine – das macht die Durchsetzung ihrer Ansprüche schwierig. Einige nahmen die Abschlagszahlungen und unterzeichneten zudem eine vom Unternehmen vorbereitete Erklärung, nach der sie auf weitere rechtliche Schritte verzichten sollten. Andere beharrten darauf, ihren vollen Lohn zu erhalten, und wollten weiter gehen. Erst, als sich die verbliebenen Bauarbeiter an die FAU wandten, begann die Öffentlichkeitsarbeit. „Mall of Berlin – auf Ausbeutung gebaut“ lautete die Parole. Der von der FAU kreierte Begriff „Mall of Shame“ hat sich mittlerweile im Internet verbreitet. Der gesellschaftliche Druck hatte bisher nicht ausgereicht, um zu bewirken, dass der Generalunternehmer und seine Subunternehmen die ausstehenden Löhne bezahlten. Dabei handelte es sich um einige Tausend Euro. Für die Unternehmen sind es Beträge aus der Portokasse. Für die betroffenen Bauarbeiter und ihre Familien in der Heimat ist das Geld existenziell. Anfang April hatten zwei der Bauarbeiter einen juristischen Etappensieg errungen. Das Berliner Arbeitsgericht bestätigte die Forderungen von Nicolae Molcoasa und Niculae Hurmuz. Das beklagte Subunternehmen war nicht zur Verhandlung erschienen und hatte auch keinen Anwalt geschickt. So musste das Gericht der Klage stattgeben. Doch wenige Tage später ging ein Anwalt des Unternehmens in Berufung – jetzt müssen die Arbeiter weiter auf ihren Lohn warten. Im August sind die nächsten Prozesse vor dem Arbeitsgericht angesetzt. Trotz aller Schwierigkeiten betonen die betroffenen Arbeiter, wie wichtig es für sie war, gemeinsam mit der FAU um ihren Lohn zu kämpfen. Nur ein Teil der Betroffenen kann die Auseinandersetzung jetzt noch in Berlin führen. Andere mussten wieder nach Rumänien zurück oder haben in einer anderen Stadt Arbeit gefunden. Die Kollegen, die bis heute durchgehalten haben, berichten auch über die vielen Schwierigkeiten. Zu Beginn ihres Kampfes hatten sie weder Geld noch Unterkunft. Die FAU kümmerte sich um Essen und Obdach. Wenn sie auch nach sechs Monaten Kampf noch immer auf ihren Lohn warten müssen, so haben sie doch schon einen wichtigen Erfolg errungen. Sie haben deutlich gemacht, dass ausländische ArbeiterInnen in Deutschland nicht rechtlos sind und sich wehren können. Denn der Fall der rumänischen Bauarbeiter ist keine Ausnahme. „Es gibt viele solcher Fälle. Aber leider sind die Betroffenen nur selten in der Lage, sich zu wehren“, meint eine Mitarbeiterin von Amaro Foro, einer Organisation von in Berlin lebenden Romajugendlichen, auf der Demonstration. Das Leben von vielen Arbeitsmigranten aus Osteuropa sei von ständiger Verunsicherung geprägt. Das erstrecke sich nicht nur auf die Löhne und Arbeitsbedingungen. Sie würden in den Jobcentern benachteiligt, seien oft von medizinischer Versorgung ausgeschlossen und müssten wegen rassistischer Diskriminierungen am Wohnungsmarkt oft in teuren Schrott-Immobilien wohnen. Zudem fehlt es den Betroffenen oft an Kontakten zu Organisationen und Initiativen, die sie im Widerstand unterstützen könnten. Das zeigte sich erst vor einigen Wochen wieder, als eine Gruppe rumänischer und bulgarischer Wanderarbeiter in den Fokus der Berliner Medien und einer Nachbarschaftsinitiative im grünbürgerlichen Stadtteil Schöneberg geriet. Nicht, dass sie in überteuerte Schrottwohnungen leben müssen, wird skandalisiert, sondern dass sie angeblich nicht in den Stadtteil passen. Es gibt also genug zu tun für eine kämpferische Organisation wie die Foreigners Section der FAU. Sie ist mittlerweile zum Anlaufpunkt für KollegInnen aus den verschiedenen Ländern geworden, die in Deutschland um ihren Lohn oder um bessere Arbeitsbedingungen kämpfen.

aus:  Direkte Aktion 230 – Juli/August 2015

https://www.direkteaktion.org/230/sechs-monate-kampf-und-noch-immer-kein-lohn

Peter Nowak

Britischer V-Mann bleibt ein Rätsel

Behörden mauern bei Informationen über Wirken des Agenten Mark Kennedy

Unter dem Alias-Namen Mark Stone spionierte der V-Mann von Scotland Yard, Mark Kennedy, jahrelang die linke Szene ganz Europas aus. Nachdem Großbritannien einen Sonderermittler eingesetzt hat, wird auch in Deutschland die Forderung nach Aufklärung laut. Zumindest in Großbritannien wird ein neuer Anlauf gemacht. Dort hat das Innenministerium den Richter Christopher Pitchford als Sonderermittler eingesetzt, um das Agieren von Kennedy und anderer V-Leute aufzuarbeiten. Dabei gibt es sicher viel zu tun. Schließlich war Kennedy auf Umwelt- und Antirassismusgruppen ebenso angesetzt wie auf Gewerkschaften und einen Politiker der Labourpartei. Die Aufarbeitung wird seit Jahren von Menschenrechtsgruppen in Großbritannien gefordert, nachdem der Agent 2010 aufgeflogen war.

Neben Großbritannien war Deutschland ein langjähriges Tätigkeitsfeld für den V-Mann. Beim G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 war er undercover aktiv, ebenso beim NATO-Gipfel 2009 in Baden-Baden. In vielen Städten hatte er Freunde, bei denen er übernachten konnte, und mit einer Berliner Aktivistin führte er eine Fernbeziehung. Doch über sein Agieren in Deutschland ist bisher wenig bekannt. Denn die Verfassungsschutzämter weigern sich, die Öffentlichkeit über Kennedys Agieren zu informieren. Dafür interessieren sich nicht nur die Linken, die Kennedy für ihren Genossen gehalten haben und belogen wurden. Auch Politiker der Grünen und der Linkspartei wollen wissen, was Kennedy hierzulande so trieb. Doch bislang wurden diese Forderungen ignoriert und der Fall Kennedy war aus der Öffentlichkeit weitgehend verschwunden.

Das könnte sich durch die Einsetzung des Sonderermittlers in Großbritannien ändern. Der Bundesabgeordnete der LINKEN Andrej Hunko schreibt in einem Brief an Pitchford, dass die Enttarnung von Kennedy auch in Deutschland große Resonanz ausgelöst habe. Dabei verweist er auf zahlreiche Presseartikel und erinnert an die vielen weiterhin unbeantworteten Fragen im Fall Kennedy. Hunko zitiert in seinem Schreiben aus einer Pressemitteilung seiner Parteifreundin Ulla Jelpke. Dort betonte die innenpolitische Sprecherin der LINKEN im Bundestag, dass der Verdacht, Kennedy sei als Agent Provokateur aufgetreten und habe Straftaten inszeniert, nicht ausgeräumt werden konnte. Denn nach einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs von 2007 sind ausländische verdeckte Ermittler in Deutschland wie V-Leute zu behandeln – und nicht wie deutsche verdeckte Ermittler. Die Strafprozessordnung sieht für den Einsatz verdeckter Ermittler, etwa bei der Strafverfolgung, einen Richtervorbehalt vor, während der Einsatz von V-Leuten gesetzlich völlig ungeregelt ist. Daher ist es unklar, ob in Deutschland Aufklärung über Kennedys Wirken zu erwarten ist.

www.neues-deutschland.de/artikel/979869.britischer-v-mann-bleibt-ein-raetsel.htm

Peter Nowak