Dass bereits gescheiterte Politiker überlegen, ob sie noch mal antreten und es dann doch nicht wagen, sagt viel über den Verfallszustand der SPD - Ein Kommentar
Nun hat sich auch noch der einmal recht bekannte ostdeutsche Theologe und Sozialdemokrat Wolfgang Thierse für Andrea Nahles ausgesprochen. Seit den für die SPD desaströsen Wahlergebnisse auf allen Ebenen streitet die Partei. Doch niemand weiß so recht worüber. Denn es hat sich bisher immer noch niemand gemeldet, der oder die …
Der Protest gegen die Preisverleihung an Amazon-Boss Bezos zeigt, wie außerbetriebliche Linke, Beschäftigte und Gewerkschaften zusammenarbeiten können
Es gab und gibt zahlreiche Demonstrationen, die am Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg beginnen. Doch der Demonstrationszug, der am Nachmittag des 24. April vom Oranienplatz zum Springerhochhaus zog, passte nicht in die übliche Protestroutine. Das lag nicht an der Teilnehmerzahl von knapp 400 Menschen, sondern an ihrer Zusammensetzung.
Außerparlamentarische Linke des Bündnisse Make Amazon Pay und Beschäftigte aus verschiedenen Amazon-Standorten in Deutschland und Polen hatten sich dort versammelt. Sie alle sind vor das Springerhaus gezogen, um gegen die Verleihung des Springer Awards an Amazon-Gründer Jeff Bezos zu protestieren.
Viele der Beschäftigten trugen Fahnen oder Westen, auf denen die Logos ihrer Gewerkschaften zu lesen waren. Viele der Kollegen aus den Amazon-Standorten Bad Hersfeld, Leipzig und anderen Orten sind in der Dienstleistungsgewerkschaft verdi organisiert. Die Kollegen vom polnischen Amazon-Standort Poznań sind Mitglieder der anarchosyndikalistische Basisgewerkschaft Workers Initiative (IP) die nicht zu den Bündnispartnern von verdi gehört.
Es war schon eine Premiere, dass die Kollegen der unterschiedlichen Gewerkschaften nicht nur gemeinsam demonstrierten, ein IP-Kollege hielt auch einen kurzen Redebeitrag auf der Bühne vor dem Springerhaus.
Die Rolle der außerbetrieblichen Amazon-Solidarität
Es ist ein Erfolg der außerbetrieblichen Amazon-Solidarität, dass der Kontakt zwischen der IP und den Beschäftigten in mehreren Amazon-Standorten in Deutschland zustande gekommen ist. In Leipzig unterstützen linke Gruppen bereits seit fünf Jahren die Beschäftigten des dortigen Amazon-Standortes bei ihrem Kampf um einen Tarifvertrag und bessere Arbeitsbedingungen. Auch das Leipziger Streiksolidaritätsbündnis ist Teil von Make Amazon Pay.
Es war vergangenes Jahr erstmals an die Öffentlichkeit getreten, um den Kampf der Amazon-Beschäftigten für einen Tarifvertrag zu unterstützen. Mit einer Aktionswoche rund um den „Black Friday« im November, der von Amazon als Schnäppchentag beworben wurde, blockierten einige Hundert Aktivisten eine Versandhalle im Westen Berlins.
Auch an verschiedenen Amazon-Standorten gab es Proteste. Damals war die Teilnahme von Amazon-Beschäftigten noch recht bescheiden. Das hatte sich am 24. April verändert. Das Bündnis Make Amazon Pay hatte bereits mit der Protestorganisation begonnen, als noch nicht klar war, wie sich Verdi und die Beschäftigten daran beteiligen werden.
Unterschiedliche Logiken von Verdi und außerparlamentarischen Linken
Die gemeinsame Aktion war ein großer Erfolg und ging natürlich nicht ohne Spannungen ab. Der Grund liegt in den unterschiedlichen politischen Logiken einer Großgewerkschaft wie Verdi und der außerbetrieblichen Linken. Das zeigte sich, nachdem erst kurzfristig bekannt geworden war, dass die Dienstleistungsgewerkschaft die frischgekürte SPD-Vorsitzende Nahles als Rednerin engagierte.
Die aber war kaum zu verstehen und musste nach 2 Minuten abtreten, weil ihr die Parole „Hartz IV – das wart ihr“ entgegenschlug. Natürlich waren die Verdi-Funktionäre davon nicht begeistert. Doch ein Großteil der Beschäftigten mochte nicht für Nahles Partei ergreifen. So hatte das Bündnis die Gratwanderung bestanden, sich nicht einfach der Verdi-Agenda unterzuordnen, die eine Rednerin aus dem Hut zauberte, von der klar war, dass sie für die außerparlamentarische Linke eine Provokation ist.
Der aber gelang es, den Protest gegen den Nahles-Auftritt so zu dosieren, dass dadurch keine Spaltung unter den Demo-Teilnehmern entstand. So ging die Rede des verdi-Vorsitzenden Bsirske ohne Zwischenrufe über die Bühne. Die Proteste machten damit auch gut deutlich, dass eine Kooperation zwischen so unterschiedlichen Gruppen möglich ist, wenn die Grenzen beider Seiten berücksichtigt werden.
Das ist ein Lernprozess für beide Seiten. So hatten sich noch vor einigen Jahren einige Aktivisten des Umganze-Bündnis, das die Berliner Proteste mit vorbereitet hatte, wohl nicht vorstellen können, eine Kooperation mit verdi einzugehen. Damals betonte man noch, dass man nur mit systemantagonistischen Gewerkschaften zusammenarbeite.
Da wäre die Auswahl in Deutschland eher klein. Für die Beschäftigten aus den unterschiedlichen Amazon-Standorten hat die Kooperation mit der außerbetrieblichen Linken den politischen Horizont erweitert. Sie haben dadurch nicht nur den Kontakt zu den polnischen Kollegen bekommen, sondern sich auch an politischen Aktivitäten der außerparlamentarischen Linken wie den Blockupy-Protesten als Amazon-Beschäftigte beteiligt.
Die Bundestagsabgeordnete der Linken, Sabine Leidig berichtete auf einem Vorbereitungstreffen, wie außerbetriebliche Linke und aktive Amazon-Beschäftige von der Kooperation profitieren.
Auf einem Treffen in Bad Hersfeld sei von den Kollegen ein Referat der technologiekritischen Gruppe Capulcu mit Aufmerksamkeit verfolgt und im Anschluss auch eifrig diskutiert werden. Ihnen war diese technologiekritische Sichtweise fremd, aber sie hatten daran großes Interesse, weil sie sich damit auch Methoden der Überwachung erklären können, die sie in ihren Arbeitsalltag erleben.
Peter Nowak
https://www.heise.de/tp/features/Widerstand-gegen-das-Modell-Amazon-4034955.html
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Nur Merkel-Gegner in der Union könnten Regierung mit der SPD noch sabotieren
362 Delegierte haben am Sonntagnachmittag beim SPD-Sonderparteitag in Bonn für die Aufnahme der Koalitionsgespräche mit der Union gestimmt. Das ist wahrlich kein überraschendes Ereignis. Bemerkenswert ist, dass immer noch 279 Delegierte mit Nein gestimmt haben. Insgesamt ist sich die SPD treu geblieben.
Seit über 100 Jahren drängt sie sich immer an die Regierung, obwohl niemand mehr die Illusion hat, dass sie damit an der Macht wäre. Heute reicht es der SPD schon, wenn sie ihre Posten behält und das Ende der Ära Merkel noch etwas herausschieben kann. Deshalb hat auch ein Großteil der liberalen Medien die Entscheidung auf dem SPD-Parteitag mit der Aura einer Schicksalswahl umgeben.
Seit Tagen wurde der Eindruck erweckt, als hinge das Schicksal der Republik daran, dass sich die Wahlverlierer Union und SPD gegenseitig stützen. Die grünennahe Taz hatte sogar den nun wahrlich nicht linken SPD-Landesverband NRW dafür kritisiert, dass der die auch wahrlich nicht radikale Forderung stellte, die sachgrundlose Job-Befristung zur Bedingung für eine Koalition der Union zu machen.
Das Ende der sachgrundlosen Befristungen könnte eine Brücke für zweifelnde Delegierte sein. Aber diese Brücke führt ins Nirwana. Denn wenn die SPD eine neue Bedingung stellt, wird das auch die Union tun. Die Koalitionsverhandlungen würden mit einer Hypothek starten.
Ulrich Schulte, Taz
Der Schulterschluss der grünennahen Zeitung verwundert nicht. Schließlich nehmen die Grünen der FDP noch immer übel, dass sie die gemeinsame Regierung verhindert haben. Seitdem machen sie der Union immer wieder Avancen.
Keine Mehrheit links von der Union
Das ganze Gerede von einer angeblichen Mehrheit links von der Union, das es bis zu den letzten Bundestagswahlen unter Einschluss der Grünen im Parlament gegeben habe, wird so einmal mehr als Schimäre entlarvt. Daher war es nur konsequent, dass selbst die Gegner des Bündnisses mit der Union davon nicht mehr reden wollten. Und hier wird auch ihr größtes innerparteiliches Manko deutlich: Sie haben kein alternatives Konzept.
Wenn Martin Schulz daran erinnerte, dass bei einer Neuwahl die SPD mit dem gleichen Programm antreten würde, auf das sie sich bei den Sondierungen mit der Union geeinigt hat, hat er Recht. Das Elend der Sozialdemokratie zeigt sich darin, dass diese Tatsache nicht zum Gegenstand der Kritik gemacht wird.
Nun soll niemand von der SPD irgendwelche revolutionären Anwandlungen erwarten, die sie nun seit über 100 Jahren scheut wie der Teufel das Weihwasser. In den nächsten Monaten jähren sich einige blutige Ereignisse zum 100ten Mal, als die SPD den republikfeindlichen Freikorps den Auftrag gab, revolutionäre Arbeiter und Räte niederschießen zu lassen.
Doch man könnte von der SPD erwarten, dass sie sozialdemokratische Politik macht wie der Vorsitzende der Labourparty in Großbritannien Jeremy Corbyn. Doch es waren nicht nur Sozialdemokraten vom rechten Seeheimer Kreis, die unter dem Slogan „Corbyn auf dem Parteitag – No Way“ gegen eine Rede des britischen Sozialdemokraten auf den SPD-Parteitag mobil machten, sondern Jusos.
Vordergründig ging es ihnen um in der Tat kritikwürde Positionen Corbyns zum Nahostkonflikt, die man als „regressiven Antizionismus“ bezeichnen kann. Doch den Laborvorsitzenden auf diese Position zu reduzieren und seine Initiativen gegen weitere wirtschaftsliberale Maßnahmen und gegen weitere Privatisierungen unerwähnt zu lassen, zeigt doch eher, dass den Nachwuchssozialdemokraten nicht an einem Linksruck in ihrer Partei gelegen ist.
Vor Jahrzehnten gebärdeten sich die Jusos noch als sozialistisch und schreckten die Mutterpartei mit Unterschriften unter verbalradikalen Aufrufen. Als dann die Schröders, Nahles und Scholz den Marsch durch die Parteiinstanzen starteten, waren solche Positionen schnell vergessen. Heute kürzen die jungen Sozialdemokraten diesen Prozess ab, in dem sie sich von Anfang realpolitisch geben und die deutsche Staatsraison zu jeder Tages- und Nachtzeit verteidigen können.
Das ist nicht verwunderlich, weil es heute kaum noch kritische Jugendliche gibt, die es gilt, mit radikalem Gestus an die SPD zu binden. Wer heute grundsätzliche Kritik an Staat, Nation und Kapitalismus übt, wird nicht auf die Idee kommen, mit der SPD oder ihrem Jugendverband anzubandeln.
Also gibt man sich von Anfang staats- und parteifromm wie der aktuelle Jusochef Kevin Kühnert, der seine Kampagne NoGroko nur zum Besten der Partei und ihrer Traditionen verstanden haben will. Schon der Name der Initiative ist falsch, weil gedankenlos das Gerede von der großen Koalition tradiert wird, während das Bündnis zwischen SPD und Union weniger Abgeordnete auf sich vereinen würde, als die als „kleine Koalition“ apostrophierte Kooperation zwischen SPD und FDP in den 1970er Jahren.
Über das aktuelle geistige und politische Klima auch im universitären Milieu geben sich unpolitisch gebende Zeitungen wie die UnAufgefordert bestens Aufschluss, die eine Kampagne gegen die letzten linken Asten begonnen haben, die nun von der AfD aufgegriffen wird. In einen solchen Klima kann sich nun wahrlich keine linke Alternative bilden und schon gar nicht in der SPD.
Gegen die SPD schießen und Merkel meinen
Da ist es nicht verwunderlich, dass die SPD für Koalitionsgespräche mit der Union ausgesprochen hat, sondern dass eine relevante Minderheit dagegen stimmte. Dabei hatten auch sogenannte linke Sozialdemokraten in den letzten Tagen noch im Namen der Basisdemokratie vehement für die Linie von Schulz ausgesprochen.
Wenn auf dem SPD-Parteitag das Aus für eine Kooperation mit der Union beschlossen würde, wäre das eine Entmündigung der Basis. Schließlich sollen nach den Koalitionsverhandlungen alle SPD-Mitglieder über das Ergebnis abstimmen.
Da werden wir von manchen Medien noch einmal vor eine vermeintliche Schicksalsentscheidung gestellt und wieder dürfte die zugunsten des Verbleibs der SPD in der Regierung ausgehen. Es sei denn, bei den Koalitionsverhandlungen brüskieren die Merkel-Gegner in der Union die SPD so, dass eine Stimmung entsteht, sich das nicht mehr gefallen zu lassen. Schließlich wäre ein Scheitern des erneuten Bündnisses eine Schwächung von Merkel. Es gibt in der CSU und in der CDU genügend Leute, die das wünschen. Sie müssen dann nur gegen die SPD schießen und Merkel meinen.
Doch auch hier dürfte die Parteiraison siegen und man ist bereit, Merkel noch einige Jahre zu dulden. Ob es in der SPD noch vernehmliche Forderungen nach Nachverhandlungen beim Schutz von Flüchtlingen oder bei sozialen Themen gibt, ist offen. Die veröffentliche Meinung von der grünennahen Taz bis zur konservativen Welt ist auf Seiten der Union, drängt zur Eile und lehnt weitere Forderungen der SPD daher ab.
Egal wie die SPD letztlich entscheidet, in der Partei dürfte die Personaldebatte weitergehen. Dass Martin Schulz Parteichef auf Abruf ist, wurde in den letzten Wochen immer deutlicher. Nun wird ihm angelastet, dass er nach der Bundestagswahl angeblich ohne Not eine Koalition mit der Union ausgeschlossen habe und dieses Bekenntnis noch einmal wiederholte, als die FDP ein Bündnis mit Union und Grünen platzen ließ.
Schon ist vergessen, dass Schulz für seine Erklärung in die Opposition zu gehen, weil seine Partei starke Verluste einstecken musste, an der SPD-Basis viel Zustimmung bekam und damals auch von vielen Medien gelobt wurde. Damals setzten viele auf eine Koalition ohne die SPD.
Als diese ohne die AfD nicht mehr möglich war, wuchs der Druck auf die SPD und sie entschied sich, an der Regierung zu bleiben. Dass nach dem SPD-Parteitag Andrea Nahles für ihr völlig inhaltsleeres Schreien gelobt wurde und schon als Nachfolger von Schulz gehandelt wird macht nur eins deutlich, besser wird es für die SPD nicht.
In der letzten Zeit wird von unterschiedlicher Seite behauptet, dass es bald zu einer Trennung kommt. Doch dann gäbe es nur zwei reformistische Varianten, die beide nicht ins Parlament kämen
„Zu den Genen unserer Partei gehört neben der Solidarität auch, dass wir uns an Arbeit und Leistung orientieren und nicht nur an staatlicher Umverteilung wie die Linkspartei.“ Diese Selbstbeschreibung der SPD ist treffend. Mindestens die letzten 100 Jahre stand die SPD im Zweifel bei den Leistungsträgern und Solidarität war etwas für Sonntagsreden. „Zwei unvereinbare Tendenzen in der Linkspartei?“ weiterlesen
Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem der Anspruch von EU-Bürgern auf Sozialleistungen stark beschränkt werden soll.
»Immer mehr EU-Ausländer klagen bei Kommunen Sozialhilfe ein«, titelte die Rheinische Post vorige Woche. Das konservative Blatt reihte sich damit in den Alarmismus ein, den zahlreiche Medien und Politiker von Union und SPD verbreiten. Sie echauffieren sich darüber, dass EU-Bürger, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben, zur Bestreitung ihrer Lebenshaltungskosten Sozialhilfe beantragen, ohne vorher schon in einem Lohnarbeitsverhältnis gestanden zu haben.
Den Anspruch auf Sozialleistungen hatte das Bundessozialgericht in Kassel Ende 2015 ausdrücklich bekräftigt. Das Gericht urteilte, dass EU-Ausländer nach einem halben Jahr in Deutschland zwingend Anspruch auf Sozialhilfe haben, weil sich dann ihr Aufenthalt verfestigt habe. Die Sicherung des Existenzminimums ist ein grundgesetzlich verbrieftes Recht. Mit diesem Urteil hätte die Debatte, ob EU-Bürger das Sozialrecht missbrauchen, wenn sie in Deutschland Sozialhilfe beantragen, eigentlich beendet sein müssen. Skandalisiert werden könnte stattdessen, dass die Sozialbehörden EU-Bürgern noch immer die Sozialhilfe verweigern und sie mit ihrem Anliegen auf den Rechtsweg verweisen, denn den juristischen Beistand müssen sich die Antragsteller erst einmal leisten können. Selbst wenn Betroffene nach einem entsprechenden Urteil das Geld, das ihnen zusteht, nachträglich ausgezahlt bekommen, müssen sie erst einmal ohne Geld leben. Sie verschulden sich und müssen auch die Kündigung ihrer Wohnung fürchten, wenn sie aufgrund der verweigerten Sozialhilfe in einen Mietrückstand geraten. Angesichts dieser Praxis bräuchte man ein Gesetz, das die zuständigen Behörden verpflichtet, die Sozialhilfeanträge sofort zu bewilligen und damit das Urteil des Bundessozialgerichts umzusetzen.
Tatsächlich hat Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) in der vergangenen Woche einen Gesetzentwurf in dieser Angelegenheit vorgelegt. Doch der beinhaltet eine Entrechtung der EU-Bürger, indem er das Urteil des Bundessozialgerichts negiert. Der Gesetzentwurf, der bereits die Zustimmung des Bundeskabinetts fand, sieht vor, dass EU-Bürger mindestens fünf Jahre in Deutschland leben müssen, bevor sie Sozialhilfe oder Leistungen nach SGB II beantragen dürfen. Als Begründung der geplanten gesetzlichen Neuregelung diente die bei Rechtspopulisten beliebte Floskel von der »Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme«, die unterbunden werden müsse.
Kritik an diesen Plänen der schwarz-roten Bundesregierung kam von Politikern der Oppositionsparteien und den Gewerkschaften. Annelie Buntenbach, Mitglied des Vorstands des DGB, sagte mit dem Verweis auf eine Studie der Gewerkschaft, dass die geplante Neuregelung sowohl gegen das Grundgesetz als auch gegen EU-Recht verstoße. »Sollte der Referentenentwurf so kommen, dürfte das letzte Wort in Karlsruhe gesprochen werden«, sagte Buntenbach dem Evangelischen Pressedienst.
So erfreulich es ist, dass sich der DGB-Vorstand klar gegen die weitere Entrechtung von EU-Bürgern ausspricht, so enttäuschend ist, dass auch hier lediglich auf den Rechtsweg verwiesen wird. Schließlich müssten die Gewerkschaften auch aus eigenem Interesse gegen die Pläne aus dem sozialdemokratisch geführten Arbeitsministerium opponieren. Mit der Verweigerung von staatlichen Leistungen in den ersten fünf Jahren würde eine weitere Reservearmee für den in Deutschland boomenden Niedriglohnsektor geschaffen.
Viele Menschen aus den süd- und osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten erhoffen sich in Deutschland ein besseres Leben. Die Wirtschaft ihrer Herkunftsländer wurde nicht zuletzt durch die von Deutschland forcierte Austeritätspolitik und die deutsche Exportorientierung geschwächt und niederkonkurriert. Angesichts ihrer prekären Situation werden diese EU-Bürger Deutschland nicht verlassen, wenn sie keine Sozialhilfe bekommen. Die Verweigerung von staatlichen Leistungen wird dazu führen, dass noch mehr Arbeitsmigranten in der Gastronomie, im Care-Sektor und andere Niedriglohnbereichen schuften. Denn dort verdienen sie oft immer noch mehr als in ihren Herkunftsländern.
Vor allem Arbeitsmigranten aus Südeuropa haben in den vergangenen Monaten damit begonnen, sich gegen die schlechten Arbeitsbedingungen in Deutschland zu wehren. Für Gruppen wie »Migrant Strikes« und »Oficina Precaria«, die in Berlin aktiv sind, geht es um den Kampf für soziale Rechte, unabhängig von der Aufenthaltsdauer. Dabei kooperieren sie mit Erwerbslosengruppen wie der Berliner Initiative »Basta«. Allerdings begreift nur eine Minderheit von Erwerbslosen die Entrechtung der Arbeitsmigranten auch als Angriff auf sich selbst. Stattdessen wird allzu oft in die Propaganda von der Einwanderung in die Sozialsysteme eingestimmt. Widerstandslos wird dabei hingenommen, dass das Bundesarbeitsministerium parallel zur Entrechtung von Arbeitsmigranten den Sanktionskatalog gegen Hartz-IV-Empfänger ausweitet (Jungle World 20/2016). Solange Erwerbslose im Chor mit Kommunalpolitikern darüber klagen, dass die klammen Kassen der Kommunen durch das Urteil des Bundessozialgerichts auch Sozialleistungen für EU-Bürger bereitstellen müssen, wird sich daran nichts ändern. Was dabei verdrängt wird, ist die Frage nach den Ursachen für die Finanznot der Kommunen. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang nicht nur die sogenannte Schuldenbremse, die von der Bundesregierung durchgesetzt wurde, sondern auch die Weigerung, wieder eine Vermögenssteuer einzuführen, wie es sie zu Zeiten der Kanzlerschaft von Helmut Kohl (CDU) noch gab. Im September protestierte das »Blockupy«-Bündnis mit einer Belagerung des Bundesarbeitsministeriums gegen die Vorenthaltung sozialer Rechte – unabhängig vom Pass der Betroffenen. Die Resonanz blieb gering.
Streit in der SPD über Erfolg oder Misserfolg ihres Renommierprojekts
Am letzten Freitag nahm der Mindestlohn beziehungsweise das, was nach den vielen von den Unternehmer- und Mittelstandverbänden durchgesetzten Ausnahmen von ihm übriggeblieben ist, im Bundesrat die letzte Hürde.
Nach dieser Regelung, genannt Tarifautonomiestärkungsgesetz [1], wird es ab 1. Januar 2015 einen Mindestlohn von 8,50 in der Stunde geben, soweit nicht Ausnahmen beschlossen wurden. Der Druck der Lobbyverbände hat bewirkt, dass bis Ende 2016 Ausnahmen etwa für Zeitungszusteller und Saisonarbeiter beschlossen wurden. Jugendliche unter 18 Jahren sind von der Regelung ganz ausgenommen. Langzeitarbeitslose, die eine Beschäftigung finden, haben erst nach sechs Monaten im neuen Job Anspruch auf den Mindestlohn.
Für die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles [2] bedeutet der Mindestlohn ein Stück mehr Gerechtigkeit in Wirtschaft und Gesellschaft. Doch ein solches Argument reicht der Sozialdemokratin nicht, sie vergisst nicht zu erwähnen, dass er auch Deutschland stärker mache. Damit steht Nahles in der Tradition jener Politiker und Gewerkschaftler, die jede noch so kleine Verbesserung für die Menschen nicht genau damit, sondern mit einer Stärkung Deutschlands rechtfertigen wollen.
Die verschwundene Obst-Metapher
Doch nicht alle in der SPD wollen in der nun getroffenen Mindestlohnregelung einen Erfolg sehen.
Die SPD-Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende des Forums Demokratischer Linker [3] in der SPD, Hilde Mattheis [4], schrieb in einer Pressemitteilung [5], dass die Ausnahmen vom Mindestlohn unsozial seien:
„Mit den immer weitergehenden Ausnahmen vom Mindestlohn wird dieses zentrale Projekt der SPD immer weiter zerlöchert. Wenn die Union in vielen Bereichen Vertragstreue fordert, darf sie die verhandelten Ergebnisse des Koalitionsvertrages nicht weiter aufweichen. Heraus kommt sonst ein Flickenteppich von Ausnahmen: Von Jugendlichen unter 18, über Praktikanten, Langzeitarbeitslose, SaisonarbeiterInnen, ErntehelferInnen bis zur Zeitungsbranche. Dadurch wird in einzelnen Bereichen des Arbeitsmarktes wieder dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet.“
Ursprünglich war in der Erklärung noch eine Obst-Metapher enthalten, die nach innerparteilicher Empörung gelöscht wurde. Mit der jetzt getroffenen Mindestlohn-Regelung habe die SPD „einen roten Apfel in die Hand bekommen und jetzt zeigt sich, dass er auf der einen Seite verfault ist“, hatte Mattheis geschrieben. Mehrere bekannte SPD-Linke traten daraufhin aus dem Forum Demokratischer Linker aus, darunter der bayerische Landesvorsitzende Florian Pronold, der Außenpolitiker Niels Annen, der frühere Jusovorsitzende Benjamin Mikfeld und die 2008 von der PDS zur SPD gewechselte Angela Marquardt.
Vor 15 Jahren stand Marquardt für den jungen Flügel der PDS. Doch das lag schon damals weniger an den Inhalten als an Marquardts Punkfriseur. Die von Marquardt damals geleitete AG Junge Genossen bei der PDS wurde spöttisch als AG Junge Karrieristen bezeichnet. Der Austritt aus der DL dürfte jetzt für alle Beteiligten ebenfalls karrierefördernd sein. Zudem hat er wieder einmal deutlich gemacht, wie sich die sogenannte SPD-Linke selbst diszipliniert, sogar in einer Großen Koalition, die sie angeblich nicht wollte.
Große Koalition alternativlos
Dieser Streit in der sowieso einflusslosen SPD-Linken macht einmal mehr deutlich, dass es bei allem Gerede über eine Koalition links von der CDU auch in der SPD dazu kaum Bereitschaft gibt. Das lässt sich an der Mindestlohndebatte gut verfolgen. Statt sich im Streit um eine mehr oder weniger missglückte Metapher zu zerlegen, hätte die SPD-Linke aus ihrer eigenen Logik herausarbeiten können, dass die jetzt beschlossene Regelung das Äußerste ist, was die Union zugesteht.
Wenn Menschen einen höheren Mindestlohn wollen, müsste sich die SPD daher andere Bündnisoptionen offen halten, wäre dann eine realpolitische Argumentation. Doch selbst ein großer Teil der SPD-Linken war dazu nicht bereit. Sie betonten den großen Erfolg des jetzt beschlossenen Mindestlohns und machen damit ihrem Wählerklientel deutlich, dass sie sich eine andere Regierungsoption als die jetzige Koalition kaum vorstellen können.
Zudem wird hier wieder einmal in aller Öffentlichkeit eine SPD vorgeführt, die nicht mehr will, als vom Kapital als Juniorpartner der Union gelobt zu werden. Der Mindestlohn ist in diesem Zusammenhang tatsächlich, wie Nahles schreibt, ein deutscher Standortfaktor, weil er auch eine Barriere gegenüber billigeren Unternehmen aus dem Ausland darstellt. Ob Menschen davon leben können, ist dabei zweitrangig.