Wer von Überwachung redet, darf vom Kapitalismus nicht schweigen

Eine Veranstaltungsreihe widmete sich einem in der überwachungskritischen Szene  vernachlässigtes Thema

„Die 1000 Augen der Jobcenter“   – so  lautete das Motto  einer Veranstaltungsreihe der   Berliner  überwachungskritischen               Gruppe Seminar für Unsicherheit (SaU) im März 2016. Damit hat die Gruppe einen wichtigen Aspekt in den Mittelpunkt von fünf Veranstaltungen gestellt, der in der überwachungskritischen Szene bisher unterbelichtet war. Vielen Menschen fallen beim Thema Überwachung noch immer vor allem Kameras im öffentlichen Raum sowie Telefon- und Internetdurchforschung ein.  Das zeigte sich an der Ausrichtung der großen Bündnisse, die in den letzten Jahren die Freiheit-statt-Angst-Demonstrationen organisieren. Die FDP gehört zu den Bündnispartner_innen und    so ist es auch nicht verwunderlich,  dass die Rettung  des Bankgeheimnisses zu den Forderungen der Überwachungskritiker_innen gehörte. Erwerbslosengruppen  gehörten nicht zu den Redner_innen auf den großen Demonstrationen. In den Aufrufen wurde mit der These mobilisiert, dass  Kontrolle und Überwachung „uns alle“ trifft. Diese Behauptung scheint auf den ersten Blick plausibel zu sein. Schließlich blickt das Auge der Kamera auf alle Passant_innen und auch viele andere Sicherheitsgesetze scheinen alle zu betreffen.  Auf den zweiten Blick wird aber deutlich, dass vor dem Sicherheits- und Überwachungsstaat eben nicht alle Menschen gleich sind.

Kein Bankgeheimnis für Hartz IV-Empfänger_innen

Schon lange bevor auch die Bankkonten der Vermögenden ins Blickfeld des Staates gerieten, wobei es meistens um den Vorwurf von Steuerhinterziehung und Geldwäsche geht, war für Sozialhilfeempfänger_innen und Erwerbslose das Bankgeheimnis abgeschafft. So müssen alle Antragsstellungen von Hartz IV-Leistungen, bei  denen es nicht nur um Erwerbslose sondern auch um Aufstocker_innen mit Teil- und Vollzeitarbeit handelt, zustimmen, dass die Behörden Einblick in  ihre Konten nehmen können. Die Kontrolle erstreckt sich auf die Wohnungen der Hartz IV-Empfänger_innen.  So  können sich  Sozialdetektiv_innen   in deren in Schlaf- und Badezimmer davon  überzeugen, ob die Angaben zu Bedarfsgemeinschaften, Wohnsituation etc. zutreffend sind. Wird den  Sozialdetektiv_innen  ein Zutritt zur Wohnung verweigert, kann das  Amit die Leistungen kürzen oder er ganz  streichen.

Zudem landen freiwillig und unwissentlich abgegebene Daten über Hartz IV-Bezieher_innen    in Computern der Arbeitsagenturen.  Dazu zählen die Ergebnisse der Profiling, mit denen die Betroffenen angeblich zur  besseren Jobvermittlung  viele auch sehr persönliche Angaben machen sollen. Zum Datenpool gehören auch alle Protokolle und Notizen, die sich die Behördenmitarbeiter_innen von den Besuchen mit den „Kund_innen“ machen, wie die Hartz IV-Empfänger_innen     im Amtsjargon genannt werden.   Dabei werden Personenprofile erstellt, mit denen amtsintern gearbeitet wird.  Wird die Person schnell nervös,  ist sie aufbrausend,  zurückhaltend,      unsicher?  Gilt sie als querulantisch?  Solche Beurteilungen geben Jobcentermitarbeiter_innen  die Möglichkeit, auf die Kund_innen ganz individuell zu reagieren. Da die in der Regel nicht wissen, was in den Protokollen steht, können sie auch nicht darauf reagieren. Seit einigen Jahren gibt es die Kampagne „Keine/r muss allein zum Amt“, wo  sich die Betroffenen beim Termin im Jobcenter von Personen ihrer Wahl begleiten lassen. Damit werden  zumindest tendenziell die  Ohnmachtsgefühle aufgehoben.

Datenschutz für das Jobcenter

Das ungleiche Machtgefälle hingegen bleibt bestehen Während die Ämter und ihre Mitarbeiter_innen über die Hartz IV-Empfänger_innen viele Daten haben, kennen die  „Kund_innen“ hingegen haben oft nicht einmal die Durchwahlnummern „ihrer“ Fallmanager_innen. Wenn sie beim Amt anrufen, landen sie in einer Telefonzentrale und damit meistens in der Sackgasse, weil ihr Anruf nicht an die Mitarbeiter_innen weitervermittelt wird, die die Anrufenden kontaktieren wollen. Genau das auch der Grund, warum aus den Behörden-Telefonnummern der Mitarbeiter_innen ein solches Geheimnis gemacht wird, dass auch juristisch durchgesetzt wird. Die Wuppertaler  Beratungsstell Tacheles  hatte Durchwahlnummern von  Jobcentermitarbeiter-innen  auf ihre Webseite gestellt und mussten sie nach Klagedrohungen der Agentur für Arbeit wieder                       runternehmen.  Auch die Fraktion der Berliner Piratenpartei, die danach die Telefonnummern veröffentliche,  musste sie nach Drohungen mit juristischen lagen  wieder entfernen. Das Berliner Landesamt für Datenschutz und Informationsfreiheit hatte die Piratenfraktion darauf hingewiesen, dass mit der e Veröffentlichung Datenschutzrichtlinien verletzen  werden könnten.   Besser kann man  gar nicht deutlich mache, wie sehr die Frage der Überwachung auch eine Frage von Machtgefälle und Klassenspaltung ist.   Während den    Hartz IV-Empfänger_innen sogar bis in den Schlafzimmern und in den Kühlschrank nachspioniert werden kann, sie ihre Kontobewegung von Anfang offen legen müssen,  wird schon die Veröffentlichung von  Dienstnummern der  Jobcentermitarbeiter_innen als Verletzung des Datenschutzes betrachtet.  Überwachung und   Kontrolle  betrifft also entgegen den Thesen vieler  Überwachungskritiker_innen  nicht alle gleich. „Wer von Überwachung redet, darf vom Kapitalismus nicht schweigen“  schreibt das Seminar für angewandte Unsicherheit. Aktive Erwerbslose aus unterschiedlichen Zusammenhängen waren an den Veranstaltungen beteiligt und zahlreiche Betroffene nahmen nicht nur an den Diskussionen teil. Sie hatten  viele konkrete Fragen und Gesprächsbedarf über ihre eigenen Erfahrungen mit Überwachung am Jobcenter.   Es ist zu hoffen, dass das  SaU mit der Veranstaltungsreihe Diskussionen in der überwachungskritischen Szene ausgelöst hat und es in Zukunft gemeinsame Aktionen gegen die gläsernen Hart IV-Empfänger_innen gibt.

aus: ak 615 vom 19.4.2016

https://www.akweb.de/

Peter Nowak

Klassenkampf am Campus

Beschäftigte des Botanischen Gartens an der FU Berlin bringen ihren Arbeitskampf  zurück in die Uni

Lang es ist es her, da verteilten linke Studierende vor den Fabriktoren Flugblätter, um die ArbeiterInnen zur Revolte oder gleich zur Revolution aufzurufen. In den letzten Wochen habensich Beschäftigte des Botanischen Gartens an Studierende und Asten gewandt. Sie suchen Unterstützung im Kampf gegen Outsourcing und Niedriglohn an der Freien Universität Berlin(FU). Letztere ist auch die Arbeitgeberin der Beschäftigten im Botanischen Garten, die in denletzten Wochen Vorreiter im Kampf gegen prekäre Arbeitsverhältnisse auf dem Campus geworden sind.Im Jahr 2003 wollte der Berliner Senat im Rahmen seiner Austeritätspolitik den Botanischen Garten schließen. Er war ihm schlicht zu teuer geworden. Proteste Tausender von GartenfreundInnen konnten die Schließung verhindern. Dafür wurde in der Folge bei den MitarbeiterInnen gespart. Im Jahr 2007 wurden Reinigung, Technik und Besucherservice von der „Betriebsgesellschaft für die Zentraleinrichtung Botanischer Garten und Botanisches Museum«, einer Tochtergesellschaftder FU, übernommen. Die Outgesourcten verdienen für dieselbe Arbeit bis zu72 Prozent weniger als ihre direkt bei der FU angestellten KollegInnen. Nun drohen weitere Verschlechterungen, weil die Arbeiten an noch billigere Fremdfirmen vergeben werden sollen. Betriebsbedingte Kündigungen für 31  Beschäftigte wären die Folge. Auf diese Weisekönnte auch eine Reihe  kritischer GewerkschafterInnen ihren Arbeitsplatz verlieren. Doch die wehren sich und haben damit einen Hauch von Klassenkampf auf den Campus zurückgebracht. Sie trugen ihren Protest in die Sitzungen der Hochschulgremien, tauchten unangemeldet bei Festveranstaltungen auf und führten mehrere Warnstreiks durch. Die erste Arbeitsniederlegung kam für die FU so überraschend, dass sie keine Ersatzarbeitskräfte anheuern konnten. So blieben an diesem Tag die Kassen unbesetzt und die BesucherInnen kamen in den Genuss eines Besuchs ohne Eintritt. Ende März eskalierte die Auseinandersetzung, nachdem die Geschäftsführung 22 der 50 Beschäftigten unter Fortzahlung der Bezüge von der Arbeit freistellen wollte. Der Betriebsrat hatte wegen des Arbeitskampfes dem Dienstplan für den Monat April nicht zugestimmt. Die zuständige ver.di-
Sekretärin Jana Seppelt sprach von Erpressermethoden. Tatsächlich versucht die Geschäftsführung, unterschiedliche rechtliche und soziale Situationen in der Belegschaft auszunutzen. Schließlich stimmte der Betriebsrat dem Dienstplan unter Protest zu, um keine Spaltungslinien aufzumachen. Ihren Kampf gegen das Outsourcing wollen die KollegInnen aber fortsetzen und haben neue Verbündete auch auf dem Campus gewonnen.
Bündnis mit Studierenden
In den vergangenen Wochen ist es ihnen gelungen, eine Debatte über Outsourcing anzuregen,das mittlerweile im öffentlichen Dienst zum Alltag gehört. Der Kanzler der FU, Peter  Lange,verteidigte sich mit dem Hinweis, dass überall an der Universität Tätigkeiten ausgelagert seien. Tatsächlich sind Hochschulen ein Labor der Prekarisierung in allen Bereichen, von der Reinigung bis zum Wissenschaftsapparat. Genau da setzen die Beschäftigten des BotanischenGartens an, unterstützt von der Dienstleistungsgewerkschaft  ver.di und der Berliner Aktiongegen ArbeitgeberInnenunrecht (Baga).  Mittlerweile wurde ein Solidaritätsbündnis gegründet, in dem auch  Studierendengruppenaus unterschiedlichen Berliner Hochschulen  mitarbeiten. Sie unterstützen den Kampf der KollegInnen vom Botanischen Garten und machen die Auseinandersetzung am Campus bekannt.Dabei  stellen sie auch den Zusammenhang zu den Arbeitsbedingungen der schlecht bezahltenWissenschaftlerInnen und wissenschaftlichen Hilfskräfte an den Hochschulen her. »Sie sind von den gleichen Methoden des Outsourcings betroffen wie die KollegInnen vom Botanischen Garten. Wenn ihr Kampf erfolgreich ist, wäre das auch für uns eineErmutigung«, begründet das Mitglied der studentischen Solidaritätsgruppe seine Unterstützung für die »Hartenvom Garten«, wie eine Berliner Zeitung die sich wehrenden Beschäftigten genannt hat. Die Betroffenen verstehen es als Lob.

https://berlineraktiongegenarbeitgeberunrecht.files.wordpress.com/2016/04/2016-04_nowak_klassenkampf-am-campus.pdf

aus: express Nr.04/2016
Peter Nowak
express im Netz unter:www.express-afp.info

Breiten sich die französischen Sozialproteste auch in Deutschland aus?

Transnationaler Streiktag

Über den Aktionstag am 1. März

Zum transnationalen Streiktag am 1.März gab es Aktionen in mehreren europäischen Ländern.

«Take a Walk on the Workerside» lautete das Motto eines Spaziergangs durch die prekäre Arbeitswelt in Berlin am 1.März. Organisiert wurde er von den «Migrant Strikers», einer Gruppe von italienischen Arbeitsmigranten in Berlin, den «Oficina Precaria», in der sich Kolleginnen und Kollegen aus Spanien koordinieren, und der Berliner Blockupy-Plattform, die in den letzten Jahren die Proteste gegen die Europäische Zentralbank (EZB) und die Eurokrise koordinierte.

Der Aktionstag am 1.März wurde von europäischen Basisgewerkschaften und linken Gruppen bei einem Treffen Mitte Oktober 2015 in Poznan beschlossen, bei dem über transnationale Kooperation im Arbeitskampf beraten wurde (siehe SoZ 12/2015).

Der Schwerpunkt der Aktionen lag in Spanien, Italien und Polen. Die polnische anarchosyndikalistische Arbeiterinitiative IP organisierte in mehreren Städten Kundgebungen gegen Zeitarbeitsfirmen, auf denen die dort praktizierten prekären Arbeitsbedingungen angeprangert wurden. «Wir fordern die gleichen Löhne, die gleichen Rechte und die gleichen Verträge für alle. Ob wir das durchsetzen können, hängt nicht nur von den Managern ab. Wenn wir zusammen agieren, können wir ein Wort bei der Organisation unserer Arbeit mitreden», hieß es im Aufruf der IP. Dort wurde auch auf den Kampf bei Amazon Bezug genommen und eine transnationale Perspektive gefordert. Die IP hat im Amazon-Werk in Poznan zahlreiche Beschäftigte organisiert.

In Deutschland gab es am 1.März nur in wenigen Städten Aktionen. In Dresden organisierte die FAU eine Diskussionsrunde zum Thema «Verteidigung des politischen Streiks» auf einem öffentlichen Platz. In Berlin war der Spaziergang durch die prekäre Arbeitswelt die zentrale Aktion. Startpunkt war die Mall of Berlin, die zum Symbol von Ausbeutung migrantischer Arbeit, aber auch des Widerstands dagegen wurde. Seit 15 Monaten kämpfen acht rumänische Bauarbeiter um den ihnen vorenthaltenen Lohn für ihre Arbeit auf der Baustelle (siehe SoZ 2/2015). Eine weitere Station war ein Gebäude der Berliner Humboldt-Universität. Dort sprach ein Mitglied einer studentischen Initiative, die sich für einen neuen Tarifvertrag für studentische Hilfskräfte einsetzt, über die prekären Arbeitsbedingungen im Wissenschaftsbetrieb.

An dem Spaziergang beteiligten sich auch Beschäftigte des Botanischen Gartens der FU Berlin mit einem eigenen Transparent mit Verdi-Logo. Sie sorgten in den letzten Wochen für Aufmerksamkeit, weil sie gegen die Outsourcingpläne der Unileitung kämpfen. Dazu hat sich ein Solikreis gebildet, an dem Studierende verschiedener Berliner Hochschulen beteiligt sind. In den letzten Wochen organisierte Ver.di zwei Warnstreiks im Botanischen Garten.

Es wurden am 1.März also Beschäftigte mit unterschiedlicher Gewerkschaftsorganisation angesprochen, die sich gerade in Auseinandersetzungen um Arbeitsbedingungen oder Löhne befinden. In Berlin will das kleine Vorbereitungsteam weiterarbeiten. Die nächste Aktion ist am 1.Mai geplant.

Transnationaler Streiktag

Peter Nowak

Tarifeinheit: Gesetz ohne Anwendung

Ende 2016 entscheidet Karlsruhe über umstrittene Regelung

»Hände weg vom Streikrecht, für volle gewerkschaftliche Aktionsfreiheit«, lautete im letzten Jahr das Motto einer Kampagne von Sparten- und Basisgewerkschaften gegen das Tarifeinheitsgesetz. Es sieht vor, dass bei konkurrierenden Gewerkschaften in einem Betrieb, nur die Organisation mit den meisten Mitgliedern einen Tarifvertrag abschließen kann. Den Minderheitengewerkschaften bleibt dieses Recht versagt. Dagegen mobilisierten die Kritiker, doch ohne Erfolg. Am 22. Mai 2015 beschloss der Bundestag das Tarifeinheitsgesetz.

Heute, ein Dreivierteljahr nach Inkrafttreten, ist nicht viel damit passiert. »Das Gesetz wurde bisher nicht angewendet. Daher planen wir im Augenblick keine Aktionen«, bestätigte Willi Hajek gegenüber »nd«. Der Basisgewerkschafter war im letzten Jahr an der Kampagne gegen das Tarifeinheitsgesetz beteiligt. »Die Diskussion wird wieder aufflammen, wenn Gewerkschaften außerhalb des DGB für einen Tarifvertrag kämpfen«, ist Hajek überzeugt.

»GDL droht die Entmachtung«, hatte die »Frankfurter Rundschau« bald nach der Verabschiedung des Gesetzes getitelt. Damals befand sich die Lokführergewerkschaft in einer Tarifauseinandersetzung mit der Deutschen Bahn und hatte mehrfach zum Streik aufgerufen. Die GDL konnte letztlich eine Vereinbarung durchsetzen, die die Anwendung des Tarifeinheitsgesetzes bis 2018 ausschließt. Die DGB-Eisenbahnergewerkschaft EVG hat in den meisten Bereichen des Unternehmens mehr Mitglieder.

Spätestens Ende 2016 wird das Gesetz noch einmal Thema. Dann will das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe über die Verfassungsbeschwerden entscheiden, die Spartengewerkschaften wie der Marburger Bund, die GDL und der Deutsche Journalistenverband gegen das Gesetz eingereicht hatten.

Rolf Geffken ist zuversichtlich, dass das Tarifeinheitsgesetz gekippt wird. In einer im VAR-Verlag erschienenen Broschüre unter dem Titel »Streikrecht, Tarifeinheit, Gewerkschaften« hat der Arbeitsrechtsanwalt Argumente für seine Position zusammengetragen. Er weist den Monopolanspruch des DGB zurück. Eine einheitliche Gewerkschaftsbewegung könne im Tarifkampf durchaus von Vorteil sein. Doch die müsse von den Mitgliedern getragen an der Basis entstehen und könne nicht durch gesetzliche Maßnahmen verordnet werden, betont Geffken.

Folgen die Richter seiner Argumentation, könnte das Tarifeinheitsgesetz juristisch gestoppt werden. Die Mobilisierung dagegen hatte auch darunter gelitten, dass Vorstände der DGB-Einzelgewerkschaften außer der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, der NGG und der GEW das Tarifeinheitsgesetz unterstützt hatten. Die Gegenkampagne wurde von Gewerkschaftslinken, den Spartengewerkschaften aber auch Basisgewerkschaften wie der Freien Arbeiterunion (FAU) getragen.

Die Berliner FAU-Sekretärin Jana König weist gegenüber »nd« darauf hin, dass es neben der Tarifeinheit zahlreiche Möglichkeiten gibt, Gewerkschaftsrechte einzuschränken. So wurde der Berliner FAU Ende März unter Androhung von bis zu 250 000 Euro Strafe oder ersatzweiser Haft von bis zu sechs Monaten für die amtierende Sekretärin untersagt, den Namen eines Restaurants in Berlin-Mitte zu nennen, von dem ein Gewerkschaftsmitglied ausstehende Löhne einfordert.

Peter Nowak

Wissenschaftler als prekärer Beruf

Lehrerjahre sind keine Herrenjahre

Ob Integrationslehrer oder studentische Hilfskraft – Bezahlung und Arbeitsbedingungen im Bildungsbereich sind oft miserabel. Gewerkschaften und Bildungsarbeiter wollen das ändern.

Zurzeit sind Deutschlehrerinnen und -lehrer sehr gefragt. Schließlich muss seit zehn Jahren jeder Geflüchtete in Deutschland obligatorisch einen Integrationskurs »Deutsch für Zuwanderer« belegen. Doch die Lehrenden klagen über geringen Lohn und schlechte Arbeitsbedingungen. Von einem Honorar von etwa 20 Euro pro Stunde müssen sie auch ihre Kranken- und Rentenversicherung vollständig selbst finanzieren. Urlaubsgeld erhalten sie nicht. Wenn sie krank sind, müssen sie einen Verdienstausfall hinnehmen. Bei befristeten Verträgen gibt es zudem keinen Kündigungsschutz.

»Integration nicht zum Hungerlohn« hieß deshalb das Motto einer Kundgebung von ungefähr 150 Integrationslehrern vor zwei Wochen vor dem Bundesinnenministerium, zu der die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) gemeinsam aufgerufen hatten. Nicht nur in Berlin wächst der Unmut der Lehrenden, die häufig noch mit Hartz IV aufstocken müssen, weil sie zu wenig verdienen. Am 15. März gingen in Osnabrück ebenfalls Integrationslehrer auf die Straße.

Viele Deutschlehrer wollen den ihnen aufgezwungenen Status als Selbstständige loswerden und fordern tariflich bezahlte Arbeitsplätze. »Wir sind keine Unternehmertypen, sondern Lehrer und wollen auch so behandelt werden«, wurde Georg Niedermüller, Mitbegründer der »Initiative Bildung prekär«, im Herbst auf Spiegel Online zitiert. In dieser Initiative haben sich Lehrkräfte verschiedener Richtungen zusammengeschlossen, die sich gegen die schlechten Arbeitsbedingungen und Niedriglöhne wehren wollen. Das ist auch das Anliegen des „Netzwerkes prekäres Wissen“ , die kürzlich eine Honorartabelle für Lehrbeauftragte an verschiedenen Hochschulen veröffentlicht. Dazu sammelte sie über 60 typische Beispiele von Honoraren, die Bildungsträger und wissenschaftliche Institutionen in den vergangenen Jahren gezahlt hatten. Sie ermittelte zudem, welcher häufig unbezahlte tatsächliche Arbeitsaufwand für die jeweiligen Aufträge nötig gewesen war, und errechnete so aus dem offiziellen Honorar den tatsächlichen Bruttostundenlohn der meist freiberuflich Tätigen. In über 20 Fällen lag dieser tatsächliche Stundenlohn unter dem Mindestlohn von 8,50 Euro. An der Leipziger Universität und der Freien Universität Berlin (FU) gab es sogar Lehraufträge ganz ohne Bezahlung.

Im Wissenschaftsbereich sind Niedriglohn und schlechte Arbeitsbedingungen, auch im Mittelbau, völlig üblich, wie die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) in einer Stellungnahme vom Februar 2016 feststellte. Sie sieht die prekären Arbeitsbedingungen als Folge eines »akademischen Kapitalismus«, der durch eine Unterfinanzierung der Hochschulen und einen verschärften Wettbewerb um Forschungsgelder gekennzeichnet ist.

Auf einer Fachtagung der DGS diskutierten Gewerkschafter und Wissenschaftler Ende Februar über das Thema »Wissenschaft als prekärer Beruf«. Die Bestandsaufnahme war niederschmetternd: So haben die ungefähr 6 000 wissenschaftlichen Hilfskräfte an Berliner Hochschulen seit 2001 keine Lohnerhöhung mehr bekommen. Das Weihnachtsgeld hat der Berliner Senat 2004 gestrichen. 2011 mussten GEW und Verdi die Verhandlungen über einen neuen Tarifvertrag ergebnislos abbrechen, weil es nicht gelungen war, den nötigen politischen Druck zu erzeugen. In nächster Zeit wollen beide Gewerkschaften gemeinsam mit politisch engagierten Studierenden aus sämtlichen Berliner Hochschulen einen neuen Anlauf für den Kampf um einen Tarifvertrag nehmen. Als erster Schritt wurde eine Umfrage begonnen, mit der ermittelt werden soll, welche tariflichen Forderungen den studentischen Hilfskräften wichtig sind. Zu Beginn des neuen Semesters sollen verstärkt neue Gewerkschaftsmitglieder geworben werden. Darin sehen beide Gewerkschaften die Voraussetzungen, um eine lange, vielleicht mit Streiks verbundene Tarifauseinandersetzung erfolgreich zu bestehen. Schließlich war es in den achtziger Jahren erst nach einem langen Arbeitskampf möglich, Tarifverträge für studentische Hilfskräfte abzuschließen. Beide Gewerkschaften und die Studierenden sind sich einig, dass die Selbstorganisierung der Hilfskräfte die Grundlage des Erfolgs ist. »Eine solche Kampagne steht und fällt mit der Bereitschaft der studentischen Beschäftigten, sich aktiv einzubringen und gewerkschaftlich zu organisieren«, heißt es auf der Homepage der GEW.

Derweil werden schon Bündnispartner unter den unterschiedlichen prekären Beschäftigtengruppen an den Hochschulen gesucht. Dass nicht nur wissenschaftliche Mitarbeiter von schlechten Arbeitsbedingungen betroffen sind, zeigt der Kampf der Beschäftigten des Botanischen Gartens Berlin gegen Dumpinglöhne und Outsourcing. Ein Teil der Belegschaft arbeitet für die FU, zu der der Garten gehört. Der andere Teil wurde beim Tochterunternehmen »Betriebsgesellschaft für die Zentraleinrichtung Botanischer Garten und Botanisches Museum« angestellt. Beide Gruppen machen die gleiche Arbeit, doch die Ausgegliederten erhalten bis zu 42 Prozent weniger Lohn. Seit über einem Jahr kämpfen Beschäftigte des Botanischen Gartens für das Prinzip »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit«. Mittlerweile haben sie zwei erfolgreiche Warnstreiks organisiert. Weil die Ankündigung so kurzfristig war, konnte die FU die Streikenden nicht ersetzen. So kamen Besucher während des ersten Streiktags in den Genuss des freien Eintritts.

Die Beschäftigten des Botanischen Gartens haben für ihren Widerstand gegen das von der Universitätsleitung favorisierte Outsourcing Unterstützung von einem Bündnis, das von linken Studierendengruppen über die Berliner Gruppe gegen Arbeitgeberunrecht bis zur antikapitalistischen Ini­tiative »Klassenkampfblock« reicht. Kürzlich hat sich ein Solidaritätskreis gegründet, an dem Studierende, studentische Hilfskräfte und Wissenschaftler aus mehreren Berliner Hochschulen beteiligt sind. Denn ein Erfolg im Botanischen Garten wäre auch eine Ermutigung für die prekären Wissenschaftler.

http://jungle-world.com/artikel/2016/12/53713.html

Peter Nowak

Globales Filmfestival aktivierte

Ort politischer Diskussion und Vernetzung wird gebraucht

Widerstand gegen soziale und politische Unterdrückung, aber auch Handlungsmodelle für eine solidarische Welt waren der rote Fadender 47 Filme aus 27 Ländern, die dasGlobale Filmfestival vom 28. bis 31.Januar im Berliner Kino Moviemento präsentierte. Das Festival wurde 2004 von politisch engagierten Cineasten gegründet. Damals mobilisierte dieglobalisierungskritische Bewegung
viele Menschen gegen die Auswirkungen des Kapitalismus. Auch wennvon so spektakulären Widerstands­formen heute wenig zu hören ist,gibt es vielfältige Proteste, die sichauf der »Globale« nicht nur in Filmen, sondern auch in Diskussionen und einem Workshop zeigten. So thematisierte der Film »Miete essen Seeleauf« den Mieterwiderstand rund umdas Kottbuser Tor in Berlin­Kreuzberg. Die aufgebaute Protesthütte – nachtürkischem Vorbild Gececondo ge­nannt – wurde zur Anlaufstelle fü rMietrebellen aus ganz Berlin. Den Film drehte Regisseurin und Kotti­-Anwohnerin Angelika Levi. Nach der Vorführung berichtete Hans Georg Lindenau über die drohende Zwangsräumung seines Kreuzberger Ladens. Im Film „Rebellisches Schlesien« wurde die bewegte Geschichte der sozialen Kämpfe in der polnischenProvinz vorgestellt. Er soll nach sei­ner Polen­Tournee am 12.4. um  Berliner um 19 Uhr Kino Lichtblick  anlaufen.Um einen aktuellen Arbeitskampfging es im Workshop, den BärbelSchönafinger von der Onlineplatt­form Labournet.TV (de.labournet.tv/)vorbereitete. Beschäftigte von polnischen und deutschen Amazonstandorten sowie Streik­Aktivisten berichteten über die Perspektiven des langwierigen Arbeitskampfes. Betriebs­ratsmitglied Carsten Elmer aus Brie­selang gab Auskunft zu schwierigenOrganisationsversuchen in dem Werk.Erfolgreicher sind Kollegen in Poznan.Schon kurz nach Werkseröffnungwar dort eine Gruppe von Gewerk­schaftern entstanden, die bereits zweimal Solidaritätsaktionen orga­nisierten, als an Amazon­-Standorten in Deutschland gestreikt wurde.Gleich sieben Vertreter waren ausPolen gekommen, um mit den deutschen Amazon­-Kollegen über die bessere Koordination der Kämpfe zu beratschlagen. So hat sich das diesjährige Globale­Filmfestival einmal mehr als Ort politischer Diskussion und Vernetzung erwiesen, den wir weterhin brauchen.

aus Sprachrohr: 1/2016

http://dju-berlinbb.verdi.de/++file++56ded5a8890e9b3d6e001946/download/SPR_01_2016_neu.pdf
PETER NOWAK

Aufstand der Unsichtbaren?

Zum Aktionstag am 1. März

„Invisible  Care Work“ und „Migrants without Labour Rights“ ist auf den bunten Schirmen zu lesen, die Lucia aufgespannt hat. Sie gehört zu den „Migrant Strikers“, einer Gruppe von italienischen ArbeitsmigrantInnen in Berlin, die am  1. März, einen Internationalen Aktionstag gegen Grenzregieme und Prekarisierung einen Spaziergang durch das Berlin der migrantischen Arbeit organisierte.

Beschlossen  wurde  die diesjährige Aktion   auf einer Konferenz, die unter dem Motto  „Dem transnationalen Streik  entgegen“, im Oktober 2015 im polnischen Poznan  stattgefunden hat. An ihr haben BasisgewerkschafterInnen  und außerparlamentarische Linke aus verschiedenen europäischen Ländern teilgenommen (siehe Express 11/2015). Stattgefunden haben Aktionen in Österreich, Frankreich, Italien, Schweden, Großbritannien, Poleln, Schottland und Slowenien. In Deutschland    beteiligten sich Gruppen in Dresden und Berlin an den Aktionstag.

In Berlin wurde er neben den Migrants Strikers auch von dem Oficina Prekaria unterstützt, in dem spanische MigrantInnen organisiert sind. Auch polnische Gruppen und die Blockupy-Plattform waren an der Vorbereitung beteiligt.  Ca. 100 Menschen haben sich am Potsdamer Platz eingefunden, darunter auch eine Sambagruppe, die musikalisch für Stimmung sorgt. Einige AktivistInnen mit Clownsmasken fragen PassantInnen nach ihren Arbeitsbedingungen. Die meisten schweigen. Vor dem Eingang der Mall of Berlin wird in einem Beitrag der Basisgewerkschaft Freie Arbeiter Union (FAU) an die acht rumänischen Bauarbeiter erinnert, die nun seit mehr als 15 Monaten um den ihnen vorenthaltenen Lohn kämpfen. Trotz zahlreicher Protestveranstaltungen, juristischer Klagen und gewonnener Prozesse haben sie bis heute kein Geld erhalten. Denn das juristische Verfahren ist noch nicht abgeschlossen. Zudem hat eines der beteiligten Subunternehmen Metatec  mittlerweile Insolvenz angemeldet.  „Was in der letzten Zeit fehlt, ist eine kritische Öffentlichkeit, die solange vor dem Eingang der Mall of Berlin protestiert, bis die Kollegen ihren Lohn bekommen haben“, erläutern die KollegInnen der FAU.

An der zweiten Station vor einem Gebäude der HistorikerInnenfakultät der Humboldt-Universität sprechen KommilitonInnen über prekäre Arbeitsbedingungen im Wissenschaftsbetrieb. Sie  sind Teil einer von verdi und GEW unterstützten Initiative, die eine Kampange für einen neuen einen Tarifvertrag für die ca.6.000 studentisch Beschäftigen an allen  Berliner Hochschulen fordern. Der aktuelle Tarifvertrag ist seit mehr als 10 Jahren nicht mehr verändert worden. Seit 2001 gab es keine Lohnerhöhung mehr.  Vor dem Jobcenter in der Charlottenstraße sprechen dann VertreterInnen der Erwerbsloseninitiative „Basta“ über Widerstand gegen Sanktionen und Schikanen. Auf dem Weg nach Kreuzberg wird in Kurzbeiträgen an die Beschäftigten in den zahlreichen Restaurants erinnert: „Die Gastronomiebranche ist ein zentraler Motor der prekären migrantischen Arbeit in Berlin“, meint Nicola von den Migrant Strikers. Pablo vom „Oficina Precaria Berlin“, in dem sich ArbeitsmigrantInnen aus Spanien koordinieren, zeigt sich mit dem Ablauf des Spaziergangs zufrieden. „Wir hatten nur einen knappen Monat Vorbereitungszeit und haben unterschiedliche Gruppen prekär beschäftigter KollegInnen erreicht“. Dazu gehören auch die Beschäftigten des Botanischen Gartens an der FU Berlin. Sie wehren sich gegen Outsourcing und haben mit einen Banner der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di an dem Spaziergang teilgenommen. Erwin von der Berliner Blockupy-Plattform, die in den letzten Jahren Krisenproteste organisiert hat, will aber erst von einem Erfolg sprechen, wenn „der Kampf gegen prekarisierte migrantische Arbeit auch über den 1. März hinaus fortgesetzt wird“.

Kampf um das Streikrecht und gegen Leiharbeitsfirmen

In Dresden organisierte die FAU am 1. März eine zentrale Diskussionsrunde zum Thema: Politischer Streik. Dabei ging es um Möglichkeiten der Verteidigung und Ausweitung  des Streikrechts, das derzeit  in verschiedenen europäischen Ländern eingeschränkt wird.

Größere Aktionen gingen am gleichen Tag von der anarchosyndikalistischen Arbeiterinitiative IP in Polen. In mehreren polnischen Städten prangerte sie vor Zeitarbeitsfirmen die dort üblichen prekären Arbeitsbedingungen an. „Wir fordern gleiche Löhne, gleiche Rechte und gleiche Verträge für alle. Ob wir das durchsetzen können, hängt nicht nur von den Managern ab. Wenn wir zusammen agieren, können wir ein Wort bei der Organisation unserer Arbeit mitreden“, heißt es in einem Aufruf der IP zum 1. März. Tatsächlich stellt die transnationale Initiative, die den Kampf gegen das europäische Grenzregime mit dem Kampf gegen Austerität und Prekarität verbindet und dabei das Korsett der Landesgrenzen überwindet, einen Ansatz dar, der ausgewertet und ausgebaut werden sollte.

express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit

2-3/2016

http://www.labournet.de/wp-content/uploads/2016/03/nowak_aktion1mrz.pdf

Peter Nowak

Redknee will raus aus der Hauptstadt

WIRTSCHAFT Gereizte Stimmung bei Redknee in Spandau: Der kanadische Software-Anbieter will sein
Werk in Berlin schließen und trotz Standortsicherungsvereinbarung nach Brandenburg ausweichen
„Redknee gehört nach Spandau, und dafür kämpfen wir“, rief die Zweite Bevollmächtigte der Berliner IG Metall, Regina Katerndahl, den etwa 200 Menschen zu, die sich vor einigen Tagen mit Gewerkschaftsfahnen in Spandau versammelt hatten. Viele trugen eine Mütze mit dem IG-Metall-Emblem. Von den Trillerpfeifen wurde reichlich
Gebrauch gemacht. Die Anwesenden bei der Demonstration zeigten ihre Wut auf das kanadische Unternehmen Redknee: Das Management will das Unternehmen in Spandau schließen. Stattdessen soll eine neue Filiale
in Potsdam eröffnet werden. Dafür werden bereits MitarbeiterInnen gesucht. Von den 260 Beschäftigten des Spandauer Werks können sich höchstens 140 ArbeiterInnen Hoffnungen auf eine Übernahme machen. „Ich habe einem Unternehmen, das sich ausgerechnet nach einem kaputten Knie benennt, nie getraut“, ruft eine Frau auf der Kundgebung. Als Redknee-Vorstandschef Lukas Skoczkowski 2012 die Übernahme des Gemeinschaftsunternehmens
Nokia Siemens Networks (NSN) in Spandau bekannt gab, hieß es noch im Tagesspiegel: „Einer Sache kann sich Lucas Skoczkowski ganz sicher sein: Seine neuen Mitarbeiter sind hochmotiviert.“ Die Softwareentwickler und Ingenieure
hatten vorher für Siemens und dann für NSN gearbeitet. Doch die Hoffnung auf eine gesicherte Perspektive wurde bald
enttäuscht. „Redknee schockt Mitarbeiter“, titelte die Berliner Zeitung, als das kanadische Unternehmen 2014 einen
Stellenabbau ankündigte. Die IG Metall rechnete sich als Erfolg an, dass statt 101 nur 70 Arbeitsplätze verloren gingen. KollegInnen, die freiwillig gingen, erhielten eine großzügige Abfindung. Im Gegenzug willigte die Gewerkschaft in die Aufkündigung der alten Tarifverträge ein. Die Arbeitszeit und die Löhne der Beschäftigten wurden um zehn Prozent abgesenkt. Dafür sollte es bis 2017 keine weiteren Entlassungen in Spandau geben. Dass nun das Berliner Werk
entgegen der Vereinbarung doch geschlossen werden soll, begründet Redknee mit dem Verlust einiger wichtiger KundInnen. Der Erste Bevollmächtigte der Berliner IG Metall, Klaus Abel, wirft dem Unternehmen hingegen die Flucht aus der Mitbestimmung vor. Susanne Steinborn vom Projekt ITK-Betriebe der Berliner IG Metall bestätigte gegenüber der taz, dass Redknee-Anwälte klar signalisiert haben, dass das kanadische Unternehmen Probleme
mit den deutschen Mitbestimmungsregelungen und dem Tarifrecht habe. „Die Mitbestimmung ist ein Erfolgsmodell der deutschen Wirtschaft, die wir uns von dem kanadischen Unternehmen nicht wegnehmen lassen“, erklärte der Generalsekretär der Berliner CDU, Kai Wegner, der seinen Wahlkreis in Spandau hat, in einer kurzen Rede auf der
Kundgebung. „Ich werde an dieRedknee-Geschäftsführung mit der Forderung nach Einhaltung der Standortsicherungsvereinbarung herantreten“, bekräftigte Wegner gegenüber der taz. Auch die Spandauer SPD-Abgeordneten Burgunde Grosse und Daniel Buchholz verurteilten die Schließungspläne. Redknee wollte sich gegenüber der taz zu den Vorwürfen nicht äußern. Mittlerweile haben zwei Gesprächsrunden zwischen der IG
Metall und dem Unternehmen stattgefunden. Dabei hat die Geschäftsführerin von Redknee Deutschland, Sabine Domes, zugesichert, die von Gewerkschaftsseite eingebrachten Vorschläge für einen Verbleib des Unternehmens in Spandau an die Konzernzentrale in Kanada weiterzuleiten.
aus: taz  23.3.2016
Peter Nowak

Makhdoumin oder die Dienstbotengesellschaft

Makhdoumin (A Maid for Each), Libanon/Frankreich/Norwegen 2016, Regie: Maher Abi Samra

Eine Familie des gehobenen Mittelstands sitzt in einem Büro und blättert in Katalogen. Mal nimmt die Frau einen Zettel aus einer Klarsichtfolie und liest ihn genauer. Mal tuschelt die Frau mit ihrer Tochter und lacht. Man könnte denken, die Familie plant ihren Urlaub und sucht das passende Hotel. Doch auf dem Foto sind junge Frauen abgebildet und die Familie unterhält sich über ihre Gesichtszüge und stellt Mutmaßungen an, welche Frau freundlich und welche streng ist. Es ist eine Agentur für Arbeit in Beirut und die Familie sucht sich gerade ein neues Dienstmädchen aus. In diesem Büro wird der Film Makhdoumin (A Maid for Each) zum größten Teil spielen. Die Protagonisten sind der Leiter der Agentur und seine Mitarbeiterin.
Der Regisseur Maher Abi Samra wurde 1965 in Beirut geboren, war mehrere Jahre Mitglied der Kommunistischen Partei des Libanon und hat in den letzten Jahren mehrere Filme gedreht, die sich mit der politischen Situation im Libanon beschäftigen. Allerdings sind seine auf verschiedenen Festivals gezeigten Filme Women of Hezbollah (2000) und Chronicles of Return (1995) in Deutschland kaum bekannt. Schließlich wurden sie auch nie ins Deutsche übersetzt.
Mit Makhdoumin könnte Maher Abi Samra in Deutschland einem größeren Publikum bekannt werden. Im Februar 2016 lief er auf der Berlinale und wurde mit dem Friedensfilmpreis ausgezeichnet. Dieser Preis geht auf eine Initiative friedensbewegter Berliner im Jahr 1986 zurück. Seitdem verleiht der Trägerkreis diese Auszeichnung alljährlich am Ende der Berlinale.
Mit der Wahl des diesjährigen Films hat man sich für eine Erweiterung des Friedensbegriffs entschieden. Es geht nicht allein um den Kampf gegen Kriege und ihre Profiteure. In der Laudatio stellt ein Mitglied des Trägerkreises die Frage: «Was ist ein Friedensfilmpreis? Beschreibt er die Grausamkeiten des Krieges lediglich? Oder legt er die Zwänge einer zutiefst ungerechten Weltordnung offen?»
Die siebenköpfige Jury hat sich in diesem Jahr dafür entschieden, dass es Frieden nicht geben kann, solang es Ausbeutung und Unterdrückung gibt. In der Jury saßen Matthias Coers, der Regisseur des in vielen Ländern erfolgreichen Films Mietrebellen, sowie die Pressereferentin der Organisation «Reporter ohne Grenzen», Ulrike Gruska.
Die Jury begründet ihre Entscheidung, den Preis an Makhdoumin zu geben, so: «Der Film öffnet die Türen zu einer Agentur, die im Libanon weibliche Hausangestellte vom internationalen Markt vermittelt. Ein Film, der zeigt, wie Menschen als Ware gehandelt werden. Er schärft auf subtile Weise den Blick für ein System der Entrechtung, in dem Frauen rund um die Uhr folgsam und unsichtbar ihren Dienst verrichten müssen. Makhdoumin mahnt, ein System in Frage zu stellen, das den einen Vorteile bringt, während es anderen ihre Würde und Freiheit nimmt.»
Das ist ganz wörtlich zu verstehen. In der Agentur gibt es einen Raum, in dem die Frauen eingesperrt werden, bevor sie an Familien der libanesischen Oberschicht oder Mittelstands vermittelt werden. Die meisten Frauen kommen aus asiatischen Ländern und müssen sich verschulden, um in den Libanon zu gelangen. Wenn sie dort angekommen sind, werden ihre Pässe eingesammelt und sie verlieren den Status einer freien Person.
Selbst wenn sie von Familienangehörigen geschlagen werden, dürfen sie sich nicht beschweren. Sie leben mit im Haushalt der Familie, meist in einer kleinen Kammer, innerhalb der komfortablen Lofts, die im Film gezeigt werden. Die Frauen sind dort nicht zu sehen. Es gibt lediglich einige Szenen, wo sie als Schatten im Fenster beim Bettenmachen vorbeihuschen. Zu sehen sind im Film allerdings die allgegenwärtige Reklameschilder und Plakate, die sich an vermögende Einwohner richten und Dienstbotinnen in verschiedenen Preislagen anpreisen.
Maher Abi Samra betonte im Gespräch, dass diese Werbung sowohl in dem von der islamistischen Hezbollah dominierten Stadtteil Ostbeirut wie im christlich dominierten Westen zu sehen ist.
Auch in Deutschland boomt in den letzten Jahren verstärkt die Werbung für Putz- und Haushaltsgehilfinnen aller Art. Sie kommen auch hier oft aus Asien und Südamerika. Nicht selten bekommen sie die Pässe abgenommen und werden mit niedrigen Einkommen abgespeist. Mit Unterstützung der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di haben einige der Frauen Prozesse gewonnen, der ihnen vorenthaltene Lohn musste ihnen nachgezahlt werden.
In Zeiten der Renaissance der Dienstbotengesellschaft ist Makhdoumin schnell ein Verleih in Deutschland zu wünschen.

aus Sozialistische Zeitung (SoZ) 3/2016

Makhdoumin oder die Dienstbotengesellschaft

von Peter Nowak

Ausbeutung hinter Gittern

Peter Nowak über Millionengewinne aus Knastarbeit und den neuen Häftlingsstreik in Hessen

Am 1. März haben Gefangene der Justizvollzugsanstalt (JVA) Butzbach ihren Hunger- und Bummelstreik wieder aufgenommen. In einem Brief an die Linksfraktion im hessischen Landtag betonte Jörg Rößner, dass sie sich nicht als Gefängnisinsassen, sondern »inhaftierte Gewerkschafter« verstehen. Rößner ist der Butzbacher Sprecher der bundesweiten Gefangenengewerkschaft. Sie war im Frühjahr 2014 in der JVA Tegel gegründet worden. Mittlerweile zählt sie 800 Mitglieder in ca. zwölf Gefängnissen bundesweit. Die zentralen Forderungen sind ein Mindestlohn für Beschäftigte im Gefängnis sowie ihre Einbeziehung in die Rentenversicherung. In Butzbach waren dafür bereits im Herbst 2015 Gefangene in einen kombinierten Hunger- und Bummelstreik getreten. Sie forderten auch direkte Verhandlungen mit den politisch Verantwortlichen im grün-schwarz regierten Hessen. Mitte Dezember setzten sie ihre Aktion aus. Weil die Politiker nicht reagierten, wurde der Protest nun wieder aufgenommen.

In einer Petition, die von 128 der knapp 300 Gefangenen in Butzbach unterzeichnet wurde, bekräftigen sie ihre gewerkschaftlichen Forderungen. Neben dem Mindestlohn und der Einbeziehung in die Sozialversicherung streiten sie auch für die Aufhebung der Arbeitspflicht im Gefängnis und die grundgesetzlich geschützte Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit hinter Gittern. Die hessische Landesregierung lehnt diese Forderungen jedoch ebenso wie Politiker anderer Bundesländer ab und erklärt, es gäbe keine regulären Arbeitsverhältnisse im Gefängnis. Außerdem wird von Seiten der Politik oft bestritten, dass aus der Arbeit im Knast Gewinne erzielt werden.

Doch dieses Argument will die Gefangenengewerkschaft mit der Veröffentlichung der Jahresbilanz 2015 der JVA Butzbach entkräften. Demnach betrug der Gewinn allein in der Gefängnisschlosserei im letzten Jahr fast drei Millionen Euro, geht aus dem »nd« vorliegenden Dokument hervor. In der Werkstatt sind acht Gefangene mit der Herstellung von Hängematten für hessische Spielplätze beschäftigt.

Oliver Rast, Sprecher der Gefangenengewerkschaft, rechnet nicht mit einer schnellen Einigung. »Die Kollegen hinter Gittern stellen sich auf eine längere Auseinandersetzung ein und werden ihre Aktion nicht so schnell beenden.« Die Aktion könnte sich sogar ausweiten, kündigt er an. So werde in der JVA Kassel »sehr interessiert« beobachtet, was in Butzbach geschieht. Unterstützung kommt auch von außen. »Es ist im besten Interesse aller Lohnarbeitenden, die gegenseitige Konkurrenz zu minimieren«, erklärte Gregor Zattler vom »Netzwerk für die Rechte gefangener Arbeiterinnen und Arbeiter« gegenüber »nd«. Das Netzwerk hat sich im Herbst 2015 gegründet.

Zu Besuch bei Ausbeutern


PROTEST: Spaziergang der „Migrant Strikers“ gegen ausbeuterische Arbeit
„Inversible Care Work“ und „Migrants without Labourrights“ ist auf den bunten Schirmen zu lesen, die Lucia aufgespannt hat. Sie gehört den Migrant Strikers an, einer Gruppe italienischer ArbeitsmigrantInnen. Mit einem Spaziergang durch das Berlin der prekären migrantischen Arbeit, der am Potsdamer Platz startet, wollen sie am Dienstagnachmittag auf die unterschiedlichen Formen der Ausbeutung hinweisen. Etwa 100 Menschen haben  sich am Platz eingefunden, eine Sambagruppe macht Musik. Einige AktivistInnen mit Clownsmasken fragen PassantInnen nach ihren Arbeitsbedingungen. Die meisten schweigen. Vor dem Eingang der Mall of Berlin erinnert die Gewerkschaft Freie Arbeiter Union (FAU) an die acht rumänischen BauarbeiterInnen, die seit Monaten um den ihnen vorenthaltenen Lohn kämpfen und trotz juristischer Klagen bis heute kein Geld erhalten haben. Vor einem Gebäude der HistorikerInnenfakultät der Humboldt- Universität sprechen KommilitonInnen über prekäre Arbeitsbedingungen im Wissenschaftsbetrieb. Sie fordern einen
Tarifvertrag für die rund 6.000 studentischen Beschäftigten an Berlins Hochschulen. Vor dem Jobcenter in der Charlottenstraße
erinnern AktivistInnen der Erwerbsloseninitiative Basta an den Widerstand gegen Sanktionen und Schikanen. Auf dem Weg nach Kreuzberg wird die Aufmerksamkeit der Mitlaufenden auf die Restaurants gelenkt. „Die Gastronomiebranche ist ein zentraler Motor der prekären migrantischen Arbeit in Berlin“, sagt Nicola von den Migrant Strikes. Pablo von der Gruppe Oficina Precaria Berlin zeigt sich mit
dem Ablauf des Spaziergangs zufrieden. „Wir haben unterschiedliche prekär beschäftigte KollegInnen erreicht.“ Dazu gehören die Beschäftigten des Botanischen Gartens an der FU Berlin. Sie wehren sich gegen das geplante Outsourcing und haben ebenfalls am  Spaziergang teilgenommen. Dennoch will Erwin vom der Berliner Blockupy-Plattform, die in den letzten Jahren einige Krisenproteste
organisiert hat, erst von einen Erfolg reden, wenn der Kampf gegen die Ausbeutung von migrantischen ArbeiterInnen auch über den 1. März hinaus fortgesetzt wird.
aus Taz vom 3.3.2016
Peter Nowak

Austerität und Ausgrenzung

Der Umgang mit der griechischen Regierung in der „Flüchtlingskrise“ ist die Fortsetzung der Politik von Deutsch-Europa vom letzten Jahr – ein Kommentar

„Arschkarte für Hellas“ [1] titelte die Taz am letzten Donnerstag, nachdem das Land bei der von Österreich organisierten Balkankonferenz zur Flüchtlingsabwehr ignoriert worden war. Dabei hat der Kommentartor Erich Rathfelder, der sich in den frühen 90er Jahren als einer der ersten Befürworter Nato-Intervention gegen Jugoslawien exponiert hatte, allerdings die Interessen der Migranten kaum im Auge. Denn die sind es in erster Linie, die, salopp gesagt, die Arschkarte gezogen haben. Das hätten sie allerdings auch bei der von fast allen Seiten der Politik geforderten Paketlösung, die Geflüchtete in Länder schiebt, in die sie nicht wollen. Rathfelder schreibt zur Rolle Griechenlands:

„Dass die Griechen nicht einmal zur Westbalkan-Konferenz in Wien eingeladen wurden, zeigt, dass Österreich nicht daran gelegen ist, eine einvernehmliche Lösung zu finden. Das Argument, Griechenland würde die Flüchtlinge nur weiterleiten, entbehrt nicht einer gewissen Komik. Was haben denn die anderen Anrainerländer bisher getan?

Griechenland so im Regen stehen zu lassen nimmt die Destabilisierung des ohnehin krisengeschüttelten Landes bewusst in Kauf. Dass Wien von München bis Warschau klammheimliche Sympathie genießt, überrascht nicht. Eine gemeinsame Strategie zur Sicherung der Außengrenzen, wie sie Berlin und offiziell auch Brüssel anstreben, wird durch den Alleingang Wiens zwar noch nicht völlig konterkariert, aber doch erschwert. Europa ist wieder ein Stück auseinandergedriftet.“

Exponent Schäuble

Da fällt natürlich auf, dass Deutschland mal wieder völlig von der Verantwortung ausgenommen wird. Schon vergessen, wie Griechenland in der ersten Hälfte des letzten Jahres nicht nur „im Regen stehen gelassen“, sondern regelrecht erpresst wurde, ein von der Mehrheit der wahlberechtigten griechischen Bevölkerung abgewähltes Austeritätsprogramm durchzusetzen.

Die Entschlossenheit, die griechische Regierung und das Votum der griechischen Bevölkerung zu ignorieren, wuchs bei der Deutsch-EU noch, als das Austeritätsprogramm in einem Referendum mit sehr großer Mehrheit abgelehnt wurde. Danach knickte die linkssozialdemokratisch dominierte griechische Regierung ein und die Vorstellung auch vieler Reformkräfte in der EU, es ließe sich mit diesen Strukturen eine Veränderung in Richtung sozialer und demokratischer Reformen durchsetzen, wurde nicht nur in Griechenland beerdigt.

Seitdem bestimmt der Rechtspopulismus in vielen EU-Ländern den Diskurs. Es zeugt von einem Kurzzeitgedächtnis und dem Unvermögen, ingesellschaftlichen Zusammenhängen zu denken, dass keine Verbindung zwischen dem wachsenden Rechtspopulismus und der politischen und ökonomischenErdrosselung des griechischen Reformprogramms hergestellt wird. Dabei haben im letzten Jahr viele Analysten davor gewarnt, dass ein Scheitern der Reformpläne europaweit den Rechten nutzt.

Genau das lässt sich aktuell beobachten. Dabei geht es nicht darum zu behaupten, dass die Rechte bei einem Erfolg für das Modell Griechenland nicht eine starke Kraft gewesen wäre. Doch die politische Agenda wäre bei einem Erfolg Griechenlands von der Frage bestimmt gewesen, wie sich solche Reformen auch in anderen EU-Ländern umsetzen lassen. Es hätten Fragen der Demokratisierung, der sozialen und politischen Partizipation auf der Tagesordnung gestanden.

Das gilt das auch für die Flüchtlingspolitik. Die griechische Regierung hatte vor ihrer Niederlage vor der EU wichtige Verbesserungen auf den Weg gebracht, was auch von Antirassismusgruppen anerkannt wurde. Nach der Niederlage des Reformmodells wandelte sich die Agenda, auf der jetzt Austerität und Abgrenzung stehen. Und das war wie in allen Ländern die Stunde der Rechtsparteien.

Wenige Monate nach der erfolgreichen Erpressung gilt manchen Rechten in der Union der Exponent dieser Politik, Kohls ehemaliger Mann fürs Grobe, Wolfgang Schäuble, sogar als heißer Tipp für eine Alternative, falls Merkel aus irgendwelchen Gründen doch noch vorzeitig auf das Amt verzichten muss. Schließlich hat er es mit seiner Erpressungspolitik auf Spitzenwerte in der deutschen Politik gebracht. Jetzt weist Schäuble alle sozialpopulistischen Anwandlungen von SPD-Chef Gabriel kalt zurückweist, angesichts guter Haushaltsdaten eine soziale Agenda aufzulegen, die nicht nur Migranten zugutekäme, sondern auch Niedriglöhnern, Hartz IV-Beziehern und überhaupt den vielen Menschen, die erst wieder im aktuellen Armutsbericht erwähnt wurden.

Schäuble steht für eine Verarmungspolitik nicht nur in Griechenland und viele stimmen dieser zu. Wenn wir Opfer bringen, soll es auch den anderen nicht besser gehen, lautet die Devise, die sich gegen die Einkommensschwachen in allen Ländern richtet. Die Gegenposition müsste lauten, ein besseres Leben für Alle, beispielsweise mehr kommunaler Wohnungsbau etc. Das geht natürlich nicht mit einer SPD, die mit der Einführung von Hartz die Verarmungspolitik erst so richtig etablierte.

Gabriel reagiert mit seinen Vorschlägen auf das Anwachsen von rechten Parteien wie der AfD, Schäuble und Co, haben damit keine Probleme. Denn je stärker die Rechten außerhalb der Union werden, desto eher wird sich dort eine Bewegung weg vom Merkel-Kurs bemerkbar machen. Ob diese Schäuble noch mal ins Kanzleramt spült, ist nicht ganz ausgeschlossen, aber eher unwahrscheinlich. Es geht aber nicht um Personen, sondern um die Durchsetzung einer Politik der Austerität und Abgrenzung. Das wurde letztes Jahr an Griechenland exekutiert und setzt sich in der Flüchtlingsfrage bis heute fort.

Lex Griechenland

Schon im letzten Jahr, noch bevor die Flüchtlingsfrage eine solche öffentliche Bedeutung fand, machten Unionspolitiker den Vorstoß, Griechenland müsse sich auch in der Flüchtlingsfrage an „EU-Regeln“ halten und wollten daran die Gewährung weiterer Kredite knüpfen. In einer Ende 2015 bekannt gewordenen Planung für die Grenzschutzorganisation Frontex wurde eine vielfach „Lex Griechenland“ genannte Klausel erwähnt, die besagt [2], dass Frontex auch gegen den Willen des EU-Mitgliedslands tätig werden soll.
„Wenn Mängel fortbestehen oder ein Mitgliedsstaat einem erheblichen Migrationsdruck ausgesetzt ist, wodurch der Schengenraum gefährdet wird“, könne die EU-Kommission einen entsprechenden Durchführungsbeschluss erlassen. Der Mitbegründer der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration [3] Harald Glöde erklärte im Interview [4], dass diese Reform-Pläne auf Griechenland zielen:
„Eine qualitative Neuerung an dem Plan der EU-Kommission ist die Forderung nach einer Truppe von mindestens 1 500 Grenzbeamten, die innerhalb weniger Tage einsatzbereit sein sollen. Es ist auch die Möglichkeit vorgesehen, diese Truppe in EU-Mitgliedsländern einsetzen zu können, ohne dass die betroffenen Länder zustimmen. Das Prinzip der Freiwilligkeit, auf dem das Agieren der Grenzschutzagentur bisher beruht, empfindet die EU-Kommission als entscheidenden Mangel. Ob sie einen Frontex-Einsatz überhaupt benötigen und in welchem Umfang sie Personal und Ausrüstung für Einsätze bereitstellen, entscheiden die Mitgliedstaaten nämlich bislang selbst. Im Fokus stehen sicherlich Italien und vor allem Griechenland, die nach Auffassung der Kommission beim Schutz der EU-Außengrenze versagen.“

Wie weit die Vorstellungen der EU-Kommission hierbei reichen, machte Glöde an folgenden Zitat aus ihremFrontex-Papier deutlich: „Die Entscheidungen der Agentur sind für die Mitgliedstaaten bindend.“ Die Kommission könne selbständig Anordnungen treffen, „einschließlich der Entsendung europäischer Grenz- und Küstenschutzteams“, wenn die Maßnahmen nicht innerhalb der gesetzten Frist um­gesetzt werden. Dafür soll die „stehende Truppe“ mit 1.500 Grenzschützern aufgestellt werden, die mit Fahrzeugen und sonstiger Ausrüstung ausgestattet werden soll.

Warum nicht Austeritätspolitik aufkündigen?

Damit wird deutlich, dass der Umgang der Regierung Österreichs mit Griechenland EU-konform ist und ganz auf der Linie liegt, mit der die EU im letzten Jahr bereits mit der Regierung in Athen umgegangen ist. Wenn nun die griechische Regierung für einige Tage österreichische Minister für unerwünscht erklärt, dann ist das nur Symbolpolitik.

Im letzten Jahr wurde schon mal die Troika des Landes verwiesen, die einige Wochen später als Quadriga zurückkehrte. Solange die griechische Regierung in der Flüchtlingspolitik die EU-Vorgaben erfüllt, erweist sich auch an diesem Punkt die Syriza-Regierung als neuer Wein in alten Schläuchen. Wenn dann nebulös von Seiten griechischer Minister gedroht wird, man könnte bestimmte EU-Projekte blockieren, ist das nur ein Mitmachen beim üblichen intransparenten Machtspiel der EU-Eliten.

Ganz anders sehe es aus, wenn die griechische Regierung erklären würde, angesichts des Umgangs mit ihr in der Flüchtlingsfrage sehe sie keine Grundlage mehr, um das ihr aufgezwungene Austeritätsprogramm umzusetzen. Das dürfte Syriza nicht schwer fallen, wo führende Politiker doch immer erklären, sie seien von der Wirkungslosigkeit des Programms überzeugt und setzten es nur auf Druck der EU um.

Eine Aufkündigung des Programms könnte auch damit begründet werden, dass angesichts der außergewöhnlichen Situation die Umsetzung noch absurder geworden ist. Notwendig sind soziale Reformen und Wiederaufbau des Gesundheits- und Bildungswesens. Beide haben in der Zeit der Troika-Diktate einen Niedergang erlebt. Mit der durch die EU erzwungenen Politik wird dieser aber nicht gestoppt. Das bedeutet seit Jahren eine reale Verarmung vieler Menschen in Griechenland, wie durch zahlreiche Berichte von Ärzte- und Wissenschaftsdelegationen dokumentiert wurde.

Nun kommen viele neue Menschen ins Land und ein Umsteuern wäre umso wichtiger. Eine Kündigung des Austeritätsprogramm könnte auch die Proteste beenden, mit denen seit Wochen unterschiedliche Berufs- und Bevölkerungsgruppen gegen die für sie besonders nachteiligen Elemente der Umsetzung des Austeritätsprogramms protestieren. So blockieren Bauern wichtige Straßen in Griechenland, was teilweise auch die Migranten tangiert, die dann auch vor diesen Sperren festsitzen, bevor sie zu den EU-internen Grenzen kommen.

Eine Aufkündigung des Austeritätsprogramms durch die griechische Regierung wäre auch ein Signal an die europäische Öffentlichkeit, die im letzten Jahr für einige Monate einen Aufschwung erlebte. Die Verteidigung des Oxi der griechischen Bevölkerung hatte vor allem junge Menschen, aber auch selber von Niedriglohn und sozialer Ausgrenzung Betroffene auf die Straße getrieben. Die Bewegung zerfiel, als die griechische Regierung kapitulierte. Wenn nun das Oxi wieder ins Spiel käme, wäre das ein Ansporn, die Zukunft nicht den Schwarzen Nullen und den Rechtspopulisten zu überlassen.

http://www.heise.de/tp/news/Austeritaet-und-Ausgrenzung-3119625.html

Peter Nowak

Links:

[1]

http://www.taz.de/!5277998/

[2]

http://www.heise.de/tp/artikel/46/46875/1.html

[3]

http://www.ffm-berlin.de/

[4]

http://jungle-world.com/artikel/2015/52/53233.html

Streiken ohne Grenze

Ein internationales Bündnis ruft für den 1. März in Europa zu einem Aktionstag gegen Abschottungspolitik und Prekarisierung auf.

In diesen Tagen wird viel über neue Grenzen in Europa geredet. Da macht der Aufruf »24 h ohne uns!« der Transnational Social Strike Platform zu einem internationalen Aktionstag gegen »Grenzregime und Prekarisierung« am 1. März Hoffnung. In dem Text wird nicht nur die europäische Abschottungspolitik, sondern auch die Politik des Ausnahmezustands kritisiert, die sich infolge islamistischer Anschläge durchgesetzt hat. Besonders betroffen seien Migranten, Geflüchtete, Erwerbslose, prekär Beschäftigte und Fabrikarbeiter, die »im Zustand der ständigen sozialen Krise« lebten. Der Gegensatz in Europa bestehe nicht »zwischen Demokratie und Terror, sondern zwischen denen, die ausgebeutet werden, und denen, die ausbeuten, zwischen denen, die sich auf die Suche nach einem besseren Leben machen, und ­denen, die Grenzen, Zäune und Mauern errichten«. Der von letzteren geforderte Ausnahmezustand ist es, den die zum Aktionstag Aufrufenden abschaffen wollen.

Bereits 2010 hatten unter dem Motto »24 Stunden ohne uns« migrantische Beschäftigte in Frankreich, Spanien und Griechenland die Arbeit niedergelegt. Die Idee ging von Initiativen gegen prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse in Italien aus und wurde über soziale Netzwerke verbreitet. Auf der Konferenz »Dem transnationalen Streik entgegen«, die im Oktober 2015 im polnischen Poznań stattfand (Jungle World 42/2015), wurde der diesjährige Aktionstag beschlossen. In Polen wollen Mitglieder der Basisgewerkschaft Inicjatywa Pracownicza (Arbeiterinitiative) vor verschiedene Leiharbeitsfirmen ziehen, um diese besondere Form prekärer Arbeitsbedingungen anzuprangern. Weitere Aktionen am 1. März sind in Italien, Holland, Spanien, Österreich und Frankreich geplant. Damit ist die Zahl der beteiligten Länder dieses Mal größer als vor sechs Jahren. Zudem sind die Aufrufe kämpferischer. Ging es 2010 noch um Öffentlichkeitsarbeit für migrantische Beschäftigte, stehen in diesem Jahr Widerstand und Organisierung im Mittelpunkt.

»Wir sehen es schon als Erfolg, dass es uns gelungen ist, in mehreren europäischen Ländern am 1. März Aktionen zu initiieren. Schließlich werden sie von kleinen linken Organisationen und Basisgewerkschaften und nicht von Parteien und Gewerkschaften mit großem Apparat vorbereitet«, sagt ein Mitglied der Migrant Strikers der Jungle World. In seiner Gruppe haben sich migrantische Lohnabhängige aus Italien zusammengeschlossen, die sich in Berlin gegen ihre prekären Arbeits- und Lebensbedingungen wehren. Sie sind Teil des Berliner Vorbereitungskreises zum 1. März und planen mit Kolleginnen und Kollegen aus Spanien und Polen einen Spaziergang durch das Berlin der prekären migrantischen Arbeit. Startpunkt soll am 1. März um 16.30 Uhr das Shoppingzentrum Mall of Berlin sein, das vergangenes Jahr zum Symbol von Ausbeutung, aber auch von Widerstand geworden ist. Rumänische Bauarbeiter kämpfen mit juristischen Klagen und politischen Aktionen seit mehr als einen Jahr um den Lohn, der ihnen noch immer ­vorenthalten wird. Auch Orte der prekären Arbeit unter anderem in der Gastronomiebranche sollen besucht werden.

Ähnliche Aktionen sind in zahlreichen europäischen Städten geplant. Erfolgreich wären die Aktionen, wenn es gelänge, über den 1. März hinaus prekäre Arbeit auf transnationaler Ebene wieder zum Kampffeld zu machen. Damit könnte an Debatten über europäische Streiks angeknüpft werden, wie sie vom Netzwerk M31 im Kontext der europäischen Krise 2012 und 2013 geführt wurden. Als mögliche Forderungen benennt der Aufruf: »Europäischer Mindestlohn, ein europaweit geltendes Grundeinkommen und Sozialsystem, das auf Aufenthalt basiert, und eine europäische Aufenthaltserlaubnis – unabhängig von Arbeitsvertrag und Einkommenshöhe.« So könnte ein Gegenpol zum Europa der Ausgrenzung und Austerität geschaffen werden.

Peter Nowak