Ganz am Rand

Den Namen »Schicksalsgemeinschaft der Vergessenen« wollte sich 1946 eine Gruppe von Verfolgten des Naziregimes in Berlin geben. Ihnen ­wurde von den Alliierten die Zulassung als Verein verweigert. Es handelte sich um Menschen, die als asozial und arbeitsscheu stigmatisiert worden waren. Darunter konnten alle Menschen fallen, die sich nicht den Normen anpassten, die der NS-Staat und die deutsche Volksgemeinschaft gesetzt hatten. Obwohl sie zeitweilig die größte Gruppe der KZ-Häftlinge stellten, wurden sie in der BRD und der DDR weiterhin stigmatisiert und verfolgt. Erst in den vergangenen Jahren erforschen Initiativen das Schicksal dieser Menschen und fordern ein würdiges Gedenken. Der 2007 gegründete »AK Marginalisierte gestern und heute« spielt dabei eine wichtige Rolle. Seine Mitbegründerin Anne Allex hat nun einen Sammelband heraus­gegeben, der einen Überblick über die Initiativen gibt, die sich für die Anerkennung der beschwiegenen NS-Opfer einsetzen. Die Bemühungen um einen Gedenkort in der Nähe des ehemaligen Berliner Arbeitshauses Rummelsburg werden ebenso dargestellt wie die Uckermark-Initiative, die durchsetzen konnte, dass die Inhaftierung von Mädchen und jungen Frauen in KZ nicht mehr mit dem Täterbegriff Jugendschutzlager belegt wird. Der Uckermark-Initiative gelang auch eine Kooperation mit der Lagergemeinschaft Ravensbrück, die die Interessen der politischen Gefangenen vertritt, die sich oft von den als asozial stigmatisierten Häftlingen distanzierten. Das Buch ­besticht durch eine Mischung aus Berichten von geschichtspolitischen Initiativen und wissenschaftlichen Texten über die Verfolgung sogenannter Asozialer. Hervorzuheben sind die Interviews mit den letzten Überlebenden und ihren Angehörigen. Sie wurden nicht vergessen, sondern zum Schweigen gebracht, wie Allex schreibt.

Anne Allex (Hg.): Sozialrassistische Verfolgung im deutschen Faschismus. AG Spak Buch, Berlin 2017, 434 Seiten, 28 Euro

https://jungle.world/artikel/2017/31/vermittelbare-aktionsformen

Peter Nowak

Klassenkampfkino – nicht von gestern

Finanzierung des Cinéma Klassenkampf nur bis Jahresende gesichert

Der Name der neuen Filmreihe im Berliner Kino Moviemento ist Programm: »Cinéma Klassenkampf«
widmet sich aktuellen Arbeitskämpfen in Berlin. Bei der Auftaktveranstaltung Anfang März stand die Aus- beutung an der Technischen Universität im Fokus. Demnächst werden im Rahmen von Cinéma Klassen- kampf Film- und Diskussionsveranstaltungen zu Organisierungsansätzen im Niedriglohnsektor Gastronomie und bei den Kurierdiensten folgen. Auch ein Rückblick auf die Bewegung »Nuit Debout«, die 2016 von Frankreich ausgehend für Aufsehen sorgte, ist in Vorbereitung. Der für manche etwas altmodisch klingende Titel wurde bewusst gewählt: »Wir hätten die Reihe auch augenzwinkernd ›Them Or Us‹ nennen können. Doch es ist an der Zeit, den Mut aufzubringen und umkämpfte Begriffe wieder zu verwenden, damit die Kids auch mal was anderes hören als den antikommunistischen Main- stream«, so Bärbel Schönafinger vom Kollektiv labournet.tv. Es sammelt seit 2011 Filme aus der Arbeiterbewegung und stellt sie auf seiner Seite kostenlos und mit Untertiteln zur Verfügung (http://de.labournet.tv/). Häufig drehen die Aktivisten gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen eigene Videos. Sie werden bei Veranstaltungen von »Cinema Klassenkampf« gezeigt. Im Anschluss kommen die an den Kämpfen Beteiligten zu Wort. Schönafinger wünscht sich, dass die Filmreihe Zuschauende ermutigt, sich an ihren Arbeitsplätzen nicht alles gefallen zu lassen. Sie spricht auch über die Perspektive ihres Projekts. »Mit der Veranstaltungsreihe hoffen wir, neue Fördermitglieder für labournet.tv zu gewinnen, da dessen Finanzierung nur noch bis zum Jahresende gesichert ist.«

aus: SPRACHROHR mitgliederzeitung des fachbereiches Medien, 27. jahrgang nr. 2, Kunst und Industrie berlin-brandenburg Juni 2017

https://medien-kunst-industrie-bb.verdi.de/service/sprachrohr
Peter Nowak

Ein linkes »Sicherheitsrisiko« auf der Konzertbühne

Sicherheitsbehörden behindern Auftritte der türkischen Band Grup Yorum in Deutschland

»Neben regelmäßigen Konzerten haben Mitglieder von Grup Yorum sich immer wieder auch an Massenaktionen, Demonstrationen, Streiks, Fabrik- und Universitätsbesetzungen in der Türkei beteiligt und wurden wiederholt festgenommen und zu Haftstrafen verurteilt.« So steht es in einer Vorbemerkung zur Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der innenpolitischen Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag Ulla Jelpke. Sie wollte wissen, warum die Auftritte der Band auch in Deutschland massiv behindert werden. Aus der Antwort der Bundesregierung geht hervor, dass die Band weiter auch in Deutschland mit Verfolgung rechnen muss, weil sie als Sicherheitsrisiko angesehn wird. So dient die Tatsache, dass sich Bandmitglieder seit vielen Jahren an Protesten in der Türkei beteiligen, nicht als Ausweis demokratischer Gesinnung gegen ein autoritäres System, sondern als Grund für ihre Verfolgung.

In der Erklärung wird auf ein Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart aus dem Jahr 2015 verwiesen, das von engen Verbindungen zwischen Musikern von Grup Yorum und der in Deutschland und der Türkei verbotenen marxistischen DHKP-C ausgeht. Diese Einschätzung hat es ermöglicht, türkische Linke, die sich in Deutschland an der Organisierung von Konzerten beteiligen, der Unterstützung einer terroristischen Organisierung anzuklagen und zu Haftstrafen zu verurteilen. Akribisch werden Textstellen aus dem großen Repertoire politischer Lieder analysiert, um die behauptete Nähe zur verbotenen linken Gruppe zu belegen. 

Dass die CDs der Band in der Türkei frei verkäuflich sind und ihre Konzerte ein Treffpunkt für die gesamte Linke des Landes sind, wird in der Antwort auf die Kleine Anfrage als Beleg für die erfolgreichen »propagandistischen Maßnahmen der DHKP-C« bewertet. Über die belegten Inhaftierungen und Folterungen von Grup-Yorum-Mitgliedern liegen der Bundesregierung hingegen keine Informationen vor. Auf die Frage, ob deutsche und türkische Behörden Informationen über die Band ausgetauscht hatten, bestätigt sie »anlassbezogene bilaterale Gespräche«.

Grup-Yorum-Konzerte gegen Rassismus und Neofaschismus sind ein solcher Anlass. So wurde ein Rundschreiben des Bundesinnenministeriums bestätigt, wonach Auftritte der Band verhindert werden sollen. Am 17. Juni konnte Grup Yorum in Fulda nur unter der Auflage auftreten, dass weder Eintritt verlangt wird noch CDs oder T-Shirts der Band verkauft werden. Das Fuldaer Ordnungsamt lobte den störungsfreien Auftritt. Dennoch ermittelt die Justiz wegen Liedtexten und des Zeigens von verbotenen Organisationssymbolen. Beim Thüringer Rechtsrockkonzert am vorletzten Wochenende indes wurde den Organisatoren gerichtlich ausdrücklich erlaubt, Eintritt zu verlangen. »Offenbar wird hier mit zweierlei Maß gegenüber Neonazis und Linken gemessen«, kritisiert Ulla Jelpke.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1058447.ein-linkes-sicherheitsrisiko-auf-der-konzertbuehne.html 
Peter Nowak

Zu unkritisch bei der Willkommenskultur

Die Medien waren in der Berichterstattung über die Flüchtlingskrise mehr politischer Akteur als neutraler Beobachter. Das ist das Fazit einer von dem Medienwissenschaftler Michael Haller erarbeiteten Studie der Otto-Brenner Stiftung (OBS). Doch sie blendet die rechte Mobilisierung gegenüber Geflüchteten aus, über die auch Journalist_innen berichteten#

Das Cover der Studie zeigt ein Bild, das uns vor zwei Jahren sehr vertraut war. Eine Rundfunkjournalistin spricht in ihr Mikrophon während rund um sie Geflüchtete vor einer verschlossenen Grenze stehen. Die Bild-Schlagzeile: „Wie schaffen wir das bloß, Frau Merkel?“ wurde einmontiert. Die Studie untersucht ca. 30000 Medienberichte aus dem Jahr 2015. Einbezogen sind die Printmedien FAZ, SZ, Welt und Bild, zahlreiche Regional- und Lokalzeitungen sowie die Onlinemedien focus.de, tagesschau.de und Spiegel Online. „Wurde in den analysierten Medien neutral über die Ereignisse berichtet? Trug die mediale Berichterstattung zu einer gesamtgesellschaftlichen Erörterung über die Willkommenskultur bei? Wer kam in den Medienberichten zu Wort? Das sind einige der zentralen Fragen der Studie. Es habe keine neutrale Berichterstattung gegeben. Vielmehr hätten die Medien gemeinsam mit Wirtschaft und Politik eine Stimmung erzeugt, die vorgab, die Geflüchteten wären in Deutschland willkommen. Zu Wort gekommen seien überwiegend Politiker_innen und Vertreter_innen der Wirtschaft, aber nicht die Bürger_innen mit ihren Sorgen.

Genauer untersucht wird die im Herbst 2015 vielzitierte „Willkommenskultur“ und ihr Bedeutungswandel thematisiert. War mit dem Begriff zunächst ein zivilisatorischer Umgang mit Fremden verbunden, wurde er bald zu einem Branding für ein aufgeklärtes Deutschland, das sich als weltoffen, liberal und tolerant gibt. In der Studie wird von einem „positiv aufgeladenen Schlagwort“ gesprochen. Dabei sei in der Berichterstattung oft ausgeblendet worden, dass der Anteil von rassistischem Gedankengut weiterhin hoch ist. Wenn dann auch konservative Politiker_innen das Schlagwort von der Willkommenskultur benutzten und gleichzeitig die Flüchtlingsgesetze verschärften, werde deutlich, wie berechtigt die kritischen Einwände gegen die inflationäre Verwendung des Begriffs seien. Es wird aufgezeigt, wie schnell ein solcher Begriff in den Medien Kritik und Ambivalenzen ausblende.

Doch die Schlussfolgerungen der Studie verdienen durchaus eine kritische Betrachtung: So wird behauptet, dass die Medien den Zielen der Berliner Regierungsparteien und der Industrie- und Arbeitgeberverbänden nach hochqualifizierten Zuwanderern mit ihrer Berichterstattung Rechnung getragen hätten. Der Zusammenhang zwischen dem Mangel an Facharbeiter_innen in Deutschland und dem Agieren der Medien in der Flüchtlingskrise wird aber in der Studie nicht belegt. Auch die Behauptung, dass es in den Medien über einen längeren Zeitraum eine Schweigespirale über Probleme mit der Zuwanderung gegeben habe, wird nicht untermauert. Der Vorwurf mag für eine kurze Phase im Herbst 2015 seine Berechtigung gehabt haben. Was aber in der Studie völlig ausgeblendet wird, ist die bereits 2015 einsetzende rechte Kampagne gegen Geflüchtete sowie gegen Politiker_innen und Medien, die nicht für sofortige Grenzschließungen eintraten. Dass sich viel Journalist_innen gegen diese rechte Stimmungsmache, von der sie selber – als Lügner bezeichnet – betroffen waren, in ihren Beiträgen positionierten und damit Haltung bewahrten, wird in der Studie leider nicht thematisiert und sogar angegriffen.

Nur die Hälfte der Medienlandschaft abgebildet

Cornelia Haß, Bundesgeschäftsführerin der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) in ver.di, äußerte sich kritisch zu den Ergebnissen. Weil die Studie nur die Hälfte der Medienlandschaft abbilde und die öffentlich-rechtliche wie private Rundfunklandschaft außer Acht lasse, sei sie nicht repräsentativ. „Für die doch sehr zugespitzten Ergebnisse hat man einen kleinen Ausschnitt untersucht“, sagte Haß dem Evangelischen Pressedienst (epd) am Freitag. Als problematisch erachtet Haß zudem, dass ausschließlich die nachrichtlich aufbereiteten Berichte Eingang gefunden hätten in die Untersuchung: „Kommentare und Leitartikel gehören aber zur Berichterstattung und zur Charakterisierung der Medien dazu.“

aus:

Menschen Machen Medien 21.Juli 20017

Zu unkritisch bei der Willkommenskultur

Peter Nowak

weiterer Artikel zur Studie auf Telepolis:

https://peter-nowak-journalist.de/2017/07/22/zu-unkritisch-gegenuber-der-willkommenskultur/

Zu unkritisch gegenüber der Willkommenskultur?

Und zu viel Einfühlung in die Wutbürger bei den Medienkritikern. Anmerkungen zur Studie „Flüchtlingskrise in den Medien

Das Problem der im Auftrag der Otto-Brenner-Stiftung[1] erarbeitete Studie Die Flüchtlingskrise in den Medien[2] von Michael Haller[3] ist nicht ihre Kritik an der Kampagne zur Willkommenskultur (siehe Medienarbeit zur „Flüchtlingskrise“: Überhebliche Pädagogik prägt Information[4]), sondern ihr Verständnis für die deutschen Wutbürger.

Das Cover zeigt ein Bild, das uns vor 2 Jahren sehr vertraut war. Eine Rundfunkjournalistin spricht in ihr Mikrophon, während rund um sie Geflüchtete vor einer verschlossenen Grenze stehen. Die Bild-Zeitungs-Schlagzeile „Wie schaffen wir das bloß, Frau Merkel“ wurde einmontiert. Die Studie untersucht ca. 30.000 Medienberichte aus dem Jahr. Einbezogen sind die Printmedien FAZ, SZ, Welt und BILD sowie zahlreiche Regional- und Lokalzeitungen und die Online-Auftritte focus.de, tagesschau und Spiegel Online.

„Wurde in den analysierten Medien neutral über die Ereignisse berichtet? Trug die mediale Berichterstattung zu einer gesamtgesellschaftlichen Erörterung über die Willkommenskultur bei? Wer kam in den Medienberichten zu Wort?“ – Das sind einige der zentralen Fragen der Studie.

„Positiv aufgeladenes Schlagwort“

Genauer in den Blick wird die im Herbst 2015 vielzitierte „Willkommenskultur“ genommen und ihr Bedeutungswandel thematisiert. War mit dem Begriff zunächst ein zivilisatorischer Umgang mit Fremden verbunden, wurde er bald zu einem Branding für ein aufgeklärtes Deutschland, das sich als weltoffen, liberal und tolerant gibt. In der Studie wird von einem „positiv aufgeladenen Schlagwort“ gesprochen.

Dabei sei in der Berichterstattung oft ausgeblendet worden, dass der Anteil von rassistischem Gedankengut weiterhin hoch ist, wie es Studien über „die enthemmte Mitte“[5] zeigen. Wenn dann auch konservative Politiker das Schlagwort von der Willkommenskultur benutzten und gleichzeitig die Flüchtlingsgesetze verschärften, wird deutlich, wie berechtigt die kritischen Einwände an der inflationären Verwendung des Begriff ist.

Es werden damit nicht die vielen Menschen angegriffen, die sich tatsächlich für die Geflüchteten einsetzen. Es wird aber aufgezeigt, wie schnell ein solcher Begriff in den Medien zu einer Marke für ein vorgeblich liberales, weltoffenes Deutschland wird, während gerade die Reste des Flüchtlingsrechts massiv eingeschränkt werden.

Doch kritisch hinterfragt werden sollte das arg ökonomistische Fazit der Studie, wenn es dort (auf Seite 79) heißt:

Die Berliner Regierungsparteien machten sich die Begehren der Industrie- und Arbeitgeberverbände zu eigen und suchten nach Wegen, wie Deutschland für hochqualifizierte Zuwanderer attraktiver gemacht werden kann.
Studie „Die Flüchtlingskrise in den Medien“

Nun ist es sicher nicht von der Hand zu weisen, dass in Deutschland Teile der Politik und vor allem der Wirtschaft vor allem deshalb flüchtlingsfreundlicher als Teile der Bevölkerung auftreten, weil es diesen Mangel an Facharbeitern in bestimmten Bereichen gibt. Es gibt von anti-rassistischer Seite schon lange eine Kritik daran, wenn betont wird, wie gut doch die Migration der deutschen Wirtschaft tut. Von „Nützlichkeitsrassismus“ ist da auch die Rede.

Doch in der Studie wird die Autonomie der Migration negiert. Es waren die vielen Migranten, die sich auf dem Weg nach Europa nicht haben aufhalten lassen, die im Herbst 2015 die Akteure waren und nicht die deutschen Wirtschaftsverbände. Im Herbst 2015 hätte nur noch die Alternative angestanden, die Grenze zu Deutschland notfalls mit der Schusswaffe zu verteidigen oder eine begrenzte Öffnung durchzusetzen. Wer hier nur die ökonomischen Interessen betrachtet, verkürzt die Geschichte und negiert den Widerstand der Migranten.


Die Mär von der Schweigespirale

Wenn Haller dann von einer Schweigespirale in den Medien über Probleme mit der Zuwanderung redet, sollte auch dieser nicht belegte Befund kritisch hinterfragt werden. Er mag für eine kurze Phase im Herbst 2015 für manche liberale Medien noch Berechtigung haben. Doch schon bald waren die Medien voll von den angeblichen oder tatsächlichen Problemen der Migration.

Mittlerweile ist Skepsis gegenüber der Migration auch in der Politik der politische Normalzustand. Gleich zwei Bücher von Politikern der SPD und der Grünen stellen aktuell tatsächliche oder vermeintliche Probleme der Migration in den Mittelpunkt. Der langjährige Münchner Oberbürgermeister Christian Ude[6] hat das Buch Die Alternative oder Macht endlich Politik[7] verfasst und der grüne Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer[8] testet mit seinem Buch mit dem programmatischen Titel „Wir können nicht allen helfen“, die „Grenzen von Integration und Belastbarkeit“ aus.

Beide Bücher sind in konservativen Medien mit Vorschusslorbeeren bedacht worden, weil sie sich in unterschiedlichem Maße für eine restriktivere Flüchtlingspolitik aussprechen. Die Studie von Haller passt genau in dieses Schema.


Viel Verständnis für die Wutbürger

Was in der Studie ausgeblendet wird, ist die bereits im 2015 einsetzende rechte Kampagne gegen Geflüchtete sowie gegen Politiker, die nicht für sofortige Grenzschließungen eintraten. Von Anfang an standen auch Journalisten, die sich für zivilisatorische Standards aussprachen, im Visier dieser Rechten. Das zeigt nicht nur die Parole von der „Lügenpresse“.

Oft wurden Medienvertreter, die nicht die Parolen der Wutbürger vertraten, direkt angegriffen. Dass sich viele Journalisten gegen diese rechte Stimmungsmache positionierten und damit Haltung bewahrten, wird in der Studie leider nicht thematisiert und sogar angegriffen. Das liegt schon am merkwürdigen Begriff der Neutralität, die in der Studie zu einer der Leitfragen erhoben wurde.

Was bedeutet Neutralität, wenn Journalisten darüber berichten sollen, wie in Tröglitz Wutbürger gemeinsam mit bekannten Kadern der rechten Szene die Unterbringung von Migranten verhindern wollen, die so viel Druck ausüben, dass schließlich der ehrenamtliche Bürgermeister des Ortes zurücktrat, weil er massiv bedroht wurde[9]?

Heißt Neutralität im Halleschen Sinne dann, den Rechten genau so viel Platz für ihre Weltsicht einzuräumen wie den Gegnern? Und was heißt Neutralität, wenn Journalisten berichten, wie das EU-Abschottungssystem dafür sorgt, dass Migranten für ihren Transit auf gefährliche Boote angewiesen sind und dabei häufig ertrinken? Gehört es da nicht zu den aufklärerischen Funktionen von Medienvertretern, genau diese Zusammenhänge darzustellen?

Dabei könnte der Teil der Studie, der das Schlagwort von der Willkommenskultur deskonstruiert, eine gute Unterstützung sein. Denn diese EU-Abschottungspolitik funktioniert umso besser, je mehr die Kampagne zur Willkommenskultur verbreitet wird. Das sind zwei Seiten der gleichen Medaille.

So hätte Hallers Studie eine wichtige Rolle im aufklärerischen Sinne sein können, wenn sie der medialen Kampagne zur Willkommenskultur die Realität der Migranten und ihrer Unterstützer gegenüber gestellt hätte, die in der Regel, was in der Studie am Rande erwähnt wird, selten zur Wort kommen.

Doch die Studie geht einen anderen Weg und zeigt viel Verständnis für die Wutbürger und ihre politischen Stichwortgeber. Dass beispielsweise die eindeutig rassistischen Wutbürger von Tröglitz nicht genügend zu Wort kommen, wird als „tendenziöse Berichterstattung“ moniert. Schon im letzten Jahr hatte Haller in einem Interview[10] über die Aufgaben von Medienvertreter in der Flüchtlingskrise mit dem NDR gesagt:

Die sollten sich auf das journalistische Handwerk besinnen und ihren kritischen Verstand einschalten. Also nicht gleich tolle Geschichten erzählen, nicht gleich mit einer steilen These losziehen, nicht nachäffen und Vorurteile bedienen. Sondern Informationen prüfen und auswerten. Sachverstand nutzbar machen. Naheliegende Fragen stellen. Hartnäckig bleiben, also die Fragen immer wieder stellen, bis sie von den Entscheidern hinreichend beantwortet sind. Und bei der Bewertung der Vorgänge keinen Schaum vor dem Mund haben, sondern Augenmaß nehmen. Und nicht zuletzt: Die Sorgen auch der Spießbürger ernst und sich selbst weniger wichtig nehmen.
Michael Haller

Neben dem Pegida-Versteher[11] Werner Patzelt[12] reiht sich jetzt auch Haller in die Phalanx derer ein, die sich wissenschaftlich in die Wutbürger einfühlen wollen.

https://www.heise.de/tp/features/Zu-unkritisch-gegenueber-der-Willkommenskultur-3780710.html

Peter Nowak
URL dieses Artikels:
http://www.heise.de/-3780710

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.otto-brenner-stiftung.de
[2] https://www.otto-brenner-stiftung.de/fileadmin/user_data/stiftung/Aktuelles/AH93/AH_93_Haller_Web.pdf
[3] http://www.journalismusforschung.de/prof-dr-michael-haller
[4] https://www.heise.de/tp/features/Medienarbeit-zur-Fluechtlingskrise-Ueberhebliche-Paedagogik-praegt-Information-3780338.html
[5] https://www.boell.de/sites/default/files/buch_mitte_studie_uni_leipzig_2016.pdf
[6] https://www.randomhouse.de/Autor/Christian-Ude/p404147.rhd
[7] https://www.randomhouse.de/Paperback/Die-Alternative-oder:-Macht-endlich-Politik/Christian-Ude/Knaus/e521296.rhd
[8] http://www.tuebingen.de/palmer
[9] http://www.taz.de/!5280395/
[10] http://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/zapp/Studie-ueber-Willkommenskultur-in-den-Medien,haller112.html
[11] https://www.heise.de/tp/news/Ist-Patzelt-Pegida-Erklaerer-oder-versteher-2542334.html
[12] http://wjpatzelt.de/

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Interview mit Sputnik News

Der freie Journalist Peter Nowak stimmt Haller zu, dass viele Probleme hinter den Hymnen auf die „Willkommenskultur“ verschwunden sind.

„Die Kritik an der Metapher der deutschen „Willkommenskultur“ würde ich teilen. Im Herbst 2015 wurde von der TAZ, der FAZ und anderen Medien dieser Begriff, der moralisch aufgeladen war, verstärkt benutzt. Viele Probleme, die es gab, wurden einfach weggewischt. Es wurde so getan, als sei Deutschland ein einiges Volk von Leuten, die Migranten willkommen heißen. Die Fakten, die auch von Umfragen bestätigt worden sind, dass es in Deutschland einen signifikant hohen Prozentsatz von Leuten mit fremdenfeindlicher Einstellung gab und gibt, wurden ausgeblendet. Es geht hier wohlgemerkt um die Mitte der Gesellschaft und nicht um den rechten Rand. Wer dagegen argumentierte oder andere Aspekte einbrachte, galt als Spielverderber.“

Richtiger Ansatz, falsche Schlüsse

Auch damit, dass zumindest im Zeitraum August, September, Anfang Oktober 2015 fast nur Politiker in den Medien zu Wort kamen, die die „Willkommenskultur“ hochhielten, habe Haller Recht. Jedoch hätte Nowak sich, anders als Haller, nicht mehr Stimmen der sogenannten „Wutbürger“ gewünscht, sondern solche von betroffenen Migrantinnen und Migranten.

ZDF-Mikro auf dem Tisch im Studio des zweitgrößten deutschen TV-Senders (Archivbild)
© AP PHOTO/ JENS MEYER
„Trau keinem von der Presse“ – Russlands Bild in deutschen „Leitmedien“ im Gespräch
„Haller hat damit Recht, dass viele Akteure nicht zu Wort kamen, aber man muss jetzt nicht, wie in der Studie, in erster Linie die Kommunen oder die rechten Wutbürger nehmen. Wer auch nicht zu Wort kam, waren die Migranten selbst. Und wenn, dann kamen sie zu Wort als dankbare Leute, die Hilfe bekommen haben, teilweise standen auch ihre schlimmen Erlebnisse im Vordergrund. Aber ihre Bedürfnisse und ihre Kritik – wenn sie wochenlang in Heimen leben oder stunden- und tagelang für Asylanträge anstehen mussten – wurden oft ausgeblendet. Es wurde als Meckerei oder Undankbarkeit gesehen.“
In der Studie sei viel zu kleinteilig auf Einzelfälle wie den kleinen sächsischen Ort Tröglitz eingegangen, wo „besorgte Bürger“ gegen die Unterbringung von Flüchtlingen mobil gemacht hatten – später habe sich rausgestellt, dass dahinter organisierte rechte Strukturen gestanden hätten.

„Sie haben dann auch Migranten in Bussen angegriffen, die Bilder gingen um die Welt. Örtliche Politiker sind mit Morddrohungen unter Druck gesetzt worden, der ehrenamtliche Bürgermeister ist zurückgetreten. Die Studie kritisiert, dass der Bürgermeister und die Leute, die ihn verteidigt haben, zu stark zu Wort gekommen sind und nicht die besorgten Bürger. Ich fände es fatal, wenn die Rechten zu Wort gekommen wären. Es war aber Pressearbeit im aufklärerischen Sinne, dass eben gezeigt wurde, wer eigentlich hinter diesen besorgten Bürgern steht. Dass das in der Studie aber nicht gewürdigt und von einer Kampagne gegen die Bürger gesprochen wurde, widerspricht dem Anspruch von Haller, dass Medienvertreter aufklären statt alles nachplappern sollen.“

Auch von einer „Schweigespirale“, die systematisch Probleme von Migration unten halten sollte, könne nicht die Rede sein, so Nowak.

„Sinnvoll wäre es gewesen, über diese Betroffenheitssache, die in der Kampagne der Willkommenskultur mit drinsteckte, zu den Fluchtursachen überzugehen“, schlussfolgert der freie Journalist. „Da war aber nicht die Neutralität das Problem, sondern die medialen Möglichkeiten, finanzieller wie organisatorischer Art, um solche Projekte überhaupt zu bewerkstelligen. Es gibt ein Paar gute Beispiele, wo Journalisten mit Förderung von Stiftungen nach Afrika fahren, in die Länder, wo die Migranten herkommen und dort mit Angehörigen von Menschen reden, die ums Leben gekommen sind. Das wäre so eine Forderung an die Medien, diese Zusammenhänge deutlich zu machen.“


https://de.sputniknews.com/politik/20170728316794331-fake-news-in-rechtsextremismus-studie/

Protestiert laut!

Ina Wudtkes Ausstellung »Agitpoetry« holt die Arbeiterkultur ins Heute

»Bürger dieser Stadt gegen das große Geld, habt ihr die Idee, so ändert die Welt.« Diesen kämpferischen Text sprechen zwei Frauen in einem kurzen Video. In einem weiteren Video mit dem Titel »Zwangsräumung verhindern« sind folgende Zeilen zu hören: »Protestiert laut! Zwangsräumungen passieren in aller Stille. Solidarität, damit alle eine Wohnung haben.« Das dritte Video beschäftigt sich mit dem im Bau befindlichen Berliner Schloss und seiner Vorgeschichte. »Wir rissen ab den Palast der Republik und bauten

Die drei Kurzfilme mit ihren klaren politischen Botschaften sind Teil der Ausstellung »Agitpoetry«, die derzeit bei freiem Eintritt täglich von 14 bis 19 Uhr im Kunsthaus KuLe zu sehen ist. Dort zeigt Ina Wudtke Videos, Bilder und Installationen mit gesellschaftspolitischem Anspruch. Ihr Vorbild sind die Arbeiterkünstler in der Weimarer Republik, mit denen sich Wudtke in den letzten Jahren beschäftigt hat. Dabei interessiert sie eine Frage, die schon die Arbeiterkünstler vor mehr als 80 Jahren umtrieb: »Wie kann die Kunst in das gesellschaftliche Geschehen eingreifen und sich auf die Seite der Einkommensschwachen stellen?«

Besonders intensiv beschäftigt hat sich Wudtke mit der Brecht-Mitarbeiterin Margarete Steffin. Die Kommunistin starb jung an Tuberkulose und ist heute weitgehend vergessen. In der Ausstellung widmet Wudtke ihr eine Segel-Installation, auf der das »Lied vom Schiffsjungen« auf Hunger und Ausbeutung hinweist.

Im hinteren Raum der Galerie wird in einem dreiminütigen Video eine Agitprop-Aktion der Emdener Kommunisten aus dem Jahre 1930 gezeigt. Am Beginn einer NSDAP-Veranstaltung in einem Emdener Hotel inszenierten die Kommunisten auf der Bühne des Versammlungssaals eine Performance, in der gezeigt wird, wie ein SA-Mann einen Arbeiter ermordet und der Pfarrer den Segen dazu spendet. Es kam zu einer Saalschlacht mit den Nazianhängern. Später wurden mehrere Emdener Kommunisten wegen der Aktion zu Haftstrafen verurteilt.

Wudtke hat die weitgehend vergessene Aktion mit ihrer Installation bekannt gemacht. Sie hat Kontakt mit dem Enkel des Emdener KPD-Vorsitzenden Gustav Wendt aufgenommen, der wegen der Kunstaktion zu einer mehrmonatigen Haftstrafe verurteilt worden war. Dabei ist ihr auch wichtig, einen anderen Blick auf die Geschichte der Kunst zu werfen: »Das Bild, das in unserer zeitgenössischen Kultur von der Weimarer Republik bevorzugt konstruiert wird, ist ein liberales Bild, das die individuelle Freiheit in der Lebensgestaltung betont. Das kollektive Gesicht der revolutionären, kämpfenden Arbeiter wird meist ausgeblendet«, erklärt Wudtke dem »nd«.

Wudtke konfrontiert die über 80 Jahre alte Arbeiterkultur mit der Gegenwart, und es zeigt sich, dass sie auch heute noch ihre Wirkung entfaltet.

»Agitpoetry«, bis zum 29. Juli im Kunsthaus KuLe, Augustr. 10, Mitte.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1058211.protestiert-laut.html

Peter Nowak

Filmtipp: Türkei – ein Jahr nach dem Putsch

Am 11. Juli widmet sich ein Arte-Themenabend mit drei Filmen den Konsequenzen des Putschversuchs in der Türkei vor einem Jahr und der nachfolgenden Repressalien des Erdogan-Regimes für Zigtausende Intellektuelle, darunter auch viele Journalistinnen und Journalisten. Eröffnet wird die Reihe mit einem Film, an dem auch Can Dündar, Ex-Chefredakteur der linksliberalen Zeitung Cumhuriyet, beteiligt war.

Er wurde zum Symbol für den Kampf um Pressefreiheit und Demokratie in der Türkei, der Journalist Can Dündar. Jetzt hat er gemeinsam mit der deutschen Autorin Katja Deiß einen Film gedreht, dessen Titel für viele Tausend Menschen seit einem Jahr bittere Realität geworden ist. „Exil Deutschland – Abschied von der Türkei“ lautet er. Mit ihm startet der Arte-Themenabend am 11.Juli. Die drei Filme, die der Sender an diesem Tag ausstrahlt, verdeutlichen, wie der Putschversuch und die Reaktion des türkischen Regimes das Leben von vielen Menschen in der Türkei mit einem Schlag veränderten. Sie, die schon vorher in Opposition zum Regime standen, wurden aus ihren Lebens- und Arbeitszusammenhängen herausgerissen, landeten im Gefängnis, mussten untertauchen oder ins Exil gehen.

In dem Film von Dündar und Deiß werden vier türkische Intellektuelle und ihr Umgang mit der Repression vorgestellt. Die Wissenschaftlerin Latife Akyüz wurde von den staatlichen Medien als Terroristin diffamiert. Doch schlimmer für sie war, dass sich viele ihrer Freunde von ihr lossagten. „Keiner hat sich getraut, was zu sagen“, so ihre Erfahrung. Doch der Film macht auch deutlich, dass selbst der repressive Staat mit Umsicht und Kreativität überlistet werden kann. Weil weder Dündar noch Deiß in die Türkei reisen konnten, wurden die Szenen vor Ort von einem türkischen Kamerateam gedreht. Dieses begleitete auch die Ehefrau von Musa Kart. Der Karikaturist der Zeitung Cumhuriyet sitzt seit Monaten in Einzelhaft im Gefängnis. Jetzt vermittelt der Film einen Eindruck, wie die Angehörigen in dem Klima der Angst und Einschüchterung leben, aber auch weiterkämpfen.

Einen trotz allem optimistischen Ausblick vermittelt der Regisseur Imre Azem in dem Film „Türkei: Ringen um Demokratie“, der ebenfalls erstmals im Rahmend es Arte-Themenabends am kommenden Dienstag ausgestrahlt wird. Darin kommen Menschen zu Wort, die trotz der Repression in der Türkei bleiben wollen. In der Kampagne für ein ‚Nein‘ zum Referendum, mit dem Erdogan den autoritären Staatsumbau vollenden will, schöpften sie wieder Hoffnung. Als sich Erdogan dann nur dank Wahlbetrug knapp durchsetzen konnte, waren die Gesichter der Aktivisten zunächst vor Entsetzen erstarrt. Doch schon wenige Stunden später hatten sie wieder Mut geschöpft. „Wenn das Regime, dem sämtliche finanziellen und staatlichen Mittel zur Verfügung standen, das alles unternahm, um die Gegner des Referendums einzuschüchtern, sich trotz massiven Betrugs nur mit einer knappen Mehrheit durchsetzen konnte, ist es sehr schwach“, erklärte der Regisseur Imre Azem bei der Vorstellung des Films kürzlich in Berlin. Wenige Tage später reiste er wieder zurück in die Türkei, um die aktuellen Proteste der Opposition zu dokumentieren. Dabei ist ihm bewusst, dass er nach der Ausstrahlung des Films mit Repressalien rechnen muss. „Die staatlichen Medien werden mich als feindlichen Spion beschimpfen“, so seine realistische Einschätzung.

Die Arte-Reihe endet mit der Dokumentation: „Stunde Null- Wohin steuert die Türkei?“ von Erdal Buldun. Der Themenabend könnte dazu beitragen, dass nicht mehr nur der Name Deniz Yücel genannt wird, wenn es um Repression und Verfolgung in der Türkei geht. Das dürfte wohl auch ganz in seinem Sinne sein. Yücel hatte in einen Brief aus seinem Gefängnis dazu aufgerufen, seine vielen verfolgten Kolleg_innen ohne deutschen Pass nicht zu vergessen.
aus: Menschen Machen Medien

Filmtipp: Türkei – ein Jahr nach dem Putsch

Peter Nowak

Links zu den vorherigen Beiträgen:

https://peter-nowak-journalist.de/2017/07/06/wenn-die-journalistische-norm-der-brave-burger-ist/

https://peter-nowak-journalist.de/2017/07/06/falsche-angste-matthias-martin-becker-kritisiert-den-digitalisierungsdiskurs/

https://peter-nowak-journalist.de/2017/07/05/kurgarten-in-gefahr/

Wenn die journalistische Norm der brave Bürger ist

Der G20-Gipfel und die Gegenproteste beschäftigen die Medien seit Tagen. Doch was wird dort berichtet? Werden die Argumente der Kritiker wiedergeben oder geht es darum, eine Symbolpolitik darzustellen? Rechtzeitig zum Gipfel in Hamburg hat das Institut für Protestforschung[1] eine Studie[2] veröffentlicht, die sich diesen Fragen widmet. Sie wurde von den Bewegungsforschern Simon Teune[3], Dieter Rucht[4] und Moritz Sommer erarbeitet.


Nur konservative und liberale Medien werden untersucht

Die drei Forscher haben 69 Beiträge zu sieben Demonstrationen untersucht, die zwischen 2003 und 2015 erschienen sind. Elf Medien wurden untersucht, darunter Taz, Bild, die Wochenzeitungen Spiegel, Focus und Die Zeit sowie die öffentlich-rechtlichen Sender ARD, ZDF und Deutschlandfunk. Die Medienauswahl ist ein Schwachpunkt der Studie. Es gibt hier nur konservative und liberale Medien.

Medien links von der Taz werden einfach ignoriert. Bemerkenswert ist, dass nicht einmal in der Einleitung begründet wird, warum weder die Wochenzeitung Freitag oder die Jungle World noch die Tageszeitungen Neues Deutschland und junge Welt zu den Untersuchungsobjekten gehören. Zumindest eine Zeitung aus dem linken Spektrum hätte schon berücksichtigt werden müssen.

So setzt sich auch in der kritischen Protestforschung die Ausblendung linker Positionen fort. Relevante Meinungsbildung hat nach ihrer Vorstellung nur zwischen Taz, Frankfurter Rundschau, FAZ und Bild stattzufinden. Zu den Protesten, die hier nachbereitet werden, gehören Aktionen gegen den Irakkrieg, der Agenda 20, den G8-Gipfel 2007 in Stock, der Widerstand gegen das Projekt Stuttgart 21 in der gleichnamigen Hauptstadt von Baden Württemberg, die Aktionen für die AKW-Abschaltung nach der Katastrophe von Fukushima und die Anti-TTIP-Demonstration und der Pegida-Bewegung.

Wenig überraschend ist die Erkenntnis, dass die Demonstrationen und Proteste negativer eingeschätzt werden, je konservativer eine Zeitung ist. Bei Pegida war es verständlicherweise umgekehrt. Dort hatten die konservativen Medien mehr Verständnis als die liberalen. Doch in vielen Zeitungen kommen die unterschiedlichen Demonstranten nur am Rande zu Wort. Dafür wird der Version der Polizei und anderer Staatsapparate viel Raum gegeben.

Besonders deutlich war das nach den Erkenntnissen bei der Berichterstattung über den G7-Gipfel in Rostock zu beobachten.

Zwar zieht der Protest die größte Aufmerksamkeit auf sich: alle Quellen berichten überdurchschnittlich ausführlich vom Protest. Allerdings ist die inhaltliche Auseinandersetzung bescheiden (Anteil von Protestmotiven insgesamt 16,9%).
Studie Großdemonstrationen in Medien[5]

Der Fokus der Berichterstattung liegt auf einer Konfrontation von Teilen der Demonstranten und der Polizei bei der Auftaktdemonstration in Rostock. Doch das Muster lässt sich auch auf andere Demonstrationen übertragen. Wenn es auch nur vereinzelt zu Auseinandersetzungen mit der Polizei bei Protesten kommt, fokussiert sich die Berichterstattung vieler Medien darauf. Diese Auseinandersetzungen nehmen dann einen unverhältnismäßig großen Raum ein, den sie nicht verdienen, wenn man die Demonstrationen insgesamt betrachtet.


Die Suche nach dem „normalen Bürger“

Sehr gut wird in der Studie herausgearbeitet, wie die Berichterstattung oft subtil vorgeht, um Demonstrationen und Proteste in die Nähe der Anständigkeit zu rücken. Da wird von den „üblichen Verdächtigen“ geredet und geschrieben, die die „normalen Bürger“ nicht überzeugen können. Die Figur des Normalbürgers oder auch des braven Bürgers, die den „Aktivisten“ entgegengestellt wird, geht schon von der Grundannahme aus, dass eben die „Normalbürger“ keine Aktivisten sind.

Interessant ist, dass in konservativen Zeitungen, die Proteste gegen die „Agenda 2010“, die von vielen Menschen getragen wurden, die vorher noch nie eine Demonstration besucht haben, als „Akt der Selbstvergewisserung“ bezeichnet und damit auch abgewertet wurden. Zumindest passt das Bild, das hier als Norm verwendet wird, eher in eine Biedermeiergesellschaft als in ein demokratisches Gemeinwesen, in dem die Menschen ihre Geschicke möglichst weitgehend in die eigene Hand nehmen sollen.

Der brave Bürger, der hier als Leitbild genutzt wird, hält sich, wenn er schon mal demonstriert, streng an alle Regeln, einschließlich der Straßenverkehrsordnung. Menschen, die sich der Aktionen des zivilen Ungehorsams bedienen, weichen da schon verdächtig von der Norm des braven Bürgers ab. Doch die braven Proteste werden in einem Großteil der Medien mit Umschreibungen wie „Volksfest“ oder „Karneval“ entpolitisiert.

Die Polizei wird hingegen nicht als ein Akteur in diesen Auseinandersetzungen gesehen, der selber auch Gewalt anwendet. Vielmehr wird sie oft als legitime staatliche Stimme in Artikel eingeführt. Selten wird ihre Rolle auch und gerade im Vorfeld von militanten Auseinandersetzungen kritisch unter die Lupe genommen.

Martin Jänichen, der für eine konservative Zeitung arbeitet, wird in der Studie mit dem bezeichnenden Statement zitiert: „Das Gewaltthema (…), da gehe ich am nächsten Tag zur Pressekonferenz des Innensenators, der gemeinsam mit dem Polizeipräsidenten vorträgt, wie viele Polizisten verletzt wurden und wie viele Gewalttäter festgenommen wurden.“

Das ist die Sichtweise eines völlig in den staatlichen Gewaltapparat eingebetteten Journalisten. Dabei braucht es keinen Druck. Er schaltet sich selber gleich und fragt sich gar nicht, wie er sich bei der Pressekonferenz der Polizei über mögliche Gesetzesbrüche der staatlichen Gesetzeshüter informieren kann. Der Topos kommt ihm gar nicht in den Sinn, weil für ihn selbstverständlich das Handeln der Polizei im Grunde immer berechtigt ist und nicht kritisch hinterfragt werden muss.

Die Fake-News von dem lebensgefährlichen Türgriff

Die Folgen dieses sich selber gleichschaltenden Journalismus kann man nicht nur bei der Berichterstattung über große Gipfelproteste verfolgen. In der letzten Woche wurde der Stadtteilladen F54[6] in Berlin-Neukölln geräumt[7]. Die Bewohner und Unterstützer wendeten keine Gewalt an und praktizierten die Taktik des zivilen Ungehorsams, in dem sie den Laden nicht freiwillig verließen.

Dafür hatten sie nicht nur in der unmittelbaren Nachbarschaft viel Unterstützung. Gewalt gab es aber am Tag der Räumung durch die Polizei, davon waren Menschen, die die Hauszufahrt blockierten, aber auch Medienvertreter[8] betroffen. Die spielten in der Berichterstattung[9] nach der Räumung nur eine geringe Rolle.

Dominierend waren Berichte über einen angeblich unter Strom gesetzten Türknauf. Der viel gelesene Berliner Kurier[10] titelte korrekt, dass sich die Demonstranten wegtragen ließen. Da hier nicht das Foto von militanter Gewalt bedient werden konnte, wurde dann im Text nachgelegt:

Nach Angaben der Polizei hatten Demonstranten einen Türknauf unter Strom gesetzt. „Lebensgefahr für unsere Kollegen“, schrieb die Polizei auf Twitter. Dazu zeigte sie das Foto einer Hinterhof- oder Kellertür. „Zum Glück haben wir das vorher geprüft“, schrieb die Polizei. Der Strom im Haus sei abgestellt worden, sagte ein Sprecher.
Berliner Kurier[11]

Nachdem nicht nur Unterstützer des Kiezladens heftig widersprachen, ruderte[12] die Polizei zurück und musste bestätigen, dass es keine Stromverbindung zum Türknauf gab[13]. Sogar die konservative Welt musste der Polizei bescheinigen, dass ihre Version vom unter Strom gesetzten Türknauf unlogisch ist[14].

Die Fake-Meldung hatte aber ihren Zweck erfüllt. Über Polizeigewalt wurde nicht geredet und später war das Thema nicht mehr aktuell genug. Auch im Berliner Abgeordnetenhaus wurde das Thema nicht zeitgerecht behandelt[15]. Das Kalkül ist klar, es soll so lange verzögert, bis es aus der öffentlichen Diskussion verschwunden ist. Hier können Medien mit kritischen Berichten dafür sorgen, dass das Kalkül nicht aufgeht.

Hintergründe?

Wer aber die Polizeikonferenzen als Orte der absoluten Wahrheit hinstellt, wird das nicht machen. Da hätte man im Fall der Friedelstraße auch auf den langen Kampf der Betreiber des Kiezladens und der Mieter des Hauses[16] hinweisen müssen, die Räumung zu verhindern. Sie bemühten sich um einen Runden Tisch und wandten sich an die Politik, sie fuhren nach Wien und überbrachten dem damaligen Eigentümer der Citec[17] ein Kaufangebot.

Dafür waren sie bereit, bis zum Ende der Verhandlungen die politische Kampagne runterzufahren, was ihnen in Teilen der linken Szene Berlins auch Kritik einbrachte. Doch die Citec verkaufte in dieser Zeit das Haus an die Briefkastenfirma Pinhill s.ar.l[18]. Im Kaufvertrag war ausdrücklich eine Klausel eingefügt, mit der Käufer sich verpflichtet, die bereits von der Citec vorangetriebene Räumungsklage des Stadtteilladens weiter zu führen.

Die Räumung Ende Juli war die Konsequenz. Es wäre doch eigentlich ein lohnendes Ziel der Medien, hier auszuleuchten, warum sich ein Unternehmen über sein eigentlich Ziel hinaus, Profit zu machen, derart gegen den Stadtteilladen exponiert und sich daran beteiligt, eine Selbstorganisation von Mietern zu erschweren. Der Laden war schließlich nie besetzt und die Ladenbetreiber hätten einem neuen Mietvertrag zugestimmt. Zudem sollte das Firmengeflecht der Luxemburger Briefkastenfirmen unter dem Stichwort „Steuervermeidung“ untersucht werden.
Verbindungen

Ein solcher Journalismus aber ist nur möglich, wenn man nicht den braven Bürger zur Norm erhebt. Nicht nur die Pressekonferenzen der Polizei, auch die Erklärungen der betroffenen Mieter und in diesem Fall des Stadtteilladens müssten zu der Grundlage der Berichterstattung werden. In der Studie des Instituts für Protestforschung wird Christine Schlüter als eine Journalistin angeführt, die ihre Profession in diesem Sinne Ernst und sich über die Kritik wundert:

Mir wird das dann oft vorgeworfen: Ja, die ist ja so gut vernetzt bei der Antifa. Und dann denke ich immer so … Natürlich bin ich gut vernetzt, sonst könnte ich meinen Job gar nicht machen. Und niemand käme auf die Idee, irgendeinem Kollegen vom BR vorzuwerfen, er sei gut vernetzt in der CSU, ja?
Christine Schlüter

Hier macht Schlüter einen wichtigen Punkt. Während konservative Journalisten stolz damit angeben, dass sie von diesen oder jenen Politiker kontaktiert und zu Werbetouren eingeladen werden, macht sich verdächtig, wer mit sozialen Initiativen, Stadtteilläden, Mieter- und Erwerbslosengruppen vernetzt ist. Hier kommt das Ideal vom braven Bürger, der zu kuschen hat und den Mächtigen, die bestimmen sollen, auf den Punkt. Diese Art des Journalismus sieht sich als Teil der Mächtigen und macht sich die Verteidigung des Status Quo zu ihrer Hauptaufgabe.
https://www.heise.de/tp/features/Wenn-die-journalistische-Norm-der-brave-Buerger-ist-3766565.html

Peter Nowak

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Links in diesem Artikel:
[1] https://protestinstitut.eu
[2] https://protestinstitut.eu/projekte/grossdemonstrationen-in-den-medien/
[3] https://protestinstitut.eu/uber-das-institut/team/simon-teune/
[4] https://protestinstitut.eu/testimonial/dieter-rucht-im-srf/
[5] https://protestinstitut.eu/projekte/grossdemonstrationen-in-den-medien/
[6] https://friedel54.noblogs.org
[7] https://friedel54.noblogs.org/post/2017/07/01/berichterstattung-zur-zwangsraumung-der-friedel54-am-29-06/
[8] https://www.facebook.com/matthiascoers/posts/309018339558735?pnref=story
[9] https://friedel54.noblogs.org/post/2017/07/01/berichterstattung-zur-zwangsraumung-der-friedel54-am-29-06/
[10] http://www.berliner-kurier.de/berlin/polizei-und-justiz/-friedel54–polizei-traegt-demonstranten-weg-27879668
[11] http://www.berliner-kurier.de/berlin/polizei-und-justiz/-friedel54–polizei-traegt-demonstranten-weg-27879668
[12] https://twitter.com/PolizeiBerlin_E/status/880785391644749825
[13] http://www.berliner-zeitung.de/berlin/polizei/raeumung-von–friedel-54–polizei-fand-keine-stromquelle-am-tuerknauf-27899692
[14] https://www.welt.de/politik/article166142556/Die-unlogische-Erklaerung-der-Polizei-zum-Stromanschlag-bei-Friedel54.html
[15] http://www.hakan-tas.de/nc/aktuelles/pressemitteilungen/detail/zurueck/pressemitteilungen-2/artikel/raeumung-der-friedelstrasse-54-2/
[16] http://friedelstrasse54.blogsport.eu/
[17] http://citec.at/

Automatisierung

Der Wissenschaftsjournalist Matthias Becker widmet sich in seinem Buch »Automatisierung und Ausbeutung« der Frage, was aus der Arbeit im digitalen Kapitalismus wird. Dabei macht er einen Exkurs in die Geschichte zum ersten Schachcomputer der Welt, der 1770 in Wien präsentiert wurde. Doch bedient wurde die vielbestaunte Apparatur von einem menschlichen Spieler, der sich im Innern des Kastens verbarg. Becker spricht von einer Hochstapelei, die sich durch die Geschichte der Erforschung künstlicher Intelligenz und der Robotik bis zur Gegenwart ziehe, und bringt dafür Beispiele bis in die Gegenwart. So wurde 2006 auf der Hannover-Messe ein Roboterarm vorgestellt, der ein Weizenbier einschenkt. Die Öffentlichkeit und auch viele Journalist_innen waren beeindruckt. »Wer genauer hinschaut, sieht, dass das Weizenbierglas durch eine Halterung in eine leicht schräge Lage gebracht wird. Die Steuerung führt die Bewegung des Roboterarms aus, ohne die Position des Glases zu berücksichtigen«. Nun geht es Becker keineswegs darum, wissenschaftliche Fortschritte zu bestreiten, die die Arbeitswelt umkrempeln. Doch betont er, dass die menschliche Arbeitskraft dadurch keineswegs überflüssig wird. Nicht die Algorithmen, sondern das Kapital bestimmt, in welche Richtung die Entwicklung geht. Dass Becker die Frage stellt, was denn so schlimm wäre, wenn uns Maschinen nervtötende Tätigkeiten abnehmen würden, hebt sein Buch positiv aus der Bücherflut zur Digitalisierung hervor.

Matthias Martin Becker : Automatisierung und Ausbeutung. Was wird aus der Arbeit im digitalen Kapitalismus? Promedia Verlag, Wien 2017. 240 Seiten, 19,90 EUR.

aus
ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 628 / 20.6.2017

https://www.akweb.de/ak_s/ak628/07.htm
Peter Nowak

Wirbel um Grup Yorum


Einer linken Band aus der Türkei wurde im hessischen Fulda der Konzertort gekündig
t

Im osthessischen Fulda sorgen in den letzten Tagen junge Frauen für Aufmerksamkeit, die in der Innenstadt Flugblätter verteilen und Lieder singen. Bekleidet waren sie mit einem T-Shirt mit der Aufschrift Grup Yorum. Bundesweit wird auf Plakaten zu einem antirassistischen Festival in der Messe-Galerie der Domstadt mobilisiert, auf dem auch die 1985 von linken Studierenden in der Türkei gegründete Band auftreten sollte.

Doch die Fuldaer Stadtverwaltung hat den Vertrag gekündigt. Das Verwaltungsgericht Kassel bestätigte diesen Schritt. Es begründete seine Entscheidung mit formalen Fehlern des Freidenkerverbands, der das Gelände angemietet hatte. Der Vertrag sei nicht wie vorgeschrieben von einer zweiten Person aus dem Vorstand unterzeichnet gewesen. Darüber hinaus befand das Gericht, dass die Messe- Galerie nur für »unpolitische« Veranstaltungen ohne größeres Konflikt- und Gefahrenpotenzial geeignet sei. Der Auftritt von Grup Yorum würde nach Ansicht des Gerichts für Unruhe sorgen.

Wie sich aus den Internetauftritten dieser Gruppe entnehmen lasse, seien deren Auftritte hoch politisch, erläutert das Gericht in seinem Urteil. Daher sei es »rechtlich nicht zu beanstanden, dass die Stadt mit Blick auf das umliegende Wohngebiet das Gelände nicht für eine solche Veranstaltung zur Verfügung stellen wolle«, heißt es.

Mit Verboten und Schikanen hat Grup Yorum seit ihrer Gründung zu kämpfen. Nicht erst unter der AKP-Regierung in der Türkei werden die Musiker immer wieder verhaftet und gefoltert. Erst kürzlich wurden in der Türkei wieder Bandmitglieder inhaftiert. Weil sie Nachwuchsmusiker vor allem in den Armenvierteln der großen türkischen Städte ausbildet, kann die Band überhaupt bis heute weiter bestehen. Im Grup-Yorum-Chor wird auf eine gute Stimme, aber auch auf politische Bildung Wert gelegt. Die zersplitterte türkische und kurdische Linke trift sich bei Grup-Yorum-Konzerten. Längst hat die Band auch in der türkischen Diaspora im Ausland viele Fans. Dabei betonen die Musiker, dass sie keine Jugend- und Subkultur bedienen. »Wir stützen uns in erster Linie auf die populäre Musik Anatoliens«, erklärten sie in einem Interview.

Wahrscheinlich wird die Band nun aber doch in Fulda ihre Künste darbieten können – denn es wurde ein Ausweichort gefunden. Nach Angaben des hessischen Landesvorsitzenden des Freidenkerverbandes, Willi Schulz-Baratin, kann das Konzert auf einem Parkplatz vor dem städtischen Stadion stattfinden. Bis zu 3000 Besucher aus ganz Europa werden dort erwartet. Auch Wolfgang Lettow von der Publikation »Gefangeneninfo« will aus Hamburg anreisen. Eine größere Teilnahme von deutschen Unterstützern wäre für ihn auch ein Schutz für das Konzert. Bei einem Auftritt von Grup Yorum bei einem antirassistischen Fest in Fulda war im letzten Jahr auf Anordnung der Polizei der Verkauf von T-Shirts und CDs der Band verboten worden. Auch Spenden durften nicht gesammelt werden.

Unterstützung für das Konzert am Samstag kommt auch vom LINKE-Kreisverband in Fulda. Ihr Direktkandidat zur Bundestagswahl, Nick Papak Amoozegar, kritisiert, dass durch die Fuldaer Behörden eine Terrorismushysterie erzeugt und die Kunstfreiheit beschnitten werde. Dass jetzt noch ein Ersatzort für den Auftritt gefunden wurde, sieht er als Erfolg der Band.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1054295.wirbel-um-grup-yorum.html

Peter Nowak

Raubkopien: YouTube muss handeln


Die sieht im unautorisierten Hochladen von Fernsehmitschnitten auf Internetplattformen wie YouTube ein wachsendes Problem. Ein Dokumentarfilmer wehrte sich mit Hilfe der AG jetzt juristisch erfolgreich gegen die illegale Verbreitung einer Raubkop
ie.

Die Fernsehausstrahlung des Films „Leben außer Kontrolle“, der sich kritisch mit der Gentechnologie auseinandersetzt, hat viel Aufmerksamkeit gefunden. Das dürfte auch der Grund sein, warum Zuschauer einen Mitschnitt auf YouTube veröffentlichten. Allerdings war auch der Nutzer, der sich „Revo Luzzer“ nennt, dazu nicht befugt. Der Filmproduzent forderte von YouTube deshalb die Löschung des Mitschnitts. Doch das Videoportal entfernte ihn nicht und gab sich mit der nassforschen Erklärung des Up-Loaders zufrieden, dass er durch die Zahlung der Rundfunk- und Fernsehgebühren Miteigentümer des Films sei.

Vertreten durch die Berliner Urheberrechtskanzlei KV Legal und unterstützt von der AG Dokumentarfilm schickte der Filmproduzent dem Internetkonzern eine Abmahnung, die wirkungslos blieb. Das Landgericht Leipzig hat ihm jetzt unter dem Aktenzeichen 05 O 661/15 Recht verschafft. Die Plattform YouTube habe „ihr zumutbare Prüfpflichten verletzt, weil sie nach dem Hinweis der Klägerin im Rahmen des Beanstandungsverfahrens nicht alles ihr technisch und wirtschaftlich Zumutbare getan hat, um weitere Rechtsverletzungen im Hinblick auf die geschützten Werke zu verhindern“, heißt es in dem Urteil. Die Betreiber hätten unverzüglich tätig werden müssen, um „die Darstellung des Werkes zu entfernen oder den Zugang zu sperren, sobald sie die erforderliche Kenntnis erlangt hatten“, so die Richter. Eine entsprechende Prüfpflicht sei bereits gegeben, wenn unter Vorlage „aller erforderlicher Angaben“ auf eine klare Rechtsverletzung hingewiesen worden ist. Und da „die Zahlung von GEZ-Gebühren offensichtlich nicht zum Erwerb von Veröffentlichungsrechten führt“, hätte die Prüfung zwingend zu einer Löschung führen müssen.

aus: MMM, Menschen M

Raubkopien: YouTube muss handeln


achen Medien

14. Juni 2017 von Peter Nowak

BILD gegen Arte

Wie dumm Zensur im Online-Zeitalter ist, zeigt sich wieder einmal am Beispiel des Dokumentarfilms "Auserwählt und ausgegrenzt. Der Hass auf Juden in Europa". Ausgerechnet die Bildzeitung[1] kann sich als aufklärerisches Medium gerieren, indem es den Film für 24 Stunden online stellt[2] (auch auf YouTube[3]).

Der WDR hatte die Dokumentation in Auftrag gegeben[4] und redaktionell betreut, die Erstaustrahlung war bei Arte vorgesehen. Beide Sender wollen den Film aber nicht zeigen[5]. Dass Bild als Medium der Aufklärung daherkommt und der linksliberale Sender Arte als Zensor, hat sich letzterer aber auch selber zuzuschreiben. Das wird auch noch bei der kurzen Reaktion auf die Veröffentlichung deutlich. So heißt[6] es dort:

„BILD gegen Arte“ weiterlesen

„Es kommt darauf an, dass die Masse sich selbst begreifen lernt“.


Peter Haumer: Julius Dickmann, » … dass die Masse sich selbst begreifen lernt«. Politische Biographie und ausgewählte Schriften, Mandelbaum-Verlag Wien, 2016, 358 Seiten, 19,80 Euro

„Um mich mache Dir keine großen Sorgen, ich bin abgehärtet gegen Unannehmlichkeiten des Lebens (S.149)“, schreibt Julius Dickmann aus Wien auf einer Postkarte an seine Nichte Anne Fried in den USA. Es ist sein letztes Lebenszeichen. Kurze Zeit später wird er mit Tausenden jüdischen Männern von Wien in die NS-Vernichtungslager deportiert, wo er 1942 im Alter von 48 Jahren ermordet wurde.
“Doch Julius Dickmann hat viele Markierungen auf seinen Lebensweg hinterlassen, die – mühsam zu finden und zu rekonstruieren – es doch ermöglichen sollten, ihn der Vergessenheit ein klein wenig zu entreißen“, (S.13), schreibt de Wiener Historiker Peter Haumer. Er hat im Mandelbaum Verlag in der Reihe kritik & utopie ein Buch herausgegeben, das das Leben von Julius Dickmann rekonstruiert. Im ersten Kapitel fasst Haumer Dickmanns politische Vita so zusammen: “Er war Sozialdemokrat und die Sozialdemokratie schweren Herzens hinter sich lassen müssen…. Später war er revolutionärer Sozialist, Internationalist, gänzlich der Räteidee verpflichtet. Er wurde wieder besseren Wissens Parteikommunist, in der Erwartung, der Errichtung der Räteherrschaft dadurch um entscheidende Schritte näherzukommen. Als er die Fehlerhaftigkeit dieser Anschauung erkannte, wurde er zum dissidenten Marxisten“ (S. 12). Hierin liegt auch ein Grund, warum im Parteiarchiv der Kommunistischen Partei Österreich (KPÖ) keine Spuren von Dickmann zu finden sind, was sein fast völliges Vergessen auch erklärbar macht. Ihm geht es wie vielen dissidenten Kommunistinnen und Kommunisten.
Haumer zeigt auf, wie der aus dem jüdischen Kleinbürgertum stammende Dickmann, der sich selber als Atheist verstand, durch die revolutionäre Welle der Jahre 1917/18 wie viele andere mit der revolutionären Arbeiterbewegung in Berührung kam. Seine Schriften aus der Zeit waren im politischen Handgemenge geschrieben und wollten unmittelbare politische Wirkung entfalten. So hieß in einer von Dickmann verfassten Flugschrift vom Neujahr 1919 „Wir kommen einigen! Auf den Trümmern Österreichs, dieses Kerkers der Nationen, in welchen die sozialdemokratische Internationale zuerst gesprengt wurde, an dem sich die Fackel des Weltkriegs entzündete und das nun zum ständigen Schauplatz blutiger nationaler Kriege zu werden droht, muss der neue Bund der Arbeiter aller Nationen zuerst eine greifbare Gestalt erhalten“ (S. 41). Haumer beschreibt, wie sich nach der Gründung der Kommunistischen Partei verschiedene linke Gruppen in politische Kämpfe verstrickten, was für Dickmann eine ernüchternde Erfahrung war, die ihm zunächst zum Kritiker in den eigenen Reihen und später zum kommunistischen Dissidenten machte. Bald standen Dickmann die Medien der kommunistischen Partei nicht mehr zur Verfügung. So veröffentlichte er unter dem Pseudonym Ernst Jung mehrere Beiträge, die sich kritisch mit der kommunistischen Bewegung auseinandersetzten, in der Freien Tribüne, dem Organ der jüdisch-zionistischen Arbeiterpartei Poale Zion. “Unter dem Titel „Zur Krise des Kommunismus in Deutschland“ befasste er sich mit den ersten Spaltungen der Kommunistischen Partei Deutschlands im Jahr 1920. Er verfolgt die Differenzen bis in die Zeit des ersten Weltkriegs zurück, als sich die Spartakusgruppe und die Gruppe Internationale Kommunisten, die beide in Opposition zur Burgfriedenspolitik der SPD-Führung standen, voneinander entfremdet hätten. Die Tage der Revolution schufen vorübergehend eine neue Einigkeit. Doch die Differenzen waren auch beim Gründungsparteitag der KPD nicht überwunden. „Aber mit dem Niedergang der Novemberrevolution zeigte es sich sehr bald, wie schwach noch die Grundlagen der kommunistischen Einheit waren“ (S.254), so die präzise Analyse Dickmanns, die durch zahlreiche weitere Spaltungen in der Frühphase der KPD bestätigt wurde. Sehr klar erkannte er auch: „Die Einheit des deutschen Kommunismus kann nur durch aus der praktischen Bewegung des Proletariats hervorgehen“ (S. 260). Eine Erkenntnis die auf die weltweite kommunistische Bewegung gelten kann.
Dabei wandte sich Dickmann gegen den linken Flügel der KPD, die sich für einen antiparlamentarischen Weg einsetzten. „Ein Parlamentsboykott in Deutschland muss die Massen abstoßen, und zwar die rückständigen Arbeiterkreise, die von der Aussichtslosigkeit des Parlamentarismus innerlich noch nicht überzeugt sind, als auch die fortschreitenden Elemente, die sich bei aller Anhänglichkeit an die Räte doch sagen müssen, dass man die alte Position nicht preisgibt, bevor die neue noch nicht ausgebaut ist“ (S. 276), schreibt Dickmann unter dem Pseudonym Ernst Jung in einem Diskussionsbeitrag für die Freie Tribüne unter dem Titel „Lenins taktische Lehren“, wo er dessen Schrift „Der linke Radikalismus, die Kinderkrankheit des Kommunismus“ verteidigte. Zur späteren Entwicklung der kommunistischen Bewegung und ihrer Stalinisierung hat Dickmann nicht publiziert. In einen unvollständig erhaltenen Brief an Lucien Laurat schrieb Dickmann 1927/28: „Ich will mich hüten, zu den Artikeln, die russische Frage betreffend Stellung zu beziehen und Tatsachen zu beurteilen, deren Überprüfung mir nicht möglich sind“ (S. 291). Laurat ist das Pseudonym des österreichischen Kommunisten Otto Maschl, der in der Sowjetunion lehrte, der sich in den Fraktionskämpfen in der KPDSU gegen Stalin stellte und mit weiteren kommunistischen DissidentInnen in Frankreich und Belgien in Kontakt stand. Zu diesen Kreis gehörte auch die Philosophin Simone Weil, die zeitweise von Anarchosyndikalismus beeinflusst war. Wie wichtig Dickmann dieser Austausch war, zeigte sich schon daran, dass er französisch lernte.
Dickmanns Schriften aus den 1920 und 1930er Jahre wurden nicht mehr aufgelegt. Im Internet findet man eine Besprechung von Dickmanns 1932 herausgegebenen 60seitigen Broschüre mit dem Titel „Beiträge zur Selbstkritik des Marxismus“. Haumer hat sie vollständig dokumentiert. Bemerkenswert ist dabei, dass Dickmann bereits 1932 eine These formulierte, die angesichts der Debatte um die Ressourcenknappheit und den Klimawandel sehr modern klingt: „Der Sozialismus wird aber nicht aus einer weiteren Entfaltung der Produktivkräfte hervorgehen, deren Wachstum angeblich durch das kapitalistische Eigentum gehemmt wird; er wird sich notwendig aus dem Schrumpfen der heutigen Produktionsgrundlagen ergeben, dem die kapitalistische Gesellschaft um so rascher entgegentreibt, je hemmungsloser sie tatsächlich ihre Produktionsmittel verschwendet“ (S.349).
Dieser klare Bruch mit dem traditionskommunistischen Dogma von der immer stärken Entfaltung der Produktionskräfte als Bedingung für gesellschaftliche Fortschritt, wurde in der zeitgenössischen Debatte von dem Kreis um Simone Weil aufgegriffen. In der schon erwähnten Rezension dieser Schrift in der „Zeitschrift für Sozialforschung“ schreibt der Rezensent A.F.Westermann (http://raumgegenzement.blogsport.de/2012/02/05/julius-dickmann-das-grundgesetz-der-sozialen-entwicklungder-arbeitabegriff-bei-marx-rezension/): „Eine eingehendere Beurteilung der D.schen Kritik wäre nur sinnvoll, wenn er seine eigene Werttheorie dargestellt hatte. Dies hat er einem der folgenden Hefte vorbehalten.“ Dass er diese angekündigten Texte nicht mehr veröffentlichen konnte, hatte politische und private Gründe. In Österreich verschlechterte sich die Situation für Linke schon lange vor der Besetzung des Landes durch die deutsche Wehrmacht. Bereits unter dem austrofaschistischen Regime von Engelbert Dollfuss wurden Linke verfolgt. Zudem verschlechterte sich Dickmanns Gesundheitszustand beträchtlich. „In den letzten 14 Jahren bezog er eine Invalidenrente, weil er ein Invalide, ein Kraftloser, Schwacher und Hinfälliger war“, schreibt Haumer (S13). So war im Laufe de Jahre seine Schwerhörigkeit zur völligen Taubheit geworden. Doch trotz dieser widrigen Bedingungen hat Dickmann seine theoretische Arbeit fortgesetzt und auch internationale Kontakte intensiviert, solange es möglich war. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht wurde Dickmann als Jude stigmatisiert, verlor seine Wohnung, wurde schließlich deportiert und ermordet. Dass er eine wichtige Rolle in der österreichischen Revolution 1918/19 spielte und ein Theoretiker des Marxismus war, blieb sogar seinen Verwandten verborgen. Als Haumer für das Buch mit Dickmanns in New York lebender Nichte Kontakt aufnahm, war ihre erste Reaktion. „Warum will der über meinen Onkel schreiben? Was gibt es über den überhaupt zu schreiben?“ (S.7). Haumers Buch beantwortet diese Frage. Dabei musste der Autor eine Auswahl von Dickmanns Schriften treffen. Es wäre zu wünschen, wenn in einem weiteren Band, sämtliche zugänglichen Texte von ihm veröffentlicht werden könnten. Damit würde eine heute weitgehend vergessene marxistische Debatte wieder rekonstruiert und es wäre eine späte Ehrung für einen Mann, dessen Maxime auch der Titel des rezensierten Buches ist. „Es kommt darauf an, dass die Masse sich selbst begreifen lernt“.

aus: Arbeit – Bewegung – Geschichte Zeitschrift für historische Studien
16. Jahrgang – Heft 2017/II
http://www.arbeiterbewegung-jahrbuch.de/?p=633
Peter Nowak

Feiern statt feuern

45 Jahre »Graswurzelrevolution«

Die »Graswurzelrevolution« feiert ihren 45. Geburtstag. Sie ist das einzige anarchistische Printmedium des Landes.

Vielleicht hat sich der ehemalige Bundestagsabgeordnete der Grünen, Winfried Nachtwei, um die linke Publizistik verdient gemacht – auch wenn es gar nicht seine Intention war. 2001, als die Grünen zumindest im westfälischen Münster noch eine gewisse Distanz zur Bundeswehr ausdrücken wollten, geriet er mit einem Lehrbeauftragten der Universität aneinander. Bernd Drücke, tätig am Institut für Soziologie der Westfälischen Wilhelms-Universität, beschuldigte Nachtwei, bei einem großen Zapfenstreich der Bundeswehr auf der Bühne gestanden zu haben. Nachtwei bestritt das vehement, bezichtigte Drücke der Verleumdung – und musste schließlich doch zugeben, dass der Soziologe die Wahrheit gesagt hatte. Was nichts daran änderte, dass man am Lehrstuhl gründlich angefressen war. Einige, die in der akademischen Hierarchie über Drücke standen, betrachteten es als Majestätsbeleidigung, einen Politiker der Grünen öffentlich vorzuführen. Drücke flog raus, er verlor seine Stelle am Lehrstuhl für Soziologie und konzentrierte sich fortan ganz auf seine journalistische Tätigkeit bei einer Zeitschrift, für die der Anarchist und Pazifist regelmäßig Artikel geschrieben hatte: die Graswurzelrevolution – kurz auch GWR genannt.
Bis heute ist Drücke verantwortlicher Redakteur der GWR. Sicherlich ist es zum großen Teil sein Verdienst, dass das Monatsblatt bald seinen 45. Geburtstag feiern kann. Die Nullnummer der GWR erschien im Juni 1972.


Mit ihrer strikten Ablehnung jeglicher Gewalt hat sich die »GWR« auch bei Teilen der radikalen Linken Kritik eingehandelt.

Drücke hat dafür gesorgt, dass die Zeitschrift, deren Titel nach einer Mischung aus Guerilla Gardening und Landkommune klingt, auch von Kulturlinken und marxistischen Ideologiekritikern gelesen wird. Überhaupt ist das Blatt berüchtigt für diesen Spagat. In der aktuellen Ausgabe, der 419., berichten zwei Kommunen aus ihrem Alltag. Wenige Seiten weiter beschäftigt sich ein hochkomplexer Text mit der Kritik an Gewalt und im hinteren Teil der Ausgabe sind philosophisch unterfütterte Diskussionsbeiträge zu der Frage abgedruckt, ob es eine Natur des Menschen gebe. Das glaubten bekannte Anarchisten wie Pjotr Kropotkin, die der Ansicht waren, der Mensch sehne sich von Natur aus nach Freiheit und selbstbestimmten Kollektiven. Andere widersprachen vehement und warnten, dass Anarchisten mit unbewiesenen anthropologischen Grundannahmen ihrer Sache eher schadeten als nützten.

Doch nicht nur Themen, die die anarchistische Szene im engeren Sinne betreffen, werden in der GWR diskutiert. So hat Jens Kastner in der Ausgabe vom Dezember 2016 die postkolonialistische Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak wegen ihres Antizionismus heftig kritisiert. Für Drücke ist diese Mischung aus Kommunebericht und Theorie Programm.
»Es gibt in der undogmatischen linken Szene einen Bedarf sowohl nach libertärsozialistischen Theorien und Utopien als auch nach Gegenöffentlichkeit und kontroverser Diskussion«, sagt er der Jungle World. »Wir versuchen, das als Sprachrohr gewaltfreier, anarchistischer, antimilitaristischer, profeministischer und anderer sozialer Bewegungen abzudecken.« Ein schwarzroter Faden, der sich durch sämtliche Ausgabe zieht, ist der Antimilitarismus: »Kritik an Kriegseinsätzen und Aufrüstung suchen wir in den meisten Medien vergeblich. Wir wollen der militaristischen Propaganda etwas entgegensetzen«, schreibt Drücke im Editorial der Mai-Ausgabe. Es folgt unter anderem ein Beitrag über die Pläne, die Wehrpflicht in Frankreich wieder einzuführen. Ein Vorhaben, das nicht nur von Marine Le Pen und Emmanuel Macron, sondern auch vom linken Kandidaten Jean-Luc Mélenchon unterstützt wird. Die GWR widmet sich diesem Thema in einer Ausführlichkeit, die im deutschsprachigen Raum einzigartig sein dürfte.

Das liegt auch an der Geschichte dieses Mediums. Die 1972 gegründete GWR hatte ein politisches Anliegen, das einige Autoren auf den Libertären Tagen, einem bundesweiten Anarchistentreffen 1993 in Frankfurt am Main, so beschrieben: »Die Zeitung GWR war mit dem Ziel angetreten‚ den Zusammenhang zwischen den beiden konsequentesten Handlungsansätzen gegen Herrschaft und Gewalt, zwischen Gewaltfreiheit und libertärem Sozialismus, aufzuzeigen und dazu beizutragen, dass die pazifistische Bewegung sozialistisch und die linkssozialistische Bewegung in ihren Kampfformen gewaltfrei werde.«

Über mehrere Jahre war die GWR eng mit der Föderation gewaltfreier Aktionsgruppen (FöGA) verbunden. 1980 als bundesweites Netzwerk anarchopazifistischer Gruppen mit antimilitaristischem Schwerpunkt gegründet, wurde die FöGA vom Verfassungsschutz als »größte anarchistische Organisation der Nachkriegszeit« bezeichnet. Von 1981 bis 1988 gab sie die GWR heraus, beteiligte sich an der Antiraketenbewegung in den achtziger Jahren und nutzte gewaltfreie Aktionen wie Sitzblockaden. Von der Krise der gesamten Friedensbewegung blieb sie nicht verschont. 1997 löste sich die FöGA ausgerechnet in einer Zeit auf, in der Deutschland wieder begonnen hatte, offen Kriege zu fühen. Die GWR, die seitdem von einem unabhängigen Kreis von etwa 45 Personen herausgegeben wird und alle Entscheidungen basisdemokratisch fällt, setzt die Kritik am Militarismus in Staat, Gesellschaft und auch in der Linken konsequent fort.

Dabei landet Drücke gerne mal zwischen allen Stühlen, wie er am Beispiel des Konflikts zwischen der Ukraine und Russland aufzeigt: »Wir lassen Anarchisten und Antimilitaristen aus Russland und der Ukraine zu Wort kommen, unterstützen die Deserteure und Verweigerer aller Kriegsparteien und agitieren sowohl gegen das homophob-autoritäre Putin-Regime als auch gegen Nato, EU, ukrainische und ostukrainische Nationalisten.« So vermittelt die GWR auch jüngeren Lesern eine Vorstellung von einer antimilitaristischen Bewegung, die sich vom Mainstream der deutschen Friedensbewegung, deren Hauptfeind noch immer die USA sind, unterscheidet.

Mit ihrer strikten Ablehnung jeglicher Gewalt hat sich die GWR auch bei einigen radikalen Linken Kritik eingehandelt. Heute sind es aber nicht mehr primär die Militanzdebatten, die harsche Leserreaktionen hervorrufen. »Auf unsere Beiträge zum Thema Critical Whiteness gab es sowohl positive als auch negative Rückmeldungen«, berichtet Drücke. Solche Auseinandersetzungen bewertet er positiv. »Die anarchistisch-gewaltfreie, profeministische Lupe ist manchmal auch ein gutes Hilfsmittel gegen Sektierertum, damit das Denken die Richtung wechseln kann«, so Drücke. Er ist optimistisch, dass die GWR in Zukunft eine noch größere Rolle als Stimme gegen die herrschenden Verhältnisse spielen wird. Schließlich haben die beiden anderen größeren anarchistischen Printmedien ihr Erscheinen mittlerweile eingestellt. Die Publikation Schwarzer Faden gibt es bereits seit 2004 nicht mehr. Im vergangenen Jahr hat auch die Direkte Aktion, die Zeitung der FAU, ihre Printausgabe eingestellt. Die Entscheidung wird von Drücke noch heute heftig kritisiert.

In der kommenden Ausgabe der GWR, die am 8. Juni erscheint, wird es einen Schwerpunkt zum 45. Geburtstag der Zeitschrift geben. Die Jungle World gratuliert recht herzlich.

https://jungle.world/artikel/2017/22/feiern-statt-feuern
Peter Nowak
Hinweis auf den Artikel im Editorial der gwr:

http://www.graswurzel.net/420/

45 Years After
Presserummel im GWR-Büro

Liebe Leserinnen und Leser,

im Juni 1972 erschien die Nullnummer der Graswurzelrevolution. Heute, 45 Jahre später, haben wir für Euch aus diesem Anlass eine dicke Jubiläumsausgabe mit 28 statt 24 Seiten im Berliner Tageszeitungsformat produziert.

In den 45 Erscheinungsjahren stand die GWR selten so im Fokus anderer Medien wie heute.

In den letzten Wochen tummelten sich mehrere Zeitungs-, Fernseh- und RadiomacherInnen in unserem kleinen Redaktionsbüro in Münster. Der WDR, NRWision-TV (1), Antenne Münster, die Westfälischen Nachrichten, Radio Q, diverse Bürgerfunk- und Video-Gruppen (2) berichteten unter anderem über den von uns initiierten ersten FreeDeniz-Fahrradkorso für die Pressefreiheit (vgl. GWR 418) oder über Veranstaltungen mit GWR-Beteiligung. (3)

Eine mexikanische Filmemacherin und ein US-amerikanischer Kameramann führten im Mai auf Englisch ein langes Interview u.a. zur GWR-Geschichte mit mir. Der Film ist eine Uni-Arbeit und soll bald auch auf youtube zu sehen sein.

Der WDR besuchte zum zweiten Mal innerhalb von drei Wochen für mehrere Stunden das GWR-Büro und machte für die Aktuelle Stunde (Lokalzeit Münsterland) einen Fernsehbeitrag zum Internationalen Tag der Pressefreiheit am 3. Mai (4).

Die taz erwähnte am 31. Mai 2017 in ihren Schwerpunkt zum Thema Gegenöffentlichkeit unter dem Titel „Eine ganz andere Sicht. Geschichte linker Medien im Überblick“ u.a. auch die GWR:

„Von den Achtundsechzigern über Spontis bis zur Frauenbewegung entstanden teilweise mythenhafte, sagenumwobene Publikationen. Manche Blätter starben jung, andere hielten sich bis heute und neue kamen dazu. (…) Die Graswurzelrevolution lebt seit 1972, erscheint monatlich und wird mit Text von Menschen aus aller Welt befüllt, die dem losen Autor*innennetzwerk angehören. Diese arbeiten an einer ‚tiefgreifenden gesellschaftlichen Umwälzung‘ und ‚für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft‘. In großen Buchstaben schreibt die Zeitung Antimilitarismus und Ökologie auf ihre Fahnen.“ (5)

Die linke Wochenzeitung Jungle World widmete in ihrer Ausgabe vom 1. Juni 2017 der GWR zwei Seiten, die insbesondere den grünen Ex-MdB Winfried Nachtwei aus Münster und seine Fans nicht erfreuen werden. Die Graswurzelrevolution, „deren Titel nach einer Mischung aus Guerilla Gardening und Landkommune“ klinge, werde „auch von Kulturlinken und marxistischen Ideologiekritikern gelesen“, so die Jungle World. Überhaupt sei die GWR „berüchtigt für diesen Spagat. In der aktuellen Ausgabe, der 419., berichten zwei Kommunen aus ihrem Alltag. Wenige Seiten weiter beschäftigt sich ein hochkomplexer Text mit der Kritik an Gewalt und im hinteren Teil der Ausgabe sind philosophisch unterfütterte Diskussionsbeiträge zu der Frage abgedruckt, ob es eine Natur des Menschen gebe. (…) Doch nicht nur Themen, die die anarchistische Szene im engeren Sinne betreffen, werden in der GWR diskutiert. (…) So vermittelt die GWR auch jüngeren Lesern eine Vorstellung von einer antimilitaristischen Bewegung, die sich vom Mainstream der deutschen Friedensbewegung, deren Hauptfeind noch immer die USA sind, unterscheidet. Mit ihrer strikten Ablehnung jeglicher Gewalt hat sich die GWR auch bei einigen radikalen Linken Kritik eingehandelt.“ (6)

Herzlichen Dank für diese solidarische Kritik. Und herzlichen Glückwunsch zum zwanzigsten Jungle World-Geburtstag, auch wenn ich mich in den Jahren seit Nine-Eleven oft über antideutsche Kriegspropaganda in der Wochenzeitung geärgert habe.

„Finde den Fehler“ – Der Fehler heißt BILD!

Am 28. April 2017 rief ein BILD-Zeitungsredakteur im GWR-Redaktionsbüro an. Er erzählte, dass BILD etwas zum Hype veröffentlichen möchte, den ein Tweet von mir (siehe Abbildung unten) auf Twitter unter anderem bei den Grünen ausgelöst hat. Ich habe dem „Journalisten“ geantwortet, dass ich seine Zeitung extrem unseriös finde und auf keinen Fall möchte, dass irgendetwas von mir von BILD veröffentlicht wird. Daraufhin war er pikiert und meinte: „Wir sind immerhin so seriös, Sie anzurufen!“

Mein Kommentar: „Trotzdem, BILD ist wirklich das Allerletzte. Ich möchte auf keinen Fall, dass Sie irgendetwas von mir veröffentlichen.“

Der BILD-Redakteur war hörbar verärgert. Sein rassistisch-sexistisches Hetzblatt setzte sich erwartungsgemäß über meine Forderung hinweg und veröffentlichte gegen meinen Willen unter dem Titel „Finde den Fehler. Witzbold legt Hand an Grünen-Plakat“ einen Artikel (7), in dem sowohl mein Tweet als auch ein zusätzlicher Hinweis auf den „Münsteraner Bernd Drücke“ erschien.