Schlagwort: Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft
Gabriele Winker: Solidarische Care-Ökonomie. Revolutionäre Realpolitik für Care und Klima Transcript Verlag, Bielefeld 2021 216 Seiten, 15 Euro ISBN 978-3-8376-5463-9
Im letzten Kapitel „Care-Revolution als Transformationsstrategie“ benennt Winker Reformen, die die Lebensbedingungen von Millionen Menschen konkret verbessern und die Kapitalprofite zumindest beschränken. Dazu gehören die Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit, ein bedingungsloses Grundeinkommen und eine an den menschlichen Bedürfnissen orientierte soziale Infrastruktur. Auch die Vergesellschaftung von Betrieben und Einrichtungen der Grundversorgung und die Einrichtung von Räten als demokratische Beteiligungsformen jenseits des Parlamentarismus gehören zu Winkers Programm einer revolutionären Realpolitik.
In Berlin mobilisiert seit Monaten ein Bündnis, das sich Berliner Kran- kenhausbewegung nennt, für mehr Personal und bessere Bezahlung der Beschäftigten im Krankenhaus- und Pflegebereich. In dem von der Dienst- leistungsgewerkschaft Verdi initiierten Bündnis arbeiten auch …
Am Weltgesundheitstag kooperieren Klimaaktivsten und Pflegekräfte. Eine die unterschiedlichen Gruppen verbindende Losung lautet: Der Markt wird es nicht richten
Zur theoretischen Fundierung der Aktivitäten im Carebereich trägt ein Buch bei, das die Sozialwissenschaftlerin Gabriele Winker kürzlich unter dem Titel "Care Revolution Schritte in eine solidarische Gesellschaft" herausgegeben hat. Winker beschäftigt sich seit Jahren mit der Frage, warum die Sorgearbeit im Kapitalismus zunehmend zum Problem wird.
„Der Markt wird es nicht richten – Gesundheit ist keine Ware“, lautet das Motto beim Berliner Aktionstag für eine bessere Gesundheit am 7. April. Wie in vielen Städten nutzen auch in Berlin Beschäftigte aus dem Medizin- und Pflegebereich gemeinsam mit Unterstützern den Weltgesundheitstag, um für ihre Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen und mehr finanziellen Mitteln im Care-Bereich, wie der Gesundheits- und Pflegesektor genannt wird, an die Öffentlichkeit zu tragen. Durch die Corona-Pandemie ist das Thema Gesundheit stärker in das Blickfeld der Gesellschaft gerückt. Das wollen Bündnisse in verschiedenen Städten nutzen, um …
„Warum wird der Streik der Lokführer in der Öffentlichkeit als viel dramatischer wahrgenommen als die gleichzeitig stattfindenden Warnstreiks des Kita-Personals?“ Diese Frage stellte die Journalistin Ulrike Baureithel am 23. April d.J. in der Wochenzeitung Freitag und versuchte sich gleich selbst an einer Antwort: „Die Mobilität ist für den kapitalistischen Kreislauf unabdingbar. „Piloten und Lokführer im Ausstand signalisieren: Hier kommt der Verwertungsprozess des Kapital ins Stocken. Während aus der Kita keine Rendite zu ziehen ist und man sich beim höchsten Gut, den Kindern, immer sicher sein kann: Irgendjemand wird sich schon um sie kümmern, wenn nicht die bezahlten Care-Arbeiter, dann eben Eltern, Großeltern oder andere“. Die geringere Beachtung des Kitastreiks ist also noch immer eine Folge der geringeren Achtung der oft von Frauen geleisteten Care-Arbeit. Dies zu ändern ist das Ziel einer Care-Bewegung, die in den letzten Jahren gewachsen ist und im März 2014 in Berlin einen großen bundesweiten Kongress organisiert hatte. Er war aber nicht der End-, sondern der Ausgangspunkt vieler weiterer Aktivitäten. Die feministische Sozialwissenschaftlerin Gabriele Winker hatte großen Anteil an der Entstehung des Kongresses. Nun hat sie im transcript-Verlag unter dem Titel “Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft“ ein Buch veröffentlicht, dass einen guten Einblick in die theoretischen Prämissen und die praktischen Schritte dieser neuen Care-Bewegung gibt. Winkers Prämisse lautet: Die kapitalistische Gesellschaft ist nicht in der Lage, Sorgearbeit für alle Menschen zu garantieren. Dazu gehören die Kindererziehung, die Bildung, aber auch die immer wichtiger werdende Pflegearbeit für ältere Menschen. Winker zeigt, dass diese Vernachlässigung nicht auf moralische Defizite, die Schlechtigkeit von Menschen oder Institutionen zurückzuführen ist, sondern mit Verwertungsinteresse des Kapitals zusammenhängt. „Entscheidend ist, dass die entstehenden Reproduktionskosten die Profitrate nicht allzu sehr belasten und gleichzeitig zur Reproduktion einer Arbeitskraft führen, die hinsichtlich ihrer Qualifikation und ihrer physischen und psychischen Gesundheit in der Warenproduktion rentabel einsetzbar ist.“ (S. 21)
Winker zeigt auch, dass die Ablösung des Familienernährermodells in erster Linie dem Interesse des Kapitals und weniger feministischen Kämpfen geschuldet ist. „Das Ernährermodell wird für die Kapitalverwertung wegen der zunehmenden internationalen Konkurrenz unattraktiv“ (S. 28). Dieser Aspekt spielt eine große Rolle, wenn heute im politischen Mainstream die Kitaerziehung eine so große politische Unterstützung erfährt. „Das Bundesfamilienministerium setzt daher neben der Erhöhung der Geburtenrate als zentrale Aufgabe, die Frauenerwerbstätigkeit zu steigern… Diese Entwicklung führt dazu, dass Teile der Sorgearbeit aus dem Haushalt ausgelagert und auf kommerzieller und sozialstaatlicher Grundlage neu organisiert werden. Daraus erklärt sich beispielsweise der schrittweise Ausbau der Kita-Betreuung auch für kleinere Kinder“(S. 29).
Streiks der Kita-Beschäftigten
In dem Buch stellt sie die unterschiedlichen Facetten einer Care-Bewegung vor, die sich eben nicht mit den Sachzwängen zufrieden geben will. Dazu gehören auch gewerkschaftliche Kämpfe. So streiken MitarbeiterInnen an der Berliner Charité für einen Personalschlüssel, der eine gute Pflege für alle überhaupt erst möglich macht. Ein anderes Beispiel ist der Arbeitskreis Erziehung und Bildung der Gewerkschaft ver.di in der Gemeinde Tamm bei Stuttgart. „Hier organisieren sich Erzieher_innen, die in kommunalen Kitas tätig sind. Zentrales Thema ihres politischen Engagements ist die unzureichende Personalbemessung in den Kindertagesstätten und Gemeinden“ (S. 120). Auch die Gruppe „Armut durch Pflege“, in der sich Angehörige und FreundInnen von Pflegebedürftigen zusammengeschlossen haben, die Assistenzgenossenschaft Bremen, die von Personen gegründet wurde, die Pflege brauchen, und die Organisation geflüchteter Frauen (Women in Exile) werden von Winker als Teil der Care-Bewegung vorgestellt. Sie macht damit deutlich, wie vielfältig diese Bewegung ist. Dabei betont Winker, dass es bei der aktuellen Care-Revolution-Bewegung nicht um ein Nebeneinander von Initiativen in völlig unterschiedlichen Lebenslagen, sondern um eine solidarische Bezugnahme gehen soll. Dabei sollen Initiativen und Einzelpersonen in einer schwachen Position von Gruppen in einer stärkeren Position unterstützt werden.
Wege jenseits des Kapitalismus
Auch Gruppen aus der außerparlamentarischen Linken wie die AG Queerfeminismus bei der „Interventionistischen Linken“ (IL) werden von Winker gewürdigt. Dieser ist es mit zu verdanken, dass die Care-Revolution mittlerweile Teil von großen politischen Demonstrationen geworden ist. So gab es bei den Blockupy-Protesten am 18. März 2015 in Frankfurt/Main eine deutlich sichtbare Teilnahme und bei der Revolutionären 1. Mai-Demonstration in Berlin eigene Blöcke, die unter Motto „Tag der unsichtbaren Arbeit“ die Care-Revolution ausriefen.
Besonders überzeugend ist Winkers Plädoyer da, wo sie deutlich macht, dass der Kampf um Veränderungen hier und heute beginnen, aber über die kapitalistische Gesellschaft hinausweisen muss. „Ursächlich für die Unterversorgung (im Carebereich; P.N.) auch in reicheren Ländern ist der Druck auf Löhne und Transfereinkommen, der im Kapitalismus unvermeidlich ist. Denn diese Produktionsweise ist zwar auf Menschen als Arbeitskräfte angewiesen, da ohne sie keine Kapitalverwertung möglich ist. Gleichzeitig finden jedoch der Ausbau des Bildungs- und Gesundheitssystems und die Steigerung der Reallöhne (….) dort ihre Grenzen, wo die Standortvorteile in der globalen Konkurrenz in Gefahr sind“ (S. 140).
Winker entwickelt dann am Beispiel der Care Revolution ein Konzept von radikalen Reformen und einer antikapitalistischen Transformation. Dabei soll der Kampf um Reformen neben konkreten Verbesserungen im Care-Bereich auch dazu beitragen, dass sich die Menschen gemeinsam organisieren und solidarisch für die Verbesserungen ihrer Lebens- und Arbeitssituation kämpfen. Dabei ist eben die Nennung der verschiedenen Initiativen, von gewerkschaftlichen Arbeitsgruppen bis zu den Women in Exile, besonders wichtig. Es geht um einen Kampf ohne Ein- und Ausgrenzung. Indem Teile des Care-Bereichs der Profitlogik entzogen werden, wird für viele Beteiligte die Frage aufkommen, ob nicht die kapitalistische Verwertungslogik überhaupt der Vergangenheit angehören sollte. Dabei benennt sie als Schritte zur radikalen Reform auch Forderungen wie die nach einer massiven Verkürzung der Lohnarbeitszeit. So hätten die Menschen mehr Zeit für Sorgearbeit für sich und ihre FreundInnen. Daneben betont Winker die Bedeutung der Ausbau der sozialen Infrastruktur und der Demokratiserung und Selbstverwaltung im Carebreich als Kernpunkte dieser radialen Reform.“Bei der Demokratisierung der vorhandenen Care-Infrastruktur gilt einerseits darum zu kämpfen, dass Privatisierungen aber auch die Übertragung staatlicher Aufgaben an Wohlfahrtsverbände, zurückgenommen werden. Gleichzeitig geht es darum, demokratische Strukturen aufzubauen, die auf allen Ebenen die Bedürfnisse, Interesse und Wünsche der Beteiligten zusammenführen“ (S. 166).
Winker geht in einem Absatz auf die Entwicklung im Bereich der 3-D-Drucker ein, mit denen Güter in dezentralen Nachbarschaftszentren hergestellt und viele stupide Lohnarbeitsplätze eingespart werden könnten. Es ist eine Stärke von Winkers Buch, dass sie hierin keine Drohung, sondern eine Chance sieht, wenn man kapitalistische Verwertungsinteressen nicht als unhintergehbare Tatsache, sondern als historisch überwindbar betrachtet. Mit dem – historisch allerdings nicht neuen – Verweis auf die Chance, dass Maschinen Menschen die stupide Lohnarbeit abnehmen, bringt Winker einen Akzent in die Debatte ein, der das Terrain der bloßen Abwehrhaltung und der Verteidigung des Status Quo, aber auch die Sehnsucht nach einer imaginierten heilen keynesianischen Arbeitswelt verlässt und Raum für Utopien lässt. Am Beispiel Care Revolution eine Verbindung von Alltagskämpfen mit der Zielvorstellung einer nichtkapitalistischen Gesellschaft zu diskutieren, macht das Buch zu einer Rarität in linken Debatten.
aus: express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit,
8/2015
Peter Nowak
Gabriele Winker: „Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft“, Bielefeld 2015, 11,99 Euro, 208 Seiten, ISBN 978-3-8376-3040-4
Die Sozialwissenschaftlerin Gabriele Winker lehrt und forscht an der Technischen Universität Hamburg-Harburg und ist Mitbegründerin des Feministischen Instituts sowie des bundesweiten „Netzwerks Care Revolution“. Diesen März ist im Transcript-Verlag ihr Buch „Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft“ erschienen. Peter Nowak sprach für den Vorwärts mit Winker über die Krise sozialer Reproduktion und die entstehende Care-Bewegung.
vorwärts: Im März 2014 fand in Berlin eine Aktionskonferenz zur „Care Revolution“ statt. Was ist seither geschehen?
Gabriele Winker: Die „Care Revolution“ nimmt einen grundlegenden Perspektivwechsel vor. Das ökonomische und politische Handeln darf nicht weiter an Profitmaximierung, sondern an menschlichen Bedürfnissen, primär der Sorge umeinander ausgerichtet sein. Eine Gesellschaft muss sich also daran messen lassen, inwieweit sie grundlegende Bedürfnisse gut und für alle Menschen realisieren kann. Nach der Aktionskonferenz, an der sich etwa 500 im Care-Bereich tätige Menschen in vielfältigen Workshops beteiligten, haben wir im Mai 2014 das „Netzwerk Care Revolution“ gegründet. Das ist eine Art Plattform, über die sich die verschiedensten Care-Initiativen vernetzen, austauschen und gegenseitig unterstützen können. Wir haben uns ferner darauf geeinigt, uns in diesem Jahr als Netzwerk an Aktionen zum Internationalen Frauenkampftag am 8. März, zu Blockupy und zum 1. Mai zu beteiligen. An diesen drei Tagen war das „Netzwerk Care Revolution“ durch kleine Demonstrationsblöcke oder Infotische in mehreren Städten deutlich sichtbar. Auch gibt es inzwischen regionale Netzwerke in Berlin, Brandenburg, Hannover, Hamburg, Frankfurt und Freiburg. Andere befinden sich im Aufbau. Für April 2016 planen wir die zweite bundesweite Aktionskonferenz Care Revolution, wieder in Berlin.
vorwärts: Warum kommt die Debatte um die Care Revolution gerade in dieser Zeit auf?
Gabriele Winker: Der Wandel vom Ernährermodell zu verschiedenen neoliberalen Reproduktionsmodellen, die alle kein gutes Leben ermöglichen, ist in der BRD sehr langsam erfolgt, nicht zuletzt wegen der jahrzehntelangen Konkurrenz mit der DDR. Die neoliberale Familienpolitik, die mit dem Ziel der Erhöhung der Frauenerwerbstätigkeit und der Geburtenrate Wirtschaftspolitik betreibt und sehr stark zwischen Leistungsträgerinnen und -trägernund Ausgegrenzten unterscheidet, beispielsweise durch grosse Unterschiede in der Höhe des Elterngelds, nahm erst nach der Jahrtausendwende Fahrt auf. So wird erst derzeit deutlich spürbar, dass Menschen damit überfordert sind, sich – unabhängig von Geschlecht, Familienstatus, Umfang der Sorgeaufgaben – je einzeln durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft existenziell abzusichern und gleichzeitig die wegen der staatlichen Kostensenkungspolitik zunehmende Reproduktionsarbeit in Familien zu leisten. Arbeit ohne Ende wird für immer mehr Menschen zur Realität. Die Selbstsorge kommt zu kurz. Musse ist zum Fremdwort geworden. Und auch diejenigen, die auf die Unterstützung anderer angewiesen sind, wie Kinder oder pflegebedürftige Erwachsene, können ihre Bedürfnisse nicht realisieren. Es nimmt nicht nur der Stress zu, sondern auch die Erschöpfung, da Erholungsphasen fehlen. Dies führt nicht zuletzt zu mehr Fällen psychischer Erkrankungen.
vorwärts:Sie haben den Begriff der „Care Revolution“ wesentlich geprägt. Auf welche theoretischen und praktischen Vorarbeiten haben Sie sich gestützt?
Gabriele Winker: Einerseits bin ich beeinflusst von der Zweiten Frauenbewegung. Bereits in den 70er Jahren wurde in diesem Rahmen auch in der BRD dafür gekämpft, die nichtentlohnte Hausarbeit als gesellschaftlich notwendige Arbeit anzuerkennen. Dies führen beispielsweise Gisela Bock und Barbara Duden in ihrem Beitrag zur Berliner Sommeruniversität für Frauen 1977 aus. In den 90er Jahren begannen dann in den USA Debatten um die Care-Arbeit. Mit diesem Begriff wies beispielsweise Joan Tronto sehr früh darauf hin, dass Menschen ihr ganzes Leben lang Sorge von anderen benötigen und somit nicht völlig autonom leben können, sondern ihr Leben vielmehr in interdependenten Beziehungen gestalten. Meine Vorstellung von einer solidarischen Gesellschaft, die ich als Ziel einer Care-Revolution entwickelte, baut deswegen auf menschliche Solidarität und Zusammenarbeit.
vorwärts: Worauf stützt sich die neue Care-Revolution-Bewegung?
Gabriele Winker: Auffallend ist, dass es im entlohnten Care-Bereich, in Bildung und Erziehung sowie Gesundheit und Pflege, aber auch im unentlohnten Bereich, ausgehend von der Sorgearbeit in Familien, viele kleine Initiativen gibt, zum Beispiel Elterninitiativen, Organisationen von pflegenden Angehörigen, Gruppen von Menschen mit und ohne Behinderungen, Initiativen von und für Flüchtlinge, aber auch Verdi-Gruppen sowie queerfeministische und linksradikale Gruppen, die das Thema Care aufnehmen. Viele engagieren sich für bessere politisch-ökonomische Rahmenbedingungen, damit sie für sich und andere besser sorgen können. Alleine und vereinzelt sind sie allerdings bisher zu schwach, um politisch wahrgenommen zu werden und eine grundlegende Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen zu erreichen. Hinter der Care Revolution steht die Idee, diese Gruppen nicht nur über diesen Begriff zu verbinden, sondern damit auch aufeinander zu verweisen und eine sichtbare Care-Bewegung zu entwickeln. Wichtig ist dafür allerdings auch eine klare Analyse, die deutlich macht, dass der gesamte Care-Bereich unter den Folgen staatlicher Kostensenkungspolitik leidet, die mit der politisch-ökonomischen Krise sozialer Reproduktion verbunden ist. Davon ausgehend können wir mit der Care-Revolution als Transformationsstrategie gemeinsam erste Reformschritte in Richtung bedingungslose existenzielle Grundsicherung, deutliche Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit sowie Ausbau der sozialen Infrastruktur gehen.
vorwärts: Sie fassen in Ihrem Buch Aktivitäten der „Interventionistischen Linken“ über Verdi-Gruppen bis zu Pflegeinitiativen unter den Begriff „Care Revolution“. Wird da nicht über ganz unterschiedliche Aktivitäten ein Label gestülpt?
Gabriele Winker: Wichtig ist zunächst festzustellen, dass die im Buch genannten Gruppen und viele mehr, die zur Aktionskonferenz Care Revolution im März 2014 aufgerufen haben, sich selbst diesem Begriff und der Vorstellung zuordnen, dass die Bedingungen für Sorgearbeit in unserer Gesellschaft grundlegend revolutioniert werden müssen. Dabei sind das keine grossen Verbände, sondern Gruppen vor Ort, wie die IL Tübingen, die Verdi-Betriebsgruppe Charité, die Elterninitiative „Nicos Farm“ für behinderte Kinder in Hamburg oder kleinere Organisationen wie die Initiative „Armut durch Pflege“, die bereits viele Erfahrungen in sozialen Auseinandersetzungen im Care-Bereich haben. Die Zusammenarbeit dieser Gruppen wird eben nicht durch eine Organisation gestaltet, die über ein Label Bedeutung erringen will. Vielmehr sehe ich die besondere Stärke der im Werden begriffenen Care-Bewegung darin, dass sich Menschen in unterschiedlichen Positionen innerhalb der Care-Verhältnisse austauschen und ihre Kämpfe aufeinander beziehen.
vorwärts: Können Sie Beispiele nennen?
Gabriele Winker: Bei Treffen und Aktionen kommen beispielsweise Beschäftigte in Krankenhäusern und Altenpflegeheimen mit pflegenden Angehörigen und Menschen zusammen, die aufgrund von körperlichen Einschränkungen oder Krankheiten zeitlich aufwändig für sich sorgen müssen. Wir alle können morgen von Krankheit betroffen sein und sind dann auf gute Pflege angewiesen. Und die staatliche Kostensenkungspolitik trifft nicht nur die Beschäftigten in allen Care-Bereichen gleichermassen, sondern in der Folge auch Familien, Wohngemeinschaften und andere Lebensformen, wenn Patienten „blutig“ entlassen werden oder notwendige Gesundheitsleistungen für Kassenpatientinnen gestrichen werden. Diese Verbindungen sind noch viel zu wenig präsent, auch in linken politischen Zusammenhängen. Nur wenn sich etwa Erzieherinnen und Eltern oder beruflich und familiär Pflegende als gesellschaftlich Arbeitende begreifen, können sie sich auf Augenhöhe in ihren Kämpfen um ausreichende Ressourcen und gute Arbeitsbedingungen unterstützen. Dies gilt unter dem Aspekt der Selbstsorge auch für Assistenzgebende und Assistenznehmende.
vorwärts:Warum kann im Kapitalismus das Problem der Sorgearbeit nicht gelöst werden?
Gabriele Winker: Das Ziel kapitalistischen Wirtschaftens ist Profitmaximierung. Die ist nur durch den Einsatz von Arbeitskraft zu erreichen, die allerdings tagtäglich und auch über Generationen hinweg immer wieder neu reproduziert werden muss. Der sich daraus ergebende Widerspruch, dass einerseits die Reproduktionskosten der Arbeitskraft möglichst gering gehalten werden sollen, um die Rendite nicht allzu sehr einzuschränken, gleichzeitig aber diese Arbeitskraft benötigt wird, ist dem Kapitalismus immanent. Grundvoraussetzung für die Aufrechterhaltung dieses widersprüchlichen Systems ist, dass ein grosser Teil der Reproduktion unentlohnt abgewickelt wird. Mit der technologischen Entwicklung lassen sich nun zwar Güter und produktionsnahe Dienstleistungen schneller herstellen, nicht aber Care-Arbeit beschleunigen, zumindest nicht, ohne dass es zu einer massiven Verschlechterung der Qualität kommt. Denn Care-Arbeit ist kommunikationsorientiert und auf konkrete einzelne Menschen bezogen und damit sehr zeitintensiv. Die Folge ist, dass Produktivitätssteigerungen in diesem Bereich nur begrenzt möglich sind. Es kommt zu einer Krise sozialer Reproduktion, die ich als Teil der Überakkumulationskrise sehe.
Für mehr Infos siehe:
www.care-revolution.org
VORWÄRTS/1120: Interview mit Gabriele Winker – Soziale Reproduktion in der Krise
vorwärts – die sozialistische zeitung, Nr. 25/26 vom 3. Juli 2015
Aus der Perspektive der Krise der sozialen Reproduktion betrachten! Interview mit Gabriele Winker*
Die jahrelange Vernachlässigung von Investitionen in die öffentliche Daseinsvorsorge zugunsten der Profitsteigerung mündet in einen nicht mehr tragbaren Raubbau an den Kräften der dort Beschäftigten. Die meisten Streiks drehen sich derzeit um Probleme der Arbeitsüberlastung und die auch finanziell zu geringe Anerkennung der Berufe im «Dienst am Menschen». Die Sozialwissenschaftlerin Gabriele Winker sieht darin eine Krise der sozialen Reproduktion überhaupt und ordnet sie ein in die umfassende, aktuelle Krise des Kapitalismus.
Was verstehen Sie unter Care Revolution?
Das Konzept Care Revolution nimmt einen grundlegenden Perspektivwechsel vor. Das ökonomische und politische Handeln darf nicht weiter an Profitmaximierung, sondern es muss an menschlichen Bedürfnissen, primär der Sorge umeinander, ausgerichtet sein. Eine Gesellschaft muss sich also daran messen lassen, inwieweit sie grundlegende Bedürfnisse gut und für alle Menschen realisieren kann. Dazu gehört eine hervorragende soziale Infrastruktur. Nicht zuletzt um dieses hohe Gut für alle streiken die Erzieherinnen und Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter derzeit.
Was hat der aktuelle Kita-Streik mit Care Revolution zu tun?
Die Streikenden in Kitas und weiteren sozialen Einrichtungen haben nicht nur unsere grundlegende Solidarität verdient, sondern wir sollten sie auch in unserem ureigensten Interesse tatkräftig unterstützen. Erzieherinnen gehören zu den Care-Beschäftigten: Sie kümmern sich um unsere Kinder. Dies beinhaltet vielfältige anspruchsvolle Tätigkeiten, die stereotyp Frauen zugeordnet werden. Da in Familien vor allem Frauen unentlohnt für die Kindererziehung zuständig sind, wird in der Konsequenz auch der Beruf der Erzieherin schlecht entlohnt. Dies ändert sich auch derzeit nicht, obwohl es einen zunehmenden Fachkräftemangel gibt.
Nach wie vor ist der Umgang mit Technik, der männlich konnotiert ist, deutlich höher entlohnt als der mit Menschen. Das hat auch viel damit zu tun, dass Technik in der Güterproduktion und der produktionsnahen Dienstleistung profitabel eingesetzt werden kann, während aus kapitalistischer Perspektive Erziehungsarbeit nur mit Kosten verbunden ist. Dabei sind die Löhne der Beschäftigten ein wichtiger Kostenfaktor ebenso wie die Personalausstattung, die es deswegen zu reduzieren gilt.
Auf welche theoretischen Prämissen stützen Sie sich beim Konzept «Care Revolution»?
Einerseits bin ich beeinflusst von der zweiten Frauenbewegung [die der 70er und 80er Jahre]. Bereits in den 70er Jahren wurde in diesem Rahmen auch in der BRD dafür gekämpft, die nicht entlohnte Hausarbeit als gesellschaftlich notwendige Arbeit anzuerkennen. Dies führten bspw. Gisela Bock und Barbara Duden in ihrem Beitrag zur Berliner Sommeruniversität für Frauen 1977 aus. In den 90er Jahren begannen dann im US-amerikanischen Kontext Debatten um die Care-Arbeit.
Mit diesem Begriff verweist bspw. Joan Tronto sehr früh darauf, dass Menschen in ihrem ganzen Leben immer Sorge von anderen benötigen und somit nicht völlig autonom leben können, sondern ihr Leben vielmehr in interdependenten Beziehungen gestalten. Davon habe ich gelernt, dass Menschen als grundlegend aufeinander Angewiesene zu begreifen sind. Meine Vorstellung von einer solidarischen Gesellschaft, die ich als Ziel einer Care Revolution entwickele, baut deswegen auf menschliche Solidarität und Zusammenarbeit.
Wer ist Träger der neuen Care-Revolution-Bewegung?
Auffallend ist, dass es im entlohnten Care-Bereich in Bildung und Erziehung sowie Gesundheit und Pflege, aber auch im unentlohnten Care-Bereich ausgehend von Sorgearbeit in Familien viele kleine Initiativen gibt, bspw. Elterninitiativen, Organisationen von pflegenden Angehörigen, Gruppen von Menschen mit und ohne Behinderungen, Initiativen von und für Flüchtlinge, aber auch aktive Ver.di- und GEW-Gruppen sowie queer-feministische und linksradikale Gruppen, die das Thema Care aufnehmen.
Viele engagieren sich für bessere politisch-ökonomische Rahmenbedingungen, damit sie für sich und andere besser sorgen können. Alleine und vereinzelt sind sie allerdings bisher zu schwach, um im politischen Raum wahrgenommen zu werden und eine grundlegende Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen zu erreichen. Deswegen steht hinter dem Begriff Care Revolution die Idee, diese Gruppen nicht nur über den Begriff zu verbinden, sondern darüberhinaus auch gegenseitig aufeinander zu verweisen und darüber eine sichtbare Care-Bewegung zu entwickeln.
Können Sie Beispiele nennen?
In Treffen und Aktionen kommen bspw. Care-Beschäftigte in Krankenhäusern und Altenpflegeheimen mit pflegenden Angehörigen und Menschen zusammen, die aufgrund von körperlichen Einschränkungen oder Krankheiten zeitlich aufwändig für sich sorgen müssen. Wir alle können morgen von Krankheit betroffen sein und sind dann auf gute Pflege angewiesen. Und die staatliche Kostensenkungspolitik trifft nicht nur die Care-Beschäftigten in allen Bereichen gleichermaßen, sondern in der Folge auch Familien, Wohngemeinschaften und andere Lebensformen – etwa wenn Patienten «blutig» entlassen werden oder notwendige Gesundheitsleistungen für Kassenpatienten gestrichen werden.
Diese Zusammenhänge sind auch in linken politischen Zusammenhängen noch viel zu wenig präsent. Nur wenn sich etwa Erzieherinnen und Eltern oder beruflich und familiär Pflegende als gesellschaftlich Arbeitende begreifen, können sie sich auf Augenhöhe in ihren Kämpfen um ausreichende Ressourcen und gute Arbeitsbedingungen unterstützen. Dies gilt unter dem Aspekt der Selbstsorge auch für Assistenzgebende und Assistenznehmende.
Warum sind Sie der Meinung, dass das Problem der Sorgearbeit im Kapitalismus nicht gelöst werden kann?
Das Ziel kapitalistischen Wirtschaftens ist Profitmaximierung. Dies ist nur durch den Einsatz von Arbeitskraft zu erreichen, die allerdings tagtäglich und auch über Generationen hinweg immer wieder neu reproduziert werden muss. Der sich daraus ergebende Widerspruch, dass einerseits die Reproduktionskosten der Arbeitskraft möglichst gering gehalten werden sollen, um die Rendite nicht allzu sehr einzuschränken, gleichzeitig aber diese Arbeitskraft benötigt wird, ist dem Kapitalismus immanent. Grundvoraussetzung für die Aufrechterhaltung dieses widerspruchsvollen Systems ist, dass ein großer Teil der Reproduktion unentlohnt abgewickelt wird.
Mit der technologischen Entwicklung lassen sich nun zwar Güter und produktionsnahe Dienstleistungen schneller herstellen, nicht aber Care-Arbeit, zumindest nicht, ohne dass es zu einer massiven Verschlechterung der Qualität kommt. Denn Care-Arbeit ist kommunikationsorientiert und auf konkrete, einzelne Menschen bezogen und damit sehr zeitintensiv. Dies hat die Auswirkung, dass in diesem Bereich Produktivitätssteigerungen, die nicht gleichzeitig die Qualität der Care-Arbeit verschlechtern, nur begrenzt möglich sind. Es kommt zu einer Krise der sozialen Reproduktion, die ich als Teil der Überakkumulationskrise sehe.
Wie kann verhindert werden, dass viele sich doch wieder nur mit kleinen Verbesserungen begnügen?
Die sozialen Auseinandersetzungen um all die kleinen Reformschritte gilt es permanent zu verbinden mit dem Eintreten für eine Gesellschaft, in der alle – solidarisch und gemeinschaftlich organisiert – die jeweils eigenen Fähigkeiten entwickeln können.
Dies bedeutet bspw., dass bei Auseinandersetzungen um verbesserte Bildungsfinanzierung gleichzeitig die kollektive Selbstorganisation des Bildungssystems ohne Zugangsbeschränkungen eingefordert wird. Bei Aktionen von streikenden Ärzten und Pflegekräften muss darauf hingewiesen werden, dass es auch bei einer besseren Personalausstattung noch viele Menschen gibt, die grundsätzlich von der Krankenversorgung ausgeschlossen sind. Auch lassen sich all diesen politischen Auseinandersetzungen im Care-Bereich mit Forderungen nach gesellschaftlicher Teilhabe verbinden.
Wird diese Verknüpfung bei allen politischen Aktionen konsequent durchgeführt, ist Care Revolution eine Strategie, die Reformen nutzt, damit möglichst viele Menschen bereits heute sinnvoller arbeiten und besser leben können, gleichzeitig aber in diesen Auseinandersetzungen erkennen, dass letztlich darüber hinausgehende, gesellschaftliche Veränderungen erforderlich sind.
Wichtig ist also, in sozialen Auseinandersetzungen um Reformen die Perspektive anderer in den Blick zu nehmen, für die Inklusion aller Menschen einzutreten sowie eine grundlegende gesellschaftliche Teilhabe durch demokratische Strukturen einzufordern.
Diese Ziele sind ohne Rücksicht auf die Frage zu verfolgen, ob sie im Rahmen des derzeitigen politisch-ökonomischen Systems realisierbar sind. Eine solche Strategie nannte Rosa Luxemburg 1903 «revolutionäre Realpolitik».
* Gabriele Winker lehrt und forscht an der TU Hamburg-Harburg und ist Mitbegründerin des Feministischen Instituts Hamburg sowie des bundesweiten «Netzwerks Care Revolution». Im vergangenen Jahr war sie Mitorganisatorin der Aktionskonferenz «Care Revolution» in Berlin, bei der verschiedene im Bereich sozialer Reproduktion tätige Gruppen und Personen zusammenkamen (siehe SoZ 5/2014). Im März 2015 erschien im Transcript-Verlag ihr Buch Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft.