Wer von Überwachung redet, darf vom Kapitalismus nicht schweigen

Eine Veranstaltungsreihe widmete sich einem in der überwachungskritischen Szene  vernachlässigtes Thema

„Die 1000 Augen der Jobcenter“   – so  lautete das Motto  einer Veranstaltungsreihe der   Berliner  überwachungskritischen               Gruppe Seminar für Unsicherheit (SaU) im März 2016. Damit hat die Gruppe einen wichtigen Aspekt in den Mittelpunkt von fünf Veranstaltungen gestellt, der in der überwachungskritischen Szene bisher unterbelichtet war. Vielen Menschen fallen beim Thema Überwachung noch immer vor allem Kameras im öffentlichen Raum sowie Telefon- und Internetdurchforschung ein.  Das zeigte sich an der Ausrichtung der großen Bündnisse, die in den letzten Jahren die Freiheit-statt-Angst-Demonstrationen organisieren. Die FDP gehört zu den Bündnispartner_innen und    so ist es auch nicht verwunderlich,  dass die Rettung  des Bankgeheimnisses zu den Forderungen der Überwachungskritiker_innen gehörte. Erwerbslosengruppen  gehörten nicht zu den Redner_innen auf den großen Demonstrationen. In den Aufrufen wurde mit der These mobilisiert, dass  Kontrolle und Überwachung „uns alle“ trifft. Diese Behauptung scheint auf den ersten Blick plausibel zu sein. Schließlich blickt das Auge der Kamera auf alle Passant_innen und auch viele andere Sicherheitsgesetze scheinen alle zu betreffen.  Auf den zweiten Blick wird aber deutlich, dass vor dem Sicherheits- und Überwachungsstaat eben nicht alle Menschen gleich sind.

Kein Bankgeheimnis für Hartz IV-Empfänger_innen

Schon lange bevor auch die Bankkonten der Vermögenden ins Blickfeld des Staates gerieten, wobei es meistens um den Vorwurf von Steuerhinterziehung und Geldwäsche geht, war für Sozialhilfeempfänger_innen und Erwerbslose das Bankgeheimnis abgeschafft. So müssen alle Antragsstellungen von Hartz IV-Leistungen, bei  denen es nicht nur um Erwerbslose sondern auch um Aufstocker_innen mit Teil- und Vollzeitarbeit handelt, zustimmen, dass die Behörden Einblick in  ihre Konten nehmen können. Die Kontrolle erstreckt sich auf die Wohnungen der Hartz IV-Empfänger_innen.  So  können sich  Sozialdetektiv_innen   in deren in Schlaf- und Badezimmer davon  überzeugen, ob die Angaben zu Bedarfsgemeinschaften, Wohnsituation etc. zutreffend sind. Wird den  Sozialdetektiv_innen  ein Zutritt zur Wohnung verweigert, kann das  Amit die Leistungen kürzen oder er ganz  streichen.

Zudem landen freiwillig und unwissentlich abgegebene Daten über Hartz IV-Bezieher_innen    in Computern der Arbeitsagenturen.  Dazu zählen die Ergebnisse der Profiling, mit denen die Betroffenen angeblich zur  besseren Jobvermittlung  viele auch sehr persönliche Angaben machen sollen. Zum Datenpool gehören auch alle Protokolle und Notizen, die sich die Behördenmitarbeiter_innen von den Besuchen mit den „Kund_innen“ machen, wie die Hartz IV-Empfänger_innen     im Amtsjargon genannt werden.   Dabei werden Personenprofile erstellt, mit denen amtsintern gearbeitet wird.  Wird die Person schnell nervös,  ist sie aufbrausend,  zurückhaltend,      unsicher?  Gilt sie als querulantisch?  Solche Beurteilungen geben Jobcentermitarbeiter_innen  die Möglichkeit, auf die Kund_innen ganz individuell zu reagieren. Da die in der Regel nicht wissen, was in den Protokollen steht, können sie auch nicht darauf reagieren. Seit einigen Jahren gibt es die Kampagne „Keine/r muss allein zum Amt“, wo  sich die Betroffenen beim Termin im Jobcenter von Personen ihrer Wahl begleiten lassen. Damit werden  zumindest tendenziell die  Ohnmachtsgefühle aufgehoben.

Datenschutz für das Jobcenter

Das ungleiche Machtgefälle hingegen bleibt bestehen Während die Ämter und ihre Mitarbeiter_innen über die Hartz IV-Empfänger_innen viele Daten haben, kennen die  „Kund_innen“ hingegen haben oft nicht einmal die Durchwahlnummern „ihrer“ Fallmanager_innen. Wenn sie beim Amt anrufen, landen sie in einer Telefonzentrale und damit meistens in der Sackgasse, weil ihr Anruf nicht an die Mitarbeiter_innen weitervermittelt wird, die die Anrufenden kontaktieren wollen. Genau das auch der Grund, warum aus den Behörden-Telefonnummern der Mitarbeiter_innen ein solches Geheimnis gemacht wird, dass auch juristisch durchgesetzt wird. Die Wuppertaler  Beratungsstell Tacheles  hatte Durchwahlnummern von  Jobcentermitarbeiter-innen  auf ihre Webseite gestellt und mussten sie nach Klagedrohungen der Agentur für Arbeit wieder                       runternehmen.  Auch die Fraktion der Berliner Piratenpartei, die danach die Telefonnummern veröffentliche,  musste sie nach Drohungen mit juristischen lagen  wieder entfernen. Das Berliner Landesamt für Datenschutz und Informationsfreiheit hatte die Piratenfraktion darauf hingewiesen, dass mit der e Veröffentlichung Datenschutzrichtlinien verletzen  werden könnten.   Besser kann man  gar nicht deutlich mache, wie sehr die Frage der Überwachung auch eine Frage von Machtgefälle und Klassenspaltung ist.   Während den    Hartz IV-Empfänger_innen sogar bis in den Schlafzimmern und in den Kühlschrank nachspioniert werden kann, sie ihre Kontobewegung von Anfang offen legen müssen,  wird schon die Veröffentlichung von  Dienstnummern der  Jobcentermitarbeiter_innen als Verletzung des Datenschutzes betrachtet.  Überwachung und   Kontrolle  betrifft also entgegen den Thesen vieler  Überwachungskritiker_innen  nicht alle gleich. „Wer von Überwachung redet, darf vom Kapitalismus nicht schweigen“  schreibt das Seminar für angewandte Unsicherheit. Aktive Erwerbslose aus unterschiedlichen Zusammenhängen waren an den Veranstaltungen beteiligt und zahlreiche Betroffene nahmen nicht nur an den Diskussionen teil. Sie hatten  viele konkrete Fragen und Gesprächsbedarf über ihre eigenen Erfahrungen mit Überwachung am Jobcenter.   Es ist zu hoffen, dass das  SaU mit der Veranstaltungsreihe Diskussionen in der überwachungskritischen Szene ausgelöst hat und es in Zukunft gemeinsame Aktionen gegen die gläsernen Hart IV-Empfänger_innen gibt.

aus: ak 615 vom 19.4.2016

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Peter Nowak