Solidarität fängt da an, wo sich Menschen als Mieter, als Erwerbslose oder Lohnabhängige für ihre eigenen Interessen einsetzen. Das haben die Teilnehmer der Mietendemonstration am vergangenen Samstag getan. Darin liegt auch der größte positive Effekt der Demonstrationen im Vorfeld des Wahlsonntags am 26. September.
„Zehntausende demonstrierten gegen Mietenwahnsinn“, meldeten Presseagenturen über die Demonstration der „Mietrebellen“ am 11. September in Berlin. Es besteht die Gefahr, dass auch diese Manifestation mit bis zu 20.000 Teilnehmenden im Hintergrundrauschen vor den Wahlen schnell vergessen wird. Schließlich gab es in den letzten Wochen jedes Wochenende Proteste in Berlin. Von …
Theater um Kanzlerfindung bei Union und Grünen beendet. Eine Frage blieb unausgesprochen: Wer schafft es am ehesten, der Bevölkerung zu schaden und trotzdem gewählt zu werden? Ein Kommentar
Egal, wer Kanzlerin oder Kanzler wird, Kompromissorientierung gehe nicht mehr. Sozial sei, was Arbeitsplätze schafft. Er sehe es wie beim Zahnarzt, "da muss auch mal gebohrt werden". Nur wenn es auch mal wehtut, sei man später schmerzfrei, erklärte Baader-Bank-Analytiker Robert Halver.
Nun ist es klar, Armin Laschet und Annalena Baerbock kandidieren für das Bundeskanzleramt. Baerbock, die schon am Montag nominiert wurde, gratulierte Laschet mit vielen Phrasen über einen fairen Wahlkampf. Jetzt komme es darauf an, den Standort Deutschland stark zu machen, benannte sie das erklärte Ziel aller Kandidaten. Baerbock sprach vom Umweltschutz und der Digitalisierung, also den neuen Elementen der kapitalistischen Akkumulation. Auch die Börse bewegte die Kanzlerfindung. Robert Halver, Kapitalmarktanalytiker bei der Baader-Bank, gab in der Deutschlandfunk-Sendung Wirtschaft am Mittag zu verstehen, dass die Unternehmerschaft eine Person im Kanzleramt möchte, die für ein angenehmes Investitionsumfeld sorgt. Es könne nicht sein, dass die Wirtschaft …
Wenn jetzt auch zivilgesellschaftliche Gruppen den Eindruck erwecken, dass es keine Alternative zur liberalen Demokratie gibt, zeigt das auch, dass die von Agnoli beschriebenen Prozesse der Integration und Kooptierung einst oppositioneller Kräfte, nicht nur für politische Parteien, sondern auch die Zivilgesellschaft und Opposition gilt.
Es war nur noch eine kleine Meldung wert, dass nun in Bremen erstmals die Linkspartei auch in einem westdeutschen Bundesland mitregiert. Bisher hatte sie nur in NRW eine SPD-Grüne-Regierung im Parlament unterstützt. In Hessen war Andrea Ypsilantis damit noch 2008 nicht etwa an der Linken, sondern an….
Bei der Rente versucht es Scholz – Kann etwas Sozialpolitik die SPD vor dem Schicksal einer 18-Prozent-Partei bewahren?
In den 1990er Jahren hatte der Politiker Freke Over in Berlin einen gewissen Bekanntheitsgrad. Der ehemalige Hausbesetzer hatte auf dem Ticket der damals noch sehr ostdeutschen PDS kandidiert[1] und viele haben sich gefragt, wie lange die Zusammenarbeit zwischen dem undogmatischen Westlinken und den Ostgenossen gut gehen würde.
Tatsächlich verabschiedete sich Over aus persönlichen Gründen bald aus der Großstadt in die Provinz und um ihn wurde es still. Nun sorgt er wieder für Aufmerksamkeit. Over hat gerade für die Linke einen Kooperationsvertrag seiner Partei mit der CDU und kleineren konservativen Parteien in Ostpriegnitz-Ruppin unterzeichnet[2].
Nun könnten Metropolenfreunde sagen, wen interessiert, was in Ostpriegnitz-Ruppin passiert? Doch das Bündnis hat schon deshalb für bundesweite Aufmerksamkeit gesorgt, weil erst vor einigen Tagen in der Union eine Debatte über Bündnisse mit den Linken geführt worden war. Da argumentierten die Befürworter solcher Kooperationen noch damit, dass sie notwendig sein könnten, um jenseits der AfD überhaupt noch Regierungen bilden zu können.
Doch in Ostpriegnitz-Ruppin hätte die Linke auch die Möglichkeit gehabt, mit der SPD zu koalieren. Ein SPD-Politiker hat sogar bei den Wahlen zum Landratsamt die meisten Stimmen erreicht, doch weil das notwenige Quorum nicht erfüllt worden war, lag die Wahl nun bei den Parteien des Kreistages.
Nicht mal mehr die Linke gibt der SPD automatisch den Vorzug
Da hat die Linke dem CDU-Kandidaten mit der Begründung den Vorzug gegeben, mit ihm sei – anders als mit der SPD – ein fester Koalitionsvertrag möglich gewesen. So ist das Bündnis in Ostpriegnitz auch eine neue Hiobsbotschaft für die SPD. Auch die Linke entscheidet sich nicht mehr automatisch für ein Bündnis mit ihr, selbst wenn das die Mehrheitsverhältnisse hergeben würden.
Wie stark der Einflussverlust der SPD geworden ist, lässt sich durch einen Rückblick um 15 Jahre ermessen. Damals zeigten weite Kreise der Mehrheitssozialdemokratie ihren linken Genossen noch die kalte Schulter und meinten, die Partei sei doch nur die SED unter neuem Namen und werde verschwinden.
Als dann die Linke entstand, war der ehemalige SPD-Vorsitzende Lafontaine ein zusätzlicher Grund, ein Bündnis abzulehnen. Und die Grünen galten lange Zeit als natürlicher Bündnispartner der SPD, die Stimmen für eine schwarz-grüne Koalition waren von Anfang an vorhanden, aber konnten sich lange nicht durchsetzen.
Nun wird man bei den Grünen kaum noch Stimmen finden, die für ein Bündnis mit der SPD aus Prinzip antreten. Selbst in Bayern bereiten sie sich auf eine Rolle als Juniorpartner der CSU vor. Dabei ist es gerade mal acht Jahre her, dass die jetzige bayerische grüne Spitzenkandidatin Katharina Schulze[3] mit ihrer Dekonstruktion des deutschen Mythos von den Trümmerfrauen[4] auch weite Teile der CSU-Basis gegen sich aufbrachte.
Heute würde sie mit den Nationalkonservativen eine Koalition eingehen. Schließlich ist die SPD in den Umfragen hinter der CSU, den Grünen und der AfD auf Platz 4 bei den bayerischen Landtagswahlen gelandet. Ihr droht also dort ein Ergebnis, das sie aus vielen ostdeutschen Landtagen schon kennt.
SPD und Union sind austauschbar
Da muss sie Glück haben, wenn sie noch jene 18%-Grenze erreicht, die die früh verstorbenen FDP-Politiker Guido Westerwelle und Jürgen Möllemann für die Liberalen anstrebten. In Bundesländern wie Sachsen kann sie von einem solchen Ergebnis nur träumen. Mit Verlierern will man sich nicht gemeinsam sehen lassen und so argumentieren mittlerweile auch Teile der Linken wie vor einigen Jahren die Grünen.
Da SPD und Union in den meisten politischen Fragen austauschbar sind, gibt es keinen Grund, wenn man sich schon auf ein Bündnis mit der SPD einlässt, nicht auch mit der Union zu kooperieren. Damit bestätigt sich nur die Logik derer, die wie Jutta Ditfurth, Thomas Ebermann etc. bei den Grünen generell gegen Regierungsbündnisse argumentierten.
Diese linke Strömung hatte allerdings die Partei schon vor mehr als 2 Jahrzehnten verlassen. Nur der Münsteraner Rechtsanwalt Wilhelm Achelpöhler[5] ist noch der letzte Vertreter dieser Strömung bei den Grünen.
Wenn nun auch die Linke offen für SPD und Union ist, bestätigt sich einmal mehr die Analyse einer kapitalistischen Einheitspartei mit unterschiedlichen Namen, die der Politologe Johannes Agnoli[6] in seinem Buch Transformation der Demokratie[7] schon um 1968 diagnostizierte.
Doch für die SPD ist diese Entwicklung besonders desaströs. Unter Druck ist sie von der AfD, von der Linken und auch die Initiative „Aufstehen“ könnte noch die letzten Sozialdemokraten innerhalb der SPD aus der Partei vertreiben.
Sozialpolitik als Strafrecht?
Vor diesem Hintergrund haben in den letzten Wochen gleich zwei SPD-Spitzenpolitiker das soziale Profil ihrer Partei schärfen wollen. Zunächst hat sich die Parteivorsitzende Andrea Nahles dafür ausgesprochen, die Sanktionen bei jüngeren Hartz-IV-Beziehern[8] zu lockern.
Im Grunde waren die Bestimmungen so formuliert, dass es für jüngere Hartz-IV-Bezieher schwer war, nicht sanktioniert zu werden. Es gab genügend Fälle, wo Betroffene zu 100 Prozent sanktioniert wurden, und so gar keine finanziellen Leistungen mehr bekommen und häufig auch noch die Wohnung verlieren[9].
Viele der Betroffenen landen in der Wohnungs- oder Obdachlosigkeit und viele sehen dann auch keinen Grund mehr, überhaupt noch zum Jobcenter zu geben. Hier setzt auch die Argumentation von Nahles ein. „Die melden sich nie wieder im Jobcenter, um einen Ausbildungsplatz zu suchen. Ergebnis sind ungelernte junge Erwachsene, die wir nicht mehr erreichen“, begründet sie ihren Vorstoß zur Lockerung der Sanktionen.
So verlöre ja das Jobcenter seine Funktion im repressiven Staatsapparat. Während die Grünen den Vorstoß der SPD-Politiker als nicht weitgehend genug kritisierten[10], kam gleich die Retourkutsche der Konservativen aller Parteien, die fürchten, Nahles könnte mit ihrem Vorstoß, Hartz-IV etwas von seinem repressiven Charakter nehmen.
So wurde auch wieder deutlich, dass ein großer Teil der Medien und auch der Öffentlichkeit ganz offen Sozialpolitik als Teil des Strafrechts akzeptiert und es als Erfolg ansieht, wenn die Betroffenen gezwungen sind, Lohnarbeit unter den schlechtesten Bedingungen anzunehmen.
So heißt es in der konservativen Welt[11]: „‚Niemand sanktioniert gerne und auch die Jobcenter würden lieber ohne Sanktionen arbeiten‘, sagt Enzo Weber, Forschungsbereichsleiter am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung[12], das zur Bundesagentur für Arbeit gehört. ‚Aber Auswertungen zeigen, dass die Sanktionen im gewünschten Sinne wirken, es also vermehrt Arbeitsaufnahmen gibt. Die Sanktionen für jüngere Hartz-IV-Bezieher einfach abzuschaffen, hätte also auch Nachteile.'“
Die Nachteile würden also dann entstehen, wenn Hartz-IV-Bezieher nicht mehr gezwungen wären, sich dem Kapital zu besonders schlechten Bedingungen zu verkaufen. Es wird weder von Nahles noch von den meisten ihrer Kritiker infrage stellt, dass das Sozialrecht als Strafrecht genutzt werden soll.
Nur über den Umfang und die Form der Sanktionen gehen die Meinungen auseinander. Deswegen lehnt auch die Nahles-SPD den Vorschlag der Linkspartei ab, die Sanktionen im Hartz IV-System generell abzuschaffen. Es dürfte der SPD mit dieser Andeutung eines Reförmchen kaum gelingen, sich wieder als soziale Kraft zu etablieren.
SPD – Die Rentnerpartei?
Auch der aktuelle Bundesminister Scholz[13] bürgt schon mit seiner politischen Vita[14] nach dem Ende seiner Juso-Zeit dafür, nie gegen Kapitalinteressen agiert zu haben. Wenn er jetzt für ein Rentenkonzept eintritt, dass stabile Renten auch noch in 20 oder 30 Jahren garantiert, will er seine Partei für die ältere Generation wieder wählbar zu machen.
Die Reaktionen auf seinen Vorstoß zeigen, dass er damit ins Schwarze getroffen hat. Ihm wird tatsächlich angekreidet, diese Frage nicht auf eine „überparteiliche Kommission“ vertagt zu haben, die sich der Frage widmen soll.
Hartz-IV lässt grüßen, auch diese Verarmungspolitik wurde von einer überparteilichen Kommission kreiert. Damit soll suggeriert werden, dass es hier nicht um unsere politische Konzepte mit den dahinter stehenden Interessen geht, sondern um scheinbar naturgegebene Sachzwänge, die nicht veränderbar sind und nicht hinterfragt werden sollen.
Konkret heißt das, ein Großteil der Bevölkerung soll Altersarmut als naturgegeben hinnehmen und sich mit Selbstvorsorge und Niedriglohnjobs bis ins hohe Alter behelfen. Das Kapital kalkuliert bereits damit. Eine Rente für Alle, von denen Menschen leben können, wäre für diese Interessen dysfunktional. Entsprechend harsch reagieren die Medien, die im Zweifel immer die Kapitalinteressen im Blick haben:
So benennt die Süddeutsche Zeitung[15] die Konsequenzen der Umsetzung der Scholz-Pläne:
Die Menschen müssten entweder sehr viel später in Rente gehen als jetzt; oder die Rentenbeiträge müssten drastisch angehoben werden, heißt, die Arbeit würde deutlich teurer; oder der Staat müsste seinen Zuschuss für die Rentenkassen massiv ausweiten, was bedeutet, die Steuern würden steigen. Da gerade die Sozialdemokraten sich gegen ein späteres Renteneintrittsalter wehren, kann Scholz eigentlich nur erheblich höhere Beiträge oder / und Steuern im Sinn haben. Darüber, wie der Minister und Spitzengenosse sein Vorhaben bezahlen möchte, lässt sich nur spekulieren. Mitten im Sommerloch via Wochenend-Interview mal eben so eine Forderung mit außerordentlich weitreichenden Folgen zu stellen, dafür hat es bei Scholz gereicht. Für Überlegungen dazu, wie seine Pläne finanziert werden könnten, offenbar nicht.
Damit macht der Sozialdemokrat es all jenen leicht, die die ebenso schwierige wie dringend notwendige Debatte über die Zukunft der Rente, über mehr Gerechtigkeit in der Rente und über den Kampf gegen Altersarmut nicht so recht führen möchten.
Süddeutsche Zeitung
Im Anschluss regt sich das liberale Blatt auch darüber auf, dass Scholz das Thema nicht der dafür vorgesehenen Kommission überlässt, also Altersarmut als kapitalistischen Sachzwang akzeptiert. Noch deutlicher wird die wirtschaftsfreundliche FAZ in einem Kommentar zum Scholz-Vorstoß:
Als Bundesfinanzminister muss er das Wohl des ganzen Landes m Blickhaben, nicht nur das der Rentnergeneration – auch wenn sie bald 25 Millionen Wähler stellen wird. Kein Politiker darf den Spielraum seiner Nachfolger so dramatisch einengen.
Kerstin Schwenn, Faz
Wenn es eine Rangliste über menschenfeindliche Kommentare gäbe, dann stünde Schwenns Text ganz oben. Hier wird ganz deutlich gesagt, anders als die Kapitalisten sind auch 25 Millionen Rentner nicht systemrelevant. Die sollen im Zweifel für sich selber sorgen. Wenn nicht, dann haben sie Pech gehabt.
Dass die wirtschaftsliberale Presse, die in letzter Zeit auch gerne mit emphatischen Floskeln aufwartete, so offen menschenfeindlich formuliert, ist ein Verdienst des Scholz-Vorstoßes. Dabei hat er sicher im Sinn, der SPD mit sozialen Themen wieder einige Wählerstimmen zu verschaffen.
Doch das wird kaum gelingen, denn weder die SPD im Allgemeinen noch Scholz im Konkreten wollen sich mit den gesellschaftlichen Kräften anlegen, die wie Kerstin Schwenn denken und handeln. Das will in der SPD niemand.
Sozialpolitik statt Minderheitenschelte
Ein weiterer positiver Nebeneffekt der zaghaften sozialen Profilierung der SPD besteht in der Diskursverschiebung. So wird deutlich, dass nicht das Eintreten für Minderheitenrechte die SPD zur 18%-Prozentpartei machen, sondern die Unterordnung unter die Standortinteressen des deutschen Kapitals. Der Publizist Johannes Simon hat diesen Zusammenhang in der Printausgabe des Freitag klar benannt:
Für die bessergestellten Milieus, die in der SPD und den liberalen Medien den Ton angeben, ist der Vorwurf an sich selbst natürlich viel angenehmer, sich zu sehr um Minderheitenrechte gekümmert zu haben, anstatt einzugestehen, dass man ohne mit der Wimper zu zucken das brutale Hartz IV-System, Leiharbeit, wachsende Kinderarmut und dergleichen unterstützt hat, nur weil man Angst um den Standort Deutschland und den eigenen Wohlstand hatte.
Johannes Simon, Wochenzeitung Freitag
Wenn die SPD tatsächlich wieder Sozialpolitik machen würde, müsste sie das anerkennen. Aber wer wird das ausgerechnet von der SPD erwarten?
URL dieses Artikels:
http://www.heise.de/-4144691
https://www.heise.de/tp/features/Hartz-IV-Sanktionen-Nahles-will-das-soziale-Profil-der-SPD-schaerfen-4144691.html
Der Aufstieg der Rechten wird als Begründung dafür angegeben, bloß nicht mehr von einer anderen Gesellschaft zu reden
„Das beste Deutschland aller Zeiten“, titelte die Taz[1] vor wenigen Tagen und die Überschrift ließ zunächst an ein Stück Satire denken, für die die Zeitung ja einmal bekannt war. Doch die Historikerin am Institut für Sozialforschung Hedwig Richter[2], die Autorin des Artikels, meinte alles ganz ernst. Und was sie sagt, ist mittlerweile in einem großen Teil des intellektuellen Mittelstandes Konsens. Richter formuliert es so:
Ist es nicht an der Zeit, all das zu feiern, was wir sind? Nun, da es genug Feinde unserer freien Gesellschaft gibt, genug Widersacher der Demokratie und Verächter der Vielfalt? Wenn Neurechte Europa als untergehendes Abendland verpönen und Rassisten unsere Regierung als Zerstörerin des deutschen Volkes ausrufen; wenn Marine Le Pen Liberalität und französische Toleranz als den dünkelhaften Habitus einer intellektuellen Elite präsentiert[3] Müssen wir dann nicht für diese offene Gesellschaft Partei ergreifen – und zwar wortwörtlich?
Hedwig Richter
„Unverkrampft deutsch“
Nun könnte man sagen, was die promovierte Historikerin da so schreibt, ist ja spätestens seit der Fußball-WM in Deutschland weitgehend Konsens. Wir sind so toll, wir haben unsere Vergangenheit so gut aufgearbeitet und wir können auch jetzt ganz unverkrampft feiern. Und wer sich jetzt noch über die schwarz-rot-goldene Maskerade echauffiert, ist doch ein linker Dogmatiker. Richter macht auch gleich deutlich, gegen wen sich ihre Intervention richtet:
Wenn die Revolutionsphrasen von jenen beschworen werden, die Anderssein hassen und Pluralität zerstören wollen, dann lasst uns auf diese Rhetorik verzichten. Die radikale Systemkritik haben die anderen übernommen. Und zwar zu Recht. Rassisten haben allen Grund, sich unwohl zu fühlen, Liebhaber patriarchalischer Strukturen wollen diese Welt nicht mehr.
Hedwig Richter
Schließlich kommt sie zu einer Anschauung, die selber doch sehr vorgestrig daherkommt.
Der vermummte junge Mann, der ausholt, um den Stein zu werfen, um anzuklagen und um zu zerstören – er war lang genug die globale Ikone der Linken.
Hedwig Richter
Da fragt man sich schon, gegen wen Richter hier überhaupt polemisiert. Wahrscheinlich hat ihr der Hype um die Hamburger Gipfelproteste den Blick dafür getrübt, dass das Bild vom jungen Mann mit dem Stein selbst bei einem Großteil der autonomen Bewegung heute anachronistisch ist. Letztlich läuft Richters Artikel auf die schlichte Botschaft hinaus:
Hedwig Richter
Die ersten, die hier gepackt werden sollen, sind wohl die, die nicht mit einstimmen in den Jubelruf von der besten aller Welten. Nun wird diese Devise zu allen Zeiten ausgegeben. Originell ist nur, dass jetzt der Aufstieg der Rechten als Begründung dafür angegeben wird, bloß nicht mehr von einer anderen Gesellschaft zu reden.
Die schlichte Logik, wenn die Rechte eine Gesellschaft umstürzen will, müssen alle anderen sie verteidigen, ist schon einmal gründlich schief gegangen. So argumentierte die SPD in der Endphase der Weimarer Republik. Sie akzeptierte so massive Sozialkürzungen, unterstützte schließlich sogar den Monarchisten Hindenburg in der Präsidentenwahl, der dann Hitler zum Kanzler ernannte.
Immer wurde argumentiert, in der Ära des Aufstiegs der Nazis, sei keine Zeit für gesellschaftskritische Experimente. Gerade damit wurden die Nazis nicht geschwächt, sondern gefördert. Wenn sich auch Analogien verbieten, so ist zumindest eins klar: Wenn möglichst auch noch die ganze Linke in das Hohelied auf die beste aller Welten einstimmt, kann sich die AfD umso besser als Alternative gerieren und wird dadurch nur gestärkt.
Wie Linke die Eliten lieben lernen soll
Richter hat hier nur laut ausgesprochen, was viele denken. Gesellschaftskritik war in Deutschland nie populär und in Krisenzeit schon gar nicht. Auch ein Kommentator der sozialistischen Tageszeitung Neues Deutschland zielt in Zeiten des AfD-Aufstiegs in die Mitte der Gesellschaft auf Ähnliches.
„Linke Populisten, besinnt Euch!“[4] ist sein kurzer Text überschrieben. Der Anlass war eigentlich banal. Politiker der Linkspartei hatten im Wahlkampf skandalisiert, dass Bundeskanzler, Minister und Bundestagsabgeordnete nicht in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen.
„Damit klimpert die Linkspartei unbekümmert auf der Klaviatur der Populisten“, findet ND-Kommentator Florian Haenes und fährt im FDP-Stil fort: „Überhaupt nichts ist skandalös an der Praxis, Politikern gesonderte Altersbezüge zu zahlen. Nach freiem Gewissen sollen sie handeln. Dafür müssen sie sich finanziell abgesichert wissen.“
Nun sollte eigentlich der Autor einer sozialistischen Tageszeitung wissen, dass es ein Angriff auf das Prinzip der Sozialversicherung ist, wenn Menschen, die viel verdienen, statt in die gesetzlichen Kassen einzuzahlen, Privatversicherungen bedienen. Genau darin liegt die Ursache, dass die Gelder für die vielen Millionen Rentnerinnen und Rentner fehlen, die nicht zur sogenannten Elite gehören.
„Voilà – und keinen Sou mehr“
Statt dass Haenes die Propagandaphrasen vom freien Gewissen der Abgeordneten nachbetet, sollte er lieber mal in ein Buch mit dem Titel „Transformation der Demokratie“[5] des Politologen Johannes Agnoli lesen, der die Rolle der Politiker im Staat des Kapitals treffend analysiert. Glaubt er eigentlich selber, dass er die AfD damit kleinhält, indem er Linken empfiehlt, die Eliten lieben zu lernen?
Gerade umgekehrt müsste eine Linke ihre alte Kritik an Eliten noch deutlich schärfen. Schon vor 100 Jahren haben die Arbeiter- und Soldatenräte eine praktische Elitenkritik geleistet, indem sie diese im November 1918 entmachtet haben, leider allerdings nur für kurze Zeit. Und noch einige Jahrzehnte früher haben die Pariser Kommunarden ihre Elitenkritik poetisch so zusammengefasst[6]:
Privilegien, Politikerspesen
gibt es nicht in der Kommun‘.
Und das Volk gewährt daher
seinen Beamten soviel Geld
wie ein Arbeiter Lohn erhält,
Voila – und keinen Sou mehr.
Das wären Töne, die vielleicht tatsächlich manchen Protestwähler davon abhalten könnte, AfD zu wählen. Wenn aber Haenes seinen Kommentar mit der volksgemeinschaftlichen Warnung so beendet: „Keine Wählerstimme ist es wert, Misstrauen zwischen Amtsträgern und Bürgern den Boden zu bereiten“, dann merkt man, dass es hier nicht um Missverständnisse geht.
Hier will jemand ankommen in der Mitte der Gesellschaft und wird dann wohl bald für eine der vielen Blätter arbeiten, die dort alle längst schon sind. Doch nun muss die rechte Gefahr dafür herhalten, jeglichen gesellschaftskritischen Anspruch über Bord zu werfen und die beste aller Welten zu besingen.
Gegen die Konzentration auf die Wahlen
Dazu gehört auch, die überproportionale Konzentration auf die Wahlen bei der Berichterstattung in vielen Medien. So erscheint die Taz schon seit Wochen täglich mit 7 Sonderseiten zu den Wahlen. Auf diesen Seiten hat auch Hedwig Richter ihre anfangs erwähnte Liebe zur modernen Welt veröffentlicht.
Dabei müsste eine Zeitung, die aus der außerparlamentarischen Bewegung kommt, parallel zum Wahlkampf Sonderseiten für die Aktivitäten der außerparlamentarischen Bewegungen herausgeben und damit deutlich machen, dass man auf eine Gesellschaft auch anders als mit Wahlen Einfluss nehmen kann. Damit soll nicht die etwas schlichte anarchistische Parole, dass Wahlen verboten wären, wenn sie etwas ändern würden, ventiliert werden. Das würde dann ja wohl auch für den Wahlboykott oder das Nichtwählen gelten.
Doch soll gezeigt werden, dass gesellschaftlicher Fortschritt woanders entsteht. Da wären Bündnisse wie Mietenwahnsinn stoppen[7] zu nennen, das am vorletzten Wochenende einen bundesweiten Aktionstag initiiert hatte[8]. Auch die bundesweite Flüchtlingsdemonstration vom letzten Samstag in Berlin[9] oder die Streiks an der Charité[10] wären hier zu nennen.
Das sind die Aktionen, die Parteien wie der AfD tatsächlich das Wasser abgraben können. Menschen, die sich wehren, die für ihre eigenen Interessen kollektiv mit ihren Kollegen eintreten, sind nicht so empfänglich für rechte Parolen.
Wenn aber jetzt mit dem Vorwand, die AfD zu bekämpfen, noch die letzten Reste von kritischem Bewusstsein entsorgt werden sollen, dann hat die Rechte in und außerhalb der AfD schon gesiegt, ganz unabhängig von ihrem Wahlergebnis.
Wie nach den Wahlen vom vergangenen Wochenende die Theorie von Johannes Agnoli von der Einheitspartei überstrapaziert wird
„85 % bleiben cool“, titelte [1] die Taz am Montag nach der Wahl, die den Rechtspopulismus in Deutschland bei drei Landtagswahlen große Gewinne bescherte. Für die Taz zählte aber nur, dass ihr gehätschelter grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann Erfolg hatte – die 15 % Uncoolen entsprachen etwa dem Prozentsatz der AfD in Umfragen. Doch auch als sich später herausstellte, dass die AfD in Sachsen Anhalt einen viel höheren Wert erreichte, brauchte sich die Taz nicht zu korrigieren. Denn für sie waren Stimmen für die SPD in Rheinland-Pfalz und die Grünen in Baden-Württemberg Merkel-Stimmen:
„Die übergroße Mehrheit wählt Parteien, die Merkels Flüchtlingspolitik mittragen.“
Die Position wird dann in einem Kommentar noch einmal bekräftigt [2].
Suggestion statt Analyse
Ein längeres Zitat soll deutlich machen, dass es hier um Selbstsuggestion und die Erzeugung guter Gefühle, nicht aber um Analyse und kritische Bewertung geht:
„Die Sieger dieser Wahl sind die Angst, die Ausgrenzung und das Autoritäre. Die AfD als Senkrechtstarterin ist der Grund für dieses Ergebnis, die Ursache ist sie nicht.
Die Ursache ist, dass viele politische Spitzenkräfte den Glauben an sich und ihre Programmatik verloren haben. Sie misstrauen ihrer Parteibasis, sie misstrauen ihren Anhängern, sie misstrauen der Bevölkerung. Im Grunde misstrauen sie Deutschland. Den ganzen Wahlkampf lang glaubten sie nicht mehr an die Hilfsbereitschaft gegenüber Schutzsuchenden, an den Ehrgeiz und an die Geduld der Mehrheit. Stattdessen haben sie sich von morgens bis abends eingeredet, dass die Stimmung im Land kippt.
Dabei hat zusammengerechnet nicht mal ein Fünftel der Menschen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt die AfD gewählt. Sie kippen nicht, sie stehen.
Aber statt zu begreifen, dass diese starke Mehrheit kein anderes System will, haben Vertreter des Staates auch noch das Geschäft der Gegner befördert . (…) Die Grünen haben in Winfried Kretschmann immerhin einen Politiker, dem die Menschen vertrauen.“
Dass Kretschmann auch in diesem Kommentar noch einmal als Mann des Tages gefeiert wurde, soll hier nicht weiter kommentiert werden. Dass aber nach einer Wahl, bei der eine rechtspopulistische Partei von Null auf bis zu 24 Prozent kommt und in zwei Bundesländern die SPD überflügelt, so getan wird, als wäre alles in Ordnung, weil die AfD ja keine absolute Mehrheit hat, ist die eigentlich interessante Botschaft.
Da werden die eigenen Ansprüche schon soweit heruntergeschraubt, dass die Welt der Bionade-Bourgeoisie noch in ganz in Ordnung ist, solange noch eine Regierung gegen die AFD gebildet werden kann,.
Zuflucht zur „kapitalistischen Einheitspartei“
Die Lesart, wonach Merkel auch Erfolg hat, wenn nicht ihre Partei, sondern SPD und Grüne, die ihren Kurs in der Flüchtlingsfrage angeblich unterstützen, an einigen Stellen Stimmen gewinnen, wurde natürlich auch vom Merkel-Flügel der Union und der SPD verbreitet.
Hat nach dieser Logik Helmut Schmidt 1982 gewonnen, als Kohl zum Kanzler gewählt wurde? Schließlich hat der den sogenannten Nachrüstungsbeschluss umgesetzt, den Schmidt eingefädelt hatte, aber nach dem Wachsen der Anti-Pershing-Bewegung in seiner Partei nicht mehr umsetzen konnte. Hat auch 2005 Gerhard Schröder eigentlich gewonnen, weil Union und FDP die Agenda 2010 umsetzten, die der SPD-Kanzler initiiert hatte, aber in seiner Partei ebenfalls nicht durchsetzen konnte?
Diese Interpretation von Wahlergebnissen wurde damals nicht angewendet – jetzt aber schon, obwohl sich der Hintergrund im Kern nicht verändert hat. Geht es hier um die Transformation der unter unterschiedlichen Namen und Traditionen auftretenden Parteien zu einer kapitalistischen Einheitspartei, die zwar ein unterschiedlichews Klientel bedienen, aber sich in den Kernfragen einig sind?
Der Politologe Johannes Agnoli hat in seiner Schrift Transformation der Demokratie [3] diesen Mechanismus vor fast 5 Jahrzehnten sehr präzise beschrieben. Bei einer Neuauflage des Buches in den späten 1980er Jahren beschrieb Agnoli im Vorwort, wie nun auch die Grünen für ihr Mitwirken in der kapitalistischen Einheitspartei präpariert werden.
Damals wurde gerade der linke Parteiflügel durch ein Trommelfeuer von Verleumdungen, Mutmaßungen und Hetze zum Buhmann aufgebaut. Er hatte für manche zu lange dafür gesorgt, dass die Grünen noch nicht für alle offen koalitionsfähig präsentiert werden konnten. Das hat sich längst geändert.
Nun sind die Linken in der Phase, in der von ihnen eingefordert wird, sich als linker Flügel der Einheitspartei zu präsentierten. Ansonsten würden sie sich überflüssig machen, heißt es im Jargon der besorgen Politikberater. Überflüssig sind für sie Parteien, die Wahlversprechen womöglich ernst nehmen, die wissen, dass es einen Unterschied zwischen An-der-Regierung-Sein und An-der-Macht-Sein gibt und die vielleicht auch belegen könnten, dass mit einer entschiedenen Oppositionsarbeit mehr erreicht oder verhindert werden könnte als durch Mitregieren.
Wenn jetzt ernsthaft darüber diskutiert wird, dass die Linke in Sachsen-Anhalt auch mit der CDU kooperieren muss, um das Land regierungsfähig zu halten und Gregor Gysi sofort zustimmt [4], ist eigentlich klar, dass die Linke mehrheitlich auch Teil dieser Einheitspartei im Sinne von Agnoli werden will. Das Gerede über einen Erfolg für Merkel durch Wahlsiege für Grüne oder SPD ist die beste Bestätigung für Agnolis These.
Zudem ist sie die beste Wahlhilfe für die AfD, die sich dann als einzige und letzte Opposition gegen den politischen Status Quo präsentieren und Erfolge verzeichnen kann. In dieser Rolle kann die AfD nur gewinnen. Wenn die Linke sich tatsächlich für die Einheitsfront gegen die AfD vereinnahmen lässt, ist auch das Wasser auf die Mühlen der AfD. Es fehlt dann eine linke Opposition, die sich nicht als Teil des Status quo sieht, die auch neben der Frage der Migration Kritik an den herrschenden Verhältnisse äußert und vor allem die soziale Frage auf emanzipatorische Weise beantwortet,
Kollaboration mit der Politik der Austerität
Die Vorstellung, die Politik von Merkel zu unterstützen, ist eine Parteinahme für die Politik der autoritären Durchsetzung der Austeritätspolitik in Griechenland und anderen Teilen der europäischen Peripherie. Diese Politik, die an das von „Deutsch-Europa“ vorangetriebenen Troika-Diktat gegen Griechenland im Sommer 2015 aknüpfte, hat die Bahn freigemacht für eine Rechtsentwicklung in ganz Europa.
In der kurzen Zeit, als die griechische Regierung sich dem Troika-Diktat entziehen wollte, dominierten in vielen europäische Ländern nicht Ausgrenzung und Abschottung, sondern die Vorstellungen eines sozialen Europas, das die autoritäre Austeritätspolitik zurückdrängen kann. Es waren sicher naive Vorstellungen, weil sie den Kapitalismus erneut reformieren wollten. Es waren aber Politiker wie Merkel und Schäuble, die führend daran beteiligt waren, jede Form einer sozialeren Politik zunichte zu machen.
Wer heute den Schulterschluss mit Merkel propagiert, erteilt dieser Politik seine Zustimmung. Nun werden viele sagen, es käme jetzt auf die unterschiedliche Modelle der Flüchtlingspolitik an, aber auch hier wird wieder eine Nebelwand aufgebaut und werden die Fakten zu verschleiert.
Merkel und ihre Avatare von SPD und Grünen
Die FAZ ist da in ihrer Analyse [5] viel genauer. Auch sie sieht in den Wahlergebnis vom Wochenende eine Stärkung von Merkel, weil sich die Mehrheit der Grünen und SPD schon aufgegeben hat und nur Merkel-Avatare sind. In der FAZ wird mit Fakten die These auseinandergenommen, dass eine Unterstützung für Merkel eine humanitäre Lösung der Flüchtlingsfrage wäre:
„Der Flüchtling hat sich von der konkreten Flüchtlingspolitik längst gelöst und ist in die zivilreligiöse Substanz Deutschlands eingegangen…. Nun wurde mit der gebotenen Unschärfe, die zivilreligiöse Bestände auszeichnet, ein neuer deutscher Minimalkonsens propagiert, der als solcher unterstell bar und herausstellbar sein sollte – auch wenn die konkrete Politik ihn längst konterkariert hatte. Merkel zehrte ja auch dann noch vom Narrativ des freundlichen Gesichts, als ihr Steuer asylpolitisch schon seit längerem in Richtung Abschreckung herumgeworfen war und andere Länder für uns die hässlichen Bilder ausbadeten….“
Der konservative Merkel-Kritiker der FAZ vergisst natürlich hinzufügen, dass vor allem die Migranten diesen Kurswechsel auszubaden hatten. Doch anders als manche Grüne, die ihre Merkel-Verehrung nicht durch Fakten erschüttern lassen wollen, was durchaus zivilreligiöse Züge hat, weiß der FAZ-Kommentator, dass es Merkel und ihre Unterstützer nicht um eine humanitäre Lösung der „Flüchtlingskrise“ geht.
Ihr Anliegen ist es, die Migranten möglichst weit weg von Deutschland und besser noch außerhalb der Schengenzone aufzuhalten. Genau das ist ja der Zweck der Übung, die Türkei zum vorverlagerten Torwächter der Festung Europas zu machen. Der FAZ-Kommentator kommt zu einer treffenden Analyse der Merkelschen Politik und zeigt die ganze Verlogenheit der Merkel-Schönredner aller Parteien und Fraktionen.
„Die Bundesregierung verfolgt ihren flüchtlingspolitischen Kurs weiterhin mit aller Kraft“, erklärte gestern der Regierungssprecher – als wäre dieser Kurs politisch nicht längst korrigiert, nachgerade ins Gegenteil verkehrt worden. Der Kurs hat Bestand nurmehr als ein ideeller, zivilreligiöser. Als solcher kann er nicht abgewählt werden. Das aber heißt: Merkel gewinnt, auch wenn sie verliert.“
Hier ist in wenigen Worten das ganze Gerede vom angeblich zivilisatorisch so wichtigen Merkel-Erfolg bei den Landtagswahlen am letzten Wochenende auseinandergenommen. Während sich manche Kommentatoren noch immer an der zivilreligiösen Formel von der Willkommenskultur berauschen, ertranken Migranten beim Versuch die verschlossenen Grenzen zu umgehen, als sie einen Fluss überqueren wollten. Die Menschen, die es dann doch noch von Griechenland nach Mazedonien schafften, wurden von der dortigen Polizei mit Knüppeln und Reizgas empfangen [6]. Die Migranten wurden so gezwungen wieder nach Griechenland zurückzukehren. Dass im Flüchtlingscamp Aufrufe zur Überwindung der Grenze zirkulierten, wird als unverantwortliche Aufhetzung der Migranten bewertet. Doch diese Art von Wiederstand ist in Deutschland nicht willkommen.
Merkel hat in der Union keinen Konkurrenten, aber auch nicht bei ihren Koalitionspartner SPD
Die Frage, ob Merkel noch einmal zur Wahl als Kanzlerin antritt, beschäftigt die Medien eigentlich seit der letzten Wahl. Im März 2014 wollte sie sich noch nicht festlegen [1], wurde aber schon von CSU-Chef Seehofer zur Kanzlerkandidatin 2017 ausgerufen. Zwei Jahre vor der nächsten Wahl wird darüber berichtet, dass schon erste organisatorische Vorbereitungen für Merkels erneute Kandidatur getroffen wurden.
Nun haben die Medien im Sommerloch genügend Futter, um darüber zu sinnieren, ob es Merkels Ziel ist, länger als Adenauer im Kanzleramt zu überdauern oder gar ihren verstoßenen Ziehvater Helmut Kohl noch am Aussitzen zu überdauern. Dann müsste sie allerdings auch zu den übernächsten Wahlen antreten. Dass sich die Medien mit solchen Themen beschäftigen, dokumentiert auch wieder einmal ihre Inhaltsleere. Sie machen sich damit zum kostenlosen Wahlhelfer. Denn es gehört natürlich zur Unionsstrategie, so selbst zwei Jahre vor den Wahlen schon die Kampagne inoffiziell zu beginnen.
Festgelegt hat sich Merkel ja noch nicht. Dann wäre ja auch die Spannung raus und das Thema wäre nicht mehr für tiefsinnige Artikel zu haben. So ist es für die Unionswahlkampfstrategie doch das Klügste, das Thema noch etwas am Köcheln zu halten, obwohl doch schon nach den letzten Wahlen klar war, dass Merkel kandidieren wird. Dass im Frühjahr 2014 gerade Horst Seehofer, der ja nicht immer als Merkel-Freund galt, ihre neue Kandidatur anpries, passt auch da völlig ins Konzept. Es gibt keinen Konkurrenten im Unionslager, soll es signalisieren.
Das hat sich nicht geändert, auch wenn beim Streit um die Durchsetzung des Austeritätsdiktat gegenüber Griechenland schon mal eine Differenz zwischen Merkel und Schäuble in manchen Medien konstruiert wurde. Nur haben hier die beiden konservativen Politiker mit verteilten Rollen das gleiche Ziel verfolgt, eine Alternative zur von Deutschlands Interessen geprägten Austeritätspolitik zu ersticken. Außerdem ist klar, dass Schäuble wegen seiner Rolle im Spendenskandal der Ära Kohl kein Aspirant auf das Kanzleramt sein wird.
Merkel auch Kandidatin der SPD
Merkel hat in der Union keinen Konkurrenten – aber auch nicht bei ihren Koalitionspartner SPD. Dort wird sogar diskutiert, erst gar keinen eigenen Kandidaten aufzustellen. „Sie ist eine ausgezeichnete Kanzlerin“, erklärte [2] der Schleswig-Holsteinische Ministerpräsident mit SPD-Parteibuch Torsten Albig und bezweifelte eine eigene Kanzlerkandidatur. Er blieb in der SPD mit dieser Meinung nicht allein, obwohl der SPD-Parteiapparat von diesen Äußerungen gar nicht angetan war.
Schließlich bedeuten sie die Demontage des gegenwärtigen SPD-Vorsitzenden Gabriel, der schließlich das Zugriffsrecht auf eine Kanzlerkandidatur seiner Partei hat. Tatsächlich ist die Merkel-Befürwortung in Teilen der SPD-Spitze ein Akt des Misstrauens gegenüber Gabriel. Aber sie ist nur konsequent. Schließlich hat die SPD im Kern immer die Politik gemacht, die die Union vorgegeben hat. Nur gelegentlich versuchte Gabriel die Union noch rechts zu überholen. Etwa bei seiner Anbiederung an Pegida und die Hetze gegen eine kryptokommunistische griechische Regierung, die keinen Cent von deutschen Arbeitern erhalten soll.
Angesichts solcher Äußerungen sehen nicht nur manche Sozialdemokraten Merkel als das kleinere Übel. Dass die SPD sich fragt, ob sie überhaupt noch eine Kanzlerkandidatur erwägen soll, zeigt auch, dass sie mittlerweile mit den Grünen konkurriert, die 2011 erstmals über eine eigene Kanzlerkandidatur [3] diskutierten. Wie schnell der Weg noch weiter nach unten gehen kann, zeigt sich an der FDP, die noch vor 15 Jahren erstmals eine Kanzlerkandidatur wagen wollte. Erst stürzte Jürgen Möllemann ab, der diesen Posten gerne eingenommen hätte, und dann die ganze Partei ab.
Kein Protest gegen ewige Kanzlerin
Erstaunlich ist, dass im Medienecho über Merkels erneute Kandidatur kaum mal daran erinnert wurde, dass in fast allen bürgerlichen Demokratien die Begrenzung der Amtszeit der Regierenden zum Wesen der Demokratie gehört. Nicht nur in den USA, auch in Frankreich und den meisten lateinamerikanischen Staaten kann ein Präsident nicht beliebig oft kandieren. Selbst der russische Präsident Putin musste zwischendurch mal auf das Amt des Premierministers rotieren.
In Deutschland gibt es diese Beschränkungen nicht und auch keine wahrnehmbare Bewegung, die angesichts der ewigen Merkel eine solche Beschränkung fordert. In manchen Ländern lösen die Kandidaturankündigungen von Dauerpolitikern Massenproteste und regelrechte Staatskrisen aus. In Deutschland hingegen spürt man schon das Aufatmen, dass Merkel sich noch einmal bereit erklärt, die deutsche Mutti zu spielen, die wenn es sein muss, mit Pickelhaube auf dem Kopf [4] in aller Welt deutsche Interesen vertritt.
Gibt es mal einen Sturm im Wasserglas, wie bei den schnell abgebrochenen Ermittlungen gegen netzpolitik.org, gerät Merkel erst gar nicht in die Kritik, sondern kann sogar noch profitieren, weil sie sich erst bedeckt hielt und dann auch zur Kritikerin der Justizermittlungen wurde. Seltsamerweise wagt hier gar niemand den Einwand, dass die Justiz idealtypisch gar nicht von der Politik abhängig ist und die massive Kampagne gegen die Ermittlungen eigentlich als Unter-Druck-Setzen dieser als 3. Gewalt apostrophierte Justiz sonst heftig kritisiert wird.
Doch Merkel hat auch viele andere umstrittene Sach- und Personalentscheidungen ohne Imageverlust überstanden. Das liegt aber weniger an ihrer Person als an ihrer Funktion. Hier zeigt sich einmal mehr, wie recht der Politologe Johannes Agnoli schon Ende der 60er Jahre mit seiner Schrift Die Transformation der Demokratie [5] hatte.
Dort konstatierte er das Wirken einer großen kapitalistischen Einheitspartei mit mehreren Flügeln in Deutschland. In den Zeiten der Weltmarktkonkurrenz spielen auch die Flügel kaum noch eine Rolle. Und so ist es nur folgerichtig, dass diese Einheitspartei „Modell Deutschland“ erwägt, auch nur noch eine Kandidatin auf den Schild zu heben. Der Großteil der Bevölkerung fühlt sich gut vertreten, weil sie von Interessengegensätzen im In- und Ausland nichts hören will. Sie halluziniert sich wieder zur Volksgemeinschaft, die nach Außen mit einer Stimme auftritt. Merkel wird von der Mehrheit der Bevölkerung als gute Besetzung für diesen Job gesehen.