Zu Gast im Knast

Die Bundesregierung will das Asylrecht erneut verschärfen. Anders als im Jahr 1993 ist kein großer außerparlamentarischer Widerstand zu erwarten.

Die Zugänge zum Bundestag werden von Tausenden Menschen blockiert, die sich gegen die Verschärfung der Asylgesetzgebung wenden. Auf den Straßen kommen die Bundestagsabgeordneten nicht weiter. Manche Antirassisten haben auch Boote gemietet, die mit Transparenten und Lautsprechern ausgestattet sind.

Solche Bilder gab es am 26. Mai 1993 in der Umgebung des Bonner Parlaments zu sehen. Doch Antirassisten aus der ganzen Republik konnten nicht verhindern, dass vor mehr als 22 Jahren eine ganz große Koalition aus SPD, FDP und CDU/CSU das Asylrecht derart verschärfte, dass es faktisch abgeschafft wurde. Die Proteste konnten die Abstimmung allerdings um viele Stunden verzögern. Zudem war die antirassistische Gegenwehr das bestimmende Thema in der in- und noch mehr in der ausländischen Presse. Vor allem in Deutschlands Nachbarländern wurden die Anliegen der Kritiker verstanden. Während in west- und vor allem ostdeutschen Städten ein Bündnis aus Neonazis und Wutbürgern Flüchtlingsheime attackierte, zeigten die Politiker der führenden Parteien, dass sie die vermeintlichen Sorgen der deutschen Bevölkerung ernstnahmen.

Mehr als zwei Jahrzehnte später haben die »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« und ihre regionalen Ableger das Erbe der Vorkämpfer aus den frühen neunziger Jahren ebenso angetreten wie die lokalen »Nein-zum-Heim-Initiativen«, die es in der ganzen Republik gibt. Und wieder zeigen bundesdeutsche Politiker großes Verständnis für die Anliegen derartiger Zusammenschlüsse, und wollen das Asylrecht abermals verschärfen.

Für den 2. Juli ist die zweite und dritte Lesung des Gesetzes zur »Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung« im Bundestag angesetzt. Das Gesetz würde eine umfassende Ausweitung der Abschiebehaft für Flüchtlinge bedeuten. Die Haft soll möglich sein, wenn jemand »unter Umgehung einer Grenzkontrolle eingereist« ist, Identitätspapiere wie Ausweise vernichtet oder »eindeutig unstimmige oder falsche Angaben gemacht« hat, wie es im Gesetzentwurf heißt. Abschiebehaft droht auch, wenn Geflüchtete vor der Einreise nach Deutschland bereits in einem anderen EU-Land registriert wurden, wenn Identitätspapiere fehlen oder die Behörden der Ansicht sind, sie würden über die Identität des Asylsuchenden getäuscht. Zudem droht Abschiebehaft, wenn Geld für Fluchthelfer bezahlt wurde und wenn der Flüchtling »Mitwirkungshandlungen zur Feststellung der Identität verweigert oder unterlassen hat«. Eine fünfjährige Einreise- und Aufenthaltssperre soll Flüchtlingen drohen, deren Asylantrag im Schengen-Raum bereits abgelehnt wurde, die ihrer Ausreisepflicht nicht in der »gesetzten Ausreisefrist« nachgekommen sind oder »in das Bundesgebiet eingereist sind, um öffentliche Leistungen zu beziehen«.

Die Formulierungen des Gesetzes machen deutlich, dass eine erhebliche Kriminalisierung von Flüchtlingen möglich wäre. Die Delikte sind so vage formuliert, dass sehr viele Menschen betroffen sein könnten. So soll die Bezahlung von Fluchthelfern zu einer strafbaren Handlung erklärt werden, obwohl dies für viele Menschen die einzige Möglichkeit ist, überhaupt nach Europa zu kommen. Statt, wie von humanitären und zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Pro Asyl seit Langem gefordert, den in vielen Ländern Nordafrikas festsitzenden Flüchtlingen gefahrlose Transfermöglichkeiten zu öffnen, damit sie nicht mehr den Weg über das Mittelmeer nehmen müssen, sollen sie nun kriminalisiert werden.

Diese umfassenden Pläne zur Kriminalisierung von Flüchtlingen fallen in eine Zeit, in der die Empörung über die Tausenden toten Flüchtlinge an der Außengrenze Europas auch in Deutschland gewachsen ist. Das zeigte sich beispielsweise am 20. Juni, als anlässlich des »Gedenktags für die Opfer von Flucht und Vertreibung« das Kunstkollektiv »Zentrum für politische Schönheit« unter dem Motto »Die Toten kommen« symbolisch tote Flüchtlinge in Deutschland beerdigte. Während das Gräberfeld auf der Wiese vor dem Bundestag schon nach wenigen Stunden von der Gartenbaubehörde eingeebnet wurde, gibt es in den Grünanlagen zahlreicher deutscher Städte mittlerweile symbolische Gräber, mit denen der unbekannten Flüchtlinge gedacht werden soll, die im Mittelmeer ertrunken sind.

Allerdings spielen die tödlichen Folgen der bundesdeutschen Flüchtlingspolitik in der Kampagne des Künstlerkollektivs keine Rolle. Dabei liefert seit mehr als 20 Jahren eine Arbeitsgruppe der Antirassistischen Initiative Berlin in einer jährlich aktualisierten Dokumentation der tödlichen Folgen der bundesdeutschen Flüchtlingspolitik immer wieder stichhaltige Beweise. Dort sind zahlreiche Suizide von Flüchtlingen dokumentiert, die es in den Heimen nicht mehr aushielten oder Angst vor der Abschiebung hatten.

Tritt das geplante neue Gesetz in Kraft, droht auch eine Zunahme solcher Verzweiflungstaten. Auf den Zusammenhang zwischen den tödlichen Folgen der Flüchtlingspolitik an den EU-Grenzen und denen in Deutschland hat in den vergangenen Wochen die Kampagne »Asylrechtsverschärfung stoppen« hingewiesen. Sie ruft unter dem Motto »Wer nicht ertrinkt, wird eingesperrt« zum Widerstand gegen das Gesetz auf. Allerdings wird es Anfang Juli wohl zu keiner Parlamentsblockade wie im Mai 1993 in Bonn kommen. Das ist auch ein e Folge der Schwächung der außerparlamentarischen Linken in den vergangenen zwei Jahrzehnten. So verlegten sich Antirassisten bisher auf symbolische Taten wie das Einfärben zweier Brunnen in Berlin. »Wir haben die Farbe Rot gewählt, um an das Blut der Menschen zu erinnern, die an den Außengrenzen der EU ihr Leben verloren haben und die aufgrund von bürokratischen Entscheidungen und unmenschlichen Gesetzen in ihrer Existenz bedroht sind. Das mag vielleicht ein wenig pathetisch sein, aber für eine andere Farbe reichte unsere Phantasie leider nicht aus«, heißt es in der Pressemitteilung eines antirassistischen Bündnisses.

Am rechten Rand wird hingegen schon für weitere Asylrechtsverschärfungen getrommelt. So besetzten Mitglieder der rechtsextremen »Identitären Bewegung« am 28. Juni SPD-Büros in Hamburg und Berlin, um gegen einen »Bevölkerungsaustausch« zu protestieren. Die SPD trage Verantwortung, »dass wir als Deutsche in nur wenigen Jahrzehnten zur Minderheit im eigenen Land werden«, heißt es der klassischen rechten Diktion in einer Pressemitteilung. Auch der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) hat in einem Interview mit dem Münchner Merkur eine neue Kampagne gegen den angeblichen Asylmissbrauch angeleiert.

Dabei richtete er sich auch gegen eine Passage in der Rede von Bundespräsident Joachim Gauck, die dieser am »Tag der Opfer von Flucht und Vertreibung« im Deutschen Historischen Museum in Berlin gehalten hatte. Gaucks Publikum bestand aus Mitgliedern und Sympathisanten des Bundes der Vertriebenen, für den der Gedenktag installiert wurde.

Gauck redete auch ganz nach dem Geschmack dieser Klientel, besang das Lied von den Heimatvertriebenen als deutschen Opfern und beklagte, dass es zeitweise tabu gewesen sei, »Heimatlieder« zu singen. In einer Passage zog er jedoch auch eine Verbindung zu den derzeitigen Flüchtlingen. »Ich weiß aus vielen Gesprächen mit Heimatvertriebenen, dass sie solche Vergleiche nicht gerne hören. Die Ursachen sind jetzt andere, jetzt geht es auch um massenhaften Asylmissbrauch. Ich finde diese Diskussion nicht angezeigt«, sagte Seehofer dazu. Damit dürfte er die Stimmung im Umfeld der Vertriebenenverbände gut erfasst haben.

Seehofers Schelte macht Gaucks Rede aber nicht akzeptabel. Denn es ist geradezu grotesk, Menschen, die wegen einer Notlage aus ihrem Herkunftsland fliehen müssen, mit einem Personenkreis in Verbindung zu bringen, der vor 1945 mehrheitlich die NS-Politik begeistert unterstützte und im Zuge der deutschen Niederlage die Verwirklichung der Parole »Heim ins Reich« etwas anders als gedacht erlebte.

http://jungle-world.com/artikel/2015/27/52232.html

Peter Nowak

Streiks im Erziehungs- und Pflegebereich

Aus der Perspektive der Krise der sozialen Reproduktion betrachten!
Interview mit Gabriele Winker*

Die jahrelange Vernachlässigung von Investitionen in die öffentliche Daseinsvorsorge zugunsten der Profitsteigerung mündet in einen nicht mehr tragbaren Raubbau an den Kräften der dort Beschäftigten. Die meisten Streiks drehen sich derzeit um Probleme der Arbeitsüberlastung und die auch finanziell zu geringe Anerkennung der Berufe im «Dienst am Menschen». Die Sozialwissenschaftlerin Gabriele Winker sieht darin eine Krise der sozialen Reproduktion überhaupt und ordnet sie ein in die umfassende, aktuelle Krise des Kapitalismus.

Was verstehen Sie unter Care Revolution?
Das Konzept Care Revolution nimmt einen grundlegenden Perspektivwechsel vor. Das ökonomische und politische Handeln darf nicht weiter an Profitmaximierung, sondern es muss an menschlichen Bedürfnissen, primär der Sorge umeinander, ausgerichtet sein. Eine Gesellschaft muss sich also daran messen lassen, inwieweit sie grundlegende Bedürfnisse gut und für alle Menschen realisieren kann. Dazu gehört eine hervorragende soziale Infrastruktur. Nicht zuletzt um dieses hohe Gut für alle streiken die Erzieherinnen und Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter derzeit.

Was hat der aktuelle Kita-Streik mit Care Revolution zu tun?
Die Streikenden in Kitas und weiteren sozialen Einrichtungen haben nicht nur unsere grundlegende Solidarität verdient, sondern wir sollten sie auch in unserem ureigensten Interesse tatkräftig unterstützen. Erzieherinnen gehören zu den Care-Beschäftigten: Sie kümmern sich um unsere Kinder. Dies beinhaltet vielfältige anspruchsvolle Tätigkeiten, die stereotyp Frauen zugeordnet werden. Da in Familien vor allem Frauen unentlohnt für die Kindererziehung zuständig sind, wird in der Konsequenz auch der Beruf der Erzieherin schlecht entlohnt. Dies ändert sich auch derzeit nicht, obwohl es einen zunehmenden Fachkräftemangel gibt.
Nach wie vor ist der Umgang mit Technik, der männlich konnotiert ist, deutlich höher entlohnt als der mit Menschen. Das hat auch viel damit zu tun, dass Technik in der Güterproduktion und der produktionsnahen Dienstleistung profitabel eingesetzt werden kann, während aus kapitalistischer Perspektive Erziehungsarbeit nur mit Kosten verbunden ist. Dabei sind die Löhne der Beschäftigten ein wichtiger Kostenfaktor ebenso wie die Personalausstattung, die es deswegen zu reduzieren gilt.

Auf welche theoretischen Prämissen stützen Sie sich beim Konzept «Care Revolution»?
Einerseits bin ich beeinflusst von der zweiten Frauenbewegung [die der 70er und 80er Jahre]. Bereits in den 70er Jahren wurde in diesem Rahmen auch in der BRD dafür gekämpft, die nicht entlohnte Hausarbeit als gesellschaftlich notwendige Arbeit anzuerkennen. Dies führten bspw. Gisela Bock und Barbara Duden in ihrem Beitrag zur Berliner Sommeruniversität für Frauen 1977 aus. In den 90er Jahren begannen dann im US-amerikanischen Kontext Debatten um die Care-Arbeit.
Mit diesem Begriff verweist bspw. Joan Tronto sehr früh darauf, dass Menschen in ihrem ganzen Leben immer Sorge von anderen benötigen und somit nicht völlig autonom leben können, sondern ihr Leben vielmehr in interdependenten Beziehungen gestalten. Davon habe ich gelernt, dass Menschen als grundlegend aufeinander Angewiesene zu begreifen sind. Meine Vorstellung von einer solidarischen Gesellschaft, die ich als Ziel einer Care Revolution entwickele, baut deswegen auf menschliche Solidarität und Zusammenarbeit.

Wer ist Träger der neuen Care-Revolution-Bewegung?
Auffallend ist, dass es im entlohnten Care-Bereich in Bildung und Erziehung sowie Gesundheit und Pflege, aber auch im unentlohnten Care-Bereich ausgehend von Sorgearbeit in Familien viele kleine Initiativen gibt, bspw. Elterninitiativen, Organisationen von pflegenden Angehörigen, Gruppen von Menschen mit und ohne Behinderungen, Initiativen von und für Flüchtlinge, aber auch aktive Ver.di- und GEW-Gruppen sowie queer-feministische und linksradikale Gruppen, die das Thema Care aufnehmen.
Viele engagieren sich für bessere politisch-ökonomische Rahmenbedingungen, damit sie für sich und andere besser sorgen können. Alleine und vereinzelt sind sie allerdings bisher zu schwach, um im politischen Raum wahrgenommen zu werden und eine grundlegende Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen zu erreichen. Deswegen steht hinter dem Begriff Care Revolution die Idee, diese Gruppen nicht nur über den Begriff zu verbinden, sondern darüberhinaus auch gegenseitig aufeinander zu verweisen und darüber eine sichtbare Care-Bewegung zu entwickeln.

Können Sie Beispiele nennen?
In Treffen und Aktionen kommen bspw. Care-Beschäftigte in Krankenhäusern und Altenpflegeheimen mit pflegenden Angehörigen und Menschen zusammen, die aufgrund von körperlichen Einschränkungen oder Krankheiten zeitlich aufwändig für sich sorgen müssen. Wir alle können morgen von Krankheit betroffen sein und sind dann auf gute Pflege angewiesen. Und die staatliche Kostensenkungspolitik trifft nicht nur die Care-Beschäftigten in allen Bereichen gleichermaßen, sondern in der Folge auch Familien, Wohngemeinschaften und andere Lebensformen – etwa wenn Patienten «blutig» entlassen werden oder notwendige Gesundheitsleistungen für Kassenpatienten gestrichen werden.
Diese Zusammenhänge sind auch in linken politischen Zusammenhängen noch viel zu wenig präsent. Nur wenn sich etwa Erzieherinnen und Eltern oder beruflich und familiär Pflegende als gesellschaftlich Arbeitende begreifen, können sie sich auf Augenhöhe in ihren Kämpfen um ausreichende Ressourcen und gute Arbeitsbedingungen unterstützen. Dies gilt unter dem Aspekt der Selbstsorge auch für Assistenzgebende und Assistenznehmende.

Warum sind Sie der Meinung, dass das Problem der Sorgearbeit im Kapitalismus nicht gelöst werden kann?
Das Ziel kapitalistischen Wirtschaftens ist Profitmaximierung. Dies ist nur durch den Einsatz von Arbeitskraft zu erreichen, die allerdings tagtäglich und auch über Generationen hinweg immer wieder neu reproduziert werden muss. Der sich daraus ergebende Widerspruch, dass einerseits die Reproduktionskosten der Arbeitskraft möglichst gering gehalten werden sollen, um die Rendite nicht allzu sehr einzuschränken, gleichzeitig aber diese Arbeitskraft benötigt wird, ist dem Kapitalismus immanent. Grundvoraussetzung für die Aufrechterhaltung dieses widerspruchsvollen Systems ist, dass ein großer Teil der Reproduktion unentlohnt abgewickelt wird.
Mit der technologischen Entwicklung lassen sich nun zwar Güter und produktionsnahe Dienstleistungen schneller herstellen, nicht aber Care-Arbeit, zumindest nicht, ohne dass es zu einer massiven Verschlechterung der Qualität kommt. Denn Care-Arbeit ist kommunikationsorientiert und auf konkrete, einzelne Menschen bezogen und damit sehr zeitintensiv. Dies hat die Auswirkung, dass in diesem Bereich Produktivitätssteigerungen, die nicht gleichzeitig die Qualität der Care-Arbeit verschlechtern, nur begrenzt möglich sind. Es kommt zu einer Krise der sozialen Reproduktion, die ich als Teil der Überakkumulationskrise sehe.

Wie kann verhindert werden, dass viele sich doch wieder nur mit kleinen Verbesserungen begnügen?
Die sozialen Auseinandersetzungen um all die kleinen Reformschritte gilt es permanent zu verbinden mit dem Eintreten für eine Gesellschaft, in der alle – solidarisch und gemeinschaftlich organisiert – die jeweils eigenen Fähigkeiten entwickeln können.
Dies bedeutet bspw., dass bei Auseinandersetzungen um verbesserte Bildungsfinanzierung gleichzeitig die kollektive Selbstorganisation des Bildungssystems ohne Zugangsbeschränkungen eingefordert wird. Bei Aktionen von streikenden Ärzten und Pflegekräften muss darauf hingewiesen werden, dass es auch bei einer besseren Personalausstattung noch viele Menschen gibt, die grundsätzlich von der Krankenversorgung ausgeschlossen sind. Auch lassen sich all diesen politischen Auseinandersetzungen im Care-Bereich mit Forderungen nach gesellschaftlicher Teilhabe verbinden.
Wird diese Verknüpfung bei allen politischen Aktionen konsequent durchgeführt, ist Care Revolution eine Strategie, die Reformen nutzt, damit möglichst viele Menschen bereits heute sinnvoller arbeiten und besser leben können, gleichzeitig aber in diesen Auseinandersetzungen erkennen, dass letztlich darüber hinausgehende, gesellschaftliche Veränderungen erforderlich sind.
Wichtig ist also, in sozialen Auseinandersetzungen um Reformen die Perspektive anderer in den Blick zu nehmen, für die Inklusion aller Menschen einzutreten sowie eine grundlegende gesellschaftliche Teilhabe durch demokratische Strukturen einzufordern.
Diese Ziele sind ohne Rücksicht auf die Frage zu verfolgen, ob sie im Rahmen des derzeitigen politisch-ökonomischen Systems realisierbar sind. Eine solche Strategie nannte Rosa Luxemburg 1903 «revolutionäre Realpolitik».

* Gabriele Winker lehrt und forscht an der TU Hamburg-Harburg und ist Mitbegründerin des Feministischen Instituts Hamburg sowie des bundesweiten «Netzwerks Care Revolution». Im vergangenen Jahr war sie Mitorganisatorin der Aktionskonferenz «Care Revolution» in Berlin, bei der verschiedene im Bereich sozialer Reproduktion tätige Gruppen und Personen zusammenkamen (siehe SoZ 5/2014). Im März 2015 erschien im Transcript-Verlag ihr Buch Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft.

http://www.sozonline.de/2015/07/streiks-im-erziehungs-und-pflegebereich/

Interview: Peter Nowak


Solidarität mit Veit Wilhelmy!

Konkurrenz zwischen DGB-Gewerkschaften führt zur Kündigung?

Ein Solidaritätsaufruf für gekündigte Gewerkschafter ist in diesen Tagen wahrlich nicht selten. Doch der von zahlreichen Gewerkschaftern unterzeichnete Offene Brief gegen die Entlassung von Veit Wilhelmy richtet sich an den Vorstand der IG BAU (IG Bauen-Agrar-Umwelt).
Wilhelmy war seit Jahren im Rhein-Main-Gebiet als Gewerkschaftssekretär im Bereich Gebäudereinigung aktiv. Dass der IG-BAU-Vorstand Wilhelmy gleich viermal fristlos gekündigt hat, liegt nicht daran, dass er in der Mitgliederwerbung erfolglos gewesen wäre. Vorgeworfen wird ihm, dass er auch in einem Betrieb, der zur IG BCE gehört hat, Mitglieder geworben hat. Nun ist es längst kein Geheimnis mehr, dass es zwischen DGB-Gewerkschaften eine heftige Konkurrenz um die Mitglieder gibt. Dass deswegen Gewerkschaftsmitglieder gekündigt werden, ist hingegen neu.
Als weiteren Kündigungsgrund führte der IG-BAU-Vorstand gegen Wilhelmy an, er habe einen Unternehmer wegen Behinderung einer Betriebsratswahl angezeigt, ohne sich zuvor die Vollmacht vom Bundesvorstand der Gewerkschaft geholt zu haben. Aktive Gewerkschafter an der Basis würden sich oft mehr Gewerkschaftssekretäre wünschen, die auch mal unbürokratisch handeln. Beim dritten Vorwurf, Wilhelmy habe eine Kollegin zu vergünstigen Bedingungen in die Gewerkschaft aufgenommen, fragt man sich, wieviel Entscheidungsfreiheit den Sekretären eigentlich gelassen wird.
Wilhelmy ist seit Jahren über gewerkschaftliche Kreise hinaus als Initiator des Wiesbadener Appells bekannt, der das Recht auf politischen Streik in Deutschland fordert. 2009 hatte Wilhelmy auf einem Gewerkschaftstag der IG BAU gegen den Willen des Vorstands einen Antrag für ein umfangreiches Streikrecht erfolgreich durchgesetzt. Es ist unwahrscheinlich, dass die Kündigungen nichts mit diesen Aktivitäten Wilhelmys zu tun haben, wie der Vorstand der IG BAU betont. Schließlich haben auch in der Vergangenheit verschiedentlich Einzelgewerkschaften Gewerkschaftssekretären gekündigt, die sich besonders für die Rechte der Kollegen einsetzten und dafür auch bereit waren, Konflikte mit Unternehmen und der Politik in Kauf zu nehmen. Ein Beispiel dafür war 2007 die Kündigung des thüringischen Ver.di-Sekretärs Angelo Lucifero,   der ebenfalls über Gewerkschaftskreise hinaus für sein antifaschistisches Engagement bekannt war.

Solidarität mit Veit Wilhelmy!

aus: SoZ,  Juli 2015

Peter Nowak

Rechte Gruppe entert das Willy-Brandt-Haus

Rechte:  Die „Identitäre Bewegung hat die SPD-Zentrale kurz besetzt. Staatsschutz ermittelt
„Stoppt den großen Austausch, Geburtenrückgang, Masseneinwanderung“, stand auf den in Farben gelb, schwarz und weiß gehaltenen  Transparent, das am Sonntagabend  für einige Minuten auf einem Balkon der Bundeszentrale der SPD  im  Berliner Willy-Brand-Hauses hing
Die an der Besetzung in Berlin beteiligten knapp 10  Personen waren  bereits vor dem Eintreffen der Polizei eintraf. Mittlerweile hat der politische Staatsschutz die Ermittlungen aufgenommen.
Die extrem rechte Identitäre Bewegung hat  die Besetzung des Willy Brand Hauses und fast zeitgleich der Hamburger SPD-Landeszentrale in typisch rechter Diktion begründet.  In einer Erklärung, die zurzeit auf  rechten Internetforen verbreitet wird, heißt es:
„In öffentlichen Verlautbarungen der politischen Eliten aus dem SPD-Umfeld kann immer wieder festgestellt werden, wie wenig sie für das eigene Volk noch übrig haben, welches sie lediglich als billiges Stimmvieh zum Machterhalt betrachten. Parallel dazu ist es genauso die SPD, die in ihren Mitregierungsverantwortungen klar die Politik des Großen Austausches forciert hat und damit eine Verantwortung dafür trägt, dass wir als Deutsche in nur wenigen Jahrzehnten zur Minderheit im eigenen Land werden“.
„Jugendgemäße“ Aktionen
Eine Mitarbeiterin des Antifaschistischen Pressearchivs und Bildzentrums e.V.  (Apabiz) erklärte im Gespräch mit der Taz, dass die Identitäre  Bewegung  bisher in Berlin kaum in Erscheinung getreten sei. Auch    bundesweit war es ruhig  um die Bewegung geworden,  die  sich  in Deutschland im Oktober 2012 als Facebookgruppe  mit dem Ziel gegründet hat , nach dem  Vorbild des französischen Bloc Identitär  mit Flashmobs, Besetzungen und anderen jugendgemäßen Aktionsformen den Kampf der Kulturen zu führen.  Es müsse beobachtet werden, ob die  Kurzzeitbesetzung  der Auftakt für eine verstärke Aktivität der Identitären  wird, so die Apabiz-Mitarbeiterin.
aus: Taz-Berlin, 30.6.2015 (Printausgabe)
Peter Nowak

Beugt sich die griechische Bevölkerung dem Druck von EU und IWF?

Der Schritt aus dem Internet

Die extrem rechte »Identitäre Bewegung« besetzte kurzfristig die SPD-Zentralen in Berlin und Hamburg

Die sogenannte Identitäre Bewegung war bisher vor allem im Internet aktiv. Nun sucht sie die Öffentlichkeit. Zielgruppe sind junge Leute, die die traditionelle extrem rechte Szene nicht erreicht.

»Stoppt den großen Austausch, Geburtenrückgang, Masseneinwanderung«, stand auf den in den Farben gelb, schwarz und weiß gehaltenen Transparent, das am Sonntagabend für einige Minuten auf einem Balkon der Bundeszentrale der SPD im Berliner Willy-Brand-Hauses hing. Was war da passiert bei den Sozialdemokraten?

»Fünf Personen haben am frühen Sonntagabend einen Balkon besetzt, der sich an der Spitze des Willy-Brandt-Hauses im ersten Stock befindet. Sie sind nicht in das Haus gelangt, sondern mittels einer Leiter von außen auf den Balkon gestiegen«, erläutert der stellvertretende Sprecher des SPD-Parteivorstands, Steffen Hebestreit, gegenüber dieser Zeitung. Bevor die Polizei eintraf, seien die Personen bereits verschwunden gewesen. Inzwischen ermittelt auch der Staatsschutz ermittelt.

Offenbar war es die extrem rechte »Identitäre Bewegung« (IDB), die nicht nur in Berlin, sondern fast zeitgleich auch die Hamburger SPD-Landeszentrale symbolisch »besetzte«. In einer Erklärung, die zurzeit im Internet verbreitet wird, heißt es: »In öffentlichen Verlautbarungen der politischen Eliten aus dem SPD-Umfeld kann immer wieder festgestellt werden, wie wenig sie für das eigene Volk noch übrig haben, welches sie lediglich als billiges Stimmvieh« betrachteten. Zugleich habe die SPD, »in ihren Mitregierungsverantwortungen klar die Politik des Großen Austausches forciert« und trage damit eine »Verantwortung dafür (…), dass wir als Deutsche in nur wenigen Jahrzehnten zur Minderheit im eigenen Land« würden.

Eine Mitarbeiterin des Antifaschistischen Pressearchivs und Bildzentrums e. V. (Apabiz) erklärte gegenüber »nd«, dass die Identitäre Bewegung bisher in Berlin kaum in Erscheinung getreten sei. Auch bundesweit war es zuletzt ruhig um die »Bewegung« geworden, die sich in Deutschland im Oktober 2012 als Facebook-Gruppe mit dem Ziel gegründet hatte, nach dem Vorbild des französischen »Bloc Identitaire« mit Flashmobs, Besetzungen und anderen jugendgemäßen Aktionsformen den Kampf der Kulturen zu führen.

Es müsse nun beobachtet werden, meint man beim Apabiz, ob die Kurzzeitbesetzung der Auftakt für eine verstärke Aktivität der »Identitären« werde. Auf einem Treffen vor einem Jahr wurde ein Verein »Identitäre Bewegung e. V.« mit Sitz in Paderborn gegründet. Statt einer losen Facebook-Vernetzung existieren jetzt bundesweit 16 lokale Gruppen. Seitdem sind die »Identitären« in einigen Städten verstärkt mit Plakaten und Aufklebern in Erscheinung getreten, die sich inhaltlich um Schlagwörter wie Heimat, Patriotismus und Tradition drehen.

Die IDB, die sich selbst als Nichtregierungsorganisation bezeichnet, hat sich bisher aus der vielfach zerstrittenen extrem rechten Szene herausgehalten. Allerdings existiert auch kein Abgrenzungsbeschluss nach rechts. So können Mitglieder unterschiedlicher zerstrittener Szenen und Gruppierungen der Szene in der IDB kooperieren. Zudem sollen gezielt junge Menschen angesprochen werden, die sich nicht den traditionellen rechten Gruppierungen anschließen würden.

Peter Nowak

Peter Nowak

„Identitäre“ Besetzer

Rechtsextreme Aktivisten entern SPD-Zentralen in Berlin und Hamburg.

Stoppt den großen Austausch, Geburtenrückgang, Masseneinwanderung“, stand auf den in Farben gelb, schwarz und weiß gehaltenen  Transparent, das am Sonntagabend  für einige Minuten auf einem Balkon der Bundeszentrale der SPD  im Berliner Willy-Brandt-Hauses hing. Auch an der Hamburger SPD-Landeszentrale prangte ein Plakat mit der gleichen Aufschrift.  Beide Transparente waren mit „Identitäre Bewegung Deutschland“ (IBD) unterschrieben. Der stellvertretende SPD-Pressesprecher Steffen Hebestreit erklärte gegenüber bnr.de, dass fünf Personen mit einer Leiter auf dem Balkon des ersten Stock der SPD-Zentrale in Berlin gestiegen, weitere Personen vor dem Haus stehen geblieben seien. Bevor die Polizei eintraf, verschwanden die Personen. Die SPD hat Anzeige erstattet. Der Staatsschutz ermittelt  wegen Hausfriedensbruchs und Verstoßes gegen das Versammlungsrecht.In einer  auf  rechten Internetforen verbreiteten Erklärung der BD heißt es:  „In öffentlichen Verlautbarungen der politischen Eliten aus dem SPD-Umfeld kann immer wieder festgestellt werden, wie wenig sie für das eigene Volk noch übrig haben, welches sie lediglich als billiges Stimmvieh zum Machterhalt betrachten. Parallel dazu ist es genauso die SPD, die in ihren Mitregierungsverantwortungen klar die Politik des Großen Austausches forciert hat und damit eine Verantwortung dafür trägt, dass wir als Deutsche in nur wenigen Jahrzehnten zur Minderheit im eigenen Land werden“.

Eine Mitarbeiterin des Antifaschistischen Pressearchivs und Bildzentrums e.V.  (Apabiz) erklärte gegenüber bnr.de, dass die IBD  bisher in Berlin kaum in Erscheinung getreten sei. Auch bundesweit war es ruhig  um die Bewegung geworden,  die  sich  in Deutschland im Oktober 2012 als Facebook-Gruppe  mit dem Ziel gegründet hatte, um nach dem  Vorbild des französischen „Bloc Identitär“ mit Flashmobs, Besetzungen und anderen jugendgemäßen Aktionsformen den Kampf der Kulturen zu führen. Vor einem Jahr war  der Verein „Identitäre Bewegung e.V.“ mit Sitz in Paderborn gegründet worden.  Die IBD wurde umstrukturiert und bundesweit 16 lokale Gruppen gebildet.

Blick nach Rechts

http://www.bnr.de/artikel/aktuelle-meldungen/identit-re-besetzer

Peter Nowak

Nicht deutsch genug, um als Heimatvertriebene zu gelten

Eine Passage der Gauck-Rede zum Gedenktag für Flucht und Vertreibung sorgt für Diskussionen

Am 20. Juni wurde erstmals ein Gedenktag für Flucht und Vertreibung [1] bundesweit begangen. Spontan fällt einem kritischen Zeitgenossen ein, dass es ist natürlich sinnvoll ist, an die vielen Opfern der europäischen und speziell auch deutschen Flüchtlingspolitik zu erinnern.

Täglich erfahren wir, dass Geflüchtete im Mittelmeer ertrinken oder schon vorher auf den Transitwegen in Afrika ausgeraubt und ermordet werden. Wer es bis nach Deutschland schafft, ist vor Angriffen von Pegida-Deutschen der unterschiedlichen Couleur nicht sicher, wie sich in diesen Tagen im sächsischen Freital zeigte [2], wo schließlich zivilgesellschaftliche Initiativen verhinderten [3], dass sich Szenen, wie wir sie vor mehr als zwei Jahrzehnten in Hoyerswerda, Rostock etc. gesehen haben, wiederholten. Dort wurden Flüchtlingsheime unter dem Beifall von applaudierenden Wutbürgern attackiert und in Brand gesetzt.

Zu gedenken wäre auch den Opfern einer staatlichen Flüchtlingspolitik, die aus Angst vor Abschiebungen, oder weil sie Stigmatisierungen und Abschiebedrohungen nicht mehr aushielten, die Pulsadern aufschnitten, sich erhängten oder durch das Trinken von giftiger Chemikalien ihren Leben ein Ende setzten. Seit mehr als 20 Jahren liefert eine Arbeitsgruppe der Berliner Antirassistischen Initiative mit einer jährlich aktualisierten Dokumentation der tödlichen Folgen der bundesdeutschen Flüchtlingspolitik Nachweise [4] für solche Verzweiflungstaten.

Dieser Aspekt kam auch bei den vom Zentrum für politische Schönheit [5] initiierten Kampagne „Die Toten kommen“ zu kurz. In vielen deutschen Städten sind Gräber ausgehoben worden, an denen den unbekannten Toten im Mittelmeer gedacht wird. Nicht überall sind die Gräber gleich wieder eingeebnet worden wie vor dem Bundestag.

Wer nicht ertrinkt, wird eingesperrt

In Berlin tauchen Plakate und Flugblätter [6] auf, die in wenigen Worten den Kerngehalt der bundesdeutschen Flüchtlingspolitik auf den Punkt brachten: „Wer nicht ertrinkt, wird eingesperrt“. Damit wird nicht nur ein Ist-Zustand beschrieben, sondern für Protestaktionen [7] gegen die für den 2 Juli geplante zweite und dritte Lesung einer Asylrechtsverschärfung geworben, die bisher wenig bekannt ist.

Das Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung [8] bedeutet eine wesentliche Ausweitung der Abschiebehaft. Sie kann dann verhängt werden, wenn die Einreise „unter Umgehung einer Grenzkontrolle“ erfolgte, wenn die Geflüchteten über ein anderes EU-Land eingereist sind, wenn Identitätspapiere fehlen bzw. über die Behörden über die Identität getäuscht wurden, wenn Geld für Fluchthelfer bezahlt wurde.

Auch wer „Mitwirkungshandlungen zur Feststellung der Identität verweigert oder unterlassen hat“, kann in Abschiebehaft genommen worden. Es ist abzusehen, dass sich dann die Zahl der Opfer der bundesdeutschen Flüchtlingspolitik noch erhöht. Nur sind genau das nicht die Themen, die nach dem Gedenktag für Flucht und Vertreibung in einem großen Teil der Medien die zentrale Rolle spielen.

Geflüchtete damals und heute?

Das hängt zunächst einmal damit zusammen, dass dieser Tag von der Bundesregierung gar nicht zum Gedenken an die aktuellen Flüchtlinge konzipiert war. Vielmehr sollten den deutschen Staatsbürgern gedacht werden, die im europäischen Ausland lebten, sich dort oft als eifrige Protagonisten der deutschnationalen Volkstumspolitik gerierten und bald auch Vorkämpfer der Nazis wurden. Nach deren Niederlage war es damit vorbei.

Viele flohen am Ende des 2. Weltkriegs, weil sie berechtigte Angst hatten, für ihre eigenen Verbrechen zur Verantwortung gezogen zu werden. Andere wurden in Übereinstimmung mit den Bestimmungen des Potsdamer Abkommens nach Kerndeutschland umgesiedelt. In Westdeutschland gerierten sie sich bald als große Opfergruppe, die von den Gründen ihrer Vertreibung nicht reden wollten.

Auf die Initiative des umtriebigen Bundes der Vertriebenen [9] geht auch der Gedenktag zurück. Bundespräsident Gauck hielt im Deutschen Historischen Museum in Berlin die Ansprache [10] und sorgte mit einigen Passagen für Widerspruch im konservativen Lager. Gauck begann seine Rede mit den Worten:

Über Entwurzelte wollen wir heute sprechen. Über Flüchtlinge und Vertriebene, zwangsweise Emigrierte. Über Heimatlose einst und Heimatlose heute und morgen. Über Menschen, die nicht mehr dort sind und auch noch nicht ganz hier. Über Menschen, die etwas vermissen und gleichzeitig froh sind, nicht dort leben zu müssen, wohin das Heimweh ihre Gedanken lenkt. Über Entwurzelte wollen wir heute sprechen. Über Menschen – gleichgültig ob schwarz oder weiß, ob jung oder alt, ob Mann oder Frau, ob Christ, Jude oder Muslim – über Menschen, die alle tief in der Seele dieselbe schmerzliche Erfahrung machten, die der Schriftsteller Jean Améry, Flüchtling vor Nazi-Deutschland und Überlebender von Bergen-Belsen, in die einfache, für die einen tröstliche, für die anderen bedrückende Formel fasste: „Man muss Heimat haben, um sie nicht nötig zu haben.“

Nachdem er dann ausgiebig über deutsche Opfer von Flucht und Vertreibung und von einer angeblichen Tabuisierung von Heimatliedern geredet hatte, und damit eigentlich dem Bund der Vertriebenen aus dem Herzen gesprochen hatte, kam Gauck noch einmal auf die Gegenwart zu sprechen:

Wir stehen vor einer großen Herausforderung, einer Herausforderung von neuer Art und neuer Dimension. In den letzten fünf Jahren sind mindestens fünfzehn neue Konflikte entflammt oder wieder ausgebrochen – in Afrika, im Nahen Osten und auch in Europa. Die staatlichen Strukturen ganzer Regionen drohen zu zerfallen. Je länger Bürgerkriege, islamistischer Terror, bewaffnete Konflikte zwischen Regierungen und Rebellen oder Separatisten dauern, je mehr sich Anarchie, Armut, Korruption und Perspektivlosigkeit breit machen, desto mehr Menschen werden ihre Familie, ihre Freunde, ihre Heimat verlassen. Die Flüchtlingszahlen dürften – auch mittelfristig – weiter steigen.
Angesichts dieser dramatischen Entwicklung haben wir unseren Blick zu weiten. Flüchtlingspolitik ist längst mehr als Innenpolitik. Flüchtlingspolitik reicht längst hinein in unsere Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik.
Beginnen wir mit dem, was selbstverständlich sein sollte: Es ist meines Erachtens eine moralische Pflicht aller Staaten Europas, Flüchtlinge vor dem Tod im Mittelmeer zu retten. Wir würden unsere Selbstachtung verlieren, wenn wir Menschen, die vor den Toren unseres Kontinents auf dem Wasser treiben, sich selbst überließen.

Flüchtlingsunterstützung ist kein Heimatschutz

Solche Aktualisierungen meint der Bund der Vertriebenen nicht, wenn es auf dessen Homepage heißt: „In Deutschland sehen wir, dass heute vieles gesagt werden kann, was vor 25 Jahren noch unmöglich gewesen wäre.“

Dort hält man sich zu Gaucks Aktualisierungen bedeckt. Dafür hat sich mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer der Politiker zu Wort gemeldet, dessen Bundesland sich seit 1945 als besondere Schutzmacht aller deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen versteht. Ihre Nachkommen sind auch heute noch ein wichtige Wählerbasis seiner CSU.

Im Münchner Merkur tat Seehofer kund [11], was der Verband der Vertriebenen denkt, aber nicht so offen ausspricht. Auf die Gauck-Rede angesprochen, sagte der bayerische Ministerpräsident:

Ich weiß aus vielen Gesprächen mit Heimatvertriebenen, dass sie solche Vergleiche nicht gerne hören. Die Ursachen sind jetzt andere, jetzt geht es auch um massenhaften Asylmissbrauch. Ich finde diese Diskussion nicht angezeigt.

Im Interview hat Seehofer weitere Überlegungen angestellt, wie man Geflüchtete abschreckt. Viele nichtdeutsche Geflüchtete konnten davon bereits in den letzten Jahren in Bayern solche Erfahrungen machen. Es ist schließlich kein Zufall, dass die neue Bewegung der Geflüchteten in Deutschland in Bayern seinen Ausgang nahm, nachdem sich ein Flüchtling in Abschiebehaft umbrachte.

Die linksliberale Taz übte heftige Kritik [12] an Seehofers Gauck-Schelte, auch Grüne und Linke warf Seehofer vor, er wolle die Diskurshoheit über bayerischen Stammtische behalten.

Dabei wird selten erwähnt, dass Seehofer nur ausspricht, was im Umfeld der verschiedenen Vertriebenenverbände gedacht wurde. Als auf einer großen Gedenkveranstaltung zum 50ten Jahrestag des Baus der Berliner Mauer ein Redner an die Mauern erinnerte, die die Geflüchteten von heute oft das Leben kosten, gab es in Berlin aus der Zuhörerschaft empörte Zwischenrufe.

Zudem müsste eigentlich die Kritik an Gaucks Flüchtlingsvergleich an einer ganz anderen Stelle ansetzen. Denn eigentlich müssen sich die heutigen Flüchtlinge und ihre Unterstützer dagegen verwahren, mit einem Personenkreis in Verbindung gebracht zu werden, der vor 1945 zu nicht kleinen Teilen die NS-Politik begeistert mittrug und nach dem Untergang dann die von ihm unterstützte Parole „Heim ins Reich“ etwas anders als gedacht erlebten.

Die Selbstorganisationen der Geflüchteten und ihre Unterstützer treten auch nicht das Erbe des Bundes der Vertriebenen an. Selbst eine Kooperation wird es nicht geben. Dass hat Seehofer mit seinen Interview noch einmal erfreulich klargestellt.

http://www.heise.de/tp/news/Nicht-deutsch-genug-um-als-Heimatvertriebene-zu-gelten-2730700.html?view=print

Peter Nowak

Links:

[1]

https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Kurzmeldungen/DE/2014/08/gedenktag-fuer-die-opfer-von-flucht-und-vertreibung.html

[2]

https://www.facebook.com/pages/Widerstand-Freital/1591614877753731?fref=nf

[3]

https://www.facebook.com/pages/Organisation-f%C3%BCr-Weltoffenheit-und-Toleranz-Freital-und-Umgebung/471571042990797

[4]

http://www.ari-berlin.org/doku/titel.htm

[5]

http://www.politicalbeauty.de/

[6]

http://www.asylrechtsverschaerfung-stoppen.de/?page_id=92

[7]

http://www.asylrechtsverschaerfung-stoppen.de/

[8]

http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/040/1804097.pdf

[9]

http://www.bund-der-vertriebenen.de/

[10]

http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2015/06/150620-Gedenktag-Flucht-Vertreibung.html;jsessionid=C8FE84AF4D25C8C1DE2475C2E613FA99.2_cid293

[11]

http://www.merkur.de/politik/horst-seehofer-asyl-merkel-ernste-lage-erkannt-5165954.html

SPD auf die Pelle gerückt

Asyl: Die Gesetze sollen verschärft werden. Dagegen regt sich Protest

In den nächsten wollen  antirassistische Gruppen ihre Proteste gegen die Verschärfung der Asylgesetze intensiveren.Denn am 2.Juli will die Bundesregierung  eine weitere Verschärfung des Asylrechts durch das Parlament bringen.  An diesem Tag ist  die zweite und dritte Lesung des „Gesetzes  zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung“  im Bundestag geplant.  Die Gesetzesvorlage  sieht eine Ausweitung der Abschiebehaft vor.
AktivistInnen aus Flüchtlings- und Antirassismusgruppen, die sich im Bündnis „Asylrechtsverschärfung stoppen“ zusammengeschlossen haben, wollen in den nächsten Tagen  den  Protest gegen die Gesetzesverschärfung auf die Straße und vor die Bundeszentrale  der Regierungsparteien SPD  und Union tragen.  Ihr  Motto „Wer nicht ertrinkt, wird eingesperrt“  war schon in den letzten Wochen bei   antirassistischen  Protesten    zu lesen. Damit wollen  die KritikerInnen der Gesetzesverschärfungen an der Empörung anknüpfen, die das das massenhafte Sterben von Flüchtlingen im Mittelmeer in Teilen der Gesellschaft in Deutschland ausgelöst hat.
Am 26. Juni findet in der Technischen Universität Berlin von 10 – 20 Uhr ein bundesweiter  Jugendkongress  „Flucht, Migration, Vertreibung“ statt. „Dort sollen Perspektiven einer solidarischen Gesellschaft diskutiert wurden. Nachdem der Termin für die Verabschiedung der Asylrechtsverschärfungen bekannt worden, wird es dort auch Zeit und Raum für die Koordinierung der Proteste sein“, erklärte ein Mitglied der Kongressvorbereitungsgruppe gegenüber der Taz.
An Willy Brandt erinnern
Im Vorfeld der Abstimmung der Asylverschärfung im Bundestag  planen  die AntirassistInnen  eine Mahnwache vor der Bundeszentrale der SPD. Mit dem Motto „Wir hätten Willy abgeschoben“ wollen sie an die Biographie des Namensgebers des Gebäudes erinnern. Der langjährige SPD-Vorsitzende Willy Brandt musste als junger           Sozialist während des NS Deutschland verlassen und fand Asyl in Schweden.      Auch am 2. Juli sind  Proteste in der Nähe des Bundestags geplant. Doch eine Wiederholung des 26. Mai 1993   erwartet niemand.  An  diesen Tag blockierten  Tausende AntirassistInnen aus der ganzen Republik stundenlang die Zugänge zum Bonner Parlament und sorgen für massive  Staus.    So konnte damals erst mit stundenlanger Verzögerung die massive Verschärfung des Asylrechts durch SPD, FDP und CDU/CSU    beschlossen werden.
aus Taz-Berlin, vom 26.6.2015 (nur in Printausgabe)
Peter Nowak

Wer siegt im Griechenland-Poker?

»Wer nicht ertrinkt, wird eingesperrt«

Antirassistische Gruppen wollen ihre Proteste gegen die Verschärfung der Asylgesetze ausweiten

Antirassistische Initiativen wollen das Abschiebegesetz stoppen, das der Bundestag in der kommenden Woche beschließen will. Geplant sind Mahnwachen, Demonstrationen und vielleicht noch mehr…

Vor der Sommerpause will die Bundesregierung eine weitere Verschärfung des Asylrechts durch das Parlament bringen. Für den 2. Juli ist im Bundestag die zweite und dritte Lesung eines Gesetzes geplant, das vor allem die Abschiebehaft massiv ausweitet. Demnach sollen Flüchtlinge künftig inhaftiert werden, die »unter Umgehung einer Grenzkontrolle« eingereist sind, Identitätspapiere vernichtet oder »eindeutig unstimmige oder falsche Angaben« gemacht haben, heißt es im Gesetzentwurf. Aus Sicht der Kritiker kann damit künftig fast jeder Geflüchtete inhaftiert werden. Eigentlich sollte die Entscheidung bereits Anfang Juni fallen. Gerüchten zufolge gab es kritische Stimmen innerhalb der SPD, weshalb die Abstimmung verschoben wurde. Die scheinen die schärfste Änderung des Asylgrundrecht seit 1993 nun offenbar nicht mehr aufzuhalten.

Unter dem Motto »Wer nicht ertrinkt, wird eingesperrt« fordern Flüchtlings- und Antirassismusgruppen die Ablehnung des Gesetzes im Bundestag. Mit ihrer Kampagne knüpfen sie an die Empörung an, die das tägliche Sterben von Flüchtlingen im Mittelmeer in großen Teilen der Gesellschaft ausgelöst hat. Zuletzt hat die Aktion »Die Toten kommen« des Zentrums für politische Schönheit für bundesweite Aufmerksamkeit gesorgt. Das Bündnis »Asylrechtsverschärfungen stoppen« will diese Debatte zuspitzen. »Es ist nicht nur abstrakt die EU dafür verantwortlich, dass Flüchtlinge im Mittelmeer sterben. Es waren und sind die Bundesregierungen, die seit Jahrzehnten dafür sorgen, dass es den Menschen immer schwerer gemacht wird, nach Deutschland zu kommen – und wenn sie es doch schaffen, bleiben zu können«, betont eine Aktivistin des Bündnisses gegenüber »nd«. Mit dem Vorhaben spielen sie rassistischen Bewegungen wie Pegida in die Hände, warnen die Gegner, und setzten deren Forderungen sogar in Gesetz um.

Am Dienstag protestierten junge Menschen in Magdeburg vor dem Tagungsort der Fraktionsvorsitzenden und Innenpolitiker der Union. Diese blieben jedoch unbeeindruckt und sprachen sich für schnellere Abschiebungen von Flüchtlingen aus.

Am Freitag laden Studierende und Schüler zu einem bundesweiten Jugendkongress »Flucht, Migration, Vertreibung« an die Technische Universität Berlin ein. Dort sollen auch die Proteste gegen die Verschärfung des Asylrechts koordiniert werden.

Geplant ist bislang eine Mahnwache vor der Bundeszentrale der SPD am Tag vor der Abstimmung. Mit dem Motto »Wir hätten Willy abgeschoben« wollen die Aktivisten an die Biografie des SPD-Idols Willi Brandt erinnern. Der langjährige Parteivorsitzende hatte auf der Flucht vor den Nazis in Schweden Asyl gefunden.

Am 2. Juli, wenn die Asylverschärfung im Bundestag ansteht, soll der Protest ins Regierungsviertel verlagert werden. Die Aktivisten wollen versuchen, die Abstimmung zu verhindern. Auch ein Schülerstreik ist in der Diskussion. Bereits in den vergangenen Jahren haben sich vor allem in Berlin Tausende Schüler mit Demonstrationen und Besetzungen für die Rechte von Migranten eingesetzt.

Ein Teil der heutigen Aktivisten war bereits 1993 dabei, als Tausende Bürger aus der ganzen Republik stundenlang die Zugänge zum Bundestag in Bonn blockierten. Sie konnten dennoch nicht verhindern, dass eine große Koalition aus SPD, FDP und CDU/CSU das bis dahin geltende Asylrecht in Deutschland faktisch abschaffte.

www.asylrechtsverschaerfung-stoppen.de

Asylbewerber in Haft

Das geplante »Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung« beinhaltet:

eine Ausweitung der Abschiebehaft:

    – bei Einreise »unter Umgehung einer Grenzkontrolle«

    – bei Einreise über ein anderes EU-Land bzw. für alle, die in einem anderen EU-Land registriert sind

    – wenn Identitätspapiere fehlen bzw. über die Behörden über die Identität getäuscht wurden

    – wenn Geld für Fluchthelfer bezahlt wurde

    – für jeden, der »Mitwirkungshandlungen zur Feststellung der Identität verweigert oder unterlassen hat«

    • eine 5-jährige Einreise- und Aufenthaltssperre

    – bei einem abgelehnten Asylantrag im Schengen-Raum

    – wer »seiner Ausreisepflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist«

    – wer »in das Bundesgebiet eingereist ist, um öffentliche Leistungen zu beziehen«

    • Erleichterte Ausweisung auch bei Menschen mit Aufenthaltstitel, bei Straffälligkeit oder bei Verletzung der »Grundordnung«
    • ein sogenanntes Bleiberecht für alle restlichen langjährig Geduldeten, die nicht von einem der neuen Paragrafen erfasst werden                                                                                                                                                    http://www.neues-deutschland.de/artikel/975536.wer-nicht-ertrinkt-wird-eingesperrt.html                                                                             Peter Nowak

    Crowdfunding fürs Gedenken

    Dem Bildungswerk Stanislaw Hantz ist es gelungen, das Kommandanturgebäude des ehemaligen Vernichtungslagers Belzec vor der Versteigerung zu retten.

    Es geschah spät, aber dennoch rechtzeitig. In der vergangenen Woche sagte die Polnische Bahn (PKP) die Versteigerung der Kommandantur im ehemaligen deutschen Vernichtungslager Belzec ab. »Die PKP hat erklärt, dass das Gebäude nur in Anerkennung seiner historischen Bedeutung genutzt werden soll und nicht mehr als Bauland verkauft wird«, sagt Andreas Kahrs, Mitarbeiter des Bildungswerks Stanislaw Hantz e. V., der Jungle World. Der in Kassel ansässige Verein ist nach dem polnischen Auschwitz-Überlebenden Stanislaw Hantz benannt, der bis zu seinem Tod im Jahr 2008 die Erinnerung an die deutsche Mordmaschinerie wachgehalten hat. Bis ins hohe Alter führte der Mitbegründer der Zgorzelecer Verei­nigung ehemaliger KZ-Häftlinge Teilnehmer von Bildungsreisen durch die Stätten des NS-Terrors.

    Dort lernten ihn einige der jungen Menschen kennen, die später das nach ihm benannte Bildungswerk gründeten und seine Erinnerungs­arbeit fortsetzten. Ihnen ist auch zu verdanken, dass mit der ehemaligen Kommandantur das letzte authentisch erhaltene Gebäude des Vernichtungslagers Belzec vor dem Abriss gerettet werden kann. Zu den weiteren Plänen des Bildungswerks gehörten die Einbeziehung des sanierten Gebäudes in die pädagogische Arbeit der Gedenkstätte und die Einrichtung einer Ausstellungs­fläche. Mehrere Wochen sammelte das Bildungswerk über Crowdfunding im Internet fast 10 000 Euro für das Projekt »Erhalt der Kommandantur des ehemaligen Vernichtungslagers Belzec«. Zu Beginn der Spendenkampagne war die nun abgesagte Versteigerung noch für den 22. Juni angesetzt. Die Spenden sollen nun für die geplante Sanierung verwendet werden.

    Das Bildungswerk erwartet auch von staatlichen Stellen in Deutschland Unterstützung. Diese haben bisher jedoch nichts dafür getan, das his­torische Gebäude zu erhalten. Dabei gehört Belzec zu den zentralen Stätten der Vernichtung der ­jüdischen Bevölkerung Polens. Dort wurden zwischen März und Dezember 1942 mindestens 450 000 Menschen ermordet. Im Rahmen der sogenannten Aktion Reinhard, der planmäßigen Vernichtung der polnischen Juden, wurden die Bewohner der Ghettos von Lublin, Lviv und Krakau nach Belzec deportiert. 1942 wurden zusätzlich mehr als 50 000 jüdische Menschen aus dem Reichsgebiet und den »eingegliederten Gebieten« in die Region zwischen Lublin und Zamość deportiert. Viele von ihnen wurden ebenfalls in Belzec ermordet. Die SS beseitigte im Frühjahr 1943 die Spuren des Mordens. Sie riss fast alle Gebäude ab und errichtete auf dem Gelände einen Bauernhof.

    Für die Planer im Reichssicherheitshauptamt besaß Belzec »eine besondere Rolle als eine Art Versuchseinrichtung für die möglichst effiziente und rasche Ermordung von Juden im Generalgouvernement«, wie der Historiker Ingo Loose im Vorwort des Buchs »Das Vernichtungslager Belzec« schreibt. Es wurde von dem polnischen Historiker und wissenschaftlichen Mitarbeiter des Staatlichen Museums Lublin, Robert Kuwalek, 2005 veröffentlicht. 2013 ist es in deutscher Übersetzung im Berliner Metropol-Verlag erschienen. Es handelt sich um die erste deutschsprachige Publikation zum Vernichtungslager Belzec.

    »Ein halbes Jahrhundert des Vergessens« ist ein Kapitel überschrieben. Der Titel trifft auch auf den deutschen Umgang mit dem Vernichtungslager zu. Dass nur das Engagement des Bildungswerks Stanislaw Hantz das letzte erhaltene Gebäude von Belzec retten konnte, ist ein deutlicher Beweis dafür. Der Vorgang sagt auch einiges über die »Gedenkkultur« eines Landes aus, das sich an einschlägigen Gedenktagen als Erinnerungsweltmeister feiert, während die ehemaligen Orte der Vernichtung zu Ruinen zerfallen. Belzec ist kein Einzelfall. Seit Januar 2015 gibt es im polnischen Słońsk einen Gedenkort für das deutsche Konzentrationslager Sonnenburg, in dem ab 1933 NS-Gegner gequält und ermordet wurden (Jungle World 6/15). Dies ist allerdings keinesfalls der Bundesregierung zu verdanken, sondern einer Ini­tiative der Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten.

    http://jungle-world.com/artikel/2015/25/52152.html

    Peter Nowak

    Solidarität für die Flüchtlinge wächst

    Tod einer Rentnerin

    Im April 2013 starb die Berliner Rentnerin Rosemarie Fließ, nachdem sie aus ihrer Wohnung zwangsgeräumt worden war. Zum zweiten Jahrestag ihres Todes hat Margit Englert unter dem Titel »Rosemarie F. Kein Skandal« im Münsteraner Verlag Edition Assemblage ein Buch herausgebracht, das sein im Untertitel gegebenes Versprechen, »Einblicke in den sozialstaatlich-immobilienwirtschaftlichen Komplex« zu liefern, vollständig einlöst. Die Autorin lernte Rosemarie Fließ im Berliner Bündnis Zwangsräumung verhindern! kennen, wo die Rentnerin Unterstützung bei ihrem Kampf gegen die Räumung suchte. Zu den Treffen brachte sie auch die Unterlagen und amtlichen Dokumente mit, die Grundlage des Buches geworden sind. Dabei ist Englert sehr sensibel mit den persönlichen Daten der Rentnerin umgegangen. Schon im Vorwort macht sie deutlich, dass es in dem Buch nicht um das Leben der Rentnerin geht, sondern um die Verhältnisse, die zu ihrem Tod führten: »Denn es ist klar, was Rosemarie widerfahren ist, ist kein Einzelschicksal. Es geht in diesem Text also nicht darum, Rosemarie als einen besonderen oder außergewöhnlichen Menschen herauszustellen«. Anders als ein Großteil der Medien, die nach dem Tod der Rentnerin die Ursachen im Verhalten der Frau suchten, richtet Margit Englert den Fokus auf die kapitalistischen Verwertungsbedingungen, die Wohnraum zu einer Ware machen, und benennt die Profiteur_innen und Verlierer_innen.

    https://www.akweb.de/ak_s/ak606/15.htm

    Peter Nowak

    Rosemarie F. Kein Skandal. Einblicke in den sozialstaatlich-immobilienwirtschaftlichen Komplex. Edition Assemblage, Münster 2015. 134 Seiten, 7,80 EUR.

    „Es geht um mehr um einen Gemüseladen“

    „Je suis  Bizim Bakkal“, „Wir sind Gemüseladen“ oder einfach nur „Wir sind Bizim-Kiez“. Solche Sprüche waren am Mittwochabend rund um die Wrangelstraße 77 massenhaft zu sehen. Dort betreibt Ahmet Caliskan seit 28 Jahren. den Bizim Bakkal, was auf Deutsch “Unser Gemüseladen“ heißt. Viele der Anwohner/innen nehmen diese  Bezeichnung sehr Ernst. Das zeigte sich bei der ersten Nachbarschaftsversammlung am 10. Juni. Kurz vorher war bekannt geworden, dass die  Wrangelstraße 77 GmbH , die seit einigen Monaten Eigentümerin des Hauses ist, den Ladeninhaber zum 30. September 2015 gekündigt hat.  Das Haus hatte in der letzten Zeit viele Eigentümerwechsel und wurde vor einigen Monaten von der Immobilienfirma Wrangelstraße 77  GmbH erworben.  Vertriebspartner ist die Gekko Real  Estate GmbH, die  kaufkräftige Interessenten mit dem Werbespruch wirbt: «Suchen Sie eine passende Immobilie oder ein kreatives Projekt für Ihre Investition? Sie haben sehr individuelle Vorstellungen? Dann sprechen Sie mit uns gezielt über Ihr Vorhaben.»

    „Ich habe mit anderen Anwohnern  Einladungen für eine  Nachbarschaftsversammlung verbreitet, nachdem  ich von der Kündigung erfahren hatte. Wir      haben mit ca. 25 Menschen gerechnet, gekommen sind aber 125“, erklärt Nachbar Martin Steinbach gegenüber dem MieterEcho.  Auch viele junge Menschen seien gekommen, die konkrete  Aktionsvorschläge beigesteuert hätten. Sofort wurden Flyer und Plakate gestaltet und eine Homepage erstellt.  So hat sich  Protest gegen die Kündigung des Ladens schnell  auf der Straße und im Internet verbreitet. Am 17.Juni beteiligten sich  mehrere Hundert Menschen an der Kundgebung. “Wir müssen noch viel mehr werden“, rief eine Rednerin und bekam viel Applaus. Doch auch eine SPD-Politikerin wurde  mit Applaus bedacht, als sie sich vor dem Offenen Mikrofon für den Erhalt des Gemüseladens einsetzte. Da wollte niemand die Harmonie stören und daran erinnern, dass die Politik der SPD in Bund und Ländern Immobilienfirmen wie der Gekko Real Estate GmbH den roten Teppich ausgelegt hat. Viele, der am Protest Beteiligten, ist der Stolz in der Stimme anzuhören,  dass schon nach der kurzen Protestzeit  in- und ausländischen Medien über den Kampf in der Wrangelstrasse berichten.

    Mit dem Laden werden die Kunden vertrieben

    Wenn die Bildzeitung ihren Bericht mit der Schlagzeile „Rührender Protest in Berlin – Hier kämpft ein ganzer Kiez für einen Gemüseladen“ aufmacht,  wird deutlich,  wie die Proteste entpolitisiert werden sollen. Für Mieterin Gabriele  Stangenberg hat der drohende Rauswurf des Bizim Bakkal das Fass zum Überlaufen gebracht. „Im  Wrangel-Kiez sind viele kleine Gewerbetreibende ebenfalls vom Rauswurf betroffen, weil sie die hohen Mieten nicht zahlen können“, berichtet sie gegenüber MieterEcho. Viele von ihnen seien vor Jahren mit öffentlichen Geldern gefördert worden, damit sie aus der Erwerbslosigkeit kommen. Nun stehen sie vor dem  Aus. Stangenberg spricht von einem Investorentsunami, der über den Stadtteil zieht.  „Nicht nur die  Läden,  auch den Kunden, die oft nur wenig Einkommen haben, droht die Vertreibung. Dagegen wehren wir uns“, erklärt eine andere Nachbarin.  Schließlich ist in der  Öffentlichkeit weniger bekannt, dass in der  Wrangelstraße 77 außer dem Gemüseladen auch die dort lebenden MieterInnen verschwinden sollen. Der neue Eigentümer bietet Umzugsprämien bis zu 28000 Euro an. Ein Mieter erhielt das Angebot, eine Wohnung von knapp 100 Quadratmeter für vierhundertdreißigtausend Euro zu kaufen.  Zwei Mietparteien überlegen mittlerweile, sich gegen die Kündigungen zu wehren, berichtet  Martin Steinbach.  Viele aber seien auch eingeschüchtert und noch unsicher, wie sie auf den drohenden Rausschmiss reagieren sollen. Die aktuellen Proteste könnten eine Unterstützung für sie sein. Das zeigte sich am vergangenen Mittwoch, als in der Oppelner Straße in unmittelbarer Nähe des Gemüseladens eine Zwangsräumung verhindert wurde. Ca. 50 Menschen blockierten den Zugang zum Haus, so dass die Gerichtsvollzieherin  den Rückzug antreten musste. Das Amtsgericht Kreuzberg lehnte  einen Räumungsschutz ab, den die Mieterin per Eilantrag durchsetzen wollte, obwohl ihr ein amtsärztliches  Attest bescheinigt, aus gesundheitlichen Gründen nicht umzugsfähig zu sein.  In zwei Wochen soll es einen  weiteren Räumungsversuch geben. Dann wird sich zeigen, ob die sich auch einige der NachbarInnen beteiligen, die  durch die Solidarität mit Bizim Bakkal politisiert wurden.

    MieterEcho online 19.06.201

    http://www.bmgev.de/mieterecho/mieterecho-online/bizim-bakkal.html

    Peter Nowak