Die Bundesinnenministerkonferenz, die vor einigen Wochen in Quedlinburg getagt hat, befasste sich auch mit dem möglichen Verbot einer Musikband. Doch dabei handelte es sich nicht um eine der Neonazigruppen, deren Auftritte in den letzten Monaten wiederholt für Entsetzen und Protest gesorgt haben. Die Innenminister prüften vielmehr unter dem Oberbegriff »Ausländerextremismus« ein Verbot der linken türkischen Band Grup Yorum. Die 1985 gegründete Band wird als Bestandteil der linken türkischen DHKP-C betrachtet. Diese Organisation beruft sich auf Che Guevara und hat vor allem in einigen Armenvierteln der türkischen Metropole Istanbul Anhänger*innen. Die Organisation ist in der Türkei und in Deutschland verboten. In den Jahren sind zahlreiche angebliche DHKP-C Unterstützer*innen in Deutschland mittels des Paragraphen 129b wegen Mitgliedschaft oder Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Zu den inkriminierten Tätigkeiten, die ihnen vorgeworfen werden, gehört auch das Organisieren von Grup-Yorum-Konzerten, das Kleben von Plakaten und der Verkauf von Tickets für ihre Auftritte. Seit Jahren werden in Deutschland die Konzerte der Band massiv behindert.
Im Ausland lebende Musiker*innen werden an der Einreise nach Deutschland gehindert, Räume werden auf staatlichen Druck gekündigt. In den letzten Jahren wurden Grup-Yorum-Konzerte unter massive Auflagen gestellt. So war es den Veranstalter*innen bei den Konzerten 2016 und 2017 in Fulda untersagt, für das Konzert Eintritt zu nehmen. Selbst für Essen und Getränke durfte kein Geld kassiert werden. Und auch das Sammeln von Spenden war verboten. Die Polizei setzte diese Auflagen konsequent durch.
Zurück blieb ei großer Schuldenberg für die Veranstalter*innen. »Wir hatten moderate Preise für das Konzert und für Essen und Getränke geplant. Doch dann konnten wir die Tickets wegwerfen und mussten die schon gekauften Lebensmittel verschenken«, klagt Elgen Y, die in einem Solidaritätsverein arbeitet. Jetzt könnten die Restriktionen gegenüber der linken Band noch zunehmen. Auf eine Anfrage der LINKE-Fraktion im Bundestag stellte sich das Bundesinnenministerium ausdrücklich hinter die von den Bundesländern verhängten Auftrittsverbote und Auflagen gegen Grup Yorum. Mit Verweis auf die linke türkische Zeitung »Yürüyüs« sieht das Ministerium die Band fest in die Strukturen der DHKP-C integriert. Die Band unterstütze den »weltweiten revolutionären Kampf« so das Innenministerium. Die innenpolitische Sprecherin der LINKEN, Ulla Jelpke, kritisiert hingegen, dass das Bundesinnenministerium nicht belege, wo die Übereinstimmungen zwischen Grup Yorum und DHKP-C liegen. Im Gegensatz zu Konzerten rechtsextremer Gruppen werde auf Konzerten von Grup Yorum »nicht gegen andere Menschen gehetzt, sondern zu Völkerverständigung aufgerufen«.
Die Unterstützer*innen von Grup Yorum wollen sich auch durch die drohende Verschärfungen nicht einschüchtern lassen. »Wen stören genau die Grup-Yorum-Konzerte, die seit Jahren unter dem Motto ›Unser Herz und unsere Stimme gegen Rassismus‹ stehen«, fragt Elgen Y. Sie erinnert daran, dass Grup Yorum auf antifaschistischen und antirassistischen Konzerten mit sehr viel Applaus bedacht wird. »Die Menschen fragen sich, warum eine linke Band kriminalisiert wird, während Neonazis auf ihren Konzerten unbehelligt bleiben.«
In mehreren Bundesländern gehen Sicherheitsbehörden verstärkt gegen Studierende vor
Die Veranstaltungen zum 50. Jubiläum der 68er-Bewegung sind in vollem Gange. In vielen Städten berichten Zeitzeug*innen über die unterschiedlichen politischen Aktionen jener Zeit, auch und besonders an den Universitäten. Doch während politischer Ungehorsam von damals heute meist gefeiert wird, wächst an deutschen Hochschulen die staatliche Repression. Darauf hat der »freie zusammenschluss von student*innenschaften« (fzs) kürzlich hingewiesen.
Der unmittelbare Anlass für die Erklärung war die Räumung des von Studierenden besetzten Audimax an der Technischen Universität Berlin während des Streiks der studentischen Hilfskräfte Mitte Juni. Lange Zeit galt an Hochschulen das ungeschriebene Gesetz, dass politische Konflikte möglichst ohne das Einschalten der Polizei gelöst werden. Doch das gehört schon längst der Vergangenheit an. Bereits Ende Mai wurde während der Ringvorlesung »REM-Lektüre« in der Architektur-Fakultät der Technischen Universität eine Kritikerin des Immobilienentwicklers Christoph Gröner von Polizist*innen des Saals verwiesen.
Das Forum »Urban Research and Intervention«, in dem sich kritische Wissenschaftler*innen und Student*innen treffen, kritisierte den Polizeieinsatz in einem offenen Brief. »Wir bedauern, dass das Publikum die Eskalation der Veranstaltung mit dem Eingreifen der Polizei nicht verhindert hat.« Man sehe sich als Studierende besonders in der Verantwortung, »den universitären Raum vor unwissenschaftlichem und diskriminierendem Verhalten sowie dem Eingreifen der Polizei zu schützen«. Es brauche andere Wege, um offene Debatten zu gewährleisten, so der Brief.
Doch Staatsrepression gegen kritische Student*innen gibt es nach Einschätzung von Nathalia Schäfer vom fzs-Vorstand nicht nur in Berlin. Man könne sie in allen Bundesländern finden – unabhängig von der Zusammensetzung der Landesregierung. So versucht beispielsweise derzeit die Polizei im schwarz-grün regierten Baden-Württemberg, zwei Datenträger der Verfassten Studierendenschaft der Uni Freiburg zu entschlüsseln. Diese waren ihr im Zuge einer Razzia gegen die linke Internetplattform »Indymedia linksunten« in die Hände gefallen und enthalten die Daten aller 25 000 Studierenden der Universität – darunter sämtliche Personalabrechnungen mit Kontakten und Kontodaten seit 2013.
Die Datei hatte man wie üblich aus Sicherheitsgründen in einer Privatwohnung gelagert. Der Freiburger Asta kämpft seit der Beschlagnahme juristisch und politisch für die Rückgabe der Daten.
Im schwarz-grün regierten Hessen sorgt derweil ein massiver Polizeieinsatz vom April auf dem Gelände der Goethe-Universität in Frankfurt am Main bei Studierenden noch immer für Empörung. Damals waren rund 150 Polizist*innen ohne richterlichen Durchsuchungsbeschluss in das Studierendenhaus auf dem Universitätsgelände eingedrungen und hatten Computer beschlagnahmt. Alle Personen, die sich im Gebäude aufhielten, wurden befristet festgesetzt und durften erst nach einer Personalienkontrolle wieder gehen. Während der hessische CDU-Innenminister Peter Beuth den Polizeieinsatz gegen Kritik verteidigte, erklärte das hessische Amtsgericht diesen mittlerweile für rechtswidrig. Nathalia Schäfer vom fzs-Vorstand kritisierte auch die Verschärfung des hessischen Verfassungsschutzgesetzes, das eine umfassende Überprüfung von Mitarbeiter*innen von zivilgesellschaftlichen Organisationen vorsieht. Auch davon seien studentische Aktivist*innen betroffen.
Der fzs warnt ebenfalls vor dem Agieren der AfD in verschiedenen Landesparlamenten. So stellte die AfD in Baden-Württemberg und Thüringen gezielte Anfragen über autonome Referate und über die studentische Selbstverwaltung. In Thüringen wollte die AfD zudem wissen, welche politischen Veranstaltungen in den letzten Jahren von den studentischen Gremien ideell und finanziell unterstützt worden sind.
Auch in Frankreich, wo man das Jubiläum des 1968er Aufbruchs mit zahlreichen Veranstaltungen und Ausstellungen feiert, werden Kommiliton*innen, die sich aktuell gegen die Verschlechterung ihrer Studienbedingungen wehren, mit Repressionen überzogen. Mehrere Hochschulgebäude, die kurzzeitig besetzt waren, wurden von der Polizei geräumt. Verantwortlich dafür sind teilweise Politiker*innen, die 1968 aktiv in die Protestbewegung involviert waren.
Auf einer Konferenz in Berlin sprachen JournalistInnen und PolitikerInnen, über massive Repression der Ukraine. Das fängt bei Drohungen an und geht bis zum Mord an kritischen JournalistInnen. In der westlichen Welt herrscht darüber Schweigen.
JournalistInnen und Kriegsdienstverweigerer werden verfolgt, verprügelt und landen im Gefängnis. Kritische Zeitungen und Rundfunksender werden von der Regierung geschlossen oder von einem nationalistischen Mob belagert. Bei der knapp vierstündigen Konferenz der Linksfraktion Mitte Juni ging es um Menschenrechte und Medienfreiheit in der Ukraine. Dabei wird in Deutschland die Ukraine von der CSU bis zu den Grünen ausschliesslich als Opfer russischer Expansionsinteressen gesehen. Vor Beginn der Fussballweltmeisterschaft der Männer in Russland hat die Grünen-Politikerin Marie Luise Beck bei einer Diskussion im Deutschlandfunk wieder eine Lanze für die Ukraine gebrochen. Für sie war ganz klar, dass die Ukraine gegen Putin ebenso verteidigt werden müsse wie die prowestliche russische Opposition, die Beck unterstützt.
Grüne gegen Pazifist
Auf der vom Linken-Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko eröffneten Konferenz zu den Menschenrechten in der Ukraine wurde deutlich, wie stark auch in der Ukraine Andersdenkende und Oppositionelle verfolgt werden. Im ersten Panel berichteten JuristInnen und VertreterInnen von Menschenrechtsorganisationen über die repressive ukrainische Innenpolitik. Die Leiterin des Instituts für Rechtspolitik und Soziales Elena Berezhnaya holte aus einer Tasche einen schmutzigen Lappen. Damit wollte sie zeigen, wie der ukrainische Präsident mit der Verfassung umgehe. Ein Maulkorb sollte die massive Einschränkung der Meinungsfreiheit symbolisieren. Das bekommen auch oppositionelle MedienvertreterInnen zu spüren, die im zweiten Panel über vielfältige Repressalien berichteten. Das fängt bei Drohungen an und geht bis zum Mord an kritischen JournalistInnen. Wenn das in Russland geschieht, gibt es einen grossen Aufschrei in der westlichen Welt. Wenn es in der Ukraine geschieht, folgt das grosse Schweigen.
Die Namen der in den letzten Jahren in der Ukraine ermordeten JournalistInnen sind kaum bekannt. Es setzen sich anders als im Falle Russlands auch keine grünen SpitzenpolitikerInnen für sie ein. Es waren zivilgesellschaftliche AktivistInnen wie Lothar Eberhardt, die dafür gesorgt haben, dass der Name des Bloggers und Journalisten Ruslan Kotsaba einer grösseren Öffentlichkeit bekannt wurde. Er wurde inhaftiert, weil er sich als überzeugter Pazifist klar gegen den Krieg der Ukraine gegen die prorussische Bevölkerung im Osten des Landes ausgesprochen hat. Die Kampagne für seine Freilassung hatte Erfolg. Doch nach seinen engagieren Vortrag, informierte Kotsaba darüber, dass die ukrainische Justiz eine neue Anklage gegen ihn vorbereitet. Es kann also sein, dass er bei seiner Rückkehr wieder inhaftiert wird. Eigentlich müsste der Pazifist Unterstützung auch von Grünen bekommen. Doch für Rebecca Harms und andere FreundInnen der Ukraine sind ukrainische PazifistInnen suspekt, weil sie nicht zur Wehrbereitschaft beitragen.
Zweierlei Mass
Der Journalist Ulrich Heyden redete auf der Konferenz aus eigener Betroffenheit. Er war einer der wenigen deutschsprachigen JournalistInnen, die mit den Angehörigen der Menschen gesprochen haben, die am 2. Mai 2014 beim Sturm von NationalistInnen auf das Gewerkschaftshaus von Odessa, in das sich Angehörige des Anti-Maidan geflüchtet hatten, ums Leben kamen. Heyden schuf mit «Lauffeuer» einen der wenigen deutschsprachigen Filme, die sich mit dem blutigen Geschehen befassen. In den meisten Medien wurde der Film ebenso verschwiegen, wie die Proteste ausblieben, als Heyden aus der Ukraine ausgewiesen wurde. Wäre das in Russland geschehen, wäre Heyden der Held aller Talkshows gewesen und hätte die Unterstützung von allen Parteien bekommen.
Der Autor des »Neue Deutschland« war empört über die KP Chinas. In einem 1963 veröffentlichten Artikel bezichtigte er jene, sich in die inneren Angelegenheiten der »Bruderparteien« einzumischen. Zahlreiche Mitglieder der in der BRD illegalisierten KP hatten Broschüren chinesischer Kommunisten erhalten, in denen die Linie der osteuropäischen Kommunisten als »Revisionismus« scharf kritisiert worden ist. Der Streit zwischen der chinesischen und der sowjetischen KP eskalierte damals, was an der Basis diverser kommunistischer Parteien zu Verwirrung und Streit führte, darunter auch in der Bundesrepublik.
Was der empörte ND-Autor nicht wusste, offenbarte jetzt Mascha Jacoby einer größeren Öffentlichkeit. Die Hamburger Historikerin forscht über die Rezeption des Maoismus in der BRD und stieß dabei eher zufällig auf die Hilfe des Verfassungsschutzes in den frühen 1960er Jahren bei der Verbreitung maoistischer Schriften. In dem kürzlich im Verlag Matthes & Seitz erschienenen Band »Ein kleines rotes Buch – Die Mao-Bibel und die Bücher-Revolution der Sechzigerjahre« (28 €) fasste sie ihre Recherchen zusammen.
Der Verfassungsschutz hatte Karten mit den Anschriften ihm bekannter KP-Mitgliedern an die Bestelladresse der chinesischen Broschüren geschickt, die in westdeutschen Zeitungen, darunter in der »FAZ«, per Anzeigen beworben wurden. Es sei darum gegangen, die deutschen Kommunisten zu unterwandern, bekannte Anfang der 1970er Jahre der Präsident des Verfassungsschutzes Günther Nollau diese ungewöhnliche Hilfe für Peking. Das Amt registrierte mit Genugtuung, dass die chinesischen Publikationen tatsächlich unter westdeutschen Kommunisten intensiv diskutiert wurden. Manche der unfreiwilligen Empfänger meldeten die ungebetene Post aber auch sofort ihren führenden Genossen.
Der Verfassungsschutz war ungemein kreativ bei der Verbreitung des Maoismus in der Bundesrepublik. Laut Jacoby gründete er die – allerdings kurzlebige – Zeitschrift »Der 3. Weg« als sogenanntes Forum kritischer Kommunisten. Sogar eine Partei, die sich MLPD nannte, jedoch nichts mit der heute noch existierenden gleichen Namens gemein hatte, rief das Amt ins Leben. Sie hatte gesamtdeutschen Anspruch, löste sich aber bald wieder auf. Langlebiger war eine vom niederländischen Geheimdienst im Nachbarland gegründete maoistische Partei.
Jacoby betont, dass der Aufschwung maoistischer Ideen in der Folge der Rebellion von 1968 nicht allein mit dem Agieren des Verfassungsschutzes erklärt werden könne. Weltweit stießen während der chinesischen »Kulturrevolution« maoistische Vorstellungen auf großes Interesse unter Linken. Wie der Verfassungsschutz damit umging, harrt noch der Forschung. Fakt ist, dass die 68er nicht nur, wie oft zu hören und zu lesen, von der ostdeutschen Stasi infiltriert worden sind.
Eine Betriebsrätin von Toys R US wehrt sich gegen Mobbing durch die Filialleitung
»Toys R Us ist tot. Die größte Spielwarenkette der Welt ist von uns gegangen.« Was sich zunächst wie eine Trauerbekundung treuer Kund*innen nach der Insolvenz der US-Spielzeugkette liest, erweist sich schnell als Persiflage, wenn es weiter heißt: »Jahrelanges Leiden unter einem von blinder Profitgier getriebenen Management hat nun ein Ende.« Die Bürgerrechtsorganisation aktion./.arbeitsunrecht fordert mit diesen Sätzen die neuen Besitzer*innen der Deutschland-Filialen von Toys R Us auf, auch im Umgang mit Betriebsrät*innen und Gewerkschafter*innen vollkommen neu anzufangen. »Dazu gehört ein Einzelhandelstarifvertrag, für den die Belegschaft mit der Gewerkschaft ver.di seit Jahren kämpft. Dazu gehört ebenso die sofortige Einstellung von juristischen Nachstellungen und Zermürbungsmaßnahmen gegen die Würselener Gewerkschafterin Mona E.«, erklärt Jessica Reisner von der Arbeitsrechtsgruppe.
Die Betriebsrätin Mona E. hatte am 6. Juli erneut einen Prozesstermin am Aachener Arbeitsgericht. Sie kämpft gegen eine Abmahnung wegen des Vorwurfs, Arbeitszeit und Betriebsratstätigkeit vermischt zu haben. Damit geht eine jahrelange Auseinandersetzung in die nächste Runde. Bereits im November 2017 hatte der Gesamtbetriebsrat von Toys R Us auf die Situation aufmerksam gemacht. »Die Mitarbeiter*innen der Toys R US-Filiale in Aachen stehen seit Monaten unter Druck der Marktleitung. Sie sind inzwischen fast täglich dem Mobbing durch den stellvertretenden Marktleiter ausgesetzt«, heißt es in der Erklärung. Besonders die Betriebsrätin Mona E. sei mehrmals mit unterschiedlichen Begründungen abgemahnt worden. »Sie haben ein Gespräch eigenmächtig abgebrochen«, lautete etwa ein Grund für eine Disziplinarmaßnahme. Dabei hat Mona E. nichts anderes getan, als das, was eine gute Betriebsrätin tun sollte: bessere Arbeitsbedingungen und Löhne einfordern. Doch das macht sie offenbar schon zur Zielscheibe.
Immerhin wurde der stellvertretende Filialleiter von Aachen-Würselen versetzt – aus Sicht der Unterstützergruppe von Mona E. ein hoffnungsvolles Zeichen. Er war seit Sommer 2017 in der Filiale in Aachen-Würselen eingesetzt gewesen, zum zweiten Mal. Nach Aussage des Gesamtbetriebsrats sei er bereits in seiner ersten Amtszeit bis 2012 bei den Mitarbeiter*innen gefürchtet gewesen. Mehrere hätten gesundheitliche Schäden davongetragen.
Es ist nicht das erste Mal, dass die Spielzeugkette durch ihren rüden Umgang mit Gewerkschafter*innen auffällt. In Heilbronn erinnert man sich an einen ähnlichen Fall. So eine Geschichte habe sie in ihrem Bezirk noch nicht erlebt, erklärte die dortige ver.di-Vorsitzende Marianne Kugler-Wendt zum jahrelangen Mobbing der Betriebsrätin Simone H.
Die Beschäftigten der Heilbronner Filiale hatten sich mehrheitlich der Gewerkschaft angeschlossen, weil sie sich für eine tarifgemäße Bezahlung einsetzen wollten. Der Ärger begann, als die Schichteinteilung geändert werden sollte. Dazu ist die Einwilligung des Betriebsrats nötig, die Simone H. verweigerte. Auch wenn sie vor Gericht ihre Abmahnungen erfolgreich zurückweisen konnte und als Betriebsrätin wiedergewählt wurde, verließ sie das Unternehmen schließlich. Durch die Auseinandersetzung war das Klima auch unter den Kollegen vergiftet. Ein Teil der Belegschaft sei gegen die Betriebsrätin aufgehetzt worden, sagt ver.di. So wurden in der Filiale sogar Unterschriften gegen die Frau gesammelt.
Ob sich in Aachen mit dem Wechsel im Management der Umgang mit Betriebsrät*innen ändert, muss sich noch zeigen. Der berüchtigte Filialleiter ist schließlich nicht entlassen worden, sondern in der Betriebshierarchie sogar aufgestiegen. Mona E. wird jedenfalls weiter Unterstützung brauchen. Ihr Prozess wurde auf den 8. November vertagt.
Auch ein Jahr nach den Gipfelprotesten in Hamburg wird noch immer über Repression und Riots geredet.
Justiz, Politiker_innen aller Parteien und die Medien thematisieren noch immer die militanten, die den Gipfel begleiteten. Die Fahndung nach angeblich Beteiligten wurde mittlerweile europaweit ausgedehnt. Linke sehen sich im Anschluss an den Gipfel mit einer verschärften Repression konfrontiert. Die öffentliche Fahndung nach angeblichen Militanten, bei der die Unschuldsvermutung fallengelassen wurde, die Kampagne gegen linke Zentren und schließlich das Verbot des Vereins Indymedia linksunten sind nur einige der Stichworte.
Es hat schon Tradition, dass von vielen Gipfelprotesten am Ende vor allem die Repression in Erinnerung bleibt. So ist der Hamburger Kessel 1986 heute noch immer bekannt, weil er auch Rechtsgeschichte geschrieben hat. Weniger gegenwärtig ist, dass am Vortag eine Anti-AKW-Demonstration, die nach dem Gau von Tschernobyl das Gelände des AKW Brokdorf wieder zur grünen Wiese machen wollte, von der Polizei zerschlagen wurde. In den Hamburger Kessel landeten Tausende, die gegen die Polizeirepression auf die Straße gegangen sind. Auch von der Serie der Gipfelproteste zwischen 1999 und 2003 ist heute vor allem die massive Polizeirepression in Erinnerung geblieben. Höhepunkt war der G8-Gipfel 2001 in Genua, wo Carlo Giuliani von einem Polizeiwagen überfahren und hunderte Demonstrant_innen aus vielen Ländern schweren Misshandlungen und Folter bei der Verhaftung und in Polizeikasernen ausgesetzt waren. Dazu gab es viele Dokumentationen, Veranstaltungen und auch langwierige juristische Verfahren. Die politischen Anliegen der Gipfelproteste gerieten dadurch in den Hintergrund.
Aufbruch nach Seattle
Nach den Massenprotesten von Seattle im Jahr 1999 war die globalisierungskritische Bewegung auch in Deutschland zu einem medialen Thema geworden. Bei der folgenden Serie der Gipfelproteste war bis 2001 eine Aufbruchsstimmung zu verzeichnen. Eine Generation vor allem jüngerer Menschen beteiligte sich daran unter der Parole „Eine andere Welt ist möglich“. Das war ein Antidot zum nach dem Ende des Nominalsozialismus beschworenen Ende der Geschichte. Die Gipfelproteste waren mit einem durch die technischen Entwicklungen beförderten Medienaktivismus verknüpft. Indymedia wie zahlreiche linke Videogruppen sind damals auf den Plätzen des Widerstands geboren worden und berichteten in Echtzeit über die Proteste wie über die Repression. Plötzlich standen auch Elitentreffen, die jahrelang ohne große Aufmerksamkeit über die Bühne gegangen waren, im Focus des Widerstands. Nur zwei Beispiele sollen das illustrieren. Die Proteste gegen das World Economic Forum (WEF) in Davos waren in den Jahren 2000 bis 2004 so massiv, dass von den Organisator_innen eine Verlegung in die USA diskutiert wurde. Das Treffen gibt es immer noch. Nur die Proteste sind stark geschrumpft. Schon damals wurde von linken Gruppen ein Eventhopping moniert. Es würden zu viele zeitliche und finanzielle Ressourcen in die Gipfelproteste gesteckt und die Verankerung im Stadtteil oder im Betrieb vernachlässigt, heißt es.
Alltagsproteste und Mikro-Riots
Mit der Bankenkrise und der Occupy-Bewegung begann in Deutschland die kurze Zeit der Blockupy-Proteste, die diese Kritik berücksichtigte. Der Widerstand gegen den EZB-Neubau in Frankfurt/Main sollte mit den Alltagskämpfen von Erwerbslosen, Mieter_innen oder Lohnabhängigen in Verbindung gesetzt werden. Das klappte in Frankfurt/Main ansatzweise auf dem Höhepunkt der Bankenkrise. So wurde beim Zeil-Aktionstag im Rahmen der Blockupy-Proteste 2013 die Kritik an den globalen kapitalistischen Produktionsverhältnissen mit dem Niedriglohnsektor im Einzelhandel verknüpft. An den Blockupy-Protesten beteiligten sich auch Belegschaften, die sich in Arbeitskämpfen befanden. Dazu gehörte Maredo oder bei den letzten Blockupy-Aktionen eine Gruppe von Amazon-Arbeiter_innen aus Leipzig und Bad Hersfeld gemeinsam mit außerbetrieblichen Unterstützer_innnen. Es gab zudem mehrere transnationale Konferenzen zu Streiks und Arbeitskämpfen im Zusammenhang mit der Blockupy-Mobilisierung. Nach der Eröffnung der EZB gab es einen ersuch, Blockupy vor das Bundesarbeitsministerium in Berlin zu verlegen und so mit den Kämpfen gegen Hartz IV und Niedriglohn zu verbinden, was gescheitert ist. Bezüge zu Alltagskämpfen waren bei den Gipfelprotesten in Hamburg zumindest theoretisch bei der maßgeblich vom Ums-Ganze-Bündnis organisierten Hafenblockade am 7.Juli festzustellen. In den Aufrufen wurde der Hafen als Teil der Logistikketten des internationalen Kapitals kritisiert und die Beschäftigen wurden in einen Brief angesprochen. Obwohl ein großer Teil der Blockupy-Organisator_innen an den Vorbereitungen der G20-Proteste beteiligt war, wurde die Debatte um eine Verstetigung und Koordinierung nach Hamburg nicht mehr aufgenommen.
„Ich sehe nur eine völlig fraktionierte Linke, eher Restbestände aus einer untergegangenen Alt-Linken Epoche. Die G-20-Protest, positiv gesehen, verweisen darauf, dass die umfassende Besetzung des gesamten Lebens durch den Kapitalismus doch eine Grenze hat und es einen unantastbaren Rest des Lebens gibt, der nicht besiegt werden kann“, erklärt der Hamburger Verlager Karl-Heinz Dellwo auf Anfrage.. Achim Szepanski, der den Blog https://non.copyriot.com
betreibt, antwortet auf die Frage, ob die Gipfelproteste die Linke gestärkt haben, philosophisch.
„Die Geschichte der Sieger führt die Niederlagen der Subalternen als Lohn, oder, um es mit Walter Benjamin zu sagen, als Beute mit sich. Aber es gab auch in Hamburg während des Mikro-Riots etwas, was dieser Art der Geschichtsschreibung entgeht: der Bruch mit dem Determinismus, der Augenblick, an dem das polizeiliche Management der Situation gesprengt wurde, eine Abweichung, die im Nachhinein von der Geschichtsschreibung eliminiert werden muss, um die Kausalität wieder in Kraft zu setzen. Es darf auf keinen Fall der Eindruck aufkommen, als hätte es da für die Herrschenden eine instabile Situation gegeben.“
Damit spricht Szepanski die Riots an, die auch nach einem Jahr eine politische Debatte nicht nur in Teilen der außerparlamentarischen Linken bestimmen. „Aber vielleicht wird man dereinst sagen können, die Debatte über die Randale am Rande des G20-Gipels hat mehr gebracht, als es zunächst den Anschein hatte“, schrieb Tom Strohschneider im der LINKEN nahestehenden Tageszeitung Neuen Deutschland. Wurde noch nach dem Gipfelprotesten 2007 in Heiligendamm selbst in großen Teilen der außerparlamentarischen Linken Militanz verurteilt, gilt nach Hamburg eine Haltung, die Karl-Heinz Dellwo so formuliert hat: „Nicht distanzieren“. Teile der IL, das Ums-Ganze-Bündnis, Gewerkschafter_innen aus NRW, selbst Organisationen wie attac sind nach Hamburg nicht in die Distanzierungsfalle gestolpert. Als Ende Mai 2018 eine hochrangig mit Senatspolitiker_innen bestückte Stadtteilversammlung im Hamburger Schanzenviertel über G20- und die Folgen tagte, musste die anwesende FAZ-Korrespondentin irritiert konstatieren, dass von der Mehrheit der Bewohner_innen linke Projekte ausdrücklich verteidigt und eine Rednerin der IL beklatscht hat, während der Hamburgs Innensenator Andy Grote und der für den Polizeieinsatz im letzten Jahr verantwortliche Helmut Dudde ausgebuht und zum Rücktritt aufgefordert wurden. Das im Schanzenviertel die antilinke Kampagne nicht gezogen hat, liegt allerdings ans einer jahrzehntelangen linken Stadtteilarbeit. Eine Kritik an den Riots aus solidarischer Perspektive formuliert Sebastian Lotzer in seinem kürzlich erschienen Band „Winter is Coming“, in dem eine Verbindung zwischen den sozialen Kämpfen in Frankreich auch auf die G20-Proteste zieht.
„Das Drama großer Teile jener „politischen Aktivisten“, die den Riot in der Schanze inszeniert haben, besteht eben darin, nicht mehr über eine Begrifflichkeiten zu verfügen, das Geschehen in den Kontext der realen gesellschaftlichen Situation zu stellen, geschweige denn, aus den Ereignissen Perspektiven zu entwickeln.“
Peter Nowak
Zum Weiterlesen:
Lotzer Sebastian, Winter is Coming, Soziale Kämpfe in Frankreich, 2018, Bahoe Books, 135 Seiten, ISBN: 978-3-9022-79
ak 639 vom 19.6.2018
https://www.akweb.de/ak_s/ak639/index.htm
Wegen einer Satireaktion mit einem Schulz-Double verklagte die SPD die »Aktion Arbeitsunrecht«
Ungewöhnliche Töne kamen am 16.12.2017 vom ehemaligen SPD-Bundestagskanzlerkandidaten Martin Schulz auf einer Kundgebung in seiner Heimatstadt Würselen in Nordrhein-Westfalen. »Hartz IV – das waren wir. Aber ich verspreche Euch, wir haben uns geändert«, rief er. 15 Minuten versuchte er das Publikum von der neuen, sozialen SPD zu überzeugen. Es gab viel Gelächter. Denn schnell war klar, dass hinter dem »wahren Martin« der Kölner Mietrebell und Kandidat der LINKEN bei der NRW-Landtagswahl, Karl Gerigk, steckte, der wegen seines Widerstands gegen seine Zwangsräumung bundesweite Bekanntheit erlangte.
Der Sketch könnte jetzt juristische Folgen für das Bündnis »Aktion Arbeitsunrecht« haben, das die Veranstaltung organisierte. Es setzt sich für Gewerkschafter*innen und Beschäftigte ein, die gemobbt werden. Dazu gehörte Mona E, Betriebsrätin bei der Spielwarenkette Toys R US. Am dritten Advent letzten Jahres organisierte die »Aktion Arbeitsunrecht« vor der Würselener Filiale des Einzelhändlers eine Solidaritätskundgebung für die Betriebsrätin mit dem »Wahren Martin« als Überraschungsgast.
Zuvor hatte Werner Rügemer vom Bündnis »Aktion Arbeitsunrecht« den SPD-Mann persönlich zu der Kundgebung eingeladen. Dessen Referent antwortete, dass Schulz die Einladung aus Termingründen nicht annehmen könne. Daraufhin verschickte die Initiative eine satirische Pressemitteilung mit einem angeblichen Brief von Schulz, in dem er ankündigte, er werde auf der Veranstaltung eine Würseler Erklärung verlesen, die einen Kurswechsel der SPD und eine Abschaffung der Hartz-IV-Gesetze beinhalte. Der WDR hatte diese Pressemeldung damals ernst genommen und mit einem Großaufgebot zum Schulz-Auftritt nach Würselen fahren wollen. Das wurde erst abgeblasen, nachdem auf telefonische Nachfrage auf den Charakter der Veranstaltung hingewiesen wurde.
Wegen des satirischen Schreibens hat der SPD-Bundesvorstand bereits am 17. Dezember 2017 eine Anzeige wegen Urkundenfälschung gegen Rügemer erstattet. Seitdem ermitteln das LKA Berlin und die Kölner Kripo. Der Pressesprecher der Initiative, Elmar Wigand, beklagt nicht nur die Humorlosigkeit der SPD-Führung. »Es geht um die Freiheit der Kunst und der Meinungsäußerung – hier der Satire. Es geht auch um den Schutz vor Schnüffeleien und Überwachung«, erklärte Wigand gegenüber dem »nd«. Das LKA hatte sich im Rahmen der Ermittlungen Zugang zum E-Mail-Konto von Werner Rügemer verschafft. Für Wigand ist die Anzeige ein weiteres Beispiel für eine »SPD im Selbstzerstörungsmodus«.
Die Kundgebung vor der Filiale zeigte auch bei Toys R US Wirkung. Ein Vorgesetzter, der von den Aktivisten als hauptsächlich verantwortlich für das Mobbing von Mona E. benannt wurde, soll inzwischen in eine andere Filiale versetzt worden sein. Doch die juristischen Auseinandersetzungen gehen weiter. Am 5. Juli findet vor dem Aachener Arbeitsgericht der nächste Prozess statt. Dann kehrt auch der »wahre Martin« zurück. Karl Gerigk hat angekündigt, dass er dort seine Schulz-Satire ebenso aufführen wird wie am 13. Juli vor einer Real-Filiale in Düsseldorf. Dort protestieren die Aktivisten erneut gegen das Mobbing von Betriebsrät*innen.
Die britische Kosmetikkette Lush sorgte kürzlich mit Plakaten für Diskussionen, auf denen sie die Unterwanderung linker Gruppen durch Polizeispitzel kritisierte und Aufklärung forderte. Jason Kirkpatrick gehörte zum Freundeskreis eines Mannes, der sich als Polizeispitzel herausstellte.
Was war auf den Plakaten von Lush zu sehen?
Es gab zwei Versionen.
in neuer Film befasst sich anlässlich des Hamburger G20-Gipfels sehr kenntnisreich und künstlerisch gelungen mit der deutschen Polizeiarbeit. Doch es fehlen die Gründe für den Protest und die Menschen, die sie getragen haben
Schwerverletzte Demonstranten liegen auf der Straße, Fahnen und Transparente liegen daneben. Davor stehen Polizisten mit Knüppel und Pfefferspray. Eingeblendet werden mitgehörte Funksprüche von Polizisten, die freudig erklären, dass man die Linken jetzt plattgemacht habe, garniert mit derben Schimpfwörtern.
Das war keine Szene aus Russland oder der Türkei, sondern aus Hamburg währen der G20-Proteste vor fast einem Jahr. Die Szenen finden sich in dem sehenswerten Film Hamburger Gitter[1], der im Untertitel deutlich macht, wo sein Focus liegt.:“Der G20-Gipfel als Schaufenster moderner Polizeiarbeit.“
Dem Filmteam von Leftvision[2] ist ein Kompliment zu machen. Sie haben ihren Anspruch vollständig eingelöst und trotzdem einen kurzweiligen, auch technisch hervorragenden Film produziert. Die Proteste während des Hamburger G20-Gipfels werden nur spärlich gezeigt. Es geht immer um die Polizeiarbeit. Da wird gezeigt, wie die Polizei Zelte wegträgt, obwohl es zu dieser Zeit einen Gerichtsbeschluss gibt, der das Camp erlaubt. Da kommen mehrere Protestteilnehmer zu Wort, die von der Polizei beschimpft und gedemütigt oder wie Leo sogar mit dem Tod bedroht wurden. „Da wurde ich ganz devot, weil ich wirklich dachte, die bringen mich jetzt um“, sagt der Mann.
Ein solcher Satz bleibt genau wie die Szenen der Polizeibrutalität mit den verletzt auf der Straße liegenden Demonstranten in Erinnerung. Es kann also 2017 in Deutschland durch das Agieren der Polizei ein Klima erzeugt werden, das bei Festgenommenen Todesängste hervorruft. Ähnliche Erfahrungen haben auch zwei Mitglieder der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi in NRW, die ebenfalls in Hamburg festgenommen wurden. Diese Polizeitaktiken erinnern an die chilenischen Nächte in Genua[3] 2001, als mittlerweile juristisch bestätigt[4] Menschen gefoltert und mit dem Tod bedroht wurden. Doch im Gegensatz zu Genua wird über die Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei in Hamburg noch immer wenig berichtet.
Polizeigewalt ist nicht durch zu viele Polizisten mit autoritärem Charakter zu erklären
Noch immer steht der Miniriot im Schanzenviertel im Mittelpunkt der Berichterstattung. Dabei gab es auch in Genua sehr umstrittene militante Aktionen. Doch die Kritik an Menschenrechtsverletzungen der Polizei muss getrennt davon behandelt werden. Denn Riots sind keine Gründe für die Rechtfertigung von Polizeibrutalität. Im Film wird noch einmal daran erinnert, dass der Hamburger Bürgermeister von Hamburg Olaf Scholz ebenso wie der Innensenator vehement bestritten, dass es überhaupt Polizeigewalt gibt.
Wer im Sommer letzten Jahres faktengestützt wie Jutta Ditfurth beim Maischberger-Talk[5] von Polizeigewalt in Hamburg sprach, war einer massiven Hetzkampagne ausgesetzt. Daher ist der Film „Hamburger Gitter“ sehr wichtig. Denn, so die These des Filmteams, die Polizeigewalt in Hamburg kündigte sich im Vorfeld mit Gesetzesverschärfungen an und sie wirkt bis heute weiter mit der Kampagne gegen linke Zentren, die mit den G20-Protesten von Hamburg oft nichts zu tun haben, mit einer europaweiten Fahndung nach angeblichen Straftätern bei den G20-Protesten, wobei die Unschuldsvermutung faktisch außer Kraft gesetzt wird, mit harten Urteilen gegen Verhaftete.
Als Gesprächspartner kommen im Film neben einigen G20-Gegnern Rechtsanwälte und linke und linksliberale Journalisten und Kriminologen zu Wort, die Erklärungsansätze für das Agieren der Polizei suchen. So betonte der Frankfurter Soziologe Daniel Loik[6], dass es unterschiedliche Polizeitypen gibt. Ein Polizist in einer ländlichen Umgebung übt eine ganz Arbeit aus als die Sondereinsatzkommandos, die bei Protesten wie in Hamburg zum Einsatz kommen. Angenehm ist, dass die Gesprächspartner im Film nicht als Politikberater auftreten und konkrete Vorschläge machen, wie alles besser laufen könnte. Sie geben vielmehr Hinweise darauf, dass die Polizeigewalt eben nicht nur damit zu erklären ist, dass eben viele autoritäre Charaktere bei der Polizei arbeiten.
Es geht um Strukturen, und so wird daran erinnert, dass die Hamburger Polizei noch bis vor einigen Jahren beim Training für den Einsatz gegen linke Proteste Lehrmaterial über die Niederschlagung des Hamburger Aufstands von 1923 zur Grundlage hatte. Hier wird die politische Dimension sichtbar, die von einigen Gesprächspartnern direkt angesprochen wurde. Dazu gehört der Verlager Karlheinz Dellwo[7], der kürzlich das Buch „Riot – Was war los in Hamburg“[8] veröffentlichte, das sich nicht nur auf die Polizeiarbeit und Repression konzentriert, sondern sich auch mit den Protesten und den nach Meinung der Autoren oft vorschnell und zu Unrecht als unpolitisch gebrandmarkten Riots aus einem anderen Blickwinkel befasst.
Riots statt Streiks?
In dem Buch wird ein wichtiger Text des US-amerikanischen Wissenschaftlers und Journalisten Joshua Clover[9] vorgestellt, der die Zunahme der Riots mit dem Ende der großen Fabriken und der fordistischen Arbeiterbewegung in Verbindung bringt[10]. In einem Interview[11] mit der Jungle World spricht Clover sogar von einem Zeitalter der Riots, während in der fordistischen Arbeiterbewegung Streiks die dominierende Widerstandsform war.
Diese schematische Gegenüberstellung kann man aus vielen Gründen kritisieren. Schließlich waren Streiks in der Geschichte oft von riotähnlichen Aufständen begleitet. Zudem gibt es auch nach dem Ende der großen Fabriken Arbeitskämpfe in Sektoren, die lange Zeit von der klassischen Arbeiterbewegung als kaum organisierbare Sektoren galten. Dazu gehören die zunehmenden Arbeitskämpfe im Caresektor[12], aber auch im Bildungswesen.
So macht der mehrere Monate andauernde Arbeitskampf der studentischen Beschäftigten an Berliner Hochschulen[13] Schlagzeilen und sorgte für einen Polizeieinsatz. Auf Anweisung der Leitung der Technischen Universität Berlin räumte die Polizei in der letzten Woche das von Streikenden besetzte Audimax der Hochschule. Die Berliner Gewerkschaft und Wissenschaft kritisierte[14] die Aktion als unverhältnismäßig und der bundesweite Studierendenverband fzs[15] sprach von einer zunehmenden staatlichen Repression in den Hochschulen in Deutschland.
Wir nehmen bundesweit einen verschärften Umgang mit studentischen Protesten sowie Student*innenvertretungen war. Student*innen sind kritisch denkendende Individuen, für die Hochschulleitungen scheint dies aber nur ein Lippenbekenntnis zu sein. Stattdessen wird Kritik an Hochschulen und dem Bildungssystem als störend wahrgenommen.
Eva Gruse vom Vorstand des freien Zusammenschlusses von student*innenschaften (fzs)
Nicht nur bei universitären Arbeitskämpfen, sondern auch, wenn sich bei einer Werbeveranstaltung einer Immobilienfirma unter dem Deckmantel einer Ringvorlesung[16] an der TU-Berlin Kritiker zu Wort melden, schreitet die Polizei ein und erteilt ihnen Hausverbot, wie das Forum Urban Research and Intervention in einem Offenen Brief[17] kritisiert.
Die Inhalte und die Menschen, die sie vertreten, kommen in dem Film zu kurz
Alleine diese Beispiele zeigen, dass das Thema Staatsrepression nicht nur am Beispiel der G20-Proteste in Hamburg diskutiert werden sollte. Es braucht längst keine Riots, es reicht auch eine völlig friedliche Besetzung im Rahmen eines Arbeitskampfes wie an der TU-Berlin, um die Staatsmacht auf den Plan zu rufen. Gleichzeitig werden von den Staatsapparaten die Ereignisse von 1968 abgefeiert.
Hier ist auch eine Kritik angebracht, die weniger mit dem Film „Hamburger Gitter“, sondern stärker mit der politischen Situation in Deutschland zu tun hat. Wie schon beim Film „Festival der Demokratie“[18], der einen ähnlichen Ansatz wie „Hamburger Gitter“ hat, aber stärker dokumentarisch ist, sieht man auch hier wenig von den Protesten und ihren Trägern. Aktivisten kommen nur im Zusammenhang der Polizeirepression zu Wort. Da bleibt offen, was die Gründe für sie waren, in Hamburg zu protestieren.
Dass von den Gipfelprotesten oft nur die Repression in Erinnerung bleibt, ist nichts Neues. Das war bei vielen politischen Großereignissen ähnlich. Es ist aber auch ein Ausdruck für die Schwäche der Linken in Deutschland. Dass es auch anders geht, zeigt eine Vidoearbeit der US-Künstlerin Andrea Bowers[19], die nur wenige Meter vom Kino entfernt, in dem „Hamburger Gitter“ in Berlin Premiere hatte, in der Galerie Capitain Petzel[20] zu sehen ist. Es sind die Videos „Disrupting“ und „Resisting“ und „J20 & J21“ zu sehen[21].
In knapp 80 Minuten werden die Proteste anlässlich der Amtseinführung von Trump in Washington gezeigt. Es gab eine große Koalition von Frauenorganisationen, von Initiativen, die sich um ökologische Fragen und um den Kampf für Arbeiterrechte engagieren. Man sieht immer wieder Menschen, die Transparente tragen und Parolen skandieren. Man sieht ihr Engagement, ihre Wut und auch ihre Freude. Es gibt lustige Szenen, wenn die Trump-Gegner mit den Unterstützern des Präsidenten zusammentreffen. Und es gibt massive Polizeigewalt und Verletzungen. Doch nicht sie, sondern die Protestierenden stehen im Mittelpunkt der Filme. Wenn es auch in Deutschland möglich wäre, nach politischen Großevents wie dem G20-Gipfel in Hamburg Filme zu drehen, in denen nicht die Repression, sondern die Proteste und ihre Trägerinnen und Träger im Mittelpunkt ständen, wäre das ein Erfolg für die Linke in dem Land.
Peter Nowak
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Nach der Wahl in der Türkei melden sich in Deutschland noch mal die Heuchler zu Wort. Auch manchem Trump-Kritiker hierzulande geht es eher um verletzten Nationalstolz als um Emanzipation
In der Türkei haben sämtliche Oppositionsparteien den Wahlsieg von Erdogan bei der Präsidentenwahl erstaunlich schnell anerkannt. Auch im Ausland stellen sich Erdogan-Gegner auf eine langjährige Herrschaft ihres Kontrahenten mit der neuen Machtfülle nach der geänderten Verfassung ein.
Erstaunlich verhalten waren die Töne von Kristian Brakel von der Böll-Stiftung Istanbul[1] im Deutschlandfunk-Interview[2]. Er drückte sogar die Hoffnung aus, dass Erdogan jetzt, wo er sein Wahlziel erreicht hat, einen weniger polarisierenden Regierungsstil praktizieren werde.
Sind Deutsch-Türken Wähler zweiter Klasse?
Derweil übt sich der grüne Politiker Cem Özdemir in einer für seine Zunft seltenen Profession der Wählerbeschimpfung[3]. Bezogen auf Autokorsos von feiernden Erdogan-Anhängern in deutschen Städten monierte Özdemir:
Die feiernden deutsch-türkischen Erdogan-Anhänger jubeln nicht nur ihrem Alleinherrscher zu, sondern drücken damit zugleich ihre Ablehnung unserer liberalen Demokratie aus. (…) Das muss uns alle beschäftigen.
Cem Özedemir[4]
Nun würde man sich solche harschen Töne von allen Parteien gegenüber den Wählern von AfD und Co. wünschen. Da kommen aber fast immer die Standardfloskeln, dass man natürlich die Sorgen und Nöte der Wähler verstehe und sie auch bestimmt in der Mehrheit keine Rassisten seien. Özdemirs Äußerungen machen schon den Eindruck, als seien Deutsch-Türken Wähler zweiter Klasse.
Zumal schon wie bei den letzten Wahlen der Türkei auch dieses Mal nicht die Mehrheit aller in Deutschland lebenden Menschen mit türkischen Wahlrecht Erdogan gewählt haben, sondern nur die, die sich an der Wahl beteiligt haben.
Wenn dann in vielen Medien behauptet wird, „die Türken“ in Deutschland hätten mit Mehrheit Erdogan gewählt, ist das falsch. Wäre es nicht angebracht, das klarzustellen, bevor man die Wahlentscheidung der Mehrheit der türkischen Wähler kritisiert, die in Deutschland an der Wahl teilgenommen haben?
Und wie passt es zu Özdemirs Diagnose, dass die Erdogan-Wähler die Ablehnung der liberalen Demokratie ausdrücken, obwohl sie in Deutschland mehrheitlich Parteien wie SPD, Grünen und Linken wählen würden?
Wie tragfähig ist die Unterscheidung von liberaler versus illiberaler Demokratie?
Tatsächlich wird die Unterscheidung zwischen liberaler versus illiberale Demokratie in Deutschland besonders gerne bemüht, weil man sich doch auf der Seite der Guten wähnt und damit Machtansprüche begründet. In der Praxis ist diese Unterscheidung längst aufgeweicht.
Der „illiberale Demokrat“ Erdogan ist anerkannter Partner beim Flüchtlingsdeal, der der Festung Europa möglichst viele Migranten fernhalten soll. Gegen linke türkische Oppositionelle, die häufig gegen türkischen Staatsterrorismus schon kämpften, als von Erdogan noch niemand sprach, geht die deutsche Justiz mit voller Härte vor und nutzt dabei auch juristische Beweismittel aus der „illiberalen Demokratie“ in der Türkei.
Da sei nur auf das sich mehrere Jahre hinziehende TKPML-Verfahren in München[5] hingewiesen oder auf den aktuellen Kampf von Gülaferit Ünsal[6] um ein Asylverfahren in Berlin. Die Stadtplanerin wurde als linke Gewerkschafterin in der Türkei und dann nach dem Paragraph 129b auch von der deutschen Justiz verurteilt.
Nach ihrer Freilassung darf sie nicht aus Deutschland ausreisen, bekommt aber auch kein Asylverfahren. Auch die Verfolgung linker kurdischer Aktivitäten wurde in den letzten Monaten in Deutschland sogar noch intensiviert[7]. Es wurden sogar ganze Bucheditionen beschlagnahmt[8]. Von Özdemir hat man dazu keine Kritik gehört.
Doch mancher kurdische oder türkische Oppositionelle wird sich so seine eigenen Gedanken über liberale und illiberale Demokratien in der Praxis zu machen. Medien wie der Spiegel betonen nun, dass der ungarische Ministerpräsident sowie Russlands und Irans Präsident Erdogan zu seiner Wiederwahl gratulierten[9].
Das haben auch alle anderen Präsidenten getan, weil es zum Machtritual gehört. Doch im Spiegel soll die Reihung dieser Namen suggerieren, dass sich da die Phalanx der Illiberalen aus aller Welt gefunden hat.
Die Rechte hetzt gegen Erdogan-Anhänger in Deutschland und bewundert Erdogan
Doch hier wird auch die Heuchelei der Kräfte rechts von der Union deutlich. Seit Wochen läuft eine Kampagne gegen zwei Fußballspieler, die sich mit Erdogan ablichten ließen. Doch insgeheim bewundern sie den türkischen Präsidenten; nur offen zum Wahlsieg gratulieren wie ihr Idol Orban können sie auf rechten Internetseiten nicht.
Dort nahm man dafür den Erdogan-Kritiker Deniz Yücel von rechts ins Visier und hätte ihm noch längere Haft in türkischen Gefängnissen gewünscht. So wird nach der Erdogan-Wahl nur wieder die Heuchelei der liberalen und illiberalen Demokraten deutlich, die sich im Zweifel näher sind, als sie denken.
Mit Luther gegen Trump?
Diese Heuchelei erleben wir auch ständig bei vielen Trump-Kritikern in Deutschland. Nur selten bringt es jemand so klar auf den Punkt, wie der von manchen als links bezeichnete Theologe und DDR-Kritiker Friedrich Schorlemmer in der Tageszeitung Neues Deutschland[10].
Schon in der Überschrift „Ungehobelt, unberechenbar, unhöflich“ hat er drei Attribute aufgelistet, die in Deutschland schon lange US-Bürgern nachgesagt werden. Wenn er dann über eine Welt nachdenkt, die „von einem Trump-ler beherrscht, ja an der Nase herumgeführt wird“ hat er von links bis rechts alle an seiner Seite, die schon immer vor einer amerikanischen Weltherrschaft warnten. Dann kommt der nationale Schulterschluss, wenn es heißt:
Und wir Deutschen stehen auch ziemlich schlecht da. Wir haben einen schlechten Ruf, weil wir so „erfolgreich“ sind. Und statt selber auch konkurrenzfähige und gute Autos zu produzieren, werden die Deutschen verantwortlich dafür gemacht, dass sich US-amerikanische Autos schlechter verkaufen.
Friedrich Schorlemmer, Neues Deutschland[11]
Nun fragt man sich zunächst, ob es eine Satire ist, aber nein, Schorlemmer meint es ernst, wenn er das deutsche „Wir“ aufruft. Das hat nicht etwa einen schlechten Ruf, weil es so erfolgreich beim Massenmord an den Juden und dem Anfachen von zwei Weltkriegen war. Nein, die Neider gönnen den Deutschen den Volkswagen nicht. Und am Ende ruft Schorlemmer noch einen deutschen Herold gegen Trump herbei.
Luther sprach 1524 so Klartext, dass selbst Trump verstehen könnte, was gemeint ist: Soll man denn zulassen, dass lauter Flegel und Grobiane regieren, wenn man es sehr wohl besser machen dann?
Friedrich Schorlemmer, Neues Deutschland
Dass dieser Luther zeitgleich zum Massakrieren aufständischer Bauern und zur Eliminierung von Juden aufgerufen hat, ist Schorlemmer natürlich kein Wort wert. Die Publizistin Hengameh Yaghoobifarah[12] hat in einer Taz-Glosse[13] anlässlich der Einführung eines Luther-Feiertags in mehreren Bundesländern Luther-Fans wie Schorlemmer ins Stammbuch geschrieben:
Hardcore-Fans von Luther können ihn eigentlich nur feiern, indem sie von der Arbeitswut geritten das Neue Testament nehmen und damit antisemitische und sexistische Straftaten begehen. Wie sonst zelebriert man einen Mann, der Frauen als Unkraut bezeichnet, das zu nichts außer Hausarbeit gut ist, und der brennende Synagogen sehen will?
Hengameh Yaghoobifarah, Taz
Das muss man Schorlemmer nicht unterstellen. Doch dass ihm in der Kritik gegen Trump nur der Aufruf an die Deutschen einfällt und er dann Zuflucht zu Luther nimmt, zeigt, dass manche Trump-Kritiker nicht die Sorge um Emanzipation und Menschenrechte, sondern verletzter Nationalstolz antreibt.
Peter Nowak
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Die Justizministerkonferenz hat kürzlich die Aufnahme von Strafgefangenen in die gesetzliche Rentenversicherung angemahnt. Die Bundesländer verschleppen dieses Vorhaben seit 41 Jahren.
»Auf Initiative von Berlin hat die Justizministerkonferenz am 7. Juni 2018 beschlossen, dass die Einbeziehung von Strafgefangenen und Sicherungsverwahrten in die gesetzliche Rentenversicherung sinnvoll ist.« Mit dieser kurzen Pressemitteilung weckte die Berliner Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung in der vergangenen Woche Hoffnung bei Tausenden Gefangenen. Die Justizministerinnen und -minister der Länder bekundeten auf ihrem jüngsten Treffen die Absicht, endlich ein Gesetz zu befolgen, das bereits 1977 vom Bundestag in Bonn beschlossen worden war. Allerdings war es nie in Landesrecht übernommen worden, die Gegner des Vorhabens hatten stets auf fehlendes Geld verwiesen (Jungle World 48/2015). Ein weiterer Grund dürfte darin bestehen, dass Strafgefangene keine politische Lobby haben.
Die Folgen sind der juristischen Ignoranz sind gravierend: Selbst wer im Gefängnis jahrelang geschuftet hat, muss wegen der fehlenden Rentenbeiträge aus der Haftzeit mit einiger Wahrscheinlichkeit mit Armut im Alter rechnen. Auch eine gewerkschaftliche Organisierung wird Strafgefangenen verweigert, die 2014 gegründete Gefangenengewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO) wird bislang nicht als Gewerkschaft anerkannt. Die GG/BO forderte in den vergangenen vier Jahren neben dem Mindestlohn für Strafgefangene wiederholt auch deren Einbeziehung in die Rentenversicherung. Wie eng die beiden Forderungen zusammenhängen, wird deutlich, wenn man die Grundlage der Rentenberechnung betrachtet. Würde sie sich an den Dumpinglöhnen orientieren, für die Gefangene derzeit schuften müssen, würde sich auch bei ihrer Einbeziehung in die Rentenversicherung an der Altersarmut nichts ändern. Das betont auch der Sprecher der GG/BO, Marco Bras dos Santos, im Gespräch mit der Jungle World. Er sieht es als Erfolg für seine Organisation, dass die Landesjustizminister überhaupt wieder auf ein Gesetz verwiesen haben, dessen Umsetzung die Bundesländer seit 41 Jahren verschleppen.
Selbst wer im Gefängnis jahrelang geschuftet hat, muss wegen der fehlenden Rentenbeiträge aus der Haftzeit mit Armut im Alter rechnen.
Doch für Santos gehören nicht nur der Mindestlohn und die Einbeziehung der arbeitenden Gefangenen in die Rentenversicherung zusammen. Er fordert auch die Koalitionsfreiheit für die Kollegen hinter Gittern. Das würde ihnen ermöglichen, für ihre Forderungen in den Arbeitskampf zu treten. Solche Schritte würden den Gefangenen nach derzeitiger Rechtslage als Meuterei ausgelegt, für die sie eine weitere Bestrafung fürchten müssten. So können die Gefangenen kaum für ihre Arbeitsrechte eintreten. Gefangene, die sich in den vergangenen vier Jahren in der GG/BO gewerkschaftlich organisierten, waren ohnehin häufig mit Zellendurchsuchungen, Verlegungen und anderen Sanktionen konfrontiert. Mit großer Unterstützung für ihre Forderungen nach Mindestlohn und Aufnahme in die Rentenversicherung können sie außerhalb der Gefängnisse nicht rechnen. So berichten nur sehr wenige Medien überhaupt darüber, dass die Justizministerkonferenz an die seit vier Jahrzehnten verschleppte Rentenversicherung für Gefangene erinnert hatte.
Das Komitee für Grundrechte und Demokratie gehört zu den wenigen Organisationen, die seit Jahren Mindestlohn und Rentenbeiträge für Strafgefangene fordern. Die Sprecherin des Komitees, Britta Rabe, bewertet die Erklärung der Justizminister im Gespräch mit der Jungle World positiv, weist allerdings auf viele offene Fragen hin: So sei überhaupt noch nicht geklärt, wie die Rentenversicherung geregelt werden soll, etwa was die Bemessungsgrundlage für die Beitragshöhe angeht. Zudem sei kein Termin genannt worden, ab dem die Gefangenen in die Rentenversicherung einbezogen werden sollen. Rabe weist auch auf eine Frage hin, die über die erforderlichen konkreten Regelungen hinausweist: Warum sollten nicht auch die Gefangenen entschädigt werden, die in Altersarmut leben, weil die Politik die Anwendung eines Gesetz über vier Jahrzehnten verschleppt hat? Solche Fragen müssten Juristen in der nächsten Zeit auf jeden Fall prüfen, sagt sie. Die Zeit der schönen Absichtserklärungen bei der Rente für Gefangene sei längst vorbei.
Das dürfte auch den Verantwortlichen in den Bundesländern dämmern. Es wird interessant sein zu sehen, wie diejenigen Länder, die sich bislang gegen die Aufnahme der Strafgefangenen in die Rentenversicherung gesträubt haben – neben Bayern waren es auch Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein –, künftig mit der Erinnerung durch die Justizministerkonferenz umgehen werden. Dass die Justizminister keinen Termin genannt haben, kommt den Ländern entgegen, denn so gibt es keine Frist, aus der sich unter Umständen ein einklagbarer Rechtsanspruch für die Gefangenen ableiten ließe.
Die deutschen Polizeigewerkschaften machen gegen Linke mobil.
Dass aktive Linke in Deutschland öfter mal mit der Polizei in Konflikt geraten, ist nun wahrlich nichts Neues. Doch in letzter Zeit bekommen sie immer öfter Ärger mit der Gewerkschaft der Polizei (GdP). Die gehört innerhalb des DGB zu den kleineren Organisationen, was sie allerdings nicht daran hindert, ein Getöse zu veranstalten, wenn ihr Berufsstand in die Kritik gerät. „Jagdszenen aus Hamburg – der G20-Gipfel und die Folgen“ lautete der Titel einer Veranstaltung, zu der Ende März linke Gewerkschaftler, kritische Juristen und der Republikanische Anwältinnen und Anwälteverein die Hamburger Juristin Gabriele Heinecke ins Berliner IG-Metall-Haus eingeladen hatten. Für die GdP war die Veranstaltung ein klarer Fall von unsachlicher Polizeikritik. Ihre Intervention hatte Erfolg. Der Vorstand der Berliner IG-Metall teilte den Organisatoren mit, dass die Räume in ihrem Gewerkschaftshaus für diese Veranstaltung nicht zur Verfügung stünden. Kurzfristig wurde noch ein kleinerer Ausweichort gefunden und wegen des Raumverbots war der Andrang besonders groß. „Es ist noch nicht vorgekommen, dass eine Veranstaltung von Grundrechtsorganisationen und kritischen Juristen von einer DGB-Gewerkschaft die Räume gekündigt wurden, empörte sich der Jurist Hans Eberhard Schultz. Bundesweit spielt sich die GdP schon länger als Schutzwall gegen linke Bestrebungen in den Räumen des DGB auf. In Frankfurt/Main war es ein Workshop der Gruppe Antifa United Frankfurt in den Räumen des örtlichen DGB-Hauses, der die Kollegen Polizeigewerkschafter erzürnte. Zuvor hatte bereits der Vorsitzende der rechtslastigen, mit der GdP konkurrierenden Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG, ) Lars Maruhn gegen das Antifatreffen im DGB-Haus polemisiert und dem Gewerkschaftsbund vorgeworfen, logistische Hilfestellung beim Kampf der Autonomen gegen den Staat zu leisten. Im Oktober 2017 versuchten GdP und DPolG, angefeuert von rechtslastigen Medien und der AfD, einen antifaschistischen Kongress im Münchner DGB-Haus zu verhindern. Die Kündigung der Räume wurde zurückgezogen, nach dem die Kongressorganisatoren versicherten, dass sie auf dem Boden der freiheitlichen Grundordnung stehen. Eigentlich wäre es an der Zeit, die alte linke Parole „Polizeigewerkschaft raus aus dem DGB“ wieder zu reaktivieren. Doch dazu wird es nicht kommen. Schließlich ist die Präsenz der GdP im DGB ein Zeichen für die vollständige Integration der gewerkschaftlichen Apparate in den kapitalistischen Staat. Und das ist den deutschen Gewerkschaften leider ein Herzensanliegen.
Im Ziel „Abschottung“ sind sich die EU-Länder einig, die Rhetorik unterscheidet sich. Am ehrlichsten ist da wieder einmal die ungarische Regierung
Die CSU kann sich bestätigt fühlen. Schließlich fordert sie von der EU Maßnahmen zur Flüchtlingsabwehr und droht mit nationalen Maßnahmen. Damit können sie noch immer eine Regierungskrise auslösen.
Es gibt hektische Bestrebungen in allen europäischen Ländern, die Festung Europa weiter auszubauen. Fraglich ist, welchen Anteil die CSU dabei tatsächlich hatte. Schließlich sind sich im Ziel alle einig. Es sollen möglichst wenig Migranten kommen.
Dass es jenseits dieses gemeinsamen Nenners der europäischen Regierungen trotzdem so schwer ist, zu einer Einigung zu kommen, liegt an den nationalen Eigeninteressen der einzelnen Länder. Im Zweifel achtet jede Regierung darauf, das eigene Territorium von Fremden freizuhalten.
Ungarn: Pionier der Flüchtlingsabwehr
Sind sich auch die Regierungen im Ziel einig, so unterscheidet sich doch die Rhetorik, mit der die Flüchtlingsabwehr begleitet wird. Am ehrlichsten ist da wieder einmal die ungarische Regierung, die Hilfe für Flüchtlinge ganz offiziell kriminalisiert[1].
Ungarische Regierungspolitiker erklären offen, dass mit dem Gesetz klargestellt wird, dass in Ungarn keine Fremden angesiedelt werden dürfen. Das von der rechtsnationalistischen Regierungspartei und der größten faschistischen Oppositionspartei gemeinsam verabschiedete Gesetz wird mit einem eindeutig antisemitischen Ton „Stop Soros Paket“[2] genannt.
Dahinter steht die in rechten Kreisen verbreitete Verschwörungstheorie von der angeblich von liberalen NGOs vorangetriebenen Bevölkerungsverschiebung. Der liberale George Soros steht im Zentrum dieser Verschwörungstheorie.
In Ungarn wird dergestalt mit Antisemitismus offizielle Regierungspolitik gemacht. Mag auch Ungarn zum Pionier der rechten Flüchtlingsabwehr in Europa geworden sein, so unterscheiden sich die Maßnahmen gar nicht so sehr von den Maßnahmen anderer Länder.
In Italien werden nicht nur von der aktuellen Regierung Flüchtlingshelfer verfolgt und kriminalisiert. So bezeichnet der italienische Innenminister von der Lega Nord Nichtregierungsorganisationen, die Migranten vor dem Ertrinken retten, pauschal als kriminelle „Vize- oder Stellvertreter-Schlepper“.
Die „Achse der Willigen“ und die neue Balkanroute
Italien ist nun ein fester Bestandteil jener vom österreichischen Ministerpräsidenten Sebastian Kurz ausgerufenen „Achse der Willigen“, die Migranten möglichst gar nicht erst in die EU lassen wollen. Diese Achse der Willigen tagte am Mittwoch in Linz, wo die bayerische und die österreichische Regierung eine gemeinsame Kabinettsitzung abhielten, auf der es natürlich um die „Flüchtlingsabwehr“ ging.
„Wir glauben, dass da ein neuer Geist in Europa wehen kann, was die Zuwanderung angeht“, erklärte Kurz. Ungarn wurde nicht erwähnt, aber dort kommt dieser neue Geist am Klarsten zum Vorschein. Schließlich hat die CSU Orban wieder eingeladen und dem ungarischen Ministerpräsidenten ausdrücklich für die Sicherung der Festung Europas gedankt.
Ungarn und die Absperrung der Balkanroute ist nun längst keine Vergangenheit, wie auch in Deutschland von Kritikern der harten Abschottungspolitik manchmal behauptet wird. In den nächsten Wochen könnte die Balkanroute wieder aktuell werden[3].
Eigentlich dachte Europa, die Balkanroute sei zu. Das ist offensichtlich falsch. Auf Anfrage der ZEIT teilt das deutsche Bundesinnenministerium mit, die bosnisch-herzegowinische Grenzpolizei registriere derzeit „täglich 100 bis 150 Migranten bei der unerlaubten Einreise“, diese Zahl habe sich aktuell gegenüber 2017 „verzwölffacht“.
Ein Viertel der Flüchtlinge und Migranten, so das UNHCR, sind Syrer, gefolgt von Pakistanern, Afghanen, Irakern und Libyern. Ebenso melden Albanien und Montenegro eine Verdoppelung der Flüchtlingszahlen – wenn auch auf niedrigerem Niveau. Das Bundesinnenministerium sagt dazu: „An nahezu allen Grenzabschnitten der Westbalkanstaaten werden illegale Grenzübertritte – insbesondere seit Jahresbeginn 2018 – mit steigender Tendenz festgestellt.“
Die Zeit[4]
Damit bestätigen sich die Einschätzungen vieler Beobachter der Migrationsbewegungen. Sie haben immer gesagt, die Regierungen können noch so hohe Hürden errichten, die Migranten werden trotzdem Mittel und Wege finden, sie zu überwinden.
Die neue Balkanroute ist dafür ein Beispiel. Für die Abschottungspolitiker ist das ein Grund für noch mehr Abschottung, noch höhere Zäume und Mauern. So wird eine Spirale der Eskalation in Gang gesetzt. Den Preis zahlen schon heute die Migranten.
„Solidarität statt Heimat“ oder die Schattenseiten der Migration
Denn die immer gefährlicheren Transitwege bedingen viele Verletzte und auch Tote. Viele der Migranten werden auch auf den Routen nach Europa traumatisiert, sei es, dass sie in afrikanischen Ländern überfallen und ausgeraubt werden, sei es dass sie auf der Überfahrt in kleinen Booten oder auf anderen Routen großer Lebensgefahr ausgesetzt waren.
Die linken Freunde der Migration aus dem Umfeld von Medico International und dem linksliberalen Think Tank Solidarische Moderne[5], die sich in durchaus wohlmeinender Absicht unter dem Motto „Solidarität statt Heimat“[6] für eine Welt ohne Grenzen einsetzen, blenden diese menschenfeindliche Seite der Migration aus.
Sie ist natürlich den Verhältnissen der Abschottung in der kapitalistischen Weltgesellschaft geschuldet. Doch sie ist eine Realität und passt nicht zu dem emphatischen Migrationsbegriff, der in dem Aufruf verwendet wird. Die Verhältnisse in Europa werden in dem Aufruf dagegen exakt beschrieben.
In den letzten Jahren hat sich in weiten Teilen Europas ein politischer Rassismus etabliert, der die Grenzen zwischen den konservativen, rechten und faschistoiden Lagern zunehmend verschwimmen lässt.
Aufruf Solidarität statt Heimat
Die „Achse der Willigen“ von Ungarn über Österreich, Italien bis nach Bayern ist eine klare Bestätigung dieser Aussage. Nur sind Merkel und Macron nicht etwa die Repräsentanten eines anderen Europa, wie das gerne behauptet wird. Sie sind genauso an einer „Festung Europa“ interessiert und wollen Migranten raushalten. Nur reden sie nicht so laut darüber.
Peter Nowak
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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.watson.ch/international/migration/654838372-fluechtlingshilfe-ist-in-ungarn-jetzt-verboten
[2] https://www.tagesspiegel.de/politik/stop-soros-paket-ungarns-parlament-verabschiedet-gesetz-gegen-fluechtlingshelfer/22715378.html
[3] https://www.zeit.de/2018/23/balkanroute-fluechtlinge-asyl-landweg-europa
[4] https://www.zeit.de/2018/23/balkanroute-fluechtlinge-asyl-landweg-europa
[5] https://www.solidarische-moderne.de/
[6] https://solidaritaet-statt-heimat.kritnet.org/
Beim Streit zwischen Seehofer und Merkel geht es vor allem darum, ob sich die Eigeninteressen der europäischen Nationalstaaten soweit zügeln lassen, dass ein neues Flüchtlingsregime errichtet werden kann
Beim Streit zwischen Seehofer und Merkel geht es vor allem darum, ob sich die Eigeninteressen der europäischen Nationalstaaten soweit zügeln lassen, dass ein neues Flüchtlingsregime errichtet werden kann
Die Satirezeitung Titanic hat für eine kurze Zeit mal wieder Politik gemacht, als sie die „Meldung“ lancierte, dass die Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU aufgelöst sei. Dass mehrere Agenturen und Zeitungen diese Satire übernahmen, zeigte, wie fragil die Regierungskoalition mittlerweile geworden ist. Wenn nun Insiderberichte durchgestochen werden, nach denen Seehofer im kleinen Kreis erklärte, er könne mit Merkel nicht mehr arbeiten, gehört das auch zu den Machtspielen, an denen sich die unterschiedlichen Medien beteiligen.
Seehofer hat schließlich vor einigen Jahren das Agieren von Merkel im Herbst 2015 als Herrschaft des Unrechts bezeichnet. Legendär war Seehofers Standpauke gegenüber Merkel[1] im November 2015. Trotzdem waren beide professionell genug, um in einer Regierung zusammenzuarbeiten. Daran wird die Regierung nicht scheitern.
Nun gibt es schon verschiedene Vermittlungsversuche von Seiten der CDU und auch der CSU. Es kann also durchaus sein, dass man sich zunächst auf einen Formelkompromiss einigt. Schließlich würde ein tatsächlicher Bruch der Fraktionsgemeinschaft das politische System in Deutschland ziemlich durcheinander bringen. Davon wäre natürlich auch die AfD betroffen, die auf einmal einen „seriöseren“ Konkurrenten vor der Nase hätte.
CSU in die Opposition – Grüne in die Regierung?
Es gab sogar in der Taz nach den letzten Wahlen Kommentatoren, die der CSU empfohlen haben, sich doch wieder auf F.J. Strauß besinnen und den rechten Rand einzufangen, um die AfD kleinzuhalten. Dann könnten vielleicht sogar die Grünen Merkel entweder in oder von außerhalb der Regierung unterstützen. Das dürfte ihnen nun gar nicht mehr schwer fallen. Sie sind schließlich heute die eifrigsten Merkel-Verteidiger, und mitregieren wollten sie sogar mit Seehofer und Lindner.
Dass eine solche Konstellation nicht auf die FDP zählen könnte, zeigt sich schon daran, dass Lindner Seehofer im Streit mit Merkel verbal unterstützt hat, während er nun aus parteitaktischen Gründen eine eigenständige CSU als Konkurrent fürchten müsste. Seit die FDP wieder im Bundestag ist, hat Lindner versucht, sie zu einer AfD-light[2] zu machen und sie zwischen Union und AfD positioniert. Eine eigenständige CSU würde genau auf diesem Gebiet auch um Wähler werben, wäre also nicht in Lindners Sinne.
Auch sonst wäre ein Alleingang der CSU mit sehr vielen Unbekannten verbunden und für die Partei und vor allem für Seehofer selber nicht ohne Risiko. Weil er kein Abgeordnetenmandat hat, müsste er nach dem Verlust seines Ministeriums außerparlamentarisch reagieren, was viele Fragen entstehen ließe. Würde der Teil der AfD, der mit dem Einfluss des völkischen Flügels hadern, zu einer bundesweiten CSU wechseln? Danach sieht es allerdings nicht aus.
Werden alle CSU-Abgeordneten einen Alleingang mitmachen? Und wie viele Unionspolitiker würden zu Merkel stehen? Bisher hat sich in der Union keiner der vielen Merkel-Kritiker offen als Konkurrent um die Macht in der Partei zu erkennen gegeben, obwohl die Kritik aus dem rechten Spektrum zugenommen hat. Nur würde das so bleiben, wenn wirklich die Kooperation mit der CSU in Gefahr ist? Schließlich muss man bedenken, dass Merkel nach 13 Regierungsjahren am Ende ihrer Karriere steht. Politische Beobachter sind davon ausgegangen, dass diese Legislaturperiode ihre letzte Amtszeit ist. Nicht wenige haben angezweifelt, dass sie sie zu Ende bringt. Daher ist es fraglich, wie viele Abgeordnete hinter Merkel stehen, wenn es zum Schwur kommt.
„Merkel muss weg“ – aber was kommt dann?
Andererseits kann die CSU nicht sicher sein, ob ein Alleingang von den Wählern belohnt wird. Am Ende schadet das Manöver beiden Unionsparteien mehr als der AfD. Die könnte damit argumentieren, dass Seehofer jetzt die Abschottungspolitik gegenüber Migranten auch deshalb forciert, weil die CSU von der AfD im bayerischen Landtagswahlkampf von rechts unter Druck gesetzt wird. Das sagen führende CSU-Politiker ganz offen. Damit geben sie aber der AfD politisches Gewicht und geben offen zu, dass die CSU auf Druck von rechts reagiert.
Doch auch die Rechten sind verunsichert. Schließlich war die Parole „Merkel muss weg“ der kleinste gemeinsame Nenner, der die unterschiedlichen Gruppen auf der Straße und im Parlament stark machte. Nun fragen sich schon manche User auf der rechten Onlineplattform Politically Incorrekt: „Merkel muss weg und was kommt dann?“ Manche befürchten, dass ohne Merkel die Mobilisierung schwieriger wird. Für die Rechten wäre es natürlich ein Propagandaerfolg, wenn sie Seehofer vorwerfen könnten, wieder mal den Mund zu voll genommen zu haben.
Nur haben diese Identitätskämpfe zwischen etablierten und neuen Rechten wenig mit einer humaneren Migrationspolitik zu tun. Denn auch Merkel hat in den letzten Jahren zahlreiche Verschlechterungen beim Flüchtlingsrecht durchgesetzt. Vielleicht gelingt ihr das mit ihrem liberalen Image, das ihr Sympathien bis in linke Kreise einträgt, sogar besser als Seehofer und der CSU, gegen die sich leichter Widerstand formieren lässt. Schließlich hat die CSU in Bayern es geschafft, dass sich gegen ihr Polizeiaufgabengesetz[3] in kurzer Zeit eine Massenbewegung[4] entwickelte, wie dies in anderen Bundesländern, die ähnliches planen, nicht erkennbar ist.
Drohkulisse Deutschlands in der EU
Der Streit zur Flüchtlingspolitik innerhalb der Union sorgt für eine Drohkulisse innerhalb der EU. Wenn jetzt als Kompromissvorschlag ein Vorratsbeschluss von Seehofer ins Spiel gebracht wird, nachdem die Zurückweisung von Migranten an den deutschen Grenzen noch eine bestimmte Zeit aufgeschoben wird, um eine EU-Lösung zu ermöglichen, dann würde der Druck noch einmal enorm steigen. Es wäre im Grunde eine weitere Ansage Deutschlands an die anderen EU-Länder, dafür zu sorgen, dass wir von Migranten verschont bleiben. Dafür soll das von Deutschland wesentlich durchgesetzte Dublin-System sorgen.
Es war der Aufbruch der Migranten und der Unwille der Regierungen der europäischen Nachbarländer, auf diesem Gebiet die deutsche Hegemonie zu akzeptieren, die das Dublin-System zum Einsturz brachten. Daraus eröffneten sich unter Umständen einige Spielräume für die Migranten. Schon die Berlusconi-Regierung ließ viele Migranten ungehindert Richtung Norden reisen, weil sie sie so loswerden konnte. Den Migranten war das recht, weil sie nicht Italien bleiben wollten.
Doch nicht nur zwischen Deutschland und den Nachbarstaaten gab es in der Migrationsfrage Streit. Das zeigte der Streit zwischen der neuen italienischen und der französischen Regierung zum Umgang um das Flüchtlingsschiff Aquarius. Auch hier wird die Heuchelei offenbar, die bei diesem Thema immer mit im Spiel ist. Während sich Macron nun als Vertreter von Humanität und Menschenrechte in der Flüchtlingsfrage aufspielt, wird vergessen, dass seine Regierung die Flüchtlingsgesetze massiv verschärft[5] hat. Erst vor wenigen Tagen hat die NGO Oxfam einen Bericht[6] über Zurückweisungen von Migranten, darunter Jugendlichen, an der französisch-italienischen Grenze veröffentlicht. Darauf konnte die italienische Regierung natürlich verweisen, um die Kritik abzuwehren.
Das ist das übliche Spiel in der EU. Alle Regierungen wollen Migranten zurückweisen und geben sich dann humanitär, wenn sie das Prozedere bei anderen Regierungen kritisieren. Das dürfte auch bei der neuen spanischen Regierung nicht anders sein, die das Einlaufen der Aquarius in Valencia zu einem Medienspektakel macht, um zu demonstrieren, dass in dem Land jetzt eine humanitäre Flüchtlingspolitik betrieben wird. Nur sind die Migranten auf dem Schiff überhaupt nicht gefragt worden, ob sie Teil dieser Inszenierung werden wollen. Die haben sicherlich nach dem strapaziösen Transfer andere Bedürfnisse. Und wenn die Kameras ausgeschaltet sind, beginnt die Frage, wie viele von ihnen in Spanien bleiben können.
Die Achse der Willigen
Wie in fast allen Fragen agieren die europäischen Nationalstaaten untereinander auch in der Migrationsfrage weiter als Konkurrenten. Da hat es auch Deutschland schwer, einfach eine Regelung durchzudrücken, die die Migranten aus dem Land raushält. Doch die Bemühungen für eine europäische Lösung gibt es auch von Seiten Seehofers. Er hat sich parallel zum Berliner Integrationsgipfel mit Österreichs Ministerpräsident Kurz getroffen und in der Abschiebepolitik Übereinstimmung festgestellt, die auch die neue italienische Regierung einschließt, Ungarn hat er nicht ausdrücklich genannt, aber auch diese Regierung gehört zur „Achse der Willigen“, die Sebastian Kurz sogleich ausrief.
Es gibt in Deutschland 73 Jahre nach dem Sieg über den NS noch einige Publizisten, denen sich „die Haare aufstellen“[7], wenn nun sogar metaphorisch wieder alte deutsche Bündniskonstellationen in Europa abgefeiert werden. Ungarn, Österreich, Deutschland, Italien, das waren schließlich bis 1943 die Achsenmächte, die das restliche Europa im Würgegriff hielten.
Auch Frankreichs Präsident Macron war nicht erfreut über diese Wortwahl[8]. Er ging auf Distanz zur Achse der Willigen, nicht aber zur Abschottungspolitik. Nun muss sich zeigen, ob sich die Eigeninteressen der europäischen Nationalstaaten soweit zügeln lassen, dass ein neues Flüchtlingsregime errichtet wird oder ob der Druck aus Deutschland das eher erschwert, wie Siegmar Gabriel nun ohne politisches Amt schon warnt[9]. Er fordert die SPD auf, ebenfalls mehr Härte in der Migrationspolitik zu zeigen und hier nicht der AfD und Seehofer das Feld zu überlassen.
Boris Palmer hat kürzlich via FAZ einen ähnlichen Appell[10] an die Grünen gerichtet. So beteiligen sich fast alle politischen Parteien an der Frage, wie sich Migranten aus dem Land heraushalten lassen. Was die wollen, fragt dabei niemand. Denn da wollen noch immer viele nach Deutschland, Großbritannien oder die skandinavischen Länder. Für viele Politiker ist das ein Grund, das Abschiebeprozedere noch mehr zu verschärfen.
Peter Nowak
https://www.heise.de/tp/features/Die-Abwehr-von-Gefluechteten-wollen-alle-vorantreiben-4080171.html
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Nach einer Haftstrafe wegen Paragraf 129b fordert Gülaferit Ünsal soziale Rechte ein.
Mein Name ist Gülaferit Ünsal. Ich forderte mein Asyl- und Aufenthaltsrecht sowie soziale Rechte.« Mehrmals wiederholte die Frau mit den längeren dunklen Haaren diese Ansprache vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Berlin. Seit Mitte Mai hat die 48-Jährige Protestaktionen vor verschiedenen Behörden in Berlin veranstaltet. Eigentlich wollte sie auch Berlins Innensenator Andreas Geisel einen Brief mit ihren Forderungen persönlich übergeben. Doch dazu bekam sie bis heute keine Gelegenheit. Auf ihre Bitte um einen Termin hat sie nicht einmal eine Antwort erhalten.
Dabei ist Ünsal nicht freiwillig nach Berlin gekommen. 2011 war die Türkin von Griechenland nach Deutschland ausgeliefert worden, wo sie wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung nach dem Paragrafen 129b angeklagt wurde. 2013 wurde sie vom Berliner Kammergericht zu einer Haftstrafe von sechseinhalb Jahren verurteilt. Sie sei von August 2002 bis November 2003 Europachefin der in der Türkei auch bewaffnet gegen den Staat kämpfenden Revolutionären Volksbefreiungsfront-Partei (DHKP-C) gewesen, so das Gericht in der Urteilsbegründung. Die Organisation beruft sich auf Marx und Che Guevara und fand in den 1990er Jahren sowohl in den Armenvierteln der türkischen Großstädte, aber auch in der akademischen Jugend UnterstützerInnen.
»Ich arbeitete in Istanbul als Stadtplanerin und engagierte mich dort in einer Gewerkschaft. Darüber bekam ich auch Kontakt zu linken Gruppen«, berichtet Ünsal über ihre Politisierung. »Mir ging es bei meinem Engagement immer um die Rechte der Ausgebeuteten und den Kampf gegen den Faschismus, der in der Türkei lange vor Erdogan begonnen hat«, betont sie. Mit Gewalt und Terror habe sie nie etwas zu tun habt.
Auch das Berliner Kammergericht konnte ihr keine Beteiligung an militanten Aktionen nachweisen. Verurteilt wurde sie wegen des Sammelns von Spenden und des Organisieren von Konzerten. JuristInnen kritisieren seit Jahren, dass mit dem Paragraf 129b legale Handlungen als Terrorismus kriminalisiert werden können, wenn damit eine Organisation unterstützt wird, die als terroristisch klassifiziert wird. Ünsal hat in den letzten Jahren die ganze Härte dieses Gesetzes zu spüren bekommen. Sie musste ihre Haftstrafe bis zum letzten Tag verbüßen.
Wenn Ünsal von ihrer Zeit in der JVA für Frauen in Berlin berichtet, spürt man, dass sie noch immer darunter leidet. Sie berichtet von Mobbingaktionen mehrerer Mitgefangenen, von schlaflosen Nächten, weil in den Zellen neben, unter und über ihr Tag und Nacht Krach war. Eine Mitgefangene habe sie rassistisch beleidigt und ihr mehrmals ins Gesicht geschlagen. Ablenkung fand Ünsal in dieser Zeit in der Malerei. Das Hobby hat sie bis heute nicht aufgegeben. Der Berliner Künstler Thomas Killper bescheinigt ihr künstlerisches Talent und würde ihre Bilder in Berlin zeigen. Doch Ünsal hat bisher wenig Zeit gehabt, sich ihrer Kunst zu widmen.
Im Januar 2018 wurde sie aus dem Gefängnis entlassen. »Es war nur der Wechsel aus einem geschlossenen in ein offenes Gefängnis«, so ihr bitteres Resümee fünf Monate später. Eigentlich wollte sie zurück nach Griechenland, wo sie vor ihrer Auslieferung lebte. Doch Ünsal darf Deutschland nicht verlassen. Deshalb stellte sie einen Asylantrag. Doch das Berliner Ausländeramt erklärt sich für nicht zuständig. Ünsal steht weiter unter Führungsaufsicht und darf keinen Kontakt zu Organisationen aufnehmen, die der Verfassungsschutz zum Umfeld der DHKP/C rechnet. »Ich lebe in einem rechtlosen Zustand, habe keine gültigen Dokumente, bin ohne finanzielle Unterstützung und auch nicht krankenversichert«, klagt Ünsal. Sabine Schmidt (Name geändert) spricht von einer kafkaesken Situation, in der sich Ünsal befinde. Sie lebt in einer Stadt, in der sie nie leben wollte, und wird doch behandelt, als existiere sie gar nicht.
Schmidt gehört zum Solidaritätskreis Gülaferit Ünsal, in dem sich schon während ihres Prozesses einige Menschen zusammengefunden haben. Sie schrieben ihr Briefe ins Gefängnis oder besuchten sie. Als Ünsal vor drei Jahren in Hungerstreik trat, um sich gegen das Mobbing und nur unregelmäßigen Postempfang zur Wehr zu setzen, organisierte die kleine Gruppe vor dem Gefängnis Kundgebungen. Jetzt beteiligt sie sich an Ünsals Protestaktionen.
Auch die Juristin und Bundestagsabgeordnete der Grünen Canan Bayram hat Ünsal kennengelernt, als sie sich nach einem wochenlangen Hungerstreik in lebensbedrohlichen Zustand befand. Bayram besuchte sie im Gefängnis, sprach stundenlang mit ihr und erreichte mit der Gefängnisleitung einen Kompromiss, so dass Ünsal den Hungerstreik abbrach. Sie habe die Gefangene nicht als Opfer kennengelernt, sondern als politisch handelnde Frau, so Bayram. Dass Ünsal nun weiterhin als Terroristin behandelt wird und für ihre Rechte kämpfen muss, ist für Bayram unverständlich. Sie hofft auf eine humanitäre Lösung und setzt sich dafür ein, dass Ünsal eine Therapie im Berliner Zentrum für Folteropfer antreten kann. Schließlich war sie in türkischen Gefängnissen Folter ausgesetzt gewesen und in ihrer Berliner Haftzeit mehrmals mit rassistischen Angriffen und dem Mobbing von Mitgefangenen konfrontiert.