So geht Europa

Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem der Anspruch von EU-Bürgern auf Sozialleistungen stark beschränkt werden soll.

»Immer mehr EU-Ausländer klagen bei Kommunen Sozialhilfe ein«, titelte die Rheinische Post vorige Woche. Das konservative Blatt reihte sich damit in den Alarmismus ein, den zahlreiche Medien und Politiker von Union und SPD verbreiten. Sie echauffieren sich darüber, dass EU-Bürger, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben, zur Bestreitung ihrer Lebenshaltungskosten Sozialhilfe beantragen, ohne vorher schon in einem Lohnarbeitsverhältnis gestanden zu haben.

Den Anspruch auf Sozialleistungen hatte das Bundessozialgericht in Kassel Ende 2015 ausdrücklich bekräftigt. Das Gericht urteilte, dass EU-Ausländer nach einem halben Jahr in Deutschland zwingend Anspruch auf Sozialhilfe haben, weil sich dann ihr Aufenthalt verfestigt habe. Die Sicherung des Existenzminimums ist ein grundgesetzlich verbrieftes Recht. Mit diesem Urteil hätte die Debatte, ob EU-Bürger das Sozialrecht missbrauchen, wenn sie in Deutschland Sozialhilfe beantragen, eigentlich beendet sein müssen. Skandalisiert werden könnte stattdessen, dass die Sozialbehörden EU-Bürgern noch immer die Sozialhilfe verweigern und sie mit ihrem Anliegen auf den Rechtsweg verweisen, denn den juristischen Beistand müssen sich die Antragsteller erst einmal leisten können. Selbst wenn Betroffene nach einem entsprechenden Urteil das Geld, das ihnen zusteht, nachträglich ausgezahlt bekommen, müssen sie erst einmal ohne Geld leben. Sie verschulden sich und müssen auch die Kündigung ihrer Wohnung fürchten, wenn sie aufgrund der verweigerten Sozialhilfe in einen Mietrückstand geraten. Angesichts dieser Praxis bräuchte man ein Gesetz, das die zuständigen Behörden verpflichtet, die Sozialhilfeanträge sofort zu bewilligen und damit das Urteil des Bundessozialgerichts umzusetzen.

Tatsächlich hat Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) in der vergangenen Woche einen Gesetzentwurf in dieser Angelegenheit vorgelegt. Doch der beinhaltet eine Entrechtung der EU-Bürger, indem er das Urteil des Bundessozialgerichts negiert. Der ­Gesetzentwurf, der bereits die Zustimmung des Bundeskabinetts fand, sieht vor, dass EU-Bürger mindestens fünf Jahre in Deutschland leben müssen, bevor sie Sozialhilfe oder Leistungen nach SGB II beantragen dürfen. Als Begründung der geplanten gesetzlichen Neuregelung diente die bei Rechtspopulisten beliebte Floskel von der »Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme«, die unterbunden werden müsse.

Kritik an diesen Plänen der schwarz-roten Bundesregierung kam von Politikern der Oppositionsparteien und den Gewerkschaften. Annelie Buntenbach, Mitglied des Vorstands des DGB, sagte mit dem Verweis auf eine Studie der Gewerkschaft, dass die geplante Neuregelung sowohl gegen das Grundgesetz als auch gegen EU-Recht verstoße. »Sollte der Referentenentwurf so kommen, dürfte das letzte Wort in Karlsruhe gesprochen werden«, sagte Buntenbach dem Evangelischen Pressedienst.

So erfreulich es ist, dass sich der DGB-Vorstand klar gegen die weitere Entrechtung von EU-Bürgern ausspricht, so enttäuschend ist, dass auch hier lediglich auf den Rechtsweg verwiesen wird. Schließlich müssten die Gewerkschaften auch aus eigenem ­Interesse gegen die Pläne aus dem sozialdemokratisch geführten Arbeits­ministerium opponieren. Mit der Verweigerung von staatlichen Leistungen in den ersten fünf Jahren würde eine weitere Reservearmee für den in Deutschland boomenden Niedriglohnsektor geschaffen.

Viele Menschen aus den süd- und osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten erhoffen sich in Deutschland ein besseres Leben. Die Wirtschaft ihrer Herkunftsländer wurde nicht zuletzt durch die von Deutschland forcierte Austeritätspolitik und die deutsche Export­orientierung geschwächt und niederkonkurriert. Angesichts ihrer prekären Situation werden diese EU-Bürger Deutschland nicht verlassen, wenn sie keine Sozialhilfe bekommen. Die Verweigerung von staatlichen Leistungen wird dazu führen, dass noch mehr Arbeitsmigranten in der Gastronomie, im Care-Sektor und andere Niedriglohnbereichen schuften. Denn dort verdienen sie oft immer noch mehr als in ihren Herkunftsländern.

Vor allem Arbeitsmigranten aus Südeuropa haben in den vergangenen Monaten damit begonnen, sich gegen die schlechten Arbeitsbedingungen in Deutschland zu wehren. Für Gruppen wie »Migrant Strikes« und »Oficina Precaria«, die in Berlin aktiv sind, geht es um den Kampf für soziale Rechte, unabhängig von der Aufenthaltsdauer. Dabei kooperieren sie mit Erwerbslosengruppen wie der Berliner Initiative »Basta«. Allerdings begreift nur eine Minderheit von Erwerbslosen die Entrechtung der Arbeitsmigranten auch als Angriff auf sich selbst. Stattdessen wird allzu oft in die Propaganda von der Einwanderung in die Sozialsysteme eingestimmt. Widerstandslos wird dabei hingenommen, dass das Bundesarbeitsministerium parallel zur Entrechtung von Arbeitsmigranten den Sank­tionskatalog gegen Hartz-IV-Empfänger ausweitet (Jungle World 20/2016). ­Solange Erwerbslose im Chor mit Kommunalpolitikern darüber klagen, dass die klammen Kassen der Kommunen durch das Urteil des Bundessozialgerichts auch Sozialleistungen für EU-Bürger bereitstellen müssen, wird sich daran nichts ändern. Was dabei verdrängt wird, ist die Frage nach den Ursachen für die Finanznot der Kommunen. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang nicht nur die sogenannte Schuldenbremse, die von der Bundes­regierung durchgesetzt wurde, sondern auch die Weigerung, wieder eine Vermögenssteuer einzuführen, wie es sie zu Zeiten der Kanzlerschaft von Helmut Kohl (CDU) noch gab. Im September protestierte das »Blockupy«-Bündnis mit einer Belagerung des Bundesarbeitsministeriums gegen die Vorenthaltung sozialer Rechte – unabhängig vom Pass der Betroffenen. Die Resonanz blieb gering.

http://jungle-world.com/artikel/2016/42/55011.html

Peter  Nowak

Die Lohnarbeit macht krank

Auch die die Unternehmen müssen sich fragen, warum sie angesichts der eigentlich erfreulichen Tatsache, dass der Gesellschaft die Lohnarbeit ausgeht, nicht eine Kampagne für radikale Arbeitszeitverkürzung machen

Stress auf der Arbeit bis Burnout, das Thema ist schon seit Jahren bekannt und wird eifrig diskutiert. Jetzt hat der Deutsche Gewerkschaftsbund die aktuellen Ergebnisse der Auswertung „Psychostress am Arbeitsplatz“ vorgestellt. Sie sind Teil des DGB-Index Gute Arbeit, mit dem seit 2007 die Qualität der Arbeitsbedingungen gemessen wird. Dort wird noch einmal bestätigt, dass die Arbeitsverhältnisse immer mehr Menschen krank machen.

Tatsächlich sind die Zahlen, die der DGB am Freitag in Berlin auf einer Pressekonferenz vorstellte, eindeutig. „Alle Untersuchungen belegen, dass die Zahl der psychischen Erkrankungen in den letzten zehn Jahren geradezu explodiert ist. Psychische Erkrankungen sind mit 40 Prozent inzwischen ein Hauptgrund für Erwerbsminderung – also für das krankheitsbedingte, frühzeitige Ausscheiden aus dem Erwerbsleben“, erklärt die stellvertretende DGB-Vorsitzende Annelie Buntenbach.

56 Prozent der knapp 5.000 bundesweit befragten abhängig Beschäftigten haben angegeben, sie seien starker oder sehr starker Arbeitshetze ausgesetzt. Dies sei im Vergleich zum Vorjahr ein Anstieg von vier Prozentpunkten. Gleichzeitig hätten 80 Prozent der Beschäftigten angegeben, dass sie seit Jahren „immer mehr in der gleichen Zeit leisten müssen“, untermauerte Buntenbach ihren Befund mit Zahlen.

„Sanierung der Mitarbeiter“

Man braucht nur einige der bekannten aktuellen Filme über die modernen Arbeitsverhältnisse ansehen, um zu wissen, dass man da nur krank werden kann. Dazu gehört der Film Die Ausbildung von Dirk Lütter über einen Jugendlichen im Callcenter und Work Hard Play Hard. Dort heißt es sehr prägnant: „In unserer modernen Arbeitswelt bedeutet die Sanierung eines Unternehmens, die Sanierung der Mitarbeiter.“ Wie diese Sanierung der Mitarbeiter aus Sicht des Managements bewerkstelligt wird, zeigt der Filmemacher Harun Farocki eindrucksvoll im Video Ein neues Produkt. In diesen Filmen wird deutlich, dass das kapitalistische Wirtschaften der Profitmaximierung dient und nicht den Bedürfnissen der Menschen.

Daher greift die Reaktion des DGB-Vorstands auf die Studie über die krankmachenden Arbeitsverhältnisse auch zu kurz, wenn genau letzteres eingefordert wird. So moniert Buntenbach mit Recht, dass es in den Betrieben kaum Präventionsmaßnahmen gegen die krankmachenden Arbeitsverhältnisse gibt und bezeichnete die Ergebnisse der Studie als „Alarmsignal der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“. Allerdings müssen sich auch die DGB-Gewerkschaften fragen, ob sie mit ihrer oft sozialfriedlichen Politik der Anpassung mit zu den Befunden beigetragen haben.

Schießlich haben die Unternehmer in der Regel wenig Interesse, Geld und Ressourcen für Präventionsmaßnahmen auszugeben, solange es genügend Arbeitskräfte gibt, welche die wegen Krankheit ausscheidenden Kräfte ersetzen können. Historisch sorgten immer zwei Faktoren für Verbesserung der Arbeitsverhältnisse. Der Mangel an Arbeitskräften und der Druck einer Selbstorganisation der Gewerkschaften und Lohnabhängigen, die sich für ihre Rechte organisieren.

Es gibt genügend Berichte von Arbeitskräften, die sich jahrelang für ihr Unternehmen krumm gelegt haben und alle Anforderungen und Verzichtsleistungen geschluckt haben, in der Hoffnung, bloß nicht arbeitslos zu werden. Sie berichteten oft über viele Krankheiten, die sie mit Medikamenten überdeckten, weil man sich auch Krankheitstage nicht leisten wollte. An irgendeinem Punkt war für diese Arbeitskräfte dann Schluss mit dem ewigen Verzichtüben. Sie organisierten sich für ihre Rechte und viele ihrer Leiden waren verschwunden. Es sind aber in den letzten Jahren in der Regel nicht die DGB-Gewerkschaften gewesen, die solche Selbstorganisationsprozesse gefördert und angestoßen haben. Die wenigen Ausnahmen bestätigen die Regel.

Warum nicht radikale Arbeitsverkürzung propagieren?

Zudem müssen sich die DGB-Gewerkschaften mehrheitlich fragen lassen, warum sie angesichts der Befunde nicht die Forderung nach einer radikalen Verkürzung der Lohnarbeit stärker propagieren. Das wäre nämlich eine vernünftige Forderung gegen die krankmachende Arbeitszeitverdichtung. Zudem wäre es beim gegenwärtigen Stand der Produktivkräfte eine vernünftige Forderung.

Es ist die Spezifik der kapitalistischen Verwertung, dass die eigentlich erfreuliche Entwicklung, dass der Gesellschaft die Lohnarbeit ausgeht, zu einem Fluch für die Beschäftigten wird und sie mit Stress und Burnout und immer längeren Arbeitszeiten konfrontiert werden. Hier könnte eine Bewegung, die sich auf der Höhe der Zeit mit dem Kapitalismus auseinandersetzt, ansetzen. Es war schließlich auch kein Zufall, dass sich Karl Marx im ersten Band des „Kapital“ intensiv mit dem damaligen Kampf um die Arbeitszeitverkürzung befasst hat.
Peter Nowak