Als Sture Linnér am 13. Juni 1944 die mittelgriechische Kleinstadt Distomo erreichte, war er schockiert. »Der Geruch war unerträglich. Im Dorf selbst brannte noch Feuer in dem Rest der verbrannten Häuser. Auf der Erde lagen zerstreut hunderte Menschen jeden Alters, von Greisen bis Säuglinge[n]. Vielen Frauen haben die Soldaten den Bauch mit den Bajonetten zerschnitten und die Brust herausgerissen. Andere lagen gewürgt, umwickelt mit ihren Gedärmen um ihren Hals«, schrieb der schwedische Diplomat und damalige Vorsitzende des Roten Kreuzes im besetzten Griechenland später in seinem Buch »Meine Odyssee« über das Verbrechen der Deutschen. Am 10. Juni 1944 hatten …
„Ein ungesühntes deutsches Verbrechen“ weiterlesenSchlagwort: AK Distomo
Beugt sich die griechische Bevölkerung dem Druck von EU und IWF?
Außerparlamentarische Initiativen aus ganz Europa werben für Nein beim Referendum am Sonntag. Mittlerweile wird die Kritik an der Rolle Deutschlands lauter, das seine Schulden nie gezahlt hat
1982 waren dem Magazin Der Spiegel die Szene-Gerüchte um den Container-Jo [1], der bei SPD-Rechten und linken AKW-Gegnern gleichermaßen unbeliebt war, eine eigene Kolumne wert. Wer hätte gedacht, dass der Bewegungsfunktionär mit SPD-Parteibuch drei Jahrzehnte später die griechische Bevölkerung via Deutschlandfunk auffordern [2] wird, Opfer für Europa zu bringen?
Das von der griechischen Regierung anberaumte Referendum am nächsten Sonntag kommentierte Leinen am Montag so:
Opfer für Europa habe auch Irland gebracht, weisen [3] Journalisten die griechische Regierung zurecht. Nur sie vergessen hinzuzufügen, dass die einkommensschwachen Menschen, die dafür bezahlen mussten, dort nicht gefragt wurden, ob sie dazu bereit sind. Schließlich ist diese Aufforderung zum Opfer für Europa nur die modernisierte Version der Opfer für das Vaterland. Europa hat in dieser Erzählung die Rolle der jeweiligen Heimatländer eingenommen.
Auch im nationalen Rahmen war und ist es nicht üblich, diejenigen, die die meisten Opfer bringen müssen, zu fragen, ob sie mit dem Programm einverstanden sind, das ihnen diese Opfer auferlegt. So wird auch das griechische Referendum entweder als Zeichen von Tsipras Gerissenheit oder Unfähigkeit gedeutet.
In dieser Lesart muss zu den Fähigkeiten eines guten Politikers gehören, der großen Bevölkerungsmehrheit Wahlversprechen zu machen und diese dann mit dem Verweis auf die kapitalistischen Sachzwänge zu ignorieren. Damit die große Mehrheit dazu bereit ist, muss der Politik eine mehr oder weniger große Prise Nationalismus, Sozialchauvinismus und bei Bedarf Antisemitismus beigemischt werden.
Tsirpras hatte in der letzten Woche durchaus mit der Versuchung gespielt, viele Wahlversprechen aufzugeben, um zu einem Einvernehmen mit den Institutionen [4] zu kommen. Dann wäre er zu einem der vielen sozialdemokratischen Politikern geworden, die vor der scheinbaren Macht des Faktischen eingeknickt sind. Wir wissen nicht, was Tsipras letztlich vor diesem Schritt zurückschrecken ließ.
Vielleicht war es das Wissen darum, dass ein Einknicken die Spaltung von Syriza und das Scheitern eines vor allem in Südeuropa mit viel Aufmerksamkeit verfolgten Aufbruchs bedeutet hätte. In seiner Erklärung [5] zur Ankündigung des Referendums [6] teilte der griechische Ministerpräsident mit:
Von der griechischen Regierung wurde verlangt, einen Vorschlag [7] zu akzeptieren, der neue unerträgliche Belastungen des griechischen Volkes kumuliert und den Aufschwung der griechischen Gesellschaft und Wirtschaft untergräbt, indem er nicht nur die Ungewissheit aufrecht erhält, sondern auch die gesellschaftlichen Ungleichheiten noch mehr aufbläht.
Botschaft der Würde für Europa?
Damit geht Tsipras natürlich ein hohes Wagnis ein. Er beruft sich nicht nur auf die jahrelangen Kämpfe gegen die Austeritätspolitik, ohne die Syriza nie zur Regierungspartei geworden wäre, sondern auch auf die griechische Demokratie und beschwört ein anderes Europa. Es muss sich nun zeigen, ob er damit die griechischen Wähler überzeugt.
Jetzt hoffen die Hüter der Austeritätspolitik in Europa, vor allem in Deutschland, dass die griechische Bevölkerung zermürbt von den vielen Opfern, die sie schon bringen müssen, nun freiwillig das Einverständnis für ein weiteres Diktat der Institutionen gibt, danach die Regierung zurücktritt und nach Neuwahlen die alten Parteien wieder an die Regierung kommen. Dann würde sich das Europa der Austerität bestätigt sehen und zur Tagesordnung übergehen.
Es ist dasselbe Europa, das Tsipras Vorvorgänger von der sozialdemokratischen Pasok zum Rücktritt zwang, nachdem er ebenfalls ein Referendum über das EU-Diktat angekündigt hatte. Dass Tsipras trotzdem nicht zögerte, die Bevölkerung zu befragen, spricht für ihn. Er gehört noch nicht zu den Politikern, denen der Machterhalt über alles geht. So hat er auch erklärt, dass seine Regierung natürlich akzeptiert, wenn die Bevölkerung den EU-Plänen zustimmt. Nur dann soll es nicht seine Regierung sein, die diese Politik umsetzt.
Wenn er im Ernstfall dabei bleibt, erteilt er all jenen sozialdemokratischen und linksreformistischen Politikern eine Lektion, die immer betonen, wie ungern sie bei der Umsetzung einer konservativen Politik mitmachen würden und sich damit entschuldigen, dass sie doch vielleicht einige soziale Spuren hinterlassen würden. Die Wähler allerdings geben dann lieber den konservativen und wirtschaftsliberalen Originalen den Vorzug und so führt jede linke Mitverwaltung der Austeritätspolitik zu einem Rechtsruck in der Gesellschaft.
Großbritannien, Finnland, Österreich und zuletzt Dänemark lieferten Beispiele dafür. So haben Tsipras und Syriza mit dem Schritt zum Referendum den Weg geöffnet, dass sie selbst nach einer Niederlage bei der Abstimmung als glaubwürdige Alternative bestehen können, die dann eben wieder Politik aus der Opposition macht. Vielleicht besteht darin die Botschaft der Hoffnung der Würde über Europa hinaus, die Tsipras jetzt leidenschaftlich beschwört [8].
Nein zur Erpressung durch EU und IWF
Noch ist das Referendum nicht entschieden. Gegen den Druck sämtlicher EU-Instanzen versucht auch in Deutschland ein Bündnis für ein Nein zum EU-Diktat [9] zu werben. Auch ein europäischer Aufruf [10] mobilisert für ein Nein beim Referendum.
Schon wird der 5. Juli, der Tag des Referendums, zum Tag des Wandels in Europa [11] erklärt. Trotz allen Pathos würde natürlich eine Ablehnung der EU-Pläne durch die griechische Bevölkerung linken Bestrebungen in Spanien und anderen europäischen Ländern Auftrieb geben.
Deutschland hat nie bezahlt
Auch der französische Ökonom Thomas Piketty [12], der mit seinen Schriften über die wachsende Ungleichheit Schlagzeilen machte, gehört zu den Gegnern der europäischen Austeritätspolitik und kritisiert dabei besonders die Rolle Deutschlands [13]. Auf die Frage, ob er sich freue, dass sich die französische Regierung entgegen ihrer Wahlversprechen der deutschen Austeritätspolitik unterordnet, antwortet Piketty:
Dann gibt Piketty seinen deutschen Lesern eine historische Lektion mit auf den Weg:
Mit dieser Einschätzung dürfte Piketty mit dem Hamburger Rechtsanwalt Martin Klingner vom AK Distomo [14] einig sein, der sich seit Jahren dafür einsetzt, dass die Opfer der deutschen NS-Herrschaft über Griechenland entschädigt wird. In einer Pressemeldung schrieb der Arbeitskreis.
Der aktuelle Kampf der griechischen Regierung hat die Forderungen nach Reparationen und Entschädigung etwas in den Hintergrund gedrängt. Am Montag fand in Berlin ein von der Linksfraktion veranstaltetes Hearing [15] unter der Überschrift „Ungesühnt, aber Unvergessen – Deutsche Verbrechen in Griechenland und die Frage der Reparationen“ statt.
Die drei zentralen Fragen, die dort von Historikern, Politikern und Angehörigen von Opfern diskutiert wurden, lauteten: Ist die Reparationsfrage erledigt? Dürfen Nazi-Opfer auch nach 70 Jahren noch Wiedergutmachung verlangen? Darf Deutschland die Zwangsanleihe behalten?“
Die Referenten betonten die Notwendigkeit von Reparationen, Entschädigung und Rückzahlung der Zwangsanleihen. Es ging den aus Griechenland angereisten Angehörigen nicht um das Geld, sondern um die Gerechtigkeit für die Opfer. Doch alle Referenten zogen auch Parallelen zur aktuellen Politik.
So wies der griechische Rechtsanwalt Sarantos Theodoropoulos darauf hin, dass bereits vor mehr als 70 Jahren NS-Funktionäre die Zwangsanleihe damit rechtfertigten, dass nur so Griechenland seinen Verpflichtungen, damals für Nazideutschland, nachkommen könne. Theodoropoulos nannte diese Zwangsanleihe denn auch sarkastisch „unser erstes Memorandum“.
Wenn eine solche Sichtweise in größeren Teilen der griechischen Bevölkerung verankert ist, gibt es vielleicht doch die Hoffnung, dass sie mehrheitlich den aktuellen Memoranden ihre Zustimmung verweigern.
http://www.heise.de/tp/news/Beugt-sich-die-griechische-Bevoelkerung-dem-Druck-von-EU-und-IWF-2731439.html
Peter Nowak
Links:
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»Deutschland ist der größte Schuldner Europas«
70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs müssen viele Opfer von NS-Verbrechen beziehungsweise deren Angehörige immer noch um Entschädigungen kämpfen. In Deutschland werden derzeit die Reparationsforderungen Griechenlands erneut diskutiert. Der Hamburger Rechtsanwalt Martin Klingner engagiert sich seit Jahren im AK Distomo dafür, dass Deutschland endlich zahlt. Im griechischen Distomo verübte die SS 1944 ein Massaker an der Dorfbevölkerung als Vergeltungsaktion für Partisanenangriffe. Mit Klingner sprach die Jungle World über die Debatte um Reparationen an Griechenland.
Wann hat sich der AK Distomo gegründet und was war der Anlass?
Der AK hat sich 2001 gegründet. Im Jahr 2000 gab es ein Urteil des Areopag, des obersten Gerichtshofs Griechenlands. Daraufhin wurden deutsche Liegenschaften in Athen und Thessaloniki gepfändet, unter anderem das Goethe-Institut. Damals haben wir vom Massaker in Distomo erfahren. Es hat uns deutlich gemacht, dass das Thema Entschädigung für NS-Opfer auch nach der Debatte um NS-Zwangsarbeit und der Gründung der Stiftung EVZ (»Erinnerung, Verantwortung, Zukunft«, Anm. d. Red.) nicht beendet ist. Wir haben uns seither intensiv mit den Entschädigungsforderungen aus Griechenland und deren Hintergründen befasst, Kontakte zu Überlebenden, Opferverbänden und Anwälten geknüpft und begonnen, Solidaritätsarbeit zu diesem Thema in Deutschland zu leisten.
Seither fahren wir regelmäßig nach Griechenland und nehmen unter anderem an den Gedenkfeiern in Distomo teil. Mit Argyris Sfoutouris verbindet uns eine intensive Freundschaft. Er ist Überlebender des Massakers von Distomo und einer der Kläger in den Entschädigungsprozessen gegen Deutschland. Wir unterstützen auch Entschädigungsforderungen von NS-Opfern aus anderen Ländern, wie Italien und Slowenien. Ein weiteres Anliegen von uns ist die Strafverfolgung der Täter.
Seit einigen Wochen wird die Diskussion um die Reparationszahlungen an Griechenland öffentlich geführt. Sieht Ihr Arbeitskreis darin einen Erfolg seiner Arbeit?
Der Anlass für das derzeit sehr große Interesse ist sicher die Wahl der neuen griechischen Regierung und deren Thematisierung der Reparationsforderungen. Wir sind durch unsere kontinuierliche Arbeit quasi Experten für das Thema Entschädigung geworden und finden in der jetzigen Situation viel mehr Gehör als zu früheren Zeiten. Dass die Medien mehr und besser über das Thema berichten, sehen wir insoweit auch als Erfolg des AK und aller anderen Menschen in Deutschland an, die für die Interessen der NS-Opfer eintreten. Ich möchte noch einmal betonen, dass für uns die Frage der individuellen Entschädigung der Überlebenden und der Angehörigen der Opfer im Zentrum unserer Arbeit steht.
Wie sehen Sie das Agieren der aktuellen griechischen Regierung in der Debatte? Ist der Vorwurf der Instrumentalisierung in Ihren Augen berechtigt?
Nein, aus unserer Sicht instrumentalisiert in erster Linie Deutschland das Thema, indem zur Abwehr von Reparations- und Entschädigungsforderungen immer wieder auf die aktuellen ökonomischen Probleme Griechenlands verwiesen wird. Die griechische Regierung greift endlich ein Thema mit Nachdruck auf, das eigentlich spätestens seit 1990 auf die Agenda jeder griechischen Regierung gehört hätte. Zwar wurden immer wieder Ansprüche geltend gemacht, aber letztlich hatte bisher noch keine griechische Regierung den Mut und den Willen, sich der deutschen Forderung, einen Schlussstrich zu ziehen, entgegenzustellen.
Wir hoffen sehr, dass die jetzige griechische Regierung nicht auch irgendwann klein beigibt. Problematisch fänden wir es nur, wenn die griechische Regierung die individuellen Entschädigungsforderungen der NS-Opfer mit aktuellen Schulden verrechnen würde. Das darf nicht sein.
Wie sehen Sie die Verknüpfung von Reparationszahlungen und Wirtschaftskrise?
Die BRD hätte kein Wirtschaftswunder erlebt ohne die Stundung der Reparationsforderungen im Londoner Schuldenabkommen. Griechenland hätte sich anders entwickeln können, hätte es Reparationszahlungen erhalten. Die aktuelle Krise hat jedenfalls auch etwas mit der Zerstörung Griechenlands durch die deutschen Besatzer und der dadurch verzögerten ökonomischen Entwicklung zu tun. Griechenland hat zumindest allen Grund zu sagen: Jetzt ist es höchste Zeit, dass Deutschland seine Schulden begleicht.
Manche Beobachter meinen, da Deutschland im NS in so vielen Ländern Verbrechen beging, hätte es nicht genug Geld für Reparationen. Können Sie dieser Logik folgen?
Die Verbrechen Nazideutschlands waren in der Tat so gewaltig, dass der Rechtsnachfolgestaat BRD erhebliche Schulden geerbt hat. Deutschland ist der größte Schuldner Europas. Dies ist kein Grund, die Schulden nicht zu bezahlen, und schon gar kein Grund, noch nicht einmal in Verhandlungen mit den Gläubigern zu treten. Die deutsche Regierung sagt wie alle Vorgänger schlicht Nein zu allem und damit darf sie nicht durchkommen. Dies ist eine Frage der Gerechtigkeit und der Prävention. Verbrechen dürfen sich nicht lohnen.
Der Hamburger Historiker Karl Heinz Roth hat kürzlich vorgeschlagen, die Goldreserven Deutschlands für die Reparationszahlungen an Griechenland zu verwenden. Halten Sie das für einen sinnvollen Vorschlag?
Wir sehen das nicht als unser Problem an, wie Deutschland das Geld zusammen bekommt. Von uns aus könnte auch die Bundeswehr abgeschafft werden. Das löst dann gleich noch ein Problem.
Sehen Sie denn noch Möglichkeiten, Deutschland auch mit juristischen Mitteln zur Zahlung von Reparationen zu zwingen?
Ja, es gibt verschiedene Möglichkeiten. Der griechische Staat könnte Deutschland auf Zahlung verklagen. Es gibt für die Reparationsforderung selbst eine klare vertragliche Grundlage, nämlich die Regelungen des Pariser Reparationsabkommens. Dort wurden die Ansprüche Griechenlands gegenüber Deutschland auf mindestens 7,1 Milliarden US-Dollar festgelegt. Deutschland hat diese Schulden nicht bezahlt. Daher ist jedenfalls der festgelegte Betrag auf den heutigen Wert umzurechnen und zu verzinsen. Relevante rechtliche Einwände gegenüber dieser Forderung gibt es nicht. Sie ist nicht verjährt. Griechenland hat auf diese Forderungen nicht verzichtet. Sie sind auch nicht durch andere Vereinbarungen erledigt, insbesondere nicht durch den deutsch-griechischen Vertrag von 1960, da dieser nur »Wiedergutmachungsansprüche« wegen spezifisch nationalsozialistischer Verfolgung zum Gegenstand hatte, nicht aber Reparationen. Die Forderung ist fällig, denn mit dem 2+4-Vertrag endete die Stundungswirkung des Londoner Schuldenabkommens.
Zahlt Deutschland auch weiterhin nicht, müsste Griechenland ein zuständiges Gericht anrufen. Ein Prozess wäre denkbar vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Diese Möglichkeit halte ich aber für wenig aussichtsreich, da Deutschland diesem Verfahren zustimmen müsste, was es kaum machen wird. Die andere Möglichkeit wäre die Anrufung eines Schiedsgerichts gemäß dem Londoner Schuldenabkommen. Letzteres sieht in Art. 28ff vor, dass über alle Streitfälle aus diesem Abkommen ein Schiedsgericht mit Sitz in Koblenz entscheidet. Griechenland könnte fordern, dass dieses einberufen wird. Dies wäre meines Erachtens der erfolgversprechendste Rechtsweg.
Was halten Sie juristisch von dem Argument, da es keinen Friedensvertrag gegeben hat, sei eine juristische Entscheidung gegen Deutschland nicht mehr möglich?
Das ist kein Argument, sondern ausschließlich Ausdruck der europäischen Großmacht Deutschland, die glaubt, angesichts ihrer Führungsrolle in Europa das Definitionsmonopol für völkerrechtliche Fragen zu besitzen. Der Trick des damaligen Außenministers Hans-Dietrich Genscher bestand darin, dass die bloße Vermeidung eines Wortes schon ausreichen sollte, um Ansprüche zum Erlöschen zu bringen. Das ist eine Farce. Bereits mehrfach haben bundesdeutsche Gerichte entschieden, dass der 2+4-Vertrag die Stundungswirkung des Londoner Schuldenabkommens beendet hat, so der Bundesgerichtshof im Distomo-Urteil vom 26. Juni 2003: 2+4 sei zwar kein Friedensvertrag im herkömmlichen Sinne, er habe aber das Ziel, eine abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland zu treffen. Also sind alle Reparationsansprüche seither fällig.
Was würde juristisch passieren, wenn die griechische Regierung ihre Drohungen umsetzt und tatsächlich deutsches Eigentum in Griechenland beschlagnahmt?
Das ginge erst, wenn Griechenland ein Urteil gegen Deutschland erstreiten würde. Da wird in der öffentlichen Wahrnehmung etwas verwechselt. Die Vollstreckung im Fall Distomo wäre möglich durch Pfändung deutschen Eigentums in Griechenland. Denn in diesem Fall gibt es einen Titel zugunsten der Klägerinnen und Kläger über etwa 28 Millionen Euro, der vollstreckbar ist. Dies ist aber bislang der einzige Rechtstitel in Griechenland, der vollstreckbar ist. Wenn die griechische Regierung die Vollstreckung erlauben würde, dann könnten deutsche Liegenschaften versteigert werden. Dies würde vermutlich einen neuen Rechtsstreit auslösen, denn die Bundesregierung würde sicherlich vor den griechischen Gerichten klagen und versuchen, die Maßnahmen zu stoppen.
Sehen Sie in der Frage der Rückzahlung des Kredits, der während der NS-Zeit aufgenommen wurde, bessere Chancen, dass Deutschland zahlen muss?
In rechtlicher Hinsicht eher nicht, denn diese Forderung besteht neben den Reparationsforderungen. Beide Forderungen sind in rechtlicher Hinsicht nicht bezweifelbar. Politisch könnte die Rückzahlung der Zwangsanleihe leichter durchsetzbar sein, weil sich eventuell das Wort »Reparationen« vermeiden ließe und damit die nachfolgenden Forderungen. Das ist aber nur die deutsche Perspektive, aus griechischer Sicht spielt es letztlich keine Rolle.
Forderungen nach Entschädigung waren in der außerparlamentarischen und antifaschistischen Linken weitverbreitet. Unterstützt diese derzeit die Forderung nach Entschädigungszahlungen an Griechenland?
Die Debatte um die Entschädigung für NS-Zwangsarbeit war jedenfalls wesentlich breiter und intensiver als die jetzige Auseinandersetzung. Sicher gibt es Unterstützung für das Thema, aber es ist nicht das große Thema der antifaschistischen Linken.
Hat also auch ein großer Teil der außerparlamentarischen Linken einen Schlussstrich unter die deutsche NS-Vergangenheit gezogen?
Das würde ich so nicht unterschreiben. Die große Zahl der Anfragen nach Informationen und Veranstaltungen gerade in der letzten Zeit zeigt uns, dass Interesse da ist. Es hat allerdings bislang nicht gereicht, um eine Kampagne zu initiieren, die auch ausreichend politischen Druck auf die deutsche Regierung entwickeln könnte.
http://jungle-world.com/artikel/2015/19/51927.html
Interview: Peter Nowak
Deutsche Zahlungsmoral
Die griechische Regierung hat die Reparationsforderungen an Deutschland auf 278,7 Milliarden Euro beziffert. Die deutsche Öffentlichkeit reagiert mit Kritik und Vorwürfen.
»Herr Straubinger, ist die Geduld mit Griechenland unendlich? Was müssen wir uns eigentlich alles noch zumuten?« Mit dieser Frage leitete Gerd Breker vom Deutschlandfunk vorige Woche ein Interview mit dem parlamentarischen Geschäftsführer der CSU, Max Straubinger, ein. Kurz zuvor hatte die griechische Regierung ihre Reparationsforderung an Deutschland konkretisiert. Auf die Summe von 278,7 Milliarden Euro komme nach einer ersten Auswertung ein Parlamentsausschuss, der sich mit den Entschädigungen befasst, teilte der stellvertretende griechische Finanzminister Dimitris Mardas am Montag voriger Woche im griechischen Parlament mit.
In Deutschland fielen die abwehrenden Reaktionen auf diese Forderung heftig aus. Breker bringt dabei letztlich nur auf den Punkt, was die Bild-Zeitung schon vor Wochen in einer regelrechten Anti-Griechenland-Kampagne formuliert hat: »Kein deutsches Geld an Griechenland.« Endlich scheinen die Deutschen ein Land gefunden zu haben, dem sie unmissverständlich klarmachen können, was viele bereits unmittelbar nach Kriegsende im Jahr 1945 gedacht haben, aber nicht so laut und deutlich von sich geben konnten. Deutschland will sich seine NS-Verbrechen nicht mehr vorhalten lassen. Wer sich nicht daran hält, wird von Straubinger im Interview mit dem Deutschlandfunk zurechtgewiesen. »Es ist richtig, dass Griechenland das politische Berlin, aber insgesamt auch die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland gehörig strapaziert.« Breker sekundiert ihm: »Es gibt keine konkrete Sparliste. Stattdessen erleben wir Reparationsforderungen gegen Deutschland in Höhe von fast 280 Milliarden Euro.« Straubinger befindet, dass sich Griechenlands Regierung mit einer solchen Forderung »lächerlich macht in der gesamten Völkergemeinschaft und insbesondere in der Europäischen Union«.
Solche Äußerungen sagen viel über ein Deutschland, das sich mittlerweile anscheinend so mächtig fühlt, dass es nicht einmal mehr für nötig hält, 70 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus die Opfer mit Entschuldigungsfloskeln zu beruhigen. Dazu passt, dass hierzulande in einigen Medien suggeriert wird, die Reparationsforderungen seien eine Erfindung der neuen griechischen Regierung. Dabei werden seit Jahrzehnten von griechischen Opferverbänden immer wieder Reparationsforderungen erhoben. Hierzulande berichteten auch nur wenige Medien über eine Mitteilung der jüdischen Gemeinde in Thessaloniki von Ende Februar vorigen Jahres, in der sie, anlässlich des anstehenden Griechenlandbesuchs von Bundespräsident Joachim Gauck, ihre Forderungen nach Entschädigungszahlungen für die Naziverbrechen bekräftigte.
Es gehe um »immaterielle Schäden« sowie ein Lösegeld in Höhe von 2,5 Millionen Drachmen, das 1943 an den Regionalkommandanten der Nazis gezahlt worden sei, erläuterte der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde David Saltiel. Mit dieser Summe, die nach heutigem Stand 45 Millionen Euro entspreche, seien damals Tausende Juden von der Zwangsarbeit freigekauft worden. Saltiel hoffte, dass das Thema bei Gaucks Besuch in Griechenland Anfang März vorigen Jahres zur Sprache kommen würde. Ansonsten werde man auch versuchen, die Forderungen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte durchzusetzen, hieß es in einer Mitteilung der Jüdischen Gemeinde Thessaloniki. In Athen sagte Griechenlands damaliger Staatspräsident Karolos Papoulias, mit Verhandlungen über Reparationen sowie die Rückzahlung einer von der NS-Diktatur erhobenen Zwangsanleihe müsse »so schnell wie möglich« begonnen werden. Gauck sagte dazu: »Sie wissen, dass ich darauf nur so antworten kann, dass ich meine, der Rechtsweg dazu ist abgeschlossen.«
Da die von den Konservativen gestellte griechische Regierung die Reparationsforderungen gegenüber der Bundesregierung nicht allzu offensiv vertrat, interessierte sich in Deutschland auch kaum jemand dafür. Man überging sie schweigend. Das ist nicht mehr möglich, seit die neue griechische Regierung die konkret bezifferte Entschädigungsforderung gegenüber Deutschland präsentierte. Saltiel klassifizierte die Forderungen bereits Mitte März im Interview mit der Jüdischen Allgemeinen.
»Sie sind mehr als berechtigt. Auf jeden Fall soll die Zwangsanleihe, die sich Deutschland 1942 von der griechischen Notenbank hat auszahlen lassen, endlich zurückgegeben werden. Die beläuft sich mittlerweile auf mehr als zehn Milliarden Euro«, betonte er. Saltiel zog auch eine bittere Bilanz der deutschen Ignoranz gegenüber den griechischen NS-Opfern. »Es gibt kein deutsches Entgegenkommen. Im Jahr 2000 hatte das höchste griechische Gericht beschlossen, das Eigentum der Bundesrepublik Deutschland, dass sich in Griechenland befindet, gepfändet werden darf, um die Opfer des Massakers von Distomo zu entschädigen. 1944 hatten die Nazis dort sämtliche verbliebenen Dorfbewohner erschossen. Unglücklicherweise zogen die Kläger aber nach Straßburg, wo sie vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte scheiterten.«
Auf die Frage nach den speziellen Forderungen der griechischen Juden antwortete Saltier: »Wenigstens die Fahrkarten sollte die Regierung in Berlin uns erstatten, die wir 1943 haben lösen müssen. Den Juden aus Thessaloniki war von den deutschen Besatzern gesagt worden, sie müssten sich Zugtickets kaufen, auf sie warte woanders eine gute Zukunft. Das waren 50 000 Menschen, von denen die meisten nach Auschwitz deportiert wurden.«
Dass man solche Stimmen in Deutschland kaum wahrnimmt, ist kein Zufall. Schließlich würde es dann nicht mehr so leicht fallen, die Reparationsforderungen als eine Rache der neuen griechischen Regierung abzutun und mit dem Ratschlag zu kommen, die Griechen sollten lieber ihre Schulden bezahlen und ihre Hausaufgaben bei der Umsetzung der Austeritätspolitik machen, anstatt Deutschland zu brüskieren.
Eine andere Begründung für Deutschlands Weigerung, Reparationen und Schulden an Griechenland zu zahlen, präsentierte Ulrike Herrmann in der Taz, die in ihrem Kommentar kritisiert, dass Deutschland seit Jahrzehnten trickse, um Ansprüche der Griechen abzuwehren, aber die Forderung von 278,7 Milliarden Euro für realitätsfern hält. »Dieses Geld hat die Bundesrepublik nicht. Denn leider haben die Nationalsozialisten ja nicht nur in Griechenland gewütet, sondern auch in Frankreich, den Niederlanden, Dänemark und besonders in Polen, Russland oder der Ukraine.«
Der Logik, weil Deutschland besonders verbrecherisch gewesen sei, könne es den Forderungen nur mit einer symbolischen Summe nachkommen, verweigert sich der Hamburger Historiker Karl Heinz Roth. In der im April erschienen Flugschrift »Griechenland am Abgrund. Die deutsche Reparationsschuld« schlägt er vor, die Schulden durch den Transfer eines erheblichen Teils der Goldreserven der Deutschen Bundesbank nach Griechenland zu begleichen. Mit dem Geld sollten unter anderem Sofortmaßnahmen für die notleidende Bevölkerung Griechenlands, die Abschreibung der griechischen Staatsschulden bei der Europäischen Zentralbank sowie ein wirtschaftlicher Wiederaufbau finanziert werden. Zusätzliche Goldbarren sollte die Bundesbank für einen Fonds zur Entschädigung der NS-Opfer und ihrer Angehörigen in Griechenland zur Verfügung stellen.
Derzeit wäre es allerdings schon ein Fortschritt, wenn sich die Forderung »Deutsche Goldreserven nach Griechenland« in der außerparlamentarischen Linken hierzulande verbreiten würde. Schließlich fehlt immer noch eine adäquate Antwort auf die Kampagne von Bild und jene, die die Euro-Krise nutzen, um griechische Reparationsforderungen zu diskreditieren.
http://jungle-world.com/artikel/2015/16/51790.html
Peter Nowak
Lässt sich Tsipras in die deutsche EU einbinden?
Ein Problem des Konflikts ist, dass er personalisiert wurde
Evangelos Antonaros [1] ist in Deutschland ein gefragter Interviewpartner, wenn es um die griechische Innenpolitik geht. Der Politiker der im Januar abgewählten konservativen Partei Neue Demokratie hat schließlich immer das gesagt, was der Mainstream in Deutschland hören will: Griechenland muss sich den Vorgaben der EU, respektive Deutschlands anpassen.
Immer wieder mahnte er über Deutschlands Sender die griechische Regierung, schneller zu privatisieren und noch mehr Schulden abzubauen, also die Hausaufgaben der Troika besonders eifrig zu erfüllen [2]. Besonders seit der Regierungsübernahme von Syriza wurde Antonaros zum Dauersprecher jener germanophilen Schicht in Griechenland, die lauthals bedauert, dass Deutschland nun zum Feindbild gemacht wird [3]und dafür sogar Rückhalt in der Bevölkerung Griechenlands hat. Doch nach dem Tsipras-Besuch am letzten Monat hatte, gibt sich Antonaros im Deutschlandfunk-Interview [4] versöhnlich gegenüber seinen politischen Kontrahenten. Es sei die Zeit des Kompromisses gekommen, erklärt er.
Lose Kooperation der proeuropäischen Kräfte?
Nun müsse eine lose Allianz der proeuropäischen Kräfte mit Tsipras geschmiedet werden. Gegen wen sich die richten würde, ist für Antonaros klar:
Damit würde er zeigen, dass er nicht mehr im Wahlkampfmodus, sondern in der Realität angekommen ist. Was Deutschlands Mann in Athen verkündet, kann man seit Ende Januar jeden Tag in der FAZ oder in den Erklärungen von Unionspolitikern lesen. Für die ist der Wahlsieg von Tsipras in Griechenland nicht etwa Anlass, darüber nachzudenken, wie die EU-Diktate in manchen Ländern vielleicht demokratisch nicht mehr durchgesetzt sind.
Die einzige Sorge dieser Kreise war vielmehr, wie geht Tsipras und die Syriza-Führung mit der Realität um, die nach dieser Lesart heißt, im von Deutschland dominierten EU-Raum gibt es keine Möglichkeit, eine Politik auf demokratischen Weg umzusetzen, die die Belange der großen Mehrheit der unter dem Troika-Diktat leidenden Menschen stärker in den Mittelpunkt stellt. Der nicht von Syriza, aber der spanischen Podemos kreierten Parole „Ein anderes Europa ist möglich“ setzen sie ein klares Nein entgegen.
Bad Cop Schäuble
Die Auseinandersetzung der letzten Wochen waren davon geprägt, dass vor allem Wolfgang Schäuble als Bad Boy gegenüber jedem Veränderungswünsch in Europa auftrat und mehrmals deutlich machte, dass er einen Grexit nicht ausschloss und dass der ihm sogar vielleicht gar nicht unwillkommen war. Schäuble eignet sich nicht von ungefähr gut für diese Rolle als Pate der Troikapolitik, die selbst nach den eigenen Regeln der EU und ihrer Staaten illegal [5] ist.
Es ist schon etwas in Vergessenheit geraten, dass Schäuble tief verstrickt in die Spendenaffäre der Kohl-Ära war, was ihm alle Ambitionen auf das Bundeskanzleramt kostete. Er musste aber in die Regierungspolitik eingebunden werden, weil er einfach zu viel wusste und damit die Union hätte in Verlegenheit bringen können.
Bei der Bundespressekonferenz zur Konstituierung der schwarz-gelben Bundesregierung gab es kritische Fragen eines ausländischen Journalisten, was den in die Spendenaffäre verstrickten Schäuble für das Finanzministerium qualifiziert. Darauf reagierten Merkel und Westerwelle wütend und verweigerten die Antwort. Ein solcher Mann eignet sich besonders gut für die Rolle des Bad Cops, der renitente EU-Staaten und ihre Wähler auf Linie bringen kann.
Als sich in den letzten Tagen aber zeigte, dass die griechische Regierung innenpolitisch an Zustimmung gewinnt, wenn sie sich gegen Deutschland behauptet, kamen vor allem aus den USA Warnungen. So könnte man am Ende Griechenland aus der EU vertreiben und das Land wendet sich wegen weiterer Kredite an Russland. Das wäre für viele US-Strategen ein GAU. Daher machte Merkel die Griechenlandfrage zur Chefsache und verwies den Bad Cop Schäuble vorerst auf die Reservebank.
Reaktiviert kann er jederzeit wieder werden, wenn sich zeigen sollte, dass sich die griechische Regierung auch durch eine Sympathiewerbung des Good Cop nicht von ihren Wahlzielen abbringen lässt oder einfach darauf hinweist, dass das Herstellen von Vertrauen zwischen gewählten Regierungsvorstehern gerade nicht heißt, dass man seine Ziele vergisst. Denn das Problem zwischen den Regierungen von Deutschland und Griechenland besteht nicht darin, dass zwei Regierungschefs einander nicht verstehen oder keine gemeinsame Basis entwickelt haben. Mit solchen Thesen wird nur die reaktionäre Politikvorstellung reaktiviert, dass große Männer und heute auch Frauen Geschichte schreiben respektive Politik machen und die Bevölkerung höchstens an der Wahlurne ihre Stimme abgeben soll und dann nichts mehr zu sagen hat.
Der eigentliche Kern des Problems zwischen den Regierungen Deutschlands und Griechenlands besteht vielmehr darin, dass in Griechenland eine Regierung gewählt wurde, die die Austeritätspolitik beenden soll, die von der Regierung in Deutschland formuliert und bis heute eisern verteidigt wird. Hier muss über Interessenunterschiede und unterschiedliche politische Konzepte geredet werden. Stattdessen aber wird daraus eine Personalshow, in der zwei Personen Vertrauen aufbauen sollen.
Mit einer solchen Strategie wird ein politischer Konflikt personifiziert, der längst nicht nur zwischen Deutschland und Griechenland besteht. Für die deutsche Regierung gab es vor allem das Problem, dass auch die Menschen in anderen Ländern der europäischen Peripherie sich mit den Anliegen der neuen griechischen Regierung solidarisieren könnten. Die große Teilnahme von Menschen aus Spanien und Italien am Blockupy-Aktionstag in der letzten Woche könnten Merkels Berater durchaus als Menetekel verstanden haben.
Die europäischen Opfer der Austeritätspolitik könnten nun auf die Idee kommen, öfter in dem Land zu protestieren, das im EU-Raum die meisten Machtmittel hat. Nur könnten sie dann nicht mehr zur Europäischen Zentralbank, sondern gleich zum Bundeskanzleramt ziehen .Doch für die griechische Regierung ergibt sich ein größeres Dilemma. Mag auch die Bevölkerung in Spanien zunehmend gegen die Austeritätspolitik agieren, die amtierende konservative Regierung wird alles tun, um zu verhindern, dass die neue Podemos-Partei stärker wird und unterstützt gerade deshalb den Kurs der deutschen Austeritätspolitik.
Zudem haben Tsipras und Co. einen taktischen Fehler gemacht, dass sie sich bedingungslos für ein Verbleiben in der EU-Zone aussprachen. Gerade dadurch setzten sie sich selber unter Druck und erweckten auch in der Bevölkerung falsche Erwartungen. Taktisch klüger wäre es gewesen, sie hätten ihren Willen in der EU-Zone zu verbleiben, an Bedingungen geknüpft, dass die Austeritätspolitik gelockert wird und sich die Option eines Ausscheidens nicht als Niederlage, sondern als Ergebnis von Kämpfen offengehalten.
Dabei hätten sie mittels Referenden die Bevölkerung mit einbeziehen und so zeigen können, dass auch dort die EU-Mitgliedschaft nicht bedingungslos verteidigt würde. Damit hätten sie auch Teile der Linken in Griechenland ansprechen können, die wie die Kommunistische Partei, aber auch der linke Syriza-Flügel von Anfang an der Meinung waren, innerhalb der EU gäbe es keine Alternative.
Deutsches Gold nach Griechenland?
Die Bundesregierung versuchte auch beim Tsipras-Besuch den Eindruck zu erwecken, dass die Forderungen nach Rückzahlung des deutschen Kredites aus der NS-Zeit sowie nach Entschädigungen und Reparationen kein Thema wären. Merkel bedauerte das Leid für die Opfer der deutschen Politik betonte aber, dass die Kasse zubleibt.
Dass die Nachfolger der Täter darüber entscheiden, ist ein Affront für die Opfer und ihre Nachkommen. Dazu gehört David Saltiel, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde von Thessaloniki. Auf die Frage nach den Forderungen nach Reparationen und Entschädigungen erklärte er in einem Interview [6] mit der Jüdischen Allgemeinen:
Auf die Frage, welche Entschädigungsforderungen die griechischen Juden haben, erwiderte Saltiel:
Die Forderungen der griechischen Regierung sind allzu berechtigt. Allein in Deutschland gibt es kaum noch politische Initiativen, die sich mit den Entschädigungszahlungen für deutsche Verbrechen beschäftigten und Druck aufbauen können. Der AK Distomo [7], benannt nach einem der zahlreichen deutschen Verbrechensorte in Griechenland, gehört zu den Ausnahmen.
Zu den Ankündigungen, deutsches Eigentum in Griechenland zu beschlagnahmen, wenn Deutschland seine Schulden nicht bezahlt, heißt es in einer Erklärung [8] des Arbeitskreises:
Der Hamburger Historiker Karl-Heinz Roth [9] macht in einem demnächst erscheinenden Buch mit dem Titel „Die deutsche Reparationsschuld“ [10] noch weitere Vorschläge, wie Deutschland seine Schulden an Griechenland bezahlen kann [11].
Solche Vorschläge können wohl erst dann Realität werden, wenn die deutsch dominierte EU-Zone in eine grundlegende Krise gerät.
http://www.heise.de/tp/news/Laesst-sich-Tsipras-in-die-deutsche-EU-einbinden-2583943.html
Peter Nowak
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Zwei plus vier macht null
Die Forderung der griechischen Regierung nach Rückzahlung einer Zwangsanleihe aus der NS-Zeit kommt hierzulande schlecht an. Dennoch könnte Griechenland Erfolg haben.
Die Andeutung zeigte Wirkung: Als der griechische Justizminister Nikos Paraskevopoulos seine Bereitschaft äußerte, die Pfändung deutscher Immobilien in Griechenland zu erlauben, um den Reparationsforderungen Nachdruck zu verleihen, wurden auch die deutsche Politik und Öffentlichkeit nervös. Solche Ansprüche an Deutschland haben in den vergangenen Jahren auch griechische Regierungen vertreten, die von Sozialdemokraten oder Konservativen gestellt wurden. Aber sie wollten damit vor allem die eigene Klientel beruhigen und vertraten die Forderungen nie mit Nachdruck, obwohl der griechische Oberste Gerichtshof bereits im Jahr 2000 entschieden hatte, dass in Reparationsfragen deutsches Eigentum in Griechenland gepfändet werden dürfe.
Die neue griechische Regierung leitet die Ansprüche vor allem aus einer Zwangsanleihe ab, die die griechische Nationalbank während der NS-Besatzung an das Deutsche Reich zahlen musste und die nie zurückgezahlt wurde. Nach griechischer Rechnung entspricht die Schuld inklusive Zinsen derzeit elf Milliarden Euro. Die Bundesregierung hat auf die erste Parlamentsrede von Alexis Tsipras, in der er die Forderungen bekräftigte, lapidar erklärt, weitere Reparationszahlungen seien ausgeschlossen. Die Argumentation der Bundesregierung lautet, dass im Londoner Schuldenabkommen von 1953 die Regelung der deutschen Reparationen auf die Zeit nach Abschluss eines »förmlichen Friedensvertrages« vertagt worden sei. Diese Regelung wiederum sei 1990 durch den Zwei-Plus-Vier-Vertrag zur Wiedervereinigung gegenstandslos geworden. Die Bundesregierung legt den Vertrag so aus, dass die Reparationsfrage nach dem Willen der Vertragspartner nicht mehr geregelt werden muss.
So wurde eine Argumentation entwickelt, mit der deutsche Regierungen auch schon in anderen Fällen versuchten, sich um Zahlungen an NS-Opfer zu drücken. Dabei geht es im Fall Griechenlands um die juristisch bedeutsame Frage, ob die Zwangsanleihe in die Kategorie Schulden oder Reparationen fällt. Schulden müssten auch nach 70 Jahren mit Zinsen zurückgezahlt werden. Warum das Darlehen aber in die Kategorie Reparationen fallen soll, erläuterte Matthias Hartwig vom Max-Plank-Institut vor einigen Tagen im Deutschlandfunk: »Ich persönlich bin der Auffassung, dass dieser Kredit zunächst einmal während der Besatzungszeit Griechenlands durch das Deutsche Reich abgeschlossen worden ist und sicherlich als Vertrag gesehen werden muss, welcher nicht auf Augenhöhe geschlossen wurde, also insofern sicherlich, wenn man es so nennen möchte, ein ungleicher Vertrag zwischen Deutschland und Griechenland, und das lässt sich auch damit belegen, dass der Kredit seinerzeit zinslos gegeben worden ist.« Hartwig kam zur Schlussfolgerung: »Von daher gesehen sprechen sehr gute Gründe dafür, diesen Vertrag als einen Teil des Kriegsunrechts anzusehen, mit der Folge, dass eine Wiedergutmachung im Rahmen von Reparationszahlungen zu erfolgen hat.«
Kurz zusammengefasst: Weil die Zwangsanleihe ein besonders großes Unrecht war, hält die Bundesregierung die Rückzahlung für unnötig. Das erinnert an die Debatte um die Zahlung der sogenannten Ghettorenten, als staatliche Stellen die Zahlungen ebenfalls lange verhinderten, so dass der Kreis der Betroffenen immer kleiner wurde. In diesem Fall wurde argumentiert, dass es in den Ghettos keine herkömmlichen Arbeitsverhältnisse gegeben habe, sondern der Zwang ausschlaggebend gewesen sei. Das war sicher nicht falsch, wurde aber als Argument genutzt, um die Rentenzahlung zu verweigern. Dass es schließlich für einige Menschen doch noch eine Nachzahlung der Ghettorenten gab, war auch die Folge des großen Drucks, den die deutsche Politik irgendwann nicht mehr ignorieren konnte.
Wenn sich in aktuellen Umfragen eine große Mehrheit der bundesdeutschen Bevölkerung eher für einen Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone als für eine Umschuldung ausspricht und Menschen sich für eine Bild-Kampagne mit der Parole »Kein weiteres deutsches Geld an Griechenland« fotografieren lassen, zeigt sich angesichts der deutschen NS-Schulden ein besonderes Ausmaß von Geschichtsvergessenheit. Doch bisher wird das Thema in der außerparlamentarischen Linken in Deutschland kaum aufgriffen. Auch bei der Mobilisierung zum Blockupy-Protest, bei dem die Solidarität mit Griechenland einen hohen Stellenwert einnimmt, wird auf die deutschen Schulden nur am Rande eingegangen. Das macht deutlich, dass geschichtspolitische Interventionen, die in den Neunzigern noch Debatten anregen konnten, heutzutage kaum noch eine Rolle spielen. Nur der AK Distomo fordert seit Jahren, Deutschland solle Entschädigungen zahlen. Er hat in einer Pressemitteilung die neue griechische Regierung aufgefordert, deutsche Immobilien in Griechenland zwangszuversteigern, sollte sich die deutsche Regierung weigern.
Engagement für die Forderungen aus Griechenland haben in den vergangenen Tagen Politiker der Linkspartei gezeigt. In verschiedenen Talkshows hat etwa Sahra Wagenknecht Verständnis für die Haltung der griechischen Regierung gezeigt. Die Springer-Presse war nicht amüsiert. »Die Diskussion bei Anne Will kreiste verblüffend intensiv um rückwärtsgerichtete Schuldfragen – und trug wenig zu der pragmatischen Frage bei, wie man das Problem nach Lage der Dinge denn nun angehen soll. Ein Schuldenschnitt? Ein Austritt der Griechen aus der Euro-Zone?« versuchte die Berliner Morgenpost die deutsche Vergangenheit kleinzureden.
Der Völkerrechtler Andreas Fischer-Lescano hat die ablehnende Haltung der Bundesregierung kritisiert. »Die Argumentation der Bundesregierung ist juristisch sehr dürftig und anfechtbar«, sagte der Rechtsprofessor in der Sendung »Kontraste«. Der Zwei-Plus-Vier-Vertrag, auf den sich die deutsche Regierung beruft, binde Griechenland nicht, denn es sei »nicht Partei dieses Vertrags«. Es sei »völkerrechtlich nicht zulässig, einen Vertrag zu Lasten Dritter – in diesem Falle Griechenlands – abzuschließen«.
Mittlerweile gibt es auch in den deutschen Medien die ersten Brüche. Im Streit um Entschädigungen für Griechenland solle die Bundesregierung einlenken, das sei moralisch und politisch richtig und würde verhindern, dass die Regierung Tsipras ihre Finanzmisere weiterhin mit der Vergangenheit verknüpfen könne, schreibt David Böcking auf Spiegel Online. Er beschreibt die deutsche Vergangenheitspolitik durchaus präzise: »Außerdem hat Deutschland auch andere NS-Opfergruppen nicht aus formaljuristischen Gründen entschädigt, sondern weil irgendwann der politische oder wirtschaftliche Druck zu groß wurde. So kam die Stiftung zur Entschädigung der Zwangsarbeiter erst zustande, als sich deutsche Konzerne in den neunziger Jahren mit Sammelklagen in den USA konfrontiert sahen. Eine solche Stiftung sollte Deutschland nun auch für griechische Überlebende von NS-Massakern und die Angehörigen der Opfer einrichten.«
Der Kommentar macht deutlich, dass die Politik Griechenlands nicht so aussichtslos ist, wie Schäuble und Merkel suggerieren. Auch Vertreter der SPD und der Grünen befürworten seit einigen Tagen Reparationszahlungen. Nun bräuchte es noch weitere Gruppen und Einzelpersonen, die den Druck erzeugen, von dem Böcking spricht.
http://jungle-world.com/artikel/2015/12/51639.html
Peter Nowak