Berlin-Blockade, zweiter Versuch


Manche verfassen bereits Nachrufe auf das »Blockupy«-Bündnis. Dieses ruft indessen zu einem Aktionswochenende in Berlin auf.

Ende Juli machte eine merkwürdige Reisegruppe mit Koffern und Kartons kurzzeitig Halt vor dem Bundesarbeitsministerium. »Blockupy zieht nach Berlin« hieß das Motto der Veranstaltung, die bei einigen Linken jedoch für Spott sorgte. Schließlich war das »Blockupy«-Bündnis hauptsächlich für drei politische Großdemonstrationen und -blockaden in Frankfurt am Main bekannt, die die Polizei mit Großeinsätzen be­endete, und nicht für Polittheater. Die »Blockupy«-Aktion 2015 war mit einer in den vergangenen Jahren in Deutschland eher ungewöhnlichen linken Militanz verbunden. Deshalb waren manche überaus verwundert, dass die Organi­satoren des Bündnisses mit einem im Vergleich zu den Ereignissen des vergangenen Jahres harmlosen Auftritt ihren Einstand in Berlin gaben.

Ob »Blockupy« auch in Berlin für Protest mit so viel Herz sorgen wird wie hier in Frankfurt im März 2015?

Ob »Blockupy« auch in Berlin für Protest mit so viel Herz sorgen wird wie hier in Frankfurt im März 2015? (Foto: Action Press / NurPhoto / Rex / Markus Heine)

Für den 27. August hatten sich einige Unterstützer von »Blockupy« anlässlich des Tags der offenen Tür der Bundes­regierung erneut das Bundesarbeitsministerium für eine Protestaktion ausgesucht. Sie entrollten ein Transparent mit der Parole »Exit Fortress Europe, Austerity, Capitalism – Blockupy 2.9. Berlin«. Damit machten sie auf den bundesweiten Aktionstag am Freitag aufmerksam. Wie schon anlässlich der Demonstrationen und Blockaden in Frankfurt müssen die Teilnehmer auch in Berlin früh aufstehen. Bereits ab 7.30 Uhr wollen sie vom Potsdamer Platz und vom Gendarmenmarkt aus zur Blockade des Arbeitsministeriums aufbrechen.

Mit der Wahl dieses Ziels richtet das Bündnis seine Kritik unter anderem auf die Austeritätspolitik, die im Wesentlichen von Deutschland ausgeht. »Wir glauben, es ist dringend an der Zeit, das Lager der Solidarität im Zentrum des europäischen Kapitalismus sichtbar werden zu lassen und hier gemeinsam die vermeintliche Alternativlosigkeit der neoliberalen Mitte anzugreifen – bevor nationale ›Lösungen‹ in Gesetzen, in Parlamenten und auf der Straße überhand nehmen«, heißt es in dem zentralen Aufruf. In einem Text zur »Feministischen Intervention« wird an den Druck erinnert, der durch die in Deutschland vorangetriebenen Hartz-Reformen auch europaweit auf die ­Bereiche der sozialen Reproduktion ausgeübt wird. »Was im politischen Labo­ratorium Deutschland erfolgreich getestet wurde, soll nun als Exportschlager allen anderen europäischen Ländern aufgezwungen und in Deutschland weiter verschärft werden«, heißt es dort. Die Verfasserinnen und Verfasser erinnern daran, dass besonders alleiner­ziehende Frauen von Armut betroffen sind.

Die geplante Blockade ist dabei nur der Auftakt eines Aktionswochenendes. Am 3. September ruft ein Bündnis unter dem Motto »Aufstehen gegen rechts« zum Protest gegen den Aufstieg der AfD auf. Die Beteiligung von Grünen und SPD an dieser Demonstration ruft nicht nur Freude hervor. »Vom pragmatischen Antihumanismus von SPD, Grünen und CDU zur authentischen Menschenfeindlichkeit einer Frauke Petry und eines Björn Höcke ist es nur ein kleiner Schritt«, heißt es in einem Aufruf des Blocks »Nationalismus ist keine Alternative«, der vom kommunistischen Bündnis »Ums Ganze« getragen wird. Dort wird auch »Sahra Obergrenze Wagenknecht« als ein Beispiel dafür benannt, wie parlamentarische Linke den Rassismus entschuldigen oder sogar forcieren.

»Mit der geplanten Blockade des Bundesarbeitsministeriums wollen wir deutlich machen, dass die jüngsten Hartz-IV-Verschärfungen von den Intentionen her das umsetzen, was auch die AfD fordert«, sagt Klaus Steinle von der Berliner »Blockupy«-Plattform der Jungle World. »Denn mit den Arbeitsmigranten aus EU-Ländern und den Alleinerziehenden werden genau die Gruppen noch einmal schlechter gestellt, die auch im Visier der Rechtspopulisten stehen«, betont Steinle. Er erwartet eine dreistellige Teilnehmerzahl. Hannah Schuster, Pressesprecherin von »Blockupy«, sieht in dem Aktionswochenende mehr als ein Event. »Es geht um den Versuch, ein linkes Projekt, einen linken Pol zu bilden, der die soziale Frage und Antirassismus offensiv zusammenführt«, sagt sie. Darüber soll am 4. September auch auf einem bundesweiten Aktionstreffen in den Räumen der Rosa-Luxemburg-Stiftung am Berliner Mehringplatz beraten werden.

Das »Blockupy«-Bündnis muss derzeit auch gegen seine mediale Dar­stellung ankämpfen. Denn stellenweise werden schon Nachrufe verfasst. So sieht der Taz-Redakteur Martin Kaul in dem Aktionswochenende den »Abschluss eines einst erfolgreichen Bündnisses«, das seinen Glanz verloren habe. Dass selbst die rechte Boulevardpresse vor der geplanten Ministeriumsblockade keine Schreckensmeldungen über drohende Gewalt verbreitet, zeigt, dass das Bündnis auf der Gegenseite nicht mehr ernst genommen wird. Niemand scheint zu erwarten, dass am kommenden Wochenende Berlin lahmgelegt wird wie Frankfurt die drei Jahre zuvor. Das liegt vor allem an der Rat­losigkeit der Krisenprotestbewegung auf europäischer Ebene. »Bisher gibt es keine wirksame emanzipatorische Antwort auf die europäische Krise«, heißt es im Aufruf von »Nationalismus ist keine Alternative«.

Der Politologe Nikolai Huke hat kürzlich im Verlag Edition Assemblage unter dem Titel »Krisenproteste in Spanien« ein Buch veröffentlicht, in dem er detailliert aufzeigt, wie die verschiedenen gewerkschaftlichen und sozialen Protestbewegungen in den vergangenen fünf Jahren an ihre Grenzen gestoßen sind. Dabei weist Huke auch nach, dass es nicht Parteien wie Podemos waren, die den sozialen Protestbewegungen ihre politische Kraft genommen haben. Vielmehr profitierten solche neuen Parteien von der Erschöpfung des außerparlamentarischen Protestzyklus. Podemos brauchte Huke zufolge gar nicht an die Regierung zu kommen, um zu verdeutlichen, dass der Anspruch einer ganz anderen Politik bereits gescheitert ist. Trotzdem kommt der Autor zu dem gar nicht so pessimistischen Schluss, dass es den unterschiedlichen Bewegungen, aber auch der neuen linken Partei in Spanien gelang, »in diesem Prozess kleine Erfolge zu erzielen, die durch ihr erfolgreiches Scheitern die spanische Gesellschaft grundlegend veränderten«. Huke hat diese These auch am Beispiel der Bewegung gegen die Zwangsräumungen und der jahrelangen Kämpfe im Bildungs- und Gesundheitsbereich gut belegt. In diesen Sektoren führten Beschäftigte teilweise lang anhaltende Arbeitskämpfe, aber meist ohne die bisher dominierenden Gewerkschaften.

Auch das »Blockupy«-Netzwerk hat in den vergangenen Monaten verstärkt das Augenmerk auf Arbeitskämpfe in Bereichen gerichtet, die bisher kaum gewerkschaftlich organisierbar waren. Anfang Oktober 2015 fand in Poznan unter dem Motto »Dem transnationalen Streik entgegen« eine europaweite Konferenz statt (Jungle World 42/15). Im Oktober wird es in Paris erneut eine Konferenz zum selben Thema geben, auf der auch die jüngsten Erfahrungen mit den Arbeitskämpfen und sozialen Bewegungen in Frankreich einfließen sollen. Am 1. März 2016 gab es erstmals in mehreren europäischen Ländern zugleich Aktionen gegen prekäre Arbeitsverhältnisse (Jungle World 8/16). Wenn das Protestbündnis diese Orientierung weiterverfolgt, könnte der Begriff Krisenproteste eine neue Bedeutung bekommen: Es ginge dann nicht mehr um die Banken und die Börse, sondern um die alltägliche Krise der prekär Beschäftigten im Kapitalismus.

http://jungle-world.com/artikel/2016/35/54762.html

von Peter Nowak

Streiken ohne Grenze

Ein internationales Bündnis ruft für den 1. März in Europa zu einem Aktionstag gegen Abschottungspolitik und Prekarisierung auf.

In diesen Tagen wird viel über neue Grenzen in Europa geredet. Da macht der Aufruf »24 h ohne uns!« der Transnational Social Strike Platform zu einem internationalen Aktionstag gegen »Grenzregime und Prekarisierung« am 1. März Hoffnung. In dem Text wird nicht nur die europäische Abschottungspolitik, sondern auch die Politik des Ausnahmezustands kritisiert, die sich infolge islamistischer Anschläge durchgesetzt hat. Besonders betroffen seien Migranten, Geflüchtete, Erwerbslose, prekär Beschäftigte und Fabrikarbeiter, die »im Zustand der ständigen sozialen Krise« lebten. Der Gegensatz in Europa bestehe nicht »zwischen Demokratie und Terror, sondern zwischen denen, die ausgebeutet werden, und denen, die ausbeuten, zwischen denen, die sich auf die Suche nach einem besseren Leben machen, und ­denen, die Grenzen, Zäune und Mauern errichten«. Der von letzteren geforderte Ausnahmezustand ist es, den die zum Aktionstag Aufrufenden abschaffen wollen.

Bereits 2010 hatten unter dem Motto »24 Stunden ohne uns« migrantische Beschäftigte in Frankreich, Spanien und Griechenland die Arbeit niedergelegt. Die Idee ging von Initiativen gegen prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse in Italien aus und wurde über soziale Netzwerke verbreitet. Auf der Konferenz »Dem transnationalen Streik entgegen«, die im Oktober 2015 im polnischen Poznań stattfand (Jungle World 42/2015), wurde der diesjährige Aktionstag beschlossen. In Polen wollen Mitglieder der Basisgewerkschaft Inicjatywa Pracownicza (Arbeiterinitiative) vor verschiedene Leiharbeitsfirmen ziehen, um diese besondere Form prekärer Arbeitsbedingungen anzuprangern. Weitere Aktionen am 1. März sind in Italien, Holland, Spanien, Österreich und Frankreich geplant. Damit ist die Zahl der beteiligten Länder dieses Mal größer als vor sechs Jahren. Zudem sind die Aufrufe kämpferischer. Ging es 2010 noch um Öffentlichkeitsarbeit für migrantische Beschäftigte, stehen in diesem Jahr Widerstand und Organisierung im Mittelpunkt.

»Wir sehen es schon als Erfolg, dass es uns gelungen ist, in mehreren europäischen Ländern am 1. März Aktionen zu initiieren. Schließlich werden sie von kleinen linken Organisationen und Basisgewerkschaften und nicht von Parteien und Gewerkschaften mit großem Apparat vorbereitet«, sagt ein Mitglied der Migrant Strikers der Jungle World. In seiner Gruppe haben sich migrantische Lohnabhängige aus Italien zusammengeschlossen, die sich in Berlin gegen ihre prekären Arbeits- und Lebensbedingungen wehren. Sie sind Teil des Berliner Vorbereitungskreises zum 1. März und planen mit Kolleginnen und Kollegen aus Spanien und Polen einen Spaziergang durch das Berlin der prekären migrantischen Arbeit. Startpunkt soll am 1. März um 16.30 Uhr das Shoppingzentrum Mall of Berlin sein, das vergangenes Jahr zum Symbol von Ausbeutung, aber auch von Widerstand geworden ist. Rumänische Bauarbeiter kämpfen mit juristischen Klagen und politischen Aktionen seit mehr als einen Jahr um den Lohn, der ihnen noch immer ­vorenthalten wird. Auch Orte der prekären Arbeit unter anderem in der Gastronomiebranche sollen besucht werden.

Ähnliche Aktionen sind in zahlreichen europäischen Städten geplant. Erfolgreich wären die Aktionen, wenn es gelänge, über den 1. März hinaus prekäre Arbeit auf transnationaler Ebene wieder zum Kampffeld zu machen. Damit könnte an Debatten über europäische Streiks angeknüpft werden, wie sie vom Netzwerk M31 im Kontext der europäischen Krise 2012 und 2013 geführt wurden. Als mögliche Forderungen benennt der Aufruf: »Europäischer Mindestlohn, ein europaweit geltendes Grundeinkommen und Sozialsystem, das auf Aufenthalt basiert, und eine europäische Aufenthaltserlaubnis – unabhängig von Arbeitsvertrag und Einkommenshöhe.« So könnte ein Gegenpol zum Europa der Ausgrenzung und Austerität geschaffen werden.

Peter Nowak

Von Amazon bis Zwangsräumung

Im polnischen Poznań diskutierten Linke, Basisgewerkschafter und Operaisten Anfang Oktober über transnationale Streiks und gemeinsame Strategien.

»Block Austerity« steht auf dem Transparent im großen Saal des Stadtteilzentrums Amarant in der westpolnischen Stadt Poznań. Etwa 150 Menschen diskutierten hier unter dem Motto »Dem transnationalen Streik entgegen« neue Ansätze der Vernetzung. Das Ziel der Konferenz ist es, über bestehende Grenzen und Regionen hinweg den Austausch zwischen Arbeits- und sozialen Kämpfen zu vertiefen. Neben klassischen Arbeitskämpfen im Betrieb soll der soziale Streik zudem die Auseinandersetzung um Miete und Wohnraum umfassen.

Zu den Organisatoren gehörten Initiativen wie die Angry Workers aus Großbritannien und Aktivisten sozialer Zentren Italiens. In Deutschland hatten vor allem die Interventionistische Linke und das Blockupy-Netzwerk für die Teilnahme an der Konferenz geworben.

Dass Poznań in letzter Zeit in den Fokus sozialer Initiativen aus ganz Europa gerückt war, ist vor allem der Inicjatywa Pracownicza (IP, Arbeiterinitiative) zu verdanken. Die polnische anarchosyndikalistische Gewerkschaft hatte im Spätherbst vergangenen Jahres zahlreiche Beschäftigte des am Rande der Stadt eröffneten Zentrums des Internethändlers Amazon organisiert. Im Juni initiierte die IP erstmals eine gemeinsame Solidaritätsaktion mit den streikenden Amazon-Beschäftigten in Deutschland und Mitte September tauschten sich etwa 30 Amazon-Beschäftigte, vor allem aus Polen und Deutschland, in Poznań über die Koordinierung transnationaler Arbeitskampfstrategien aus. Bei vergangenen Streiks in Deutschland wurden Bestellungen häufig an polnische Versandzentren weitergeleitet.

Mitglieder der operaistischen Angry Workers berichteten von ihrer Arbeit in Warenhäusern im Londoner Osten. Im Unterschied zu gewerkschaftlichen Ansätzen geht es den Angry Workers vor allem darum, von den Problemen der Beschäftigten und ihrem Umgang damit zu erfahren und Konflikte auch zuzuspitzen. Eine gewerkschaftliche Repräsentation lehnt die Gruppe aber ab. In ihrer Zeitung Workers Wild West berichten sie regelmäßig über lokale Konflikte an Arbeitsplätzen und werben für Kooperation.

Heiner Köhnen vom deutschen Zweig des basisgewerkschaftlichen Netzwerkes TIE betont im Gespräch mit der Jungle World, man habe in den vergangenen 15 Jahren gute Erfahrungen bei der Stärkung basisgewerkschaftlicher Ansätze gerade in multinationalen Konzernen gemacht. Das weltweite Netzwerk beschäftigt sich unter anderem mit Forschung zu sozialen Bewegungen, Arbeitsorganisation und -kämpfen und bietet Schulungen für Betriebsräte an. Es orientiere sich in der Gewerkschaftsfrage an den Interessen der Beschäftigten, doch zu seinen Grundsätzen gehöre die Förderung von Selbstorganisation, auch gegen Gewerkschaftsapparate, so Köhnen.

Mit Blick auf Brasilien berichtet er, dass ein von mehr als 11 000 Beschäftigten geführter kämpferischer Streik mit einer korporatistischen Lösung beendet wurde. Comanagement sei aber nicht nur ein Problem der traditionalistischen Gewerkschaftspolitik. Probleme der Organisierung seien auch auf die Umstrukturierung der Arbeitsprozesse zurückzuführen. So seien für die Kontrolle im Arbeitsprozess oft nicht mehr Chefs oder Vorarbeiter, sondern scheinbar unabhängige Marktmechanismen verantwortlich. Da fehle der Gegner, an dem sich Konflikte entzünden und radikalisieren könnten. »Es ist attraktiv, sich als Teil eines Teams oder einer Betriebsfamilie zu verstehen. Von diesem Druck zum Korporatismus können sich auch Kollegen nicht freimachen, die als linke Gewerkschafter dagegen angetreten sind«, sagt Köhnen. Es geht um die Frage, inwieweit durch die Änderungen der Arbeitsorganisation forcierte Bedingungen dem Handeln basisorientierter und hierarchiefreier Gewerkschaften Grenzen setzen.

Zahlreiche Konferenzteilnehmer aus Deutschland sind durch die Blockupy-Proteste für Arbeitskämpfe und gewerkschaftliche Themen sensibilisiert worden. Ein Berliner Blockupy-Mitglied betont: »Die wesentlich von Deutschland ausgehende Austeritätspolitik kann nicht nur mit Blockaden und Großdemonstrationen bekämpft werden.« Politisiert und mobilisiert werden die Menschen durch »wichtige Alltagskämpfe«, wie etwa Konflikte am Arbeitsplatz und Widerstand gegen Zwangsräumungen und Vertreibung aus Stadtteilen.

Am 31. Mai vergangenen Jahres wurde im Rahmen der europäischen Blockupy-Aktionstage der Geschäftsbetrieb von Bekleidungsläden auf der Frankfurter Zeil einen Tag lang lahmgelegt, dabei wurden die schlechten Arbeitsbedingungen der Beschäftigten ebenso thematisiert wie die internationalen Ausbeutungsverhältnisse in der Bekleidungsindustrie. Damals kooperierten die Protestierenden auch mit der Belegschaft einer Filiale, die an jenem Tag für höhere Löhne streikte. Doch die Zusammenarbeit mit den Beschäftigten war zeitlich begrenzt, ein längerfristiger Kontakt entstand nicht.

Der Aufruf zum europäischen Generalstreik, der 2013 vom außerparlamentarischen M31-Netzwerk initiiert worden war, sollte genau diese Vernetzung auf transnationaler Ebene weiter vorantreiben. Die Initiative war unter dem Eindruck eines großen Streiks in verschiedenen südeuropäischen Ländern entstanden und dann wieder versandet. Das mag vor allem daran gelegen haben, dass die Kontakte zu potentiell kämpferischen Belegschaften bei den Initiatoren des Aufrufs zu wenig ausgeprägt waren.

Ein zentrales Merkmal vieler derzeitiger Kämpfe ist die Selbstorganisation der Beschäftigten, die von Gewerkschaften teilweise unterstützt, aber nicht angeleitet wird. Ein Beispiel für diese neuen Kämpfe ist der Konflikt der Beschäftigten mit der Lebenshilfe Frankfurt/Main. Seit Sommer vergangenen Jahres kämpfen sie für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen bei der Pflege und Betreuung behinderter Menschen. Vor einigen Wochen wurde Paul L., ein gewerkschaftlich aktiver Mitarbeiter, entlassen. In einer der Arbeitsgruppen berichtete er in Poznań über den Arbeitskampf bei der Lebenshilfe als Beispiel für einen sozialen Streik. Bei einer Protestkundgebung Mitte September während eines Fests der Lebenshilfe waren Symbole der DGB-Gewerkschaften GEW und Verdi ebenso vertreten wie die schwarzroten Fahnen der Freien Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union (FAU). Anschließend gab es eine Demonstration durch den Stadtteil Bornheim, wo außerdem auf den Zusammenhang von Hartz IV, Niedriglohn, Mietschulden und Zwangsräumungen hingewiesen wurde. Das Beispiel zeigt, dass in kleineren Betrieben oder Belegschaften soziale Streiks oft einfacher möglich und schneller realisierbar sind als in Großbetrieben.

Doch gerade kleinere Streiks sind schwieriger auf ein internationales Niveau zu heben. Initiativen wie das Euromarsch-Netzwerk, das bereits seit fast 20 Jahren europaweit gegen Prekarisierung aktiv ist, nehmen sich dieses Problems an.

Die Schaffung einer politischen Plattform wurde in Poznań kontrovers diskutiert. Vier Grundforderungen – nach einem europäischen Mindestlohn, einem europäischen Grundeinkommen, europäischen Sozialleistungen und einer Mindestaufenthaltserlaubnis für Geflüchtete – sind die inhaltliche Basis des Bündnisses. Konkrete Pläne gibt es bereits für einen transnationalen Migrantenstreik am 1. März 2016 und eine noch nicht länderübergreifende Amazon-Karawane, für die bisher kein Termin feststeht. Unklar sind auch noch Ort und Datum der nächsten europaweiten Blockupy-Aktionstage.

http://jungle-world.com/artikel/2015/42/52833.html

Peter Nowak

Grenzenloser Streik

Auch am Amazon-Standort im polnischen Poznan wurde gestreikt.

Transparente hingen in der letzten Junihälfte rund um das Amazon-Werk im polnischen Poznań.»Wir unterstützen die Streiks bei Amazon in Deutschland«, war auf den Bannern zu lesen.  Es blieb nicht bei Bekenntnissen. Die Nachtschicht bei Amazon in Poznań solidarisierte sich Vom 24. auf den 25. Juni  solidarisierte sich die Nachtscickt durch demonstratives Bummelstreiken mit dem Arbeitskampf bei Amazon-Deutschland. Andere Beschäftigte stellten kurzfristig Urlaubsanträge, um keine Streikbrecher_innen  zu werden. Tage vorher hatten Mitglieder der anarchosyndikalistischen Inicjatywa Pracownicza (IP) in dem Werk Flugblätter über den Verdi-Streik in Deutschland verteilt. Als Dezember 2014 die Werke in Poznań und Wrocław eröffent wurden,  erklärte der Logistikchef von Amazon Europe, Tim Collins, dass die polnische Dependance für pünktliche Lieferungen an Amazon-Kunden sorgen werde, auch wenn Verdi in Deutschland zum Arbeitskampf aufrufe  „Amazon-Pakete kommen jetzt aus Polen“, titelte das Handelsblatt am 15. Dezember 2014.  Damals  brachten an verschiedenen Amazon-Standorten in Deutschland   Beschäftigte  das Weihnachtsgeschäft des Online-Magazins  durch Streiks ins Stocken.    Anfang Juli 2015 musste denn auch das Handelsblatt melden, dass die Beschäftigten bei Amazon-Poznan ebenfalls für höhere Löhne  und der Angleichung von Löhnen und  Arbeitsbedingungen  an die Verträge in anderen europäischen Ländern kämpfen. In einer Reportage für die Welt vom 18.7. wurde gar ein besonders negatives Bild von den Arbeitsbedingungen bei Amazon-Poznan gezeichnet:„13 Zloty pro Stunde verdienen die Arbeiter: drei Euro. Stühle gibt es nicht, dafür unbezahlte Überstunden. In Polen bekommt Amazon jetzt Ärger mit staatlichen Prüfern – und den eigenen Angestellten.“ Damit soll suggeriert werden, dass es die besonders schlechten Arbeitsbedingungen in Poznan sind, die zu der Kampfbereitschaft führten. Damit soll die transnationale Dimension des Arbeitskampfs ausgeblendet werden. Auffällig ist auch, dass die Gewerkschaft IP, die die Kämpfe bei Amazon-Poznan führt, in dem  Welt-Artikel  nicht erwähnt wird. Damit bleibt das Blatt aus dem Hause Springer seiner Linie treu, linke Basisgewerkschaften entweder zu verschweigen oder  wie die Freie Arbeiter_innen Union  (FAU) als linksextremistisch zu diffamieren. Mittlerweile hat das Amazon-Management eine Lohnerhöhung für die ca. 2000 Beschäftigten von Amazon-Poznan  zugestimmt. Für die IP ist dieser erste Erfolg  ein Ergebnis der Kampfbereitschaft der Beschäftigten und kein Grund,  die Auseinandersetzungen zu beenden oder die transnationale  Ebene zu vernachlässigen.
Mitte Mai organisierte die Gewerkschaft unter der Parole »My Prekariat« (Wir Prekären) eine erste Warschauer Mayday-Parade mit knapp 350 Teilnehmer_innen. Neben Beschäftigten von Universitäten, Bauarbeiter_innen, Theaterleuten und Erzieher_innen  beteiligten sich auch Arbeiter_innen  von Amazon aus  Polen und Deutschland an der Aktion. Vom 2. bis zum 4. Oktober 2015  wird  unter dem Motto „Dem transnationalen Streik entgegen“   zu einer Tagung  nach Poznan eingeladen.  In Arbeitsgruppen soll erörtert werden, wie man sich kollektiv gegen die Fragmentierung und Individualisierung der Arbeit wehrt. Es geht um die Vernetzung fester und befristeter Angestellter und die Frage, wie die kapitalistische Ausbeutung länderübergreifend angegriffen werden kann. „Wir treffen uns in Poznan, um die Beteiligung aus den osteuropäischen Ländern zu erhöhen, denn diese stehen im Mittelpunkt des heutigen Ausbeutungsregimes. Ziel ist es auch, den Austausch zwischen Arbeits- und sozialen Kämpfen zu vertiefen, über bestehende Grenzen und Regionen hinweg“, wird die Ortswahl begründet Die  polnischen Kolleg_innen haben schon  in den letzten Monaten deutlich  gemacht haben, dass es ihnen um die Mobilisierung der Basis und nicht um einen Austausch unter Gewerkschaftsfunktionär_innen geht.  Auch die Solidarisierung mit den Amazon-Streiks in Deutschland ging von der Belegschaft aus.  Eine IP-Aktivistin erklärte  in einem Interview mit der jungen Welt, wie es zu der Aktion kam, als die Geschäftsleitung von Amazon von den Beschäftigten in Poznan angesichts des Streiks in Deutschland Mehrarbeit verlangt hätten:
„Wir sollten also Streikbrecherarbeit machen. Das machten wir den Kollegen auf Flugblättern deutlich. Wir waren auch mit Streik-T-Shirts im Betrieb und machten den Arbeitskampf in Deutschland zum Gesprächsthema. In dieser Situation ist ein sogenannter wilder Streik ausgebrochen – den haben nicht wir organisiert, was wir als Gewerkschaft auch gar nicht dürfen. Es war eine spontane Aktion aus Wut über die angeordneten Überstunden, während die deutschen Kollegen im Ausstand waren. Sie zeugte von der großen Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen bei Amazon in Polen. Und der Gedanke der Solidarität war ganz wichtig, denn als früher Überstunden angeordnet wurden, hat es keinen derartigen Protest gegeben“.
Die Pressesprecherin des Verdi-Bundesvorstandes Eva Völpel erklärte, dass  ihre Gewerkschaft bisher nicht mit der IP  sondern mit der sozialpartnerschaftlich ausgerichteten polnischen   Gewerkschaft Solidarnosc kooperierte. Die Kooperation mit der IP wurde bisher vor allem von der außerbetrieblichen Amazon-Solidarität vorangetrieben.
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Transnationale Streikkonferenz in Poznań

Unter dem Motto „Dem transnationalen Streik entgegen“ wird zu einer Konferenz aufgerufen, die vom2. Oktober bis 4. Oktober stattfindet. Vor allem prekär Beschäftigte und prekär Lebende sowie Aktivist_innen sind aufgerufen, ins polnische Poznań zu kommen, um gemeinsam über Perspektiven nachzudenken und Handlungsoptionen zu entwickeln. Angesichts der „neuen Realitäten in Europa“ müsse sich auch gegen die Austerität und ihre Auswüchse gerichtet werden, heißt es im Aufruf. Die Zusammenkunft will einen Prozess zur Bewältigung von Hierarchien unter, zwischen und innerhalb Europas     und eine Sortierung in Festangestellte, Zeitarbeiter_innen und Erwerbslose, Migrant_innen und Einheimische sowie zwischen formellem und informellem Sektor weiter anstoßen. Grundlegende Streitfragen stehen auf der Agenda für das Wochenende. So wird besprochen, weshalb  sich die transnationalen Fabrikations- und Versorgungsketten der Produktion verändert haben, wie Grenzen überwunden werden können oder warum traditionelle Formen der Arbeitskämpfe und Streiks überdacht werden sollten. Zugleich sind die  Rolle von Arbeitsmigrant_innen und Mobilität, die sozialen Bedingungen der Ausbeutung sowie neue Formen kollektiver, lokaler Organisierung Themen der geplanten Arbeitsgruppen.  Ziel der in englischer Sprache stattfindenen Konferenz ist es, Taktiken und Forderungen zu entwickeln, die sich als Werkzeuge für transnationale Organisierung und Kommunikation eignen.

ak 607 vom 18.8.2015

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Peter Nowak