Der Austritt einer Ko-Vorsitzenden verschärft die Krise der krisengeplagten Partei. Und die nächsten Niederlagen stehen bevor

Ist die Linkspartei noch zu retten?

Eigentlich ist klar, dass mindestens eine Art linkssozialdemokratische Formation und eine grünalternative Liste die Linkspartei beerben müssten. Für erstere Strömung steht Sören Pellman, für die andere Politikerinnen wie Sabine Leidig. Was eine solche Aufspaltung bisher verhindert, ist das Wissen, dass die Partei aktuell dann ihren Fraktionsstatus verlöre und es keine Garantie gibt, dass eine oder gar beide Formationen die Fünfprozenthürde überwinden könnten.

Die Inflation steigt auf Werte, die einem, hätte man sie vor wenigen Monaten prognostiziert, Vorwürfe der Panikmache oder gar Fakenews eingebracht hätten. Engpässe bei bestimmten Waren lassen auch in einem der Kernländer des Globalen Nordens erahnen, dass die Zeiten vorbei sein könnten, zu denen fast alle Waren immer verfügbar sind, wenn man nur das nötige Geld hat. Dazu kommt ein interimperialistischer Krieg mit dem Schlachtfeld Ukraine, bei dem sich manche Grünen-Politiker, die sich noch vor drei Jahrzehnten die Nato auflösen wollten, als besondere Scharfmacher erweisen. Es müssten also gute Zeiten sein für eine Partei, die sich programmatisch als kapitalismuskritisch versteht und den Kampf gegen jeden Militarismus betont. Doch gerade bei der Linkspartei scheint es um ihre Existenz zu gehen. Die Serie ihrer Niederlagen …

„Ist die Linkspartei noch zu retten?“ weiterlesen
Demonstrationen gegen Waffenlieferungen auf dem antimilitaristischen Aktionstag in Kassel

»Bei jeder Schweinerei ist Rheinmetall dabei«

Daniel Seiffert, Sprecher des antimilitaristischen Bündnisses »Rheinmetall entwaffnen«, das bundesweit zum Aktionstag mobilisiert hat, betonte: »Heute haben wir in Kassel ein starkes Zeichen gegen Krieg und Militarisierung gesetzt. Wir machen auf die zerstörerischen Folgen von deutschen Rüstungsexporten aufmerksam.

»Jemen, Rojava, Türkei – bei jeder Schweinerei ist Rheinmetall dabei«, skandierten etwa 400 Demonstranten am späten Freitagnachmittag in Kassel. Für viele war es der Abschluss eines antimilitaristischen Aktionstags, der bereits am frühen Morgen mit Blockaden der Rüstungsschmieden Rheinmetall und Kraus-Maffei Wegmann (KMW) begonnen hat. Es gab im Laufe des Tages mehrere …..

„»Bei jeder Schweinerei ist Rheinmetall dabei«“ weiterlesen

Im Bündnis gegen Bezos

Gewerkschaft und Bewegung gegen Amazon und Springer

Am 24. April gaben einige hundert Amazon-Beschäftige aus Polen und Deutschland ihrem Boss Jeff Bezos vor dem Springerhochhaus in Berlin ein klares Feedback. Während ihm dort der Springer Award für „besonderes innovatives Unternehmertum“ verliehen wurde, protestierten sie gegen Lohndumping, permanente Überwachung am Arbeitsplatz und Steuerflucht. Unübersehbar waren bei den Protesten die Transparente des Bündnisses Make Amazon Pay (MAP). Dort haben sich außerparlamentarische Linke zusammengeschlossen, die den Kampf der Amazon-Beschäftigten unterstützen. Erstmals an die Öffentlichkeit trat es Ende November 2017 mit einer Aktionswoche rund um den »Black Friday«, der auch von Amazon als Schnäppchentag beworben wird. Bei der Aktion blieben die AktivistInnen allerdings größtenteils unter sich. Dass nun Amazon-Beschäftigte und das MAP-Bündnis gemeinsam vor dem Springerhaus protestierten, setzte einen Lernprozess auf beiden Seiten voraus. Denn in der Regel bleiben die DGB-Gewerkschaften als diejenigen, die am besten in der Lage sind, Beschäftigte zu mobilisieren, auf Distanz zu UnterstützerInnen aus der außerparlamentarischen Linken, die wiederum ebenfalls großen Wert auf Abstand vor allem zu den Spitzen der Gewerkschaften legt, denen sie vorwirft, die Beschäftigten in den Staat zu integrieren. Dass nun auf der Kundgebung am 24. April der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske das breite Bündnis der Amazon-Solidarität würdigte und dafür auch von AktivistInnen aus dem MAP-Spektrum Applaus bekam, ist daher durchaus bemerkenswert.
Diese Kooperation war nur möglich, weil es bereits seit fünf Jahren eine Amazon-Solidarität linker Gruppen gibt. Vor allem an den Standorten Leipzig und Bad Hersfeld entstanden enge Beziehungen zwischen einigen Beschäftigten, die sich im Arbeitskampf engagieren, und ihren außerbetrieblichen UnterstützerInnen. Ihnen ist es auch gelungen, politische Akzente zu setzen. So hatte auf einem Treffen der Amazon-Beschäftigten in Bad Hersfeld im April 2018 auch ein Vertreter der Gruppe capulcu gesprochen, die das System Amazon mit einem technik- und herrschaftskritischen Ansatz unter die Lupe nimmt. Hinterher haben einige der Beschäftigten erklärt, dass ihnen der Vortrag gezeigt hat, mit welchem Unternehmen sie es zu tun haben. Zudem haben die außerbetrieblichen UnterstützerInnen bereits vor drei Jahren Kontakte zu den Amazon-Beschäftigten in Poznań geknüpft. Mittlerweile ist die deutsch-polnische Kooperation selbstverständlich. Die polnischen KollegInnen sind in der anarchosyndikalistischen Basisgewerkschaft Workers Initiative (IP) organisiert, die nicht zu den Kooperationspartnern von ver.di gehört. Am 24. April war die IP-Delegation aus Poznan mit ihrem Gewerkschaftssymbol, der Schwarzen Katze, nicht nur auf der kurzen Demonstration unübersehbar vertreten. Ein IP-Kollege hielt auch einen Redebeitrag auf der Kundgebung. Als der ver.di-Koordinator ihn nach wenigen Sätzen abmoderieren wollte, sorgte das kurzzeitig für Unmut.
Noch lauter wurde es im Block der linken UnterstützerInnen, als die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles eine Grußadresse verlesen wollte. Der ver.di-Vorstand hatte sie ohne Wissen der Bündnispartner auf die Redeliste gesetzt, nachdem der ursprünglich als Redner vorgesehene Günther Wallraff abgesagt hatte. Doch auch ein Großteil der Amazon-Beschäftigten wollte die SPD-Politikerin nicht verteidigen.

Hinter dieser Auseinandersetzung steht ein unterschiedliches Verständnis von Gewerkschaft. Für ver.di ging es bei den Protesten gegen die Verleihung des Springer-Awards an Bezos vor allem um die mediale Aufmerksamkeit. Da passt eine kurze Ansprache von Nahles natürlich ins Konzept. Für die polnischen IP-GewerkschafterInnen ging es hingegen um einen Akt der Selbstermächtigung, wenn sie in Berlin vor dem Springer-Hochhaus ihren Protest artikulieren. Sie wollen sich nicht vertreten lassen und haben deshalb keine bezahlten FunktionärInnen. Dieses Verständnis von Gewerkschaft teilt auch das MAP-Bündnis. Auf einem Auswertungstreffen unter Beteiligung von MAP, ver.di, UnterstützerInnen der IP und der LINKEN-Bundestagsabgeordneten Sabine Leidig wurde von allen Seiten betont, dass auch künftig eine solche Kooperation möglich und erwünscht ist. Das ist erfreulich, weil gegen einen global aufgestellten Konzern wie Amazon eine transnationale Solidarität die beste Antwort ist. In den letzten Monaten gab es Arbeitskämpfe in Amazon-Werken in Deutschland, Frankreich, Polen, Italien, Frankreich und Spanien.

aus: express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit,
Ausgabe: Heft 5/2018

http://www.labournet.de/express/

Peter Nowak

Widerstand gegen das Modell Amazon

Der Protest gegen die Preisverleihung an Amazon-Boss Bezos zeigt, wie außerbetriebliche Linke, Beschäftigte und Gewerkschaften zusammenarbeiten können

Es gab und gibt zahlreiche Demonstrationen, die am Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg beginnen. Doch der Demonstrationszug, der am Nachmittag des 24. April vom Oranienplatz zum Springerhochhaus zog, passte nicht in die übliche Protestroutine. Das lag nicht an der Teilnehmerzahl von knapp 400 Menschen, sondern an ihrer Zusammensetzung.

Außerparlamentarische Linke des Bündnisse Make Amazon Pay und Beschäftigte aus verschiedenen Amazon-Standorten in Deutschland und Polen hatten sich dort versammelt. Sie alle sind vor das Springerhaus gezogen, um gegen die Verleihung des Springer Awards an Amazon-Gründer Jeff Bezos zu protestieren.

Viele der Beschäftigten trugen Fahnen oder Westen, auf denen die Logos ihrer Gewerkschaften zu lesen waren. Viele der Kollegen aus den Amazon-Standorten Bad Hersfeld, Leipzig und anderen Orten sind in der Dienstleistungsgewerkschaft verdi organisiert. Die Kollegen vom polnischen Amazon-Standort Poznań sind Mitglieder der anarchosyndikalistische Basisgewerkschaft Workers Initiative (IP) die nicht zu den Bündnispartnern von verdi gehört.

Es war schon eine Premiere, dass die Kollegen der unterschiedlichen Gewerkschaften nicht nur gemeinsam demonstrierten, ein IP-Kollege hielt auch einen kurzen Redebeitrag auf der Bühne vor dem Springerhaus.

Die Rolle der außerbetrieblichen Amazon-Solidarität

Es ist ein Erfolg der außerbetrieblichen Amazon-Solidarität, dass der Kontakt zwischen der IP und den Beschäftigten in mehreren Amazon-Standorten in Deutschland zustande gekommen ist. In Leipzig unterstützen linke Gruppen bereits seit fünf Jahren die Beschäftigten des dortigen Amazon-Standortes bei ihrem Kampf um einen Tarifvertrag und bessere Arbeitsbedingungen. Auch das Leipziger Streiksolidaritätsbündnis ist Teil von Make Amazon Pay.

Es war vergangenes Jahr erstmals an die Öffentlichkeit getreten, um den Kampf der Amazon-Beschäftigten für einen Tarifvertrag zu unterstützen. Mit einer Aktionswoche rund um den „Black Friday« im November, der von Amazon als Schnäppchentag beworben wurde, blockierten einige Hundert Aktivisten eine Versandhalle im Westen Berlins.

Auch an verschiedenen Amazon-Standorten gab es Proteste. Damals war die Teilnahme von Amazon-Beschäftigten noch recht bescheiden. Das hatte sich am 24. April verändert. Das Bündnis Make Amazon Pay hatte bereits mit der Protestorganisation begonnen, als noch nicht klar war, wie sich Verdi und die Beschäftigten daran beteiligen werden.

Unterschiedliche Logiken von Verdi und außerparlamentarischen Linken

Die gemeinsame Aktion war ein großer Erfolg und ging natürlich nicht ohne Spannungen ab. Der Grund liegt in den unterschiedlichen politischen Logiken einer Großgewerkschaft wie Verdi und der außerbetrieblichen Linken. Das zeigte sich, nachdem erst kurzfristig bekannt geworden war, dass die Dienstleistungsgewerkschaft die frischgekürte SPD-Vorsitzende Nahles als Rednerin engagierte.

Die aber war kaum zu verstehen und musste nach 2 Minuten abtreten, weil ihr die Parole „Hartz IV – das wart ihr“ entgegenschlug. Natürlich waren die Verdi-Funktionäre davon nicht begeistert. Doch ein Großteil der Beschäftigten mochte nicht für Nahles Partei ergreifen. So hatte das Bündnis die Gratwanderung bestanden, sich nicht einfach der Verdi-Agenda unterzuordnen, die eine Rednerin aus dem Hut zauberte, von der klar war, dass sie für die außerparlamentarische Linke eine Provokation ist.

Der aber gelang es, den Protest gegen den Nahles-Auftritt so zu dosieren, dass dadurch keine Spaltung unter den Demo-Teilnehmern entstand. So ging die Rede des verdi-Vorsitzenden Bsirske ohne Zwischenrufe über die Bühne. Die Proteste machten damit auch gut deutlich, dass eine Kooperation zwischen so unterschiedlichen Gruppen möglich ist, wenn die Grenzen beider Seiten berücksichtigt werden.

Das ist ein Lernprozess für beide Seiten. So hatten sich noch vor einigen Jahren einige Aktivisten des Umganze-Bündnis, das die Berliner Proteste mit vorbereitet hatte, wohl nicht vorstellen können, eine Kooperation mit verdi einzugehen. Damals betonte man noch, dass man nur mit systemantagonistischen Gewerkschaften zusammenarbeite.

Da wäre die Auswahl in Deutschland eher klein. Für die Beschäftigten aus den unterschiedlichen Amazon-Standorten hat die Kooperation mit der außerbetrieblichen Linken den politischen Horizont erweitert. Sie haben dadurch nicht nur den Kontakt zu den polnischen Kollegen bekommen, sondern sich auch an politischen Aktivitäten der außerparlamentarischen Linken wie den Blockupy-Protesten als Amazon-Beschäftigte beteiligt.

Die Bundestagsabgeordnete der Linken, Sabine Leidig berichtete auf einem Vorbereitungstreffen, wie außerbetriebliche Linke und aktive Amazon-Beschäftige von der Kooperation profitieren.

Auf einem Treffen in Bad Hersfeld sei von den Kollegen ein Referat der technologiekritischen Gruppe Capulcu mit Aufmerksamkeit verfolgt und im Anschluss auch eifrig diskutiert werden. Ihnen war diese technologiekritische Sichtweise fremd, aber sie hatten daran großes Interesse, weil sie sich damit auch Methoden der Überwachung erklären können, die sie in ihren Arbeitsalltag erleben.

Peter Nowak

https://www.heise.de/tp/features/Widerstand-gegen-das-Modell-Amazon-4034955.html
URL dieses Artikels:
http://www.heise.de/-4034955

Links in diesem Artikel:
[1] https://makeamazonpay.org
[2] https://makeamazonpay.org/2018/04/25/4-pm-make-amazon-pay-aktionstag-zieht-hunderte-menschen-in-die-innenstadt/
[3] https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/axel-springer-awards-jeff-bezos-55502888.bild.html
[4] https://www.heise.de/newsticker/meldung/Amazon-Gruender-Jeff-Bezos-Raumfahrt-Visionen-und-Proteste-der-Gewekschaft-4032787.html
[5] https://www.amazon-verdi.de/5177
[6] http://www.rozbrat.org/our-activity/159-workers-initiative
[7] http://streiksoli.blogsport.de/
[8] https://www.heise.de/tp/features/Make-Amazon-Pay-oder-den-Schnaeppchentag-zum-Zahltag-machen-3894364.html?seite=all
[9] https://umsganze.org/
[10] http://www.sabine-leidig.de/index.php/7-beitrag/aktuelle-erklaerungen/82-amazon-ist-uberall-leiharbeit-dumpingloehne-und-prekaere-jobs-was-tun
[11] https://capulcu.blackblogs.org/

Nulltarif ist keine Utopie

In Tübingen hat eine außerparlamentarische Initiative schon vor einem Jahrzehnt ein konkretes Konzept zum gebührenfreien Nahverkehr ausgearbeitet. Und in Gießen nutzen VorreiterInnen den Nulltarif bereits, bevor er eingeführt wurde.

War es ein erstgemeinter Vorschlag oder nur ein Bluff? Mitte Februar 2018 schlug die Bundesregierung in einem Schreiben an die EU-Kommission vor, in Essen, Bonn, Herrenberg, Reutlingen und Mannheim exemplarisch einen Nahverkehr zum Nulltarif einzuführen. Mit dem Schreiben, das von den geschäftsführend amtierenden Bundesministern für Umwelt (SPD), Verkehr und Finanzen (beide Union) unterzeichnet wurde, sollte die EU-Kommission davon überzeugt werden, dass die Bundesregierung nun ernsthaft die EU-Richtlinien für die Luftreinhaltung umsetzen will. Schließlich hatte die EU-Kommission nach jahrelanger Überschreitung der Grenzwerte mit einer Klage gedroht, die für die Regierung teuer werden könnte (Kontext berichtete).

Der für die NutzerInnen unentgeltliche Nahverkehr in den fünf Städten gehörte zu den Maßnahmen, mit denen die Bundesregierung die schädlichen Abgase minimieren könnte. Doch nicht nur Siegfried Gack und Michael Hahn haben Zweifel, ob die Vorschläge ernst gemeint waren. Die beiden Tübinger sind in der außerparlamentarischen linken Initiative ZAK³ (gegen Kapitalismus, Krieg und Kohlendioxid) aktiv. Die lancierte bereits 2008 in der Universitätsstadt eine lokale Kampagne für einen Nulltarif im Straßenverkehr. „Entstanden ist der Kampf für einen kostenfreien öffentlichen Nahverkehr aus unserer Beschäftigung mit zwei zunächst unterschiedlichen Themen: der Einführung einer sozialen Infrastruktur und dem Klimawandel“, skizziert der Tübinger Aktivist Michael Hahn die Vorgeschichte.

Damals haben außerparlamentarische Initiativen intensiv über Möglichkeiten diskutiert, ökologische und soziale Fragen zusammenzubringen. Gack, Hahn und ihre MitstreiterInnen präsentierten dazu schon vor zehn Jahren einen konkreten Vorschlag. „TüBus umsonst – Nulltarif im öffentlichen Straßenverkehr“ lautete das Motto der Kampagne, an der umwelt- und verkehrspolitische Gruppen, soziale Initiativen, linke Gruppen und Einzelpersonen in Tübingen beteiligt waren. „Ein Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr hätte einen überdurchschnittlichen Nutzen für Arme, für Familien mit Kindern, für Geflüchtete. So könnten wir zeigen, dass Klimaschutz eben nicht Verzicht bedeuten muss“, betont Gack.

Gemeinderatsgrüne schonen Landesgrüne
Dass nun zehn Jahre nach Beginn ihrer Kampagne die Bundesregierung den Nulltarif im Öffentlichen Nahverkehr ebenfalls als sinnvolle Maßnahme bezeichnet, ist für die Tübinger AktivistInnen eine Bestätigung. Doch auch auf regionaler Ebene konnten sie einen ersten Erfolg feiern. Seit Februar 2018 informiert ein kleiner Aufkleber am Kassenautomaten: „Samstags kostenlos busfahren im Stadtgebiet Tübingen“. Doch nicht der Druck der EU-Kommission, sondern hausgemachte Gründe sorgten dafür. Ein zentrales Parkhaus in der Altstadt muss saniert werden, insgesamt soll die Maßnahme etwa ein Jahr dauern. Der an Samstagen kostenlose Bus soll das kompensieren, dafür hat der Tübinger Gemeinderat 200 000 Euro eingeplant.

Seit das Busfahren an einen Tag für NutzerInnen gratis ist, ist nach Angaben der Regionalpresse die Zahl der NutzerInnen nur leicht gestiegen. Die Mehrheit der Fahrgäste kann von der neuen Regelung nicht profitieren. Viele SchülerInnen, Studierende und SeniorInnen sind bereits im Besitz von Monats- oder Jahreskarten. Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) wirbt nach dem Brief der Bundesregierung an die EU-Kommission dafür, Tübingen ebenfalls in den Kreis der Modellstädte aufzunehmen, in denen der Nulltarif im Straßenverkehr getestet werden soll. „Wir sind bundesweit die einzige Stadt, die ein fertiges, vom Gemeinderat intensiv diskutiertes Konzept zum kostenlosen Nahverkehr vorliegen hat“, stellt Palmer die besondere Potenzial von Tübingen heraus. Dass diese gute Vorbereitung eine Folge der jahrelangen Basisarbeit von AktivistInnen wie Gack und Hahn ist, lässt er unerwähnt.

Überholtes Konzept: Fahrscheine kaufen
Vergangenes Jahr, betonen die AktivistInnen, sei man schon mal weiter gewesen. Ende April hatte Palmer die Ergebnisse einer Diskussion zwischen Stadtverwaltung und einer Arbeitsgruppe der Stadtwerke Tübingen vorgestellt. Die Einführung eines gebührenfreien Öffentlichen Nahverkehrs würde ca. 14,5 Millionen Euro pro Jahr kosten. Die Verwaltung ging bei ihren Planungen davon aus, dass die Nachfrage im Öffentlichen Nahverkehr etwa um ein Drittel steigen würde, wenn die Tickets ganz wegfallen. Um diese Zunahme bewältigen zu können, müssten nach den vorläufigen Schätzungen der Verwaltung 14 neue Busse im Stadtgebiet eingesetzt werden. Das von der Verwaltung favorisierte Nulltarifs-Modell würde für jedeN TübingerIn eine monatliche Umlage von 13,50 Euro bedeuten.

Doch dazu wäre eine Gesetzesänderung auf Landesebene nötig. Dort regieren die Grünen mit der CDU, die bisher nicht als Anhänger des Nulltarifs aufgefallen ist, auch wenn jetzt die Namen von zwei CDU-Ministern unter den Brief mit den Vorschlägen an die EU-Kommission stehen. Zu einer Diskussion im Stuttgarter Landtag über die Tübinger Vorschläge ist es gar nicht gekommen. „Die Grünen im Tübinger Gemeinderat haben Rücksicht auf die Landesregierung genommen, die in dieser Legislaturperiode kein Gesetz erlassen will, das den Nulltarif ermöglicht“, kritisieren die Tübinger AktivistInnen. Sie fordern weiterhin, einen kostenfreien TüBus rund um die Uhr als Modellprojekt bei der Landesregierung zu beantragen und danach durch eine BürgerInnenbefragung entscheiden zu lassen.

Günstiger als Autoverkehr
Durch das Schreiben der Bundesregierung an die EU-Kommission mit dem Nulltarifvorschlag, der vielleicht gar nicht ernst gemeint war, spüren nicht nur die TübingerInnen Rückenwind. „In den letzten Wochen gab es einen ungeheuren Aufbruch. In vielen Städten bilden sich Initiativen, die sich für den Nulltarif einsetzen“, sagt Karin Masche. Die Mitarbeiterin der linken Bundestagsabgeordneten Sabine Leidig war an der Erstellung eines Newsletters für Nulltarif-AktivistInnen beteiligt. In fünf Jahren soll es bundesweit einen kostenlosen und ticketfreien Öffentlichen Nahverkehr geben, lautet das ehrgeizige Ziel.
Argumente dafür liefert eine kürzlich von VerkehrswissenschaftlerInnen der Universität Kassel erstellten Studie. Die kommt zu dem Schluss, dass der Autoverkehr die Kommunen dreimal so teuer kommt wie Bus und Bahn. Bei ihren Berechnungen haben die WissenschaftlerInnen auch die Umweltschäden, die Investitionen in die Infrastruktur wie Straßen, Schienen, Ampeln und die Folgekosten von Unfällen in ihre Berechnungen einbezogen. Diese Studie wird sicher auch bei dem am 2. Juni 2018 in Kassel geplanten bundesweiten Ratschlag eine Rolle spielen, auf dem sich die unterschiedlichen Null-Tarif-Initiativen koordinieren wollen.

Aus Baden-Württemberg werden neben den TübingerInnen auch Mitglieder der Initiative „Freifahren Stuttgart“ kommen. Sie hat sich erst kürzlich gegründet und ist noch im Aufbau. Anregungen kann sie sich dabei von den AktivistInnen aus Gießen holen. Die haben kürzlich in der gesamten Stadt Flugblätter mit der Schlagzeile verteilt „Gießen testet den Nulltarif – machen Sie mit“ verteilt. Auch nachdem die Stadtverwaltung bekannt gab, dass es sich um Fake-Flugblätter handele, hatten die MacherInnen die Sympathien auf ihrer Seite.

Zumal die GießenerInnen nicht warten, bis der Nulltarif offiziell eingeführt wird. Einige AktivistInnen tragen Schilder oder Buttons, auf denen sie bekannt geben, ohne Ticket zu fahren. In der Vergangenheit mussten mehrere Verfahren wegen Erschleichung von Leistungen eingestellt werden („Der Begriff des Erschleichens setzt gewisse Heimlichkeit voraus“, BayObLG; „Der objektive Tatbestand der Leistungserschleichung ist nämlich nicht schon dann erfüllt, wenn der Angeklagte das Verkehrsmittel unberechtigt nutzte. Er muss darüber hinaus für einen objektiven Beobachter den Anschein ordnungsgemäßer Erfüllung der Geschäftsbedingungen erregt haben“, OLG Frankfurt). Jörg Bergstedt von der Projektwerkstatt Saasen bei Gießen entwickelt ein optimistisches Szenario in Sachen Nulltarif: „Wenn der Druck da ist und das Thema im Gespräch bleibt, steigen auch die Nichtregierungsorganisationen ein und am Ende macht auch die Politik mit.“

aus Kontext-Wochenzeitung: Ausgabe 363
https://www.kontextwochenzeitung.de/gesellschaft/363/nulltarif-ist-keine-utopie-4970.html#tx-tc-ct-19479

Peter Nowak