Haft macht altersarm


Die Justizministerkonferenz hat kürzlich die Aufnahme von Straf­gefangenen in die gesetzliche Rentenversicherung angemahnt. Die Bundesländer verschleppen dieses Vorhaben seit 41 Jahren.

»Auf Initiative von Berlin hat die Justizministerkonferenz am 7. Juni 2018 beschlossen, dass die Einbeziehung von Strafgefangenen und Sicherungsverwahrten in die gesetzliche Rentenversicherung sinnvoll ist.« Mit dieser kurzen Pressemitteilung weckte die Berliner Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung in der vergangenen Woche Hoffnung bei Tausenden Gefangenen. Die Justizministerinnen und -minister der Länder bekundeten auf ihrem jüngsten Treffen die Absicht, endlich ein Gesetz zu befolgen, das bereits 1977 vom Bundestag in Bonn beschlossen worden war. Allerdings war es nie in Landesrecht übernommen worden, die Gegner des Vorhabens hatten stets auf fehlendes Geld verwiesen (Jungle World 48/2015). Ein weiterer Grund dürfte darin bestehen, dass Strafgefangene keine politische Lobby haben.

Die Folgen sind der juristischen Ignoranz sind gravierend: Selbst wer im Gefängnis jahrelang geschuftet hat, muss wegen der fehlenden Rentenbeiträge aus der Haftzeit mit einiger Wahrscheinlichkeit mit Armut im Alter rechnen. Auch eine gewerkschaftliche Organisierung wird Strafgefangenen verweigert, die 2014 gegründete Gefangenengewerkschaft/Bundesweite Or­ganisation (GG/BO) wird bislang nicht als Gewerkschaft anerkannt. Die GG/BO forderte in den vergangenen vier Jahren neben dem Mindestlohn für Strafgefangene wiederholt auch deren Einbeziehung in die Rentenversicherung. Wie eng die ­beiden Forderungen zusammenhängen, wird deutlich, wenn man die Grundlage der Rentenberechnung betrachtet. Würde sie sich an den Dumpinglöhnen orientieren, für die Gefangene derzeit schuften müssen, würde sich auch bei ihrer Einbeziehung in die Rentenversicherung an der Altersarmut nichts ändern. Das betont auch der Sprecher der GG/BO, Marco Bras dos Santos, im Gespräch mit der Jungle World. Er sieht es als Erfolg für seine Organisation, dass die Landesjustizminister überhaupt wieder auf ein Gesetz verwiesen haben, dessen Umsetzung die Bundesländer seit 41 Jahren verschleppen.

Selbst wer im Gefängnis jahrelang geschuftet hat, muss wegen der fehlenden Rentenbeiträge aus der Haftzeit mit Armut im Alter rechnen.

Doch für Santos gehören nicht nur der Mindestlohn und die Einbeziehung der arbeitenden Gefangenen in die Rentenversicherung zusammen. Er fordert auch die Koalitionsfreiheit für die Kollegen hinter Gittern. Das würde ihnen ermöglichen, für ihre Forderungen in den Arbeitskampf zu treten. Solche Schritte würden den Gefangenen nach derzeitiger Rechtslage als Meuterei ausgelegt, für die sie eine weitere Bestrafung fürchten müssten. So können die Gefangenen kaum für ihre Arbeitsrechte eintreten. Gefangene, die sich in den vergangenen vier Jahren in der GG/BO gewerkschaftlich orga­nisierten, waren ohnehin häufig mit Zellendurchsuchungen, Verlegungen und anderen Sanktionen konfrontiert. Mit großer Unterstützung für ihre Forderungen nach Mindestlohn und Aufnahme in die Rentenversicherung können sie außerhalb der Gefängnisse nicht rechnen. So berichten nur sehr wenige Medien überhaupt darüber, dass die Justizministerkonferenz an die seit vier Jahrzehnten verschleppte Rentenversicherung für Gefangene erinnert hatte.

Das Komitee für Grundrechte und Demokratie gehört zu den wenigen Organisationen, die seit Jahren Mindestlohn und Rentenbeiträge für Strafgefangene fordern. Die Sprecherin des Komitees, Britta Rabe, bewertet die Erklärung der Justizminister im Gespräch mit der Jungle World positiv, weist allerdings auf viele offene Fragen hin: So sei überhaupt noch nicht geklärt, wie die Rentenversicherung geregelt werden soll, etwa was die Bemessungsgrundlage für die Beitragshöhe angeht. Zudem sei kein Termin genannt worden, ab dem die Gefangenen in die Rentenversicherung einbezogen werden sollen. Rabe weist auch auf eine Frage hin, die über die erforderlichen konkreten Regelungen hinausweist: Warum sollten nicht auch die Gefangenen entschädigt werden, die in Altersarmut leben, weil die Politik die Anwendung eines Gesetz über vier Jahrzehnten verschleppt hat? Solche Fragen müssten Juristen in der nächsten Zeit auf jeden Fall prüfen, sagt sie. Die Zeit der schönen Absichtserklärungen bei der Rente für Gefangene sei längst vorbei.

Das dürfte auch den Verantwortlichen in den Bundesländern dämmern. Es wird interessant sein zu sehen, wie diejenigen Länder, die sich bislang gegen die Aufnahme der Strafgefangenen in die Rentenversicherung gesträubt haben – neben Bayern waren es auch Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein –, künftig mit der Erinnerung durch die Justizministerkonferenz umgehen werden. Dass die Justizminister keinen Termin genannt haben, kommt den Ländern entgegen, denn so gibt es keine Frist, aus der sich unter Umständen ein einklagbarer Rechtsanspruch für die Gefangenen ableiten ließe.

https://jungle.world/artikel/2018/25/haft-macht-altersarm

Peter Nowak

Panzer und Verbote gegen Kurden

Gerade wegen des hohen Vertrauensverlusts in herkömmliche Formen der Politik sollen linke Alternativen ihre Realitätstauglichkeit erst gar nicht beweisen können

Am Samstag hat die aus ganz Deutschland herbeigerufene Polizei in Köln eine Demonstration von Kurden und linken Gruppen nach kurzer Zeit aufgelöst. Es gab dort allerdings weder gewaltbereite Demonstranten noch den gerne herbeizitierten Schwarzen Block. Stein des Anstoßes für die Polizei waren vielmehr Fahnen mit dem Konterfei des PKK-Mitbegründers Abdullah Öcalan.

Um 16 Uhr hieß es gestern im Polizeiticker (mittlerweile nicht mehr zugänglich, Einf. d. Red.):

Die Polizei Köln hat um 14.40 Uhr die Entscheidung getroffen, die Versammlung wegen fortgesetzter eklatanter Verstöße gegen Versammlungsauflagen aufzulösen. Eine größere Gruppe von Personen mit verbotenen Symbolen (insbesondere Öcalan-Fahnen) wird durch die Polizei vorläufig festgehalten, um die Personalien festzustellen. Gegen weitere Träger verbotener Symbole im Aufzug wird gleichermaßen ermittelt.

Polizei Köln

Nun kann man sich sicherlich fragen, ob es nicht eher Personenkult als emanzipatorische Politik ist, wenn ein Mann so in den Mittelpunkt einer linken Demonstration gestellt wird. Zumal neben Öcalan viele andere Männer und Frauen der kurdischen Bewegung im Gefängnis sind oder ermordet worden. Eine solche Debatte ist wichtig und wird in der linken Bewegung geführt.

Wegen des Zeigens inkriminierter Fotos die Grundrechte einschränken?

Doch nach Köln stellen sich andere Fragen an die Polizei und die verantwortlichen Behörden. Warum reicht das Zeigen von inkriminierten Fotos, mit denen niemand geschlagen und verletzt werden kann, um die Grundrechte von mehr als 20.000 Menschen massiv einzuschränken? So viele Menschen hatten sich in Köln zur Demonstration gegen den Einmarsch der Türkei in kurdische Gebiete versammelt.

Als die Demonstration aufgelöst wurde, waren noch Tausende Demonstranten auf den Weg nach Köln. Das Komitee für Grundrechte hat bereits in der Vergangenheit wiederholt betont, dass das Demonstrationsrecht ein so zentrales Grundrecht ist, dass es nicht einfach eingeschränkt oder durch Demonstrationsauflösungen verweigert werden kann, nur weil in der Demonstration nach Ansicht der Polizei Ordnungswidrigkeiten verübt wurden.

So hätte es im Fall von Köln ausgereicht, wenn die Polizei die „verbotenen Fahnen“ und ihre Träger fotografiert und dann Anzeigen gemacht hätte. Dann hätten ja Gerichte womöglich bis in die EU-Instanzen klären können, ob das Verbot überhaupt Bestand hat. Ein solches Vorgehen wäre schon deshalb möglich gewesen, weil die Polizei in ihrer Mitteilung ja selber schreibt, dass sie wiederholt in die Demonstration gehen musste, um Fahnen zu entfernen und Fahnenträger zu identifizieren.

Das scheint möglich gewesen zu sein, ohne dass es zu gravierenden Auseinandersetzungen mit der Polizei gekommen ist. Von der Demonstration ging also keine Gewalt aus. Warum dann das Zeigen der Fahnen eine Demonstrationsauflösung und damit eine Verweigerung des Grundrechts auf Demonstrationsfreiheit rechtfertigte, werden wohl auch noch die Gerichte klären müssen.

Warum das Verbot einer Öcalan-Fahne?

Jenseits der begründeten Kritik am Personenkult stellt sich die Frage, warum überhaupt ein Konterfei von Öcalan strafbar sein soll. Schließlich stellt es kein Organisationssymbol da. Auch die Tatsache, dass Öcalan eine in Deutschland und der Türkei verbotene Organisation, die PKK, gegründet hat, kann ein Verbot nicht rechtfertigen. Es ist schließlich nicht bekannt, dass in Deutschland Fotos von Ulrike Meinhof oder Gudrun Ensslin, den Mitbegründerinnen der RAF, verboten sind.

Es soll hier gar nicht erörtert werden, welchen Sinn eigentlich das PKK-Verbot macht. Die Argumente derer, die eine Aufhebung des Verbots fordern, sind gewichtig, zumal sich die Organisation in den letzten zwei Jahrzehnten politisch gewandelt hat von einer autoritär strukturierten poststalinistischen Organisation zu einer Gruppierung, die Rätegedanken, Feminismus und selbst libertären Elementen aufgeschlossen gegenübersteht.

Das ist der Grund, warum sich Menschen, die sich für eine Linke auf der Höhe der Zeit interessieren, mit den Schriften von Öcalan zu befassen. Es gab in den letzten Jahren zahlreiche Kongresse in Hamburg, auf denen sich Feministinnen, Sozialisten und Libertäre mit den Schriften von Öcalan befassten.

Soll mit Öcalan eine Person kriminalisiert werden, die für eine linke Alternative steht?

In den vom IS und dem Assad-Regime befreiten Gebieten Syriens versuchen die kurdischen Kräfte diese Vorstellungen ebenso in die Praxis umzusetzen, so wie sie es mehrere Jahre auch in Ostkurdistan praktizierten. Bei zwei Mesopotamischen Sozialforen konnten Menschen aus aller Welt sich davon überzeugen, dass diese rätedemokratischen Strukturen funktionierten.

Es war das türkische Militär, das diesen Modellen ein Ende machte in Ostkurdistan. Das versucht das Militär jetzt auch in den vom IS und Assad befreiten Enklaven in Syrien. Beide Male wurden und werden dafür auch Waffen aus Deutschland eingesetzt. Deutsche Panzer an der Grenze zu Syrien waren in der letzten Woche in der Presse zu sehen.

Daher haben viele kurdische Aktivisten den Eindruck, dass ihnen der deutsche Staat mit an die türkische Regierung gelieferte Panzer und mit Verboten und Grundrechtseinschränkungen entgegentritt. „Krieg in Kurdistan und Repression in Deutschland“ – so wird in kurdischen Medien dieser Zusammenhang hergestellt.

Deutschland liefert nicht nur Waffen und Waffenproduktionslizenzen an die Türkei. Seit März 2017 sehen wir uns auf deutschen Straßen mit einer verschärften Repressionspolitik konfrontiert. Praktisch alle kurdischen Flaggen und Symbole werden auf unseren Demonstrationen verboten, darunter auch die Flaggen der nordsyrischen YPG, YPJ und PYD. Völlig absurd wird es, wenn uns, wie im Fall unserer bundesweiten Demonstration gegen die Angriffe in Afrin am kommenden Samstag in Köln, auch die kostenlose Bereitstellung von Essen und Trinken für die Demonstrationsteilnehmer verboten wird.

Ayten Kaplan, Ko-Vorsitzende des Demokratischen Gesellschaftszentrum der KurdInnen in Deutschland

Der Grund für diese Repression liegt auf der Hand. Die türkische und die deutsche Regierung, so zerstritten sie auch in Details sind, wollen alles daransetzen, um praktische Alternativen zum abgewirtschafteten bürgerlichen Parlamentarismus gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Gerade weil sie wissen, dass viele Menschen das Vertrauen in die herkömmlichen Formen der Politik verloren haben, sollen linke Alternativen ihre Realitätstauglichkeit gar nicht beweisen können. Deswegen wird ein solcher Aufwand und eine solche Einschränkung der Grundrechte für die Jagd auf Öcalan-Bilder betrieben.
https://www.heise.de/tp/features/Panzer-und-Verbote-gegen-Kurden-3952672.html

Peter Nowak
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Links in diesem Artikel:
[1] https://koeln.polizei.nrw/artikel/informationen-zur-nav-dem-demonstration-am-samstag-koeln
[2] https://koeln.polizei.nrw/artikel/informationen-zur-nav-dem-demonstration-am-samstag-koeln
[3] http://www.grundrechtekomitee.de
[4] https://pkk-verbot-aufheben.blackblogs.org
[5] https://direkteaktion.org/211-vom-zentralismus-zum-kommunalismus/
[6] https://nadir.org/nadir/periodika/kurdistan_report/2009/146/19.htm
[7] http://navdem.com/krieg-in-kurdistan-repression-in-deutschland/
[8] http://navdem.com/krieg-in-kurdistan-repression-in-deutschland/
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Braucht die Polizei mehr Schutz …

… oder vielleicht manche von deren Opfern?

Am Freitag hat der Bundesrat mehreren Gesetzen zugestimmt, die nach Meinung von Menschenrechtsorganisationen die Freiheitsrechte der Bürger einschränken. Doch in Deutschland wurde das kaum wahrgenommen und es gab in den letzten Wochen dagegen nur kleine Proteste. Dazu gehörte auch eine Gesetzesverschärfung[1], die Angriffe auf Polizisten, Rettungssanitäter und Feuerwehrleute schärfer bestraft.

Sie trägt den Titel „Stärkung des Schutzes von Vollstreckungsbeamten und Rettungskräften“. Bis zu fünf Jahre Haft drohen. Ein vielleicht sogar unbeabsichtigter Schubser oder ein ungeschicktes Hantieren mit einer Fahnenstange,was bei unübersichtlichen Situationen auf einer Demonstration schon mal vorkommen kann, könnte dann Gefängnis bedeuten.

Das ist kein theoretisches Beispiel. So saß 2012 ein junger Antifaschist mehrere Wochen in Untersuchungshaft[2]. Zunächst wurde ihm versuchter Totschlag vorgeworfen, weil er mit einer Fahnenstange einen Polizisten geschlagen haben soll. Seine Verteidigung verneinte einen Vorsatz.

Kein Sonderrecht für die Polizei

Ende April, als das Gesetz im Bundestag behandelt und verabschiedet wurde, gab es eine Protestaktion von mehreren Bürgerrechtsorganisationen[3], die ein Sonderrecht der Polizei ablehnten. Dazu gehört das Komitee für Grundrechte[4]. Die Argumentation ist schlüssig:

Eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit, eine einfache Körperverletzung, ist gemäß § 223 StGB sanktioniert; weitere Paragraphen regeln den Umgang mit gefährlicher und schwerer Körperverletzung. In diesen Regelungen des Strafgesetzbuches sind alle Menschen gleichgestellt. Richter können jedoch die besonderen Funktionen des Opfers strafverschärfend berücksichtigen. Ein Sonderrecht für „Amtsträger“ stellt diese dagegen über die normalen Bürger*innen und verletzt die Gleichheit vor dem Gesetz. Es macht die Staatsdiener zu besser geschützten Menschen. Auch Lehrer*innen oder Arbeitskräfte im Sozial- oder Arbeitsamt können von tätlichen Angriffen betroffen sein. Für diese gilt jedoch kein Sonderrecht. Sanktionsmöglichkeiten gibt es jedenfalls auch ohne die Schaffung eines neuen Straftatbestandes.
Grundrechtekomitee[5]

Das Grundrechtekomitee setzt sich auch kritisch mit der immer wieder behaupteten Häufung der Gewalt gegen Polizisten auseinander[6]. Es stellt demgegenüber fest: „Fälle von Widerstand gegen die Staatsgewalt (haben) im Vergleich zu 2008 nicht zu-, sondern abgenommen“ und verweist auf die ARD-Monitorsendung vom 09.03. dieses Jahres[7]:

Es wird berichtet, dass in der Statistik vorrangig Bagatelldelikte erfasst werden, bei mehr als zwei Drittel der erfassten Taten ging es um Widerstandshandlungen oder Bedrohungen. Angriffe auf Polizeibeamt*innen werden häufig in alkoholisiertem Zustand ausgeübt. Gilt schon allgemein, dass ein gesetzlich vorgesehenes Strafmaß kaum Auswirkungen auf die Begehung von Straftaten hat, so gilt dies erst recht bei Menschen unter Alkoholeinfluss.
Grundrechtekomitee[8]

Das zeigte sich auch beim diesjährigen 1. Mai in Berlin-Kreuzberg. Bei dem gemeldeten 32 verletzten Polizisten[9] ging es überwiegend um Gehörstörungen durch Böller und andere Vorkommnisse, die wahrscheinlich vor 10 Jahren noch gar nicht in der Statistik aufgetaucht wären.

Unter dem #Maaslosübertrieben[10] wandte sich auch eine Onlinepetition gegen dieses Sonderrecht. Doch die bisher knapp 5.861 Unterschriften zeigen zumindest an, dass es hier um kein Thema geht, das die Massen bewegt. Was auch daran liegen kann, dass dort auch behauptet wird, das Gesetz sei verfassungswidrig, was ja erst das Ergebnis eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts sein kann.

Ein solches Urteil liegt aber noch nicht vor und es ist durchaus denkbar, dass die Richter zu einem anderen Schluss kommen. Es stellt sich hier die Frage, warum denn Kritiker von solchen Gesetzesverschärfungen immer mit juristischen Begriffen wie verfassungswidrig operieren. Reicht es nicht, wenn Gruppen und Einzelpersonen das Gesetz als undemokratisch, freiheitseinschränkend etc. bezeichnen, ganz unabhängig von einem möglichen juristischen Urteil?

Selbst, wenn das Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung kommt, das Gesetz verletze die Verfassung nicht, gäbe es keinen Grund, für die Kritiker ihre Proteste aufzugeben. Man kann auch Freiheitsrechte einfach deshalb verteidigen, weil man sie nutzen will, ohne immer den Eindruck zu hinterlassen, man sei das wandelnde Grundgesetz. Dass hingegen liberale Juristen, wenn sie sich mit dem Gesetz befassen[11] in ihrer Stellungnahme mit Rechtsnormen argumentieren, ist verständlich, verpflichtet aber nicht alle Gegner des Gesetzes zu einer juristischen Argumentation.


Aufklärung von Polizeigewalt erschwert

Kritiker des Gesetzes[12] verweisen darauf, dass die Verschärfungen die Aufklärung von Polizeigewalt erschweren.

Seit Jahren weisen Bürgerrechtsorganisationen auf das Problem häufig folgenlos bleibender rechtswidriger Polizeigewalt hin. Die geringe Anzeigequote gegen rechtswidrig agierende Polizist*innen beruht unter anderem darauf, dass Opfer regelmäßig mit einer Gegenanzeige wegen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte überzogen werden. Die Strafrechtsverschärfung für dieses Delikt, trägt nun die Gefahr in sich, dass Opfer von Polizeigewalt künftig noch häufiger von Anzeigen absehen werden.
Stellungnahme der Gesetzeskritiker

Nun hat es sich zufällig so ergeben, dass zeitglich mit der Bundesratsentscheidung, die Verschärfung passieren zu lassen, die Taz einen Aufmacher zum Anstieg der Polizeigewalt in Deutschland[13] brachte. Nach Recherchen der taz starben in Deutschland seit 1990 mindestens 269 Menschen durch Polizeischüsse[14].

2016 erreichte die Zahl der Todesfälle laut Zeitung „den höchsten Stand seit 1999: 13 Menschen kamen ums Leben. 2017 scheint sich dieser Trend noch zu verstärken. Fast alle Opfer sind Männer, nur selten haben sie selbst eine Schusswaffe. Und immer häufiger trifft es[15] Menschen mit psychischen Erkrankungen. Der Kriminologe Thomas Feltes forderte in einem Interview eine besondere Schulung der Polizei über den Umgang Menschen in außergewöhnlichen psychischen Situationen.

Wie wäre es aber, wenn ein Gesetz zur Stärkung der Rechte der Bürger vor Polizeigewalt verabschiedet würde und Menschen in psychischen Ausnahmesituationen noch einmal besonders stark geschützt werden? Das wäre eine Initiative, die der Staatsmacht Grenzen setzen würde und die Rechte der Bürger ausweiten. Wäre angesichts steigender Fälle von Polizeigewalt eine solche Initiative nicht dringend notwendig?
Peter Nowak

https://www.heise.de/tp/features/Braucht-die-Polizei-mehr-Schutz-3713406.html
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Links in diesem Artikel:
[1] http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/111/1811161.pdf
[2] https://linksunten.indymedia.org/de/node/58892
[3] http://www.rav.de/fileadmin/user_upload/rav/pressemitteilungen/250417_PM-KundgebungPolizeischutz.pdf
[4] http://www.grundrechtekomitee.de/node/841
[5] http://www.grundrechtekomitee.de/node/841
[6] http://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/gewalt-gegen-polizisten-102.html
[7] http://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/gewalt-gegen-polizisten-102.html
[8] http://www.grundrechtekomitee.de/node/841
[9] https://www.morgenpost.de/1-mai-berlin/article210438947/72-Festnahmen-32-verletzte-Polizisten-am-1-Mai-in-Berlin.html
[10] https://weact.campact.de/petitions/nein-zum-polizeistaat-stoppt-die-anderungen-der-ss113-und-ss114stgb-2?source=twitter-share-email-button&time=1490858106
[11] http://www.rav.de/publikationen/mitteilungen/mitteilung/gemeinsame-stellungnahme-zum-gesetzentwurf-drs-1811161-520/
[12] http://www.humanistische-union.de/nc/aktuelles/aktuelles_detail/back/aktuelles/article/protest-gegen-geplante-strafrechtsverschaerfung-zum-schutz-von-polizistinnen/
[13] https://taz.atavist.com/polizeitote#chapter-1957584
[14] https://taz.atavist.com/polizeitote#chapter-1957447
[15] https://taz.atavist.com/polizeitote#chapter-2274951

Stammtischkampf statt Straßenkampf

Was tun gegen den Rechtspopulismus? Diese Frage stellt sich verstärkt vor mehreren Landtags- und einer Bundestagswahl, in der Erfolge der AfD befürchtet werden. Das Komitee für Grundrechte und Demokratie[1] legte auf einem bundesweiten Ratschlag[2] unter dem Titel „Kampf gegen Nationalismus und Rassismus – demokratische Milieus stärken“ am vergangenen Samstag im Berliner Haus der Demokratie den Fokus auf konkrete Handlungsmöglichkeiten.

Schon im Titel werden die demokratischen Milieus angesprochen, die nach Überzeugung des Grundrechtekomitees durchaus nicht nur in den Metropolen zu finden sind. Es sei gerade in Kleinstädten und Provinzen wichtig, die Kräfte zu stärken, die sich den Rechten entgegenstellen, betonte die Journalistin Heike Kleffner[3], die über die rechte Szene und den Alltagsrasssismus seit mehr als zwei Jahrzehnten recherchiert.

Im Jahr 2000 gehörte sie zu den Journalistinnen und Journalisten, die nachgewiesen haben, dass die Zahl der Opfer rechter Gewalt[4] in Deutschland wesentlich höher war als die von den Behörden genannten Fälle.

Kleffner sieht Parallelen zwischen der rassistischen Welle der 1990er Jahre und heute auch in Bezug auf die Gegenstrategien. „Voraussetzung für den Erfolg rechter Mobilisierung ist ihre Akzeptanz und Integration in den Alltag“, betont sie. Das war in den 1990er Jahre so, als Angriffe auf Unterkünfte von Flüchtlingen zu einem Feierabendvergnügen wurden, wo die Nachbarschaft mit dem Bierkasten zuguckte und applaudierte.

Die aktuelle rechte Mobilisierung begann mit den Lichtläufen[5] im sächsischen Schneeberg gegen die Aufnahme von Geflüchteten in dem sächsischen Städtchen Schneeberg im Jahr 2013. Die Rechten traten dort als Bürgerinitiative auf und konnten so Menschen mobilisieren, die nicht hinter Bannern von Naziorganisationen gelaufen wären.

Sie breiteten sich auf Greiz und andere sächsische Städte aus und wurden zum Vorbild der Pegida-Bewegung. Am Beispiel von Bautzen zeigte Kleffner auf, wie die rechte Szene gestärkt statt bekämpft wurde. Die Angriffe auf sorbische Jugendliche und später auf Geflüchtete zeigten eine langjährige rechte Präsenz in den Ort. Der Bautzener Bürgermeister habe die Rechten durch seine Gesprächsbereitschaft[6] aufgewertet.

Die wenigen demokratischen Gegenkräfte hingegen seien ignoriert und ausgegrenzt worden. Die jungen Flüchtlinge, die das Ziel der rechten Angriffe gewesen sind, wurden zu Tätern erklärt, als sie sich gewehrt haben. Zudem dürften ihre Unterkünfte abends nicht mehr verlassen.

So haben die Rechten in Bautzen ihr Ziel erreicht. Sie sind anerkannte Gesprächspartner eines linksliberalen Bürgermeisters, der mit Unterstützung von SPD, Grünen und Linkspartei gewählt wurde. Den Geflüchteten werden durch das Ausgehverbot die Grundrechte beschnitten.

Als positives Gegenbeispiel führte Kleffner das sächsische Heidenau an, das 2015 ebenfalls durch rassistische Aufmärsche[7] und einen Brandanschlag[8] Schlagzeilen machte.

Dass dort heute Geflüchtete und ihre Unterstützer in der Innenstadt präsent sind, ist für Heike Kleffner das Verdienst der frühzeitigen Intervention von Antifaschisten[9] aus der Umgebung. Durch die starke Polizeipräsenz vor Ort seien auch die rechten Aktivitäten stark einschränkt worden.

Diese Taktik bestätigte auf der Abschlussdiskussion des Ratschlags Albrecht von der Lieth vom Bündnis Dresden nazifrei[10]. Es zeigt aber auch eine gewandelte Einstellung von Teilen der Antifa-Bewegung zur Polizei. In den 1990er Jahren wollten die Antifa die Rechten noch selber vertreiben und sah die Polizei keineswegs als zumindest indirekten Bündnispartner.

Auch das Verhältnis zur Justiz hat sich in Teilen der unabhängigen Antifa-Szene entspannt. So hätten zivilgesellschaftliche Kräfte im sächsischen Freitag begrüßt, dass die Generalbundesanwaltschaft das Verfahren gegen eine rechte Zelle übernommen[11] hat. Von der örtliche Justiz seien sie zu oft als die Jugend von hier“ behandelt worden, die es vielleicht mit ihren Angriffen bisschen übertrieben hätten.

Dass es beim Ratschlag über die veränderte Rolle von Teilen der Antifa-Szene in Bezug auf die staatlichen Apparate keine größeren Diskussionen gab, lag sicher auch daran, dass die meisten Teilnehmer eher zur linken und liberalen Zivilgesellschaft gehörten. Dagegen waren gerade jüngere Antifa-Aktivisten kaum vertreten.

Michael Trube von der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin[12] berichtete über den Wandel ihrer Aufgaben. Während vor 10 Jahren noch die Frage im Mittelpunkt stand, wie erkenne ich Neonazis, wenn sie nicht offen auftreten, lassen sich die Leute heute beraten, wie sie bei Familien- oder Klassentreffen rechten Parolen argumentativ entgegentreten können. Das ist ein Zeichen dafür, wie sich rechte Ideologie in der Gesellschaft verbreitete.

Um sich argumentativ zu wappnen, werden verstärkt sogenannte Stammtischkämpfer[13] eingesetzt, die sich gemeinsam auf ihre Aufgabe vorbereiten. Die Parole, mit den Rechten reden wir nicht, die noch in den 1990er Jahren in der Antifa-Szene weitgehend Konsens war, ist nicht mehr zu halten, wenn nicht mehr nur Neonazi-Gruppen, sondern der eigene Onkel oder die nette Arbeitskollegin die Parolen der AfD oder von Thilo Sarrazin verbreiten.

Ob das Konzept der Stammtischkämpferinnen und – kämpfer erfolgreicher ist, muss sich zeigen. Zumindest beim Ratschlag war wenig Zeit für die Fragen einer Teilnehmerin, die in einer örtlichen Gruppe gegen rechts aktiv ist und erklärte, sie habe Verständnis für die Sorgen der Anwohner, wenn 300 alleinstehende Männer als Flüchtlinge in die Nachbarschaft ziehen oder jemand statt von Schokokuss in einer Kantine das verpönte N-Wort benutzte und deswegen entlassen wurde.


Stephan Nagel, der im Grundrechtekomitee für den Themenkomplex soziale Fragen zuständig ist, sieht in der politisch geförderten Prekarisierung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse einen Grund für das Anwachsen der Rechten. So seien durch den verstärken Zuzug von Migranten die Folgen einer bewussten Austrocknung des sozialen Wohnungsbaus durch eine wirtschaftsliberale Politik, bei der alles zur Ware wird, besonders deutlich geworden.

So entstehe bei den Menschen, die bewusst abgehängt vom sozialen Leben werden, ein Konkurrenzverhältnis zu den Zugezogenen, das sich auch auf dem prekären Arbeitsmarkt, den Essenstafeln und der Versorgung von Wohnungslosen bemerkbar macht. So werde verstärkt auch bei Sozialdiensten zwischen Wohnungslosen, die versorgt werden sollen, und Zuwanderern aus Osteuropa unterschieden, die möglichst verschwinden sollen. So sorgt die wirtschaftsliberale Politik für einen Sozialchauvinismus, der den Erfolg von Thilo Sarrazin um 2010 und jetzt der AfD erklärt.

Doch die Parole „Soziale Politik gegen rechts“ würde er nicht unterschreiben. Eine Sozialpolitik müsse verknüpft werden mit einer klaren Absage an Rassismus und Nationalismus und dem Bekenntnis, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben, betonte Nagel.

Eine Teilnehmerin kritisiert in diesem Kontext auch die Rhetorik des SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schutz, der „die hart arbeitenden Menschen“[14] ansprechen will und deshalb auch immer „schuften“ statt „arbeiten“[15] sagt. Damit würden Menschen, die aus welchen Gründen auch immer, nicht hart arbeiten, ausgegrenzt, kritisiert die Frau auf dem Forum.

Dieser richtige Einwand dürfte sicher manche Sozialdemokraten in den Bündnissen gegen rechts wenig begeistern. Aber die Frage, wie breit die Bündnisse gegen die AfD überhaupt sein sollen, blieb auf dem Ratschlag undiskutiert. Zumindest hat Stephan Nagel mit seinem Eintreten für die Rechte für alle Menschen große Zustimmung bekommen. Dann dürfte aber die Breite des Bündnisses gegen die AfD überschaubar bleiben, wenn es nicht nur ein Lippenbekenntnis bleibt.

Eine kurze Kontroverse entzündete sich nach dem Referat von Heike Kleffner an ihrer Fokussierung auf Ostdeutschland. Die rechte Mobilisierung sei ein gesamtdeutsches Problem, wurde ihr entgegen gehalten. Dem stimmte Kleffner zu, sie wies aber darauf hin, dass in NRW die Versuche, Pegida-Aufmärsche zu etablieren, an einer größeren Gegenmobilisierung scheiterten.

Nur angerissen wurde die Frage, ob die DDR-Politik oder die Wende für das Erstarken der Rechten in Ostdeutschland verantwortlich sind. Diese Frage ist noch immer mit einer Positionierung zur DDR verknüpft- Dabei kann man das Auftreten der Deutschlandfahnen schwingenden Massen mit ihren entsprechenden Parolen zeitlich ziemlich genau lokalisieren. Sie war verbunden mit der Niederlag der DDR-Oppositionellen, die für radikaldemokratische, soziale und ökologische Forderungen und nicht für die Wiedervereinigung eingetreten sind.

Seit dem November 1989 koordinierten sich ost- und westdeutsche Rechte zunehmend und schufen so die Grundlage für die ostdeutschen Spezifika in der Rechten, die heute noch bemerkbar sind. Wer sich einen grundsätzlicheren Einblick in das Thema Neonazis nach 1945 in Westdeutschland informieren wollte, hatte dazu in den Pausen Gelegenheit. Am Ort des Ratschlags ist noch einige Tage lang eine informative Ausstellung zum Thema Vergessene Geschichte – Berufsverbote -Politische Verfolgung in der Bundesrepublik Deutschland“[16] zu sehen.

Anders als im Titel vermutet, geht es dabei nicht nur um den sogenannten Radikalenerlass der 1970er Jahre, der weltweit als Berufsverbot[17] bezeichnet wurde. Es geht auch um die Vorgeschichte und mehrere Tafeln informieren darüber, wie schon um 1950 linke Nazigegner wieder verfolgt wurden, während die Altnazis in ihre Posten zurückkamen.

Die Exposition wäre nicht nur eine gute Grundlage für eine Diskussion über eine gesamtdeutsche Repression gegen Oppositionelle. sondern auch eine Hintergrundinformation für Menschen, die sich heute gegen rechts engagieren wollen.

https://www.heise.de/tp/features/Stammtischkampf-statt-Strassenkampf-3617957.html

Peter Nowak


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http://www.heise.de/-3617957

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.grundrechtekomitee.de/start
[2] http://www.grundrechtekomitee.de/node/821
[3] http://www.bebraverlag.de/autoren/autor/659-heike-kleffner.html
[4] https://www.schluss-mit-hass.de/opfer-rechter-gewalt
[5] https://freiepressevolontaere.wordpress.com/2014/02/12/die-schneeberger-lichtellaufe-eindrucke-einer-volontarin
[6] http://www.endstation-rechts.de/news/kategorie/demonstrationen-1/artikel/waffenruhe-in-bautzen-neonazis-stellen-politik-ultimatum.html
[7] http://blog.zeit.de/stoerungsmelder/2015/08/27/zahlreiche-bekannte-neonazis-bei-ausschreitungen-in-heidenau_20099
[8] http://www.svz.de/regionales/brandenburg/bb-politik/auf-heidenau-folgt-nauen-id10544716.html
[9] http://antifa-nordost.org/3024/fotos-bericht-antifa-demo-in-heidenau-23-08-2015-2
[10] http://dresden-nazifrei.com/
[11] http://www.endstation-rechts.de/news/kategorie/sonstige/artikel/generalbundesanwalt-hebt-freitaler-neonazi-terrorzelle-aus.html
[12] https://www.mbr-berlin.de
[13] https://www.aufstehen-gegen-rassismus.de/kampagne/stammtischkaempferinnen/
[14] http://www.sueddeutsche.de/medien/spd-kanzlerkandidat-martin-schulz-sagt-er-verstehe-die-menschen-1.3353936
[15] https://www.taz.de/Kolumne-So-nicht/!5375745/
[16] http://www.hausderdemokratie.de/artikel/ausstellungen.php4
[17] http://www.berufsverbote.de/index.php/Ausstellung-Vergessene-Geschichte.html

Mit besserer Sozialpolitik allein ist gegen Nazis nicht getan

Erfahrungsaustausch zur Abwehr von Rechtsextremismus und Rassismus

Was tun gegen den Rechtspopulismus? Diese Frage stellt sich angesichts von mehreren Landtags- und einer Bundestagswahl, bei denen Erfolge der AfD befürchtet werden. Das Komitee für »Grundrechte und Demokratie« legte auf einem bundesweiten Ratschlag unter dem Titel »Kampf gegen Nationalismus und Rassismus – demokratische Milieus stärken« am Samstag in Berlin den Fokus auf konkrete Handlungsmöglichkeiten. Es sei gerade in Kleinstädten und Provinzen wichtig, sich den Rechten entgegenzustellen, betonte die Journalistin Heike Kleffner. »Voraussetzung für den Erfolg rechter Mobilisierung ist ihre Akzeptanz und Integration in den Alltag«, erklärte die langjährige Beobachterin der rechten Szene.

Sie erinnerte an die sogenannten Lichtlläufe gegen die Aufnahme von Geflüchteten im sächsischen Schneeberg 2013, die zu einem Vorbild für die Pegidabewegung wurden. Die Rechtsextremen traten dort als Bürgerinitiative auf und konnten so Menschen mobilisieren, die nicht hinter Bannern von Nazi-Organisationen gelaufen wären. Am Beispiel von Bautzen zeigte Kleffner auf, wie man die rechte Szene stärkt, statt bekämpft. Die aktuellen Angriffe auf sorbische Jugendliche und später auf Geflüchtete basierten auf einer langjährigen rechten Präsenz im Ort. Der Bürgermeister habe die Rechtsextremen durch seine Gesprächsbereitschaft aufgewertet. Die wenigen Gegenkräfte hingegen seien ausgegrenzt worden und die jungen Flüchtlinge, die das Ziel der Angriffe gewesen sind, durften ihre Unterkünfte abends nicht mehr verlassen.

Als positives Gegenbeispiel führte Kleffner das sächsische Heidenau an, wo sich Geflüchtete und ihre Unterstützer rechtsextremistischen Angriffen erfolgreich widersetzten. Einen Grund dafür sieht Kleffner in der frühzeitigen Intervention von Antifaschisten aus der Umgebung. Zudem habe die Polizeipräsenz das Tun der Rassisten eingeschränkt.

Den Erfolg dieser Taktik bestätigte Albrecht von der Lieth. Er gehört zum Bündnis »Dresden nazifrei«. Es zeige sich auch eine gewandelte Einstellung von Teilen der Antifa-Bewegung zur Polizei. Michael Trube von der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin berichtete über den Wandel ihrer Aufgaben. Während vor zehn Jahren noch die Frage im Mittelpunkt stand, wie erkenne ich Neonazis, wenn sie nicht offen auftreten, gehe es heute vor allem um Beratung dazu, wie man bei Familien- oder Klassentreffen rechten Parolen argumentativ entgegentreten kann. Um sich inhaltlich zu wappnen, werden auch sogenannte Stammtischkämpfer geschult und eingesetzt. Stephan Nagel, der im Grundrechtekomitee für den Themenkomplex soziale Fragen zuständig ist, sieht in der politisch geförderten Prekarisierung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse einen Grund für das Anwachsen des rechten Spektrums. Doch reiche dagegen keine bessere Sozialpolitik. Die müsse verknüpft werden mit einer klaren Absage an Rassismus und Nationalismus sowie dem Bekenntnis, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben, betonte Nagel.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1040870.mit-besserer-sozialpolitik-allein-ist-gegen-nazis-nicht-getan.html

Peter Nowak

Die Mär von der liberalen Merkel-CDU und von Merkels Willkommenskultur

Union schließt sich rechter Kampagne gegen die Amadeu-Antonio-Stiftung an, unter Merkels Willkommenskultur wurde das Asylrecht drastisch verschärft

„Wir Bayern müssen, wenn die Geschichte es erfordert, notfalls die letzten Preußen werden.“ Dieses wenig bekannte Bekenntnis von Franz Josef Strauß findet sich auf der Homepage der CSU-Bundesabgeordneten Iris Eberl[1]. Sie könnte dort auch an das Bonmot ihres politischen Lehrmeisters erinnern, dass rechts von der CSU nur die Wand sein soll.

Eberl praktiziert diesen Grundsatz sehr genau, wenn sie sich im CSU-Organ Bayernkurier unter der Überschrift: „Meinungsfreiheit – Wir können nicht den Bock zum Gärtner machen“[2] gegen eine Unterstützung der Amadeu-Antonio-Stiftung[3] ausspricht. Die hat sich mit ihrer Förderung einer demokratischen Gesellschaft den Hass aller Rechten auf sich gezogen[4]. Eberl ist da nur eine besonders eifrige Kämpferin gegen eine angeblich linke Meinungsdiktatur.

„Wie kann es sein, dass in unserem demokratischen Rechtsstaat die Definitionshoheit darüber, was im politischen Diskurs erlaubt ist und was daraus verschwinden muss, einer linken Aktivistengruppe überlassen wird?“ Schon die Fragestellung zeigt, dass Eberl wenig Berührungsängste mit dem rechten Rand hat. Daher lässt sie sich auch von der rechtskonservativen Wochenzeitung Junge Freiheit mit der Forderung an Bundesinnenminister Heiko Maas zitieren[5], die Kooperation mit der Amadeu-Stiftung zu beenden und die finanzielle Förderung zu überprüfen.

Nun ist Eberl damit weder in der CSU noch in deren Schwesternpartei CDU isoliert. So wird im Bayernkurier beklagt, dass durch die Förderung der Amadeu Stiftung „Staatsknete an Linksextremisten“ fließe. Da brauchen die zahlreichen Pegida-Redner, die derlei in den letzten Monaten immer wieder behauptet haben, also nur aus einer den Regierungsparteien nahe stehenden Zeitung zitieren. Neben Eberl haben auch zahlreiche weitere Politiker von CSU und CDU in den letzten Monaten Stimmung gegen die Stiftung verschärft.

Aktueller Stichwortgeber ist der selbsternannte Anti-Stasi-Kämpfer aus Hamm, Hubertus Knabe, der sich wohl nicht zufällig Kahanes Stasi-Akte noch einmal angesehen hat. Sie hat allerdings ihre Tätigkeit für die Stasi nie verschwiegen, aber auch ihren Bruch mit der DDR deutlich gemacht. Wenn Knabe nun titelt „Stasi-IM als Netzspionin?“[6] erweist er sich als Stichwortgeber einer rechten Kampagne[7], die bereits seit Monaten im Gange ist und das Fragezeichen einfach weglässt.

Der Politologe Samuel Salzborn hat in einem wissenschaftlichen Gutachten[8] die rechte Kampagne gegen die Stiftung und dabei auch die Rolle der Union gut beschrieben. Dass nun auch die Junge Union auf dem CDU-Bundesparteigtag den Antrag „Staatliche Förderung der Amadeu-Antonio-Stiftung stoppen!“[9] einbrachte und dieser beschlossen[10] wurde, ist also nur konsequent. Es zeigt, dass die rechte Kampagne in der sogenannten Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Gefordert wird eine Überwachung durch den Verfassungsschutz und eine Wiedereinführung der Extremismusklausel.

Erstaunlich sind hingegen die Reaktionen aus Medien und Politik, die den Eindruck erwecken, da hätten einige Rechte den Parteitag gekapert. Größere Aufmerksamkeit bekam der Beschluss zur Ablehnung der Doppelten Staatsbürgerschaft, der schließlich auch eine knappe Mehrheit bekam. Auch hier zeugt die Reaktion zumindest von einem Kurzzeitgedächtnis. Ist schon vergessen, dass der hessische Ministerpräsident Roland Koch vor knapp 15 Jahren mit seiner Ablehnung gegen die damals von rot-grün geplante doppelte Staatsbürgerschaft Wahlkampf machte und gewann? Er initiierte eine rechtlich unverbindliche, aber politisch sehr wirksame Unterschriftenaktion, an der sich vom ersten Tag an auch die extreme Rechte beteiligte.

Dass der Beschluss auf dem CDU-Parteitag ein überraschender Rechtsruck ist, der die Union politisch isoliert, hat wenig mit der Realität zu tun. Es wird sich zeigen, ob sie mit solchen Beschlüssen nicht nach dem Vorbild von Koch Wahlen gewinnen kann. Dann würden auch die Stimmen der Vertreter von SPD und Grünen, die sich jetzt empört geben, ganz anders klingen. Wenn die dann überhaupt noch gebraucht werden zur Regierungsbildung.


Manche halten sogar eine absolute Mehrheit der Union bei den nächsten Bundestagswahlen für nicht unwahrscheinlich. Da könnte eine Arbeitsteilung gute Hilfestellung ergeben. Weil sich Merkel verbal von dem Beschluss zur Ablehnung der doppelten Staatsbürgerschaft distanziert, bleibt sie weiterhin ein Bezugspunkt für manche Liberale und Linke. Um die Basis vor der Wahl der AfD abzuhalten, wird der Beschluss auch gegen Merkels Bekundungen im Wahlkampf eine Rolle spielen.

Doch wie die linksliberalen Merkel-Unterstützer beharrlich darüber hinweggesehen haben, dass die Kampagne gegen die Amadeu Stiftung von Unionspolitikern munitioniert wird, wollen sie sich auch eine andere Fama nicht ausreden lassen: Dass Deutschland unter Bundeskanzlerin Merkel das Land der Willkommenskultur für Geflüchtete ist. Diese Überzeugung haben nicht nur Rechte aller Couleur, die dagegen Sturm laufen und Merkel zum Feindbild erklären. Auch bis weit ins linke Milieu gilt Merkel als das freundliche Gesicht Deutschlands, die sich für die Rechte der Migranten einsetzt.

Ein ganz anderes Bild zeichnet die aktuelle Ausgabe der Publikation „Cilip – Bürgerrechte und Polizei“ mit dem Schwerpunktthema „Überwachung, Verdatung und Sanktionen. Die neuen Maßnahmen gegen Geflüchtete“[11]. Das Heft widmet sich in 10 Kapiteln den massiven Verschärfungen des Asylrechts, die die Regierungskoalition seit Herbst 2015 im Windschatten der Debatten über die Willkommenskultur durchgesetzt hat.

Der Cilip-Mitherausgeber Heiner Busch sieht in den Bedrohungsszenarien, die nicht nur von ultrarechten Kreisen verbreitet wurden, einen wichtigen Grund, dass diese Gesetzesverschärfungen ohne relevanten Widerstand möglich wurden. Busch zitierte den Staatsrechtler Udo Di Fabio, der in seinem im Januar 2016 für die bayerische Landesregierung erstellten Gutachten[12] schrieb: „Kann ein Staat die massenhafte Einreise von Menschen in sein Territorium nicht mehr kontrollieren, ist ebenfalls seine Staatlichkeit in Gefahr.“ Solche Sätze lieferten nicht nur der bayerischen Staatsregierung[13], sondern allen rechten Gegnern der Flüchtlinge die passenden Stichworte. Sie liefern auch die Rechtfertigung, für die verschärfte staatliche Gewalt gegen Geflüchtete und Migranten.

„Eine Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen mag verfassungswidrig sein, aber eine Obergrenze für symbolische Gesetzgebung mit habhaften, gar gewaltsamen Folgen für die davon Betroffenen ist vorerst nicht in Sicht“, lautet das ernüchternde Fazit[14] von Heiner Busch über die von vielen so hochgelobte Flüchtlingspolitik von Merkel.

Im aktuellen Cilip-Heft gibt es für diesen Befund zahlreiche Beispiele im Detail. So beschreibt das Vorstandsmitglied des Komitees für Grundrechte und Demokratie[15], Christoph Schröder, wie seit Sommer 2015 die Polizei zahlreiche Aufgaben der Asyl- und Sozialbehörden übernommen hat. Was als Ausnahmesituation angesichts des Andrangs der Geflüchteten gerechtfertigt wurde, ist längst zum Normalzustand geworden Die Folge der Verpolizeilichung der Flüchtlingsarbeit bedeutet auch eine Einschränkung der Rechte für die Menschen: „Die zahlreichen Polizisten übertrugen die Arbeitsstrukturen und Organisationsformen aus dem Polizeialltag auf das Flüchtlingsmanagement“, so Schröder.

Der Mitarbeiter des Bayerischen Flüchtlingsrats[16], Stefan Dünnwald, bezeichnet die in dem Bundesland eingerichteten Ankunfts- und Rückführungszentren[17] für Menschen aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten als Orte der Ausgrenzung und der Rechtlosigkeit.

Der Referent für Innenpolitik bei der Linksfraktion Dieter Burczyk zeigte am Beispiel von zwei neuen Gesetzen, wie die Geflüchteten zum riesigen Datenpool für viele Behörden werden. Der ebenfalls als Referent für die Linkspartei arbeitende Matthias Monroy beschreibt, wie mit Verweis auf angebliche Schleusertätigkeiten die Befugnisse von Polizei und V-Leuten in den letzten Monaten massiv ausgeweitet wurden. Dabei wird auf die Ermittlungen im Ausland besonderer Wert gelegt. Ein wichtiger Kooperationspartner für die verdeckten Ermittler ist nach wie vor die Türkei, wo der V-Leute Einsatz für Festnahmen sorge

Die Berliner Rechtsanwältin Anja Lederer ging in ihren Beitrag[18] auf die 2016 beschlossenen Verschärfungen im Ausweisungsrecht ein. Es diene der Disziplinierung der Menschen ohne deutschen Pass und sanktioniere Handlungen, die nach dem Strafrecht nicht verfolgt würden“, so ihr Fazit.

https://www.heise.de/tp/features/Die-Maer-von-der-liberalen-Merkel-CDU-und-von-Merkels-Willkommenskultur-3568067.html


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[1] http://iriseberl.de/
[2] http://www.bayernkurier.de/inland/18978-der-bock-als-gaertner
[3] http://www.amadeu-antonio-stiftung.de
[4] https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/aktuelles/2016/salzborn-gutachten
[5] https://jungefreiheit.de/politik/deutschland/2016/kahanes-stasi-vergangenheit-sorgt-weiter-fuer-kritik/)
[6] https://twitter.com/hubertus_knabe/status/805083398884757504
[7] http://www.tagesspiegel.de/politik/trotz-rechter-kampagne-weiter-staatsgeld-fuer-amadeu-antonio-stiftung/14940904.html
[8] https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/w/files/pdfs/salzborn-gutachten-aas-als-meinungsfreiheit-getarnter-hass.pdf
[9] https://data.junge-union.de/pdf/2016/10/26/4722-58107cbed18c4.pdf
[10] https://www.cdu.de/system/tdf/media/dokumente/cdupt16_ueberwiesene_antraege_0.pdf?file=1
[11] https://www.cilip.de/2016/10/04/111-oktober-2016-die-neue-fremdenpolizei/
[12] http://www.bayern.de/wp-content/uploads/2016/01/Gutachten_Bay_DiFabio_formatiert.pdf
[13] http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/gutachten-udo-di-fabios-zur-grenzsicherung-14010809.html
[14] https://www.cilip.de/2016/11/02/neu-alte-fremdenpolizei-mit-staatlicher-gewalt-gegen-gefluechtete-und-migrantinnen/
[15] http://www.grundrechtekomitee.de/
[16] http://www.fluechtlingsrat-bayern.de/
[17] http://mediendienst-integration.de/artikel/studie-hildegard-lagrenne-stiftung-kinderrechte-von-roma-asylbewerbern-in-aufnahme-und-rueckfuehrung.html
[18] http://www.cilip.de/2016/11/07/ausweisung-reloaded-gesetzgebung-unter-dem-vorwand-von-koeln/

Knackis in der Altersarmut

Sozialverbände kämpfen für den Rentenanspruch von Inhaftierten. Doch viele Gefängnisse verhindern, dass die Insassen über ihre Rechte aufgeklärt werden.

Jahrzehntelanges Arbeiten ohne Aussicht auf Altersbezüge – genau das droht vielen ehemaligen Strafgefangenen, obwohl sich immer mehr in ei­genen Gewerkschaften organisieren (Jungle World 48/2015).

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Ein Streik hinter Gittern wäre Meuterei

Mehmet Aykol arbeitet seit über 20 Jahren in einer Druckerei. Doch im Rentenalter droht ihm Armut, er wird auf Grundsicherung angewiesen sein. Aykol gehört zu den etwa 64 000 Strafgefangenen in Deutschland, die trotz regelmäßiger Arbeit keine Rentenansprüche haben. »Das widerspricht dem erklärten Ziel des Strafvollzugs, straffällig gewordene Menschen dabei zu unterstützen, den Weg zurück in die Gesellschaft zu finden«, erklärte Michael Löher vom Vorstand des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge. Gemeinsam mit weiteren sozialpolitischen Organisationen hat er am Mittwoch auf einer Pressekonferenz die Einbeziehung der Strafgefangenen in die Rentenversicherung gefordert.

Bereits in den früheren 1970er Jahren diskutierten Juristen und Kriminologen die soziale Gleichstellung der Beschäftigten hinter Gittern. Das Strafvollzugsgesetz von 1977 sah die Einbeziehung der Gefangenen in die Rentenversicherung vor. Sie wurde nicht umgesetzt, weil sich Bund und Länder nicht über die Finanzierung einigen konnten. Für Martin Singe vom Komitee für Grundrechte und Demokratie geht es dabei um eine massive Verletzung der Grundrechte. Ähnlich argumentiert die Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe, Gabriele Sauermann: »Arbeitende Gefangene werden nicht nur gegenüber ihren Kollegen draußen diskriminiert sondern auch gegenüber den Strafgefangenen, die als Freigänger außerhalb der Gefängnisse arbeiten und in die Rentenversicherung einbezogen sind.« Aus vielen Kontakten mit den Gefangenen weiß sie, wie stark der Ausschluss aus der Rentenversicherung die Menschen belastet.

Die 2014 gegründete Gefangenengewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO) erfährt unter anderem wegen ihres Eintretens für die Rente arbeitender Gefangener viel Zustimmung. GG/BO-Sprecher Falk Pyrczek betont allerdings auch, dass nur die Zahlung von Mindestlohn für die Knastarbeit gewähreistet, dass die Gefangenen von ihrer Rente leben können.

Noch eine weitere Forderung der GG/BO ist für den Kampf um die Rente hinter Gittern wichtig: Die Gewährleistung von vollen gewerkschaftlichen Rechten im Gefängnis. »Wenn aktuell Gefangene für die Einbeziehung in die Rentenversicherung in einen Streik treten würden, könnten und müssten sie wegen Meuterei mit empfindlichen Strafen rechnen«, erklärt Pyrczek. So werde das Gefängnis zu einem Billiglohnland im Inneren der Bundesrepublik, das auch Arbeitskräfte an die Automobilbranche verleiht. Als hoffnungsvolles Zeichen wertet der Gefangenengewerkschafter, dass der LINKE-Bundesvorstand die Forderungen der GG/BO unterstützt. Pyrczek hofft, dass das Bundesland Thüringen mit dem LINKE-Ministerpräsidenten Bodo Ramelow im Bundesrat die Initiative für die Rechte der Gefangenen ergreift.

Bei der Herbstkonferenz der Bundesjustizminister am 17. November in Berlin steht das Thema Rente für arbeitende Gefangene wieder einmal nicht auf der Tagesordnung. Michael Löher vom Vorstand des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge erwartet in dieser Legislaturperiode keine Ergebnisse mehr. Jetzt müsse dafür gesorgt werden, dass die Forderung nach Einbeziehung der Gefangenen in die Rentenversicherung in die Koalitionsverhandlungen nach den nächsten Bundestagswahlen Eingang findet.

Peter Nowak

„Die kamen, haben zugeschlagen und sind wieder heimgefahren.“

Die Kritik am Verhalten der Polizei bei der Verhinderung der Blockupy-Demonstration am 1.6. wird lauter. Doch wer hat die politische Verantwortung?

Nach der Verletzung des Demonstrationsrechtes für tausende Menschen kommt das Land nicht zu Ruhe. Täglich gibt es Proteste in allen Teilen des Landes, bei denen der Sturz der Regierung gefordert wird. Dabei handelt es sich um Szenen aus der Türkei. In Deutschland blieben die Reaktionen auf die ebenfalls am vergangenen Samstag von der Polizei verhinderte Blockupy-Demonstration sehr zurückhaltend. Obwohl fast alle Medien das Vorgehen der Polizei kritisieren und bestreiten, dass vonseiten der Demonstranten Gewalt ausgeübt wurde, gab es keine große gesellschaftliche Diskussion über das Geschehen. Schon am Dienstag spielten die Ereignisse von Frankfurt nur noch eine kleine Rolle in der Medienberichterstattung.


„Der Schwarze Block war bunt“

Dabei mangelte es nicht an aktuellen Meldungen, die als Grundlage für die Berichterstattung hätten diesen können. Täglich werden Augenzeugenberichte aus unterschiedlichen Teilen der gewerkschaftlichen, bürgerrechtlichen und zivilgesellschaftlichen Bewegung veröffentlicht. Die inhaltliche Stoßrichtung gleicht sich.

So heißt es in einem von Wissenschaftlern, Ärzten und Gewerkschaftern unterzeichneten offenen Brief gegen die Ausgrenzung gesellschaftlicher Opposition durch Polizei und Teile der Medien:

„Der ’schwarze‘ Block war bunt. Die ‚Vermummung‘ bestand vor allem aus Sonnenbrillen und Regenschirmen. Der unmittelbare Vorwand der Einkesselung von über 1.000 Personen über insgesamt 9 Stunden war das Abbrennen von 3 bengalischen Feuern.“

Auch über das Vorgehen der Polizei gegen Demonstranten äußern sich die Verfasser des Offenen Briefes kritisch:

„Vor unseren Augen ist Menschen ohne Vorwarnung, ohne Beteiligung an einer Rangelei o.ä. und ohne, dass eine Gefahrensituation vorgelegen hätte, Pfefferspray aus unmittelbarer Nähe direkt ins Gesicht gesprüht worden (über die Erblindungsrate der Pfefferspray Wirkung wird derzeit diskutiert, Anm. d. A.). Vor unseren Augen sind wehrlose Demonstranten misshandelt worden, indem ihnen bspw. der Kopf nach hinten gezogen und Mund und Nase zugehalten worden ist. Einige brachen daraufhin zusammen. Sie sind nur Dank der Initiative von Teilnehmer der Demonstration versorgt worden. Vor unseren Augen ist Menschen, die an Armen und Beinen zur Personalienfeststellung davon getragen wurden, von den sie tragenden Polizisten in die Seite und in den Unterleib getreten worden.“

Aus dem Kreis der Unterzeichner des Offenen Briefes, die die die Geschehnisse um die Blockupy-Demonstration stundenlang beobachtet und dokumentiert haben, kommt auch die Initiative für eine Onlinepetition.

Die im dem Brief formulierten Beobachtungen decken sich auch mit dem Bericht der Demosanitäter, die von über 100 Verletzten während der Räumung des Kessels sprechen. Auch der Geschäftsführer der zivilgesellschaftlichen Stiftung Ethecon hat in einem persönlichen Bericht über die Ereignisse auf der Demonstration von schweren Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei gesprochen. Das Komitee für Grundrechte, das mit zahlreichen Demobeobachtern vor Ort war, kommt zu einem ernüchternden Resultat:
„Auch dieses Jahr kein Grundrecht auf Versammlungsfreiheit in der Stadt Frankfurt.“

Gewerkschaftlicher Protest

Harald Fiedler, der Vorsitzende des DGB-Rhein-Main, der nicht zur Blockupy-Demonstration aufgerufen hat, äußert sich ebenfalls kritisch zur Polizeistrategie und deutet am Ende der kurzen Erklärung sogar an, dass de DGB eine Teilnahme bei der nächsten Blockupy-Aktion in Erwägung zieht.

Wer das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit, so wie am Wochenende geschehen, einenge, der dürfe sich nicht wundern, dass immer mehr Menschen gegen die Willkür von Banken und Herrschenden und deren Politik aufstehen und bei der nächsten Blockupy Demonstration dabei sind. Der DGB, so Fiedler, werde dies in seinen eigenen Reihen bewerten.

In einer Erklärung von verdi-Hessen wird vor allem die Einschränkung von Presseleuten bei der Demonstration moniert. Der Vorsitzende der hessischen GEW Jochen Nagel berichtet in einem Brief, wie er selber Opfer einer Polizeiattacke wurde und kommt zu dem Fazit.

„Die Polizeiführung wollte damit eine Eskalation provozieren, um diese dann nachträglich als Legitimation für ihre Verhinderung einer legalen Demonstration auf der gerichtlich bestätigten Route benutzen zu können.“

Nach Informationen der Frankfurter Rundschau gibt es selbst bei der Polizei Kritik am Vorgehen gegen die Demonstration. Danach habe ein Mitglied einer Spezialeinheit das Vorgehen seiner Kollegen mit den Worten kommentiert: „Die kamen, haben zugeschlagen und sind wieder heimgefahren.“

In einem Brief an den hessischen Innenminister Boris Rein spricht der Arzt Joachim Dlugosch von einem vorher geplanten Angriff der Polizei. Mittlerweile mehren sich die Stimmen, die die Verantwortung für den Einsatz im hessischen Innenministerium sehen. Dort sei die Polizeistrategie festgelegt und auch jeder Kompromiss mit den Demonstranten verhindert worden. Rücktrittsforderungen kommen bisher nur von den Jusos und der Linkspartei. Die fordert Meinungsfreiheit in Istanbul und Frankfurt/Main.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/154400
Peter Nowak