Friede den Protesthütten, Krieg der Immobilienwirtschaft

Haus der Kulturen der Welt widmet sich mit Ausstellung und Langzeitprojekt der Frage, wie Menschen in Großstädten künftig wohnen werden

Wohnungen als Spekulationsmasse? Architekten und Aktivisten wollen kritisch beleuchten, dass das Menschenrecht auf Wohnen zunehmend der Immobilienwirtschaft überlassen wird.

Der Teekocher mit dem Aufkleber der Kreuzberger Stadtteilinitiative Kotti & Co. gehört zum Inventar des Protest-Gecekondu, das Mieter im Mai 2012 am Kottbuser Tor errichtet haben. Nun findet sich der Teekocher im Haus der Kulturen der Welt (HKW).

Dort wurde im Rahmen der Ausstellung »Wohnungsfrage«, die am Donnerstag eröffnet wurde, die Protesthütte nachgebaut. »Das HKW hat uns die Möglichkeit gegeben, mit dem Architekten Teddy Cruz und der Wissenschaftlerin Fonna Forman aus San Diego eine Antwort auf die Frage des Wohnens zu suchen. Sehr schnell waren wir uns einig, dass die Frage des Wohnens niemals nur eine räumliche oder architektonische ist, sondern immer auch eine politische und eine ökonomische Frage«, sagt Sandy Kaltenborn von Kotti & Co dem »nd«.

Im Rahmen der Ausstellung wird die temporare Hütte nicht nur im HKW zu sehen sein. Vom 6. bis 8. November wird sie neben der Protesthütte am Kottbuser Tor aufgebaut. Dort wird auch die Filminstallation »Miete essen Seele auf« von Angelika Levi zu sehen, in der die Geschichte des sozialen Wohnungsbaus in Kreuzberg verarbeitet wird.

Mit der Ausstellung experimenteller Wohnungsformate und künstlerischer Arbeiten, einer Publikationsreihe und einer internationalen Akademie will das HKW einen »Diskurs über sozialen, bezahlbaren und selbstbestimmten Wohnungsbau anregen«. Den »Andrang der Bevölkerung nach den großen Städten«, die »kolossale Steigerung der Mietspreise«, die Verdrängung der »Arbeiter vom Mittelpunkt der Städte an den Umkreis«: Die Ausstellung will sich kritisch damit auseinandersetzen, dass das Menschenrecht auf Wohnen zunehmend der Immobilienwirtschaft überlassen wird. Das Gestalten von Wohnungen, Nachbarschaften und Städten solle wieder als soziokulturelle Praxis verstanden werden.

Zu diesem Zweck werden (Film)Installationen, Bildessays oder Architekturmodelle gezeigt. Die entwickelten Wohnkonzepte werden in der Ausstellung 1:1 umgesetzt.

In der Ausstellung wird außerdem an Beispielen aus verschiedenen Teilen der Welt gezeigt, wie Wohnungen für die Allgemeinheit errichtet werden können, wenn der kapitalistische Verwertungszwang zurückgedrängt ist. So zeigt der Dokumentarfilm »Häuser für die Massen«, wie in Portugal nach der Nelkenrevolution 1974 die Mieter- und Stadtteilbewegung Teil eines allgemeinen gesellschaftlichen Aufbruchs wurde.

Auch die Senioren der Stillen Straße, die 2012 mit der Besetzung ihres von Schließung bedrohten Treffpunkts in Pankow für Aufmerksamkeit sorgten, sind Kooperationspartner der Ausstellung. Gemeinsam mit ihnen entwickelte das Londoner Architekturbüro »Assemble« die Installation Teilwohnung. So ist ein Wohnkomplex entstanden, der im Erdgeschoss kollektiv genutzte Gemeinschaftsräume und Werkstätten beherbergt. Die anderen Etagen sind den privaten Räumen der Bewohner vorbehalten. »Der Entwurf ermöglicht ein gemeinsames und zugleich selbstbestimmtes Wohnen von Menschen jeden Alters und stellt damit einen Gegenentwurf zu isolierten Wohnanlagen dar«, betont einer der Architekten.

In der einwöchigen Akademie will das Haus außerdem WissenschaftlerInnen, PraktikerInnen, KünstlerInnen und andere ExpertInnen aus unterschiedlichen Bereichen und Disziplinen zusammen bringen. Das Künstlertrio Lisa Schmidt-Colinet, Florian Zeyfang und Alexander Schmoeger beispielsweise dokumentiert die Geschichte des Wohnungsbaus in Kuba seit der Revolution. Im Zentrum stehen die aus Arbeitern bestehenden Microbrigaden, die mit von der Regierung mit Material ihre eigenen Wohnungen und daneben auch kommunale Gebäude wie Schulen und Krankenhäuser errichten.

Insgesamt stehen 18 Vorträge auf dem Programm. Andrej Holm spricht über »Staatsversagen und Marktekstase« auch das Auf und Ab der Berliner Mietskasernen wird beleuchtet.

In der Eröffnungsansprache benannte der Intendant des HKW, Bernd Scherer, die Faktoren, die die Verbreitung solcher menschenfreundlichen Alternativen behindern. »Wohnungen werden nicht nur gebaut, um darin zu wohnen, sondern um Geld anzulegen und mit den wachsenden Preisen und Mieten zu spekulieren«, benannte er eine Situation, die nicht nur in Berlin Mieter mit geringen Einkommen leidvoll erfahren.

Bis 14. Dezember. Die Akademie findet bis zum 28. Oktober statt. Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, 10557 Berlin. Programm und weitere Infos unter: www.hkw.de

https://www.neues-deutschland.de/artikel/988862.friede-den-protesthuetten-krieg-der-immobilienwirtschaft.html

Peter Nowak

Debatte im Berliner taz-Cafe: Neutraler Journalist oder auch Helfer?

Sind Journalisten nur „dabei“, oder schon „mittendrin“, wenn sie Freundschaften schließen, selbst anpacken und helfen?  Dürfen sie  das als „neutrale Berichterstatter“ überhaupt? Diesen Fragen widmete sich am 23. September eine Diskussionsveranstaltung von Netzwerk Recherche (netzwerkrecherche.org/termine/stammtische/berlin/)  und der taz im vollbesetzten Berliner taz-Cafe.

„Sie sind also Journalist und Aktivist in einer Person“, bekam der Tagesspiegel-Redakteur  Matthias Meisner von einem Vertreter der sächsischen Landesregierung zu hören. Er hatte auf dem Weg zu einem Pressetermin eine Kleiderspende für Geflüchtete bei einer zivilgesellschaftlichen Einrichtung abgegeben. Auch der taz-Redakteur Martin Kaul wurde von einem Redaktionskollegen gefragt, wie er es mit seiner journalistischen Objektivität vereinbaren könne, wenn er während seiner Reportage-Tätigkeit am ungarischen Keleti-Bahnhof Anfang September den dort gestrandeten Flüchtlingen Wasser und Lebensmittel besorge.

Neben Meisner und Kaul waren der Fotograf Björn Kietzmann und die NDR-Journalistin Alena Jabarine eingeladen. Sie hatte Anfang September Undercover als Flüchtlingsfrau verkleidet in einem Erstaufnahmelager in Hamburg mit versteckter Kamera gefilmt. Kietzmann hat in den letzten Wochen Flüchtlinge auf der griechischen Insel Lesbos mit der Kamera begleitet und ihre Route durch die Balkanländer bis nach Budapest dokumentarisch festgehalten. Er sei bei seiner Arbeit als Fotograf schon öfter in Krisengebieten gewesen. Daher habe es ihn überrascht,  wie stark ihn die Notsituation der Geflüchteten in Ungarn psychisch mitgenommen hat, betonte Kietzmann. Martin Kaul hatte bereits in einem taz-Beitrag geschrieben, wie ihn die Zustände um den Keleti-Bahnhof belasteten. Solche Zustände habe er in einem europäischen Land nicht für möglich gehalten: Er habe durch eine Unterführung einen mitteleuropäischen Bahnhof verlassen und sei in ein Notstandsgebiet eingetreten. Ursprünglich hatte Kaul einen mehrstündigen Kurztrip in Budapest geplant. Er wollte Geflüchtete in einem Zug aus Budapest Richtung  Deutschland begleiten. Erst vor Ort entschied er sich für einen längeren Aufenthalt.

Auch Alena Jabarine hatte ihren sechstätigen Aufenthalt in der Hamburger Flüchtlingsunterkunft auch sehr kurzfristig geplant. Ihr größtes Problem war am Ende, den neuen Bekannten, die ihr dort mit Rat und Tat als vermeintlich allein reisende Flüchtlingsfrau geholfen hatten, ihre Rolle als Journalistin zu offenbaren. Am Anfang seien manche schockiert gewesen. Am Ende überwog aber die Dankbarkeit, dass sie die Zustände in der Unterkunft einer größeren Öffentlichkeit bekannt macht. Die Veranstaltung machte einmal mehr ein Grundproblem deutlich, mit dem vor allem freie Medienarbeiter immer wieder konfrontiert sind. Von ihnen wird verlangt, sich schnell in neue Themen einzuarbeiten. Aber so werden sie kaum vorbereitet auf Notstandssituationen wie in Keleti.

„Ich bleibe auch in meiner Rolle als Journalist Mensch“, hatte  Kaul dem Kollegen geantwortet, der fragte, ob er als  Wasser- und Essensspender noch objektiv sein kann. Bei der Diskussion im taz-Cafe gab es in dieser Frage keine Kontroversen. Dass ein solches humanitäres Verständnis nicht alle Medienvertreter teilen, wurde Anfang September deutlich. Eine ungarische Kamerafrau wurde dabei gefilmt, wie sie einem syrischen Mann mit seinem Kind im Arm beim Grenzübertritt ein Bein stellte und ihn so zum Sturz brachte.

https://mmm.verdi.de/aktuell-notiert/2015/debatte-im-berliner-taz-cafe-neutraler-journalist-oder-auch-helfer

Peter Nowak

Fragend schreiten sie im Kreis

Ein neues Buch zur linken Geschichtsdebatte

Loukanikos hieß der Straßenhund, der während der Massenproteste in Griechenland 2012 und 2013 auf unzähligen Fotos zu sehen war. Sein Tod im vergangenen Jahr war der »Süddeutschen Zeitung« sogar einen Artikel wert. Doch das Tier schrieb noch auf eine andere Weise Geschichte. Nach ihm benannten sich fünf Historikerinnen und Historiker, die Diskussionen über den Umgang der Linken mit Geschichte vorantreiben. Unter dem Titel »History is unwritten« hat der Arbeitskreis Loukanikos jetzt ein Buch herausgegeben, das auf einer Konferenz beruht, und doch weit über die damaligen Beiträge hinaus geht. Die 25 Aufsätze geben einen guten Überblick über den Stand der linken Geschichtsdebatte in Deutschland.

Die Suche nach einer neuen linken Perspektive in der geschichtspolitischen Auseinandersetzung und die Frage, welche Bedeutung linken Mythen hierbei zukommt, benennen die Herausgeber als roten Faden des Buches. Die Historikern Cornelia Siebeck erteilt jeglichen linken Geschichtsmythen eine Absage: »Was emanzipatorische Zukunftspolitik ganz sicher nicht braucht, ist die eine historische Erzählung, um ihre Anliegen zu begründen.« Ihr widerspricht der Historiker Max Lill. »Viele Intellektuelle der radikalen Linken laben sich am Misstrauen gegenüber jedem Versuch, größere Zusammenhänge herzustellen. Fragend schreiten sie im Kreis«, kritisiert er die Versuche einer postmodernen Geschichtsdekonstruktion.

Der Historiker Ralf Hoffrogge, der in den vergangenen Jahren vergessene Teile der Geschichte der Arbeiterbewegung in Deutschland erforschte, plädiert in seinen »Fünf Thesen zum Kampf um die Geschichte« dafür, die sozialistische Bewegung als Tradition anzunehmen und in der Kritik an den gescheiterten linken Bewegungen bescheidener zu sein. »Auch wir werden im politischen Leben Fehler machen und unseren Ansprüchen nicht gerecht werden, das richtige Leben im Falschen nicht erreichen, und die Abschaffung des ganzen Falschen wohl auch nicht.«

Ein eigenes Kapitel ist geschichtspolitischen Initiativen in Deutschland gewidmet. Die Gruppe audioscript stellt einen Stadtrundgang vor, der über die Verfolgung und Vernichtung der Jüdinnen und Juden zwischen 1933 und 1945 in Dresden informiert. Sie kritisiert damit auch den in der sächsischen Stadt herrschenden Erinnerungsdiskurs, der vor allem die deutschen Bombenopfer von 1945 in den Mittelpunkt stellt. Die Antifaschistische Initiative Moabit (AIM) aus Berlin betont in ihrem Beitrag die Aktualität antifaschistischer Geschichtspolitik in einer Zeit, in der die »deutsche Erinnerungslandschaft gepflastert ist mit Stolpersteinen und Orten der Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen«. Als Beispiel für gelungene Erinnerungsarbeit führt die AIM die »Fragt uns Broschüren« an, in denen junge Antifaschisten die letzten noch lebenden Widerstandskämpfer und NS-Verfolgten interviewen. Vorgestellt wird zudem die Initiative für einen Gedenkort an das ehemalige KZ Uckermark, wo zwischen 1942 und 1945 Mädchen und junge Frauen eingepfercht wurden, weil sie nicht in die NS-Volksgemeinschaftsideologie passten. Mit feministischen Bau- und Begegnungscamps hat die Initiative den Ort bekannt gemacht und erschlossen.

Autor_innenkollektiv Loukanikos (Hg.): History is unwritten. Linke Geschichtspolitik und kritische Wissenschaft, Edition Assemblage, 400 Seiten, 19,80 Euro.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/983119.fragend-schreiten-sie-im-kreis.html

Peter Nowak

Revanchistische Straßenschilder

»Grünberger Straße, ehem. Rominter Straße, geänd. 1936«. Dieser Satz steht auf einer pinkfarbenen Folie, die seit einer Woche an den Schildmasten in der gleichnamigen Straße im Berliner Stadtteil Friedrichshain kleben. An anderen Straßenecken werden wir über die Anzahl der McDonald’s-Filialen in Zielona Góra, wie Grünberg seit über 60 Jahren heißt, informiert.

»93 Straßenschilder« lautet der Titel einer Intervention im öffentlichen Raum. Es geht um neun Straßen in Friedrichshain, die noch immer die deutschen Namen polnischer Städte tragen. In Schulatlanten wurden die Städtenamen sehr zum Verdruss der Vertriebenenverbände vor Jahrzehnten aktualisiert. Anfang der neunziger Jahre wurde hingegen mit der Kadiner Straße der deutsche Name von Kadyny neu ins Berliner Straßenbild eingefügt. Schon vor zwei Jahrzehnten wurde auch in Friedrichshain die Debatte um die Umbenennung vor allen in der Besetzerbewegung geführt. Damals hat sich der Stadtteilladen in der Grünberger Straße den Namen Zielona Góra gegeben. Ob bald der Name des Ladens und der Straße übereinstimmen werden, ist aber noch unklar. Am 3. September soll im Galerieraum Alte Feuerwache über eine Umbenennung der Grünberger Straße diskutiert werden. Bereits vor der offiziellen Eröffnung der Aktion haben Rechte einige Folien abgerissen und NPD-Aufkleber hinterlassen. Dabei sind manche der Texte zur Intervention selber nicht gerade kritisch gegenüber dem Revanchismus. So wird behauptet, die deutschen Namen hielten den Gedanken an ein multikulturelles Europa wach. Und während auf einem Straßenschild erwähnt wird, wie viele Einwohner von Grünberg sich nach der Niederlage Nazi-Deutschlands das Leben nahmen, sucht man die Zahl der deportierten Juden und den Prozentsatz der NSDAP-Mitglieder in dem Ort vergeblich.

http://jungle-world.com/artikel/2015/34/52534.html

Peter Nowak

Kapitalismuskritik mit dem Club of Rome

„Ist der Kapitalismus ein Verbrechen?“ In Berlin wurde die Frage auf einer „Vorverhandlung des Kapitalismustribunals“ aufgeworfen

„Ist der Kapitalismus ein Verbrechen?“ Diese Frage stellen sich auch in Deutschland wieder mehr Menschen, nachdem sie mit erlebt haben, wie eine durch Wahlen und ein Referendum bestätigter Weg für eine Reformalternative innerhalb der EU durch Deutsch-Europa verhindert wurde.

Das mag auch ein Grund gewesen sein, warum sich am schwülheißen Samstagabend viele Menschen im Heimathafen Neukölln zur zweiten Vorverhandlung des Kapitalismustribunals [1] versammelten, um genau die Frage nach der Kriminalität des Kapitalismus zu erörtern [2]. Bereits einen Monat zuvor hatte man in an gleichen Ort über die ökologische Frage debattiert.

Wider das T.I.N.A.-Denken von Thatcher bis Schäuble

Bei beiden Treffen war das Publikum für zwei Stunden zum Zuhören verurteilt. Anfangs berichtete eine junge Frau, die sich T.I.N.A nannte und das Bonmot der Pinochet-Freundin Margret Thatcher erinnerte, das heute von Schäuble und Gabriel in Griechenland fortgesetzt wird: “There is no alternative“. Der Slogan beinhaltete in der Vergangeheit auch, dass Versuche alternativer Systeme blutig zerschlagen wurden.

Das hat Pinochet 1973 beim Putsch gegen die Allende-Regierung vorexerziert und seine Gesinnungsgenossin und persönliche Freundin Thatcher beim Bürgerkrieg gegen die streikenden Bergarbeiter, die als Feind im Innern bezeichnet wurden, fortgesetzt. Viel zu wenig beachtet wird, dass auch die Austeritätsdiktate gegen Griechenland eine Schwächung der Gewerkschaften und eine Beschneidung ihrer Rechte beinhalten.

Auf diese Ebene gelangten allerdings die Gespräche am Samstagabend nicht. Es blieb hauptsächlich bei der moralischen Ablehnung des Kapitalismus. T.I.N.A. berichtete über die Zwangsräumung einer einkommensschwachen Nachbarsfamilie und schilderte, wie die Unterstützer der Familie von der Polizei weggetragen wurden. Dass es in Berlin seit Jahren Widerstand gegen Zwangsräumungen [3] gibt, die durch eine wissenschaftliche Studie [4] noch Auftrieb bekommen haben, blieb unerwähnt. So wirkte das trotzige Bekenntnis von T.I.N.A. auch eher theatralisch. Der Eindruck wurde noch verstärkt, als der rote Bühnenvorhang gelüftet wurde und der Blick auf die Podiumsdiskutanten aus dem Wissenschaftsbereich freigegeben wurde.

Der Ökonomieprofessor Graeme Maxton [5] betonte, dass es ihm mehr um Ökologie als um die Wirtschaft ginge und er daher auch keine Antworten auf die Krise des Kapitalismus habe. Der Keynesianer Trevor Evans [6] geißelte mit starken Worten die gegenwärtigen Praktiken des Kapitalismus, betonte aber immer wieder, wie gut doch der Kapitalismus in den 60er Jahren funktionierte. Dass damals weltweit eine außerparlamentarische Bewegung gegen das Leben in diesem Kapitalismus auf die Straße ging, wurde dabei ebenso ausgeblendet wie der Vietnamkrieg, der damals seinen blutigen Höhepunkt erreichte.

Es blieb dem Politikwissenschaftler Ulrich Brand [7] vorbehalten, sowohl gegen eine Verklärung des keynsianistischen Kapitalismus als auch gegen eine Trennung von Ökologie und Ökonomie zu warnen. Zugeschaltet war Linkssozialistin Lucie Redler [8], die noch einmal das „Griechenland-Diktat“ verurteilte. In dieser Frage waren sich Podium und Publikum weitgehend einig. Doch schon die Dramaturgie der Veranstaltung erweckte Unmut. Denn die Frauen und Männer, die kurze Fragen stellen, die die an Lehrsätze aus dem Brecht-Theater erinnerten, waren Teil der Aufführung. Erst in den letzten 20 Minuten kam dann das Publikum zu Wort.

Politik der Angst

So sprachen neben Verteidigern des Kapitalismus auch Gewerkschafter, die daran erinnerten, dass man über den Kapitalismus nicht reden kann, ohne auch die Lohnabhängigen zu erwähnen, die im Kapitalismus ihre Arbeitsverkauf verkaufen müssen. Er erinnerte daran, dass heute in Deutschland viele Menschen ihre Reproduktionskosten nicht mehr durch ihren Lohn bezahlen können und daher als Aufstocker in das Hartz IV-Regime geraten.

Das wiederum funktioniere nach der gleichen Politik der Angst, die Ulrich Brand für die Austeritätspolitik in Griechenland konstatierte. So wie an Griechenland ein abschreckendes Exempel statuiert wurde, damit andere linke Bewegungen in Europa gar nicht erst auf die Idee kommen, ebenfalls dem Diktat Deutschlands Parole zu bieten, werde an Erwerbslosen mit Sanktionen und Schikanen diese Politik der Angst vorexerziert.

Dann war allerdings das Hearing schon zu Ende und es wurde auf die nächste Verhandlung am 4. Oktober im Haus der Kulturen verwiesen, auf der über die Schäden geredet werden soll, die der Kapitalismus anrichte. In Wien soll dann im nächsten Jahr das Kapitalismustribunal tagen. Ursprünglich war der Termin für Dezember vorgesehen. Doch wegen der vielen eingereichten Beispiele für die Ungerechtigkeit am Kapitalismus habe man den Termin verschoben.

Damit wird deutlich, wie groß das Bedürfnis nach einem solchen Tribunal ist. Allerdings ist es kein Zufall, dass die positiven und negativen Erfahrungen der Arbeiterbewegung dort kaum zu Wort kommen Schließlich ist die Expertengesellschaft des Club of Rome [9] für das Künstlerkollektiv Haus Bartleby Inspiration für das Kapitalismustribunal geworden. Dabei war die Lektüre von Personen aus dem Mittelstand, die dann aus ihrem Beruf ausgestiegen sind und zu Kritikern bestimmter Logiken des Kapitalismus geworden sind, ein wichtiger Anreiz.

Schließlich steht die Arbeit des Hauses Bartleby unter dem Motto der „Karriereverweigerung“. Wie und ob Hartz IV-Empfänger, die keine Gelegenheit hatten, eine Karriere zu verweigern, aber bei einer Verweigerung einer Niedriglohnstelle mit Sanktionen rechnen müssen, in diesen Tribunal einen Ansprechpartner haben, muss sich zeigen. Zumal der Club of Rome bisher nicht für antikapitalistische Strategien bekannt geworden ist.

Vielleicht hilft ein Besuch im Museum des Kapitalismus?

Die Frage, ob der Kapitalismus ein Verbrechen ist, könnte vielleicht ein Besuch im Museum des Kapitalismus [10] beantworten, das nun zum zweiten Mal ebenfalls in Berlin-Neukölln seine Pforten geöffnet hat.

Dort kann sich der Besucher selber spielerisch über die Wirkungsweise des Kapitalismus und seiner Folgen informieren und käme vielleicht zu dem Schluss, dass der Normalzustand des Kapitalismus schon auf Ausbeutung beruht und die scheinbar starken Worte, die den Kapitalismus als kriminell geißeln, auf der Sehnsucht nach einem fairen Kapitalismus beruhen, den es nie gegeben hat.

Im Publikum des Kapitalismustribunals wurden diese Zusammenhänge durchaus verstanden, wie gelegentliche Unmutsbekundungen zeigten, wenn sich ein Experte den guten, alten Kapitalismus der 1960er Jahre zu sehr schönredete.

Peter Nowak

Links:

[1]

http://capitalismtribunal.org/de

[2]

http://www.heimathafen-neukoelln.de/spielplan?url=Kapitalismustribunal2

[3]

http://zwangsraeumungverhindern.blogsport.de/

[4]

https://www.sowi.hu-berlin.de/de/lehrbereiche/stadtsoz/forschung/projekte/studie-zr-web.pdf)

[5]

http://www.graememaxton.com/home

[6]

http://www.hwr-berlin.de/fachbereich-wirtschaftswissenschaften/kontakt/personen/kontakt/trevor-evans/

[7]

http://politikwissenschaft.univie.ac.at/index.php?id=17066

[8]

https://de-de.facebook.com/lucy.redler

[9]

http://www.clubofrome.de

[10]

http://www.museumdeskapitalismus.de/

Zwischen allen Stühlen

GWR-Redakteur Bernd Drücke über gewaltfreien Anarchismus und wie man als Außenseiter etwas bewegen kann

Bernd Drücke, 36, ist Soziologe in Münster und hauptamtlicher Redakteur der gewaltfrei-anarchistischen Monatszeitung »Graswurzelrevolution«.

Vor drei Jahren feierte die Monatszeitung »Graswurzelrevolution« (GWR) ihr 40-jähriges Bestehen, jetzt die 400. Ausgabe. Dienen die vielen Jubiläen der Lesergewinnung?
Sie schaden zumindest nicht. Die Aboentwicklung ist okay. Wir bekommen oft mehr Neuabos als Kündigungen. Die Zeitung wird durch Abos und Spenden finanziert, macht aber kaum Werbung und ist deshalb vielen unbekannt

Wieso überlebte die GWR die Auflösung der Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen, mit der sie eng verbunden war?
Die Föderation wurde 1980 als bundesweites Netzwerk anarchopazifistischer Gruppen mit antimilitaristischem Schwerpunkt gegründet und galt laut Verfassungsschutz als »größte anarchistische Organisation der Nachkriegszeit«. Ihre Entstehung hängt eng mit der seit 1972 erscheinenden GWR zusammen. Von 1981 bis 1988 war die Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen Herausgeberin der GWR. Seitdem wird die Zeitung wieder von einem unabhängigen Kreis herausgegeben, der sich aus etwa 40 Menschen zusammensetzt und alle Entscheidungen basisdemokratisch fällt. 1997 wurde die Föderation aufgelöst. Aber es gibt etliche ehemalige Mitglieder, die noch politisch aktiv sind und uns nahe stehen. Dazu findet sich einiges in der GWR 400.

Hatte diese Selbstständigkeit auch etwas Befreiendes, weil es jetzt keine politische Gruppierung mehr gab, die Einfluss nehmen konnte?
Die GWR ist assoziiertes Mitglied in einem globalen antimilitaristischen Netzwerk, den War Resisters’ International. Sie hat sich in den letzten Jahren geöffnet. Sie ist ein Sprachrohr emanzipatorischer sozialer Bewegungen aus aller Welt, von Anarchisten, Gewaltfreien Aktivisten, Feministinnen, Anti-Atom-, Anti-Gentech-, Anti-TTIP-Aktiven, von antirassistischen Gruppen, Antifas, Blockupy bis hin zu Menschen, die sich gegen Abschiebungen oder den Klimakiller Kohle stemmen.

Welchen Stellenwert hat der gewaltfreie Anarchismus heute in der außerparlamentarischen Linken?
Wir sind Außenseiter, können aber etwas bewegen. Wir wollen eine gewaltfreie Umwälzung von unten und vertreten Positionen, die anderswo nicht vorkommen. Nehmen wir das Beispiel Ukraine-Konflikt, da sitzen wir zwischen allen Stühlen. Wir lassen Anarchisten und Antimilitaristen aus Russland und der Ukraine zu Wort kommen, unterstützen die Deserteure und Verweigerer aller Kriegsparteien und agitieren sowohl gegen das homophob-autoritäre Putin-Regime als auch gegen NATO, EU, ukrainische und ostukrainische Nationalisten. Leider ist der gewaltfreie Anarchismus immer noch eine Nischenbewegung. Aber dass heute direkte gewaltfreie Aktionen und basisdemokratische Entscheidungsfindungen innerhalb der sozialen Bewegungen selbstverständlich sind, ist auch dem jahrzehntelangen Engagement von gewaltfreien Anarchistinnen zu verdanken

Wie ist Ihr Verhältnis zu marxistischen Ansätzen, die sich von autoritären Parteikonzepten distanzieren?
Kritisch-solidarisch. Der antiautoritäre Marxist John Holloway war zum Beispiel häufiger Interviewpartner und unter unseren Autoren sind auch Zapatistas und libertäre Marxisten. Als libertär-sozialistisches Blatt diskutieren wir undogmatisch-marxistische Theorieansätze aus anarchistischer Sicht.

Ein Teil der GWR-Artikel ist online zugänglich auf graswurzel.net, auch ausgewählte Artikel der 400. Ausgabe. Einzelheft 3,80 Euro, Schnupperabo 5 Euro, Probeexemplar kostenlos

http://www.neues-deutschland.de/artikel/977874.zwischen-allen-stuehlen.html

Peter Nowak

Viel Lärm um Hackerangriffe auf den Bundestag

„So nah ist uns in Deutschland die Gefahr aus dem Netz noch nie gekommen.“

„So nah ist uns in Deutschland die Gefahr aus dem Netz noch nie gekommen. Wir wissen nicht, wer uns angreift, wir wissen nicht, was der Angreifer will. Wir kennen seine Absichten nicht. Werden gezielt geheime Informationen abgeschöpft? Sollen einzelne Abgeordnete ausspioniert werden, um Erpressungspotenziale zu ermitteln?“

Mit diesen kriegerischen Tönen kommentierte Brigitte Fehrle, ehemals Taz, heute Berliner Zeitung, im Deutschlandfunk [1] die Hackerangriffe auf Computersysteme des Bundestags. Bei der ganzen kriegerischen Rhetorik kommt Fehrle nicht einmal auf die Idee, die ganze Erzählung über den großen Hackerangriff auf uns alle, einmal kritisch zu hinterfragen. Damit ist sie aber in der journalistischen Zunft nicht allen. Einige der Dramatisierungen der letzten Tage wurden auf Golem.de zusammengefasst [2].

Jagd auf „politische Kriminelle?“

Doch eine solche Versachlichung würde nicht gut zu Fehrles Endzeitvision passen. Schließlich kann in diesem Cyberkrieg jeder der Feind sein:

Das Wesen des Cyberkrieges ist der unsichtbare Gegner. Er kann überall sein. Selbst die Rückverfolgung eines platzierten Virus sagt nichts über die Auftraggeber. Es können Geheimdienste sein, es können Firmen sein, die Industriespionage betreiben, es können politische Kriminelle sein, die Unruhe stiften wollen.

Gerade die letzte Aufzählung macht stutzig. Wer sollen denn die politischen Kriminellen sein? Besteht ihr Delikt darin, dass sie eben Unruhen schaffen? Gehören sie vielleicht zu jenen Personenkreisen, die in der letzten Zeit manche Behörden durch die Preisgabe von streng geheimen Daten zur Verzweiflung gebracht haben? Man denke nur an die 2011 durch Wikileaks veröffentlichten, streng vertraulichen Diplomatic Cables [3], eine unredigierte Sammlung von zahllosen Depeschen aus US-Botschaften, die nur teilweise als geheim eingestuft worden waren.

Datenschutz und Persönlichkeitsrechte gelten für Personen, die in der Wertung von Wikileaks Verwerfliches getan haben, anscheinend nicht. Und auch nicht für ihre Freunde und Bekannten. Wer in Wikileaks-Enthüllungen namentlich genannt wird, hat im Übrigen keinerlei Möglichkeit, sich bei einer Kommission zu beschweren oder auf Löschung oder auch nur eine Entschuldigung zu drängen.

Gerade eine Szene, die sich mit Recht gegen staatliche Überwachung wehrt, sollte diese Kritik auch gegenüber Institutionen wie Wikileaks behalten, wenn die in ihrer alltäglichen Praxis noch hinter die staatlichen Behörden zurückfallen. Eine solche Kritik sollte aber eine Verteidigung von Wikileaks und ähnlichen Institutionen gegen staatliche Kriminalisierungsversuche mit einschließen.

Die Geheimdienstmitarbeiter auf unseren Häuserwänden

Nun gibt es neben Wikileaks auch andere Wege und Methoden, sich mit den Akteuren der Überwachung zu beschäftigten. In Berlin kann man manchmal sogar ihre Konterfeis auf öffentlichen Häuserwänden sehen. Overexposed [4] heißt das Projekt des italienischen Künstlers Paolo Cirio [5]. Dort verwendet und verfremdet er Fotos von führenden Akteuren der Überwachung, die er in deren privaten Netzwerk gefunden hat.

Sie sind nicht nur auf manchen Häuserwänden, sondern auch noch bis zum 20. Juli in der Galerie Nome in Berlin-Friedrichshain zu sehen. Paolo Cirio hat natürlich die Menschen, die er porträtiert nicht um Erlaubnis gefragt. Die Möglichkeit, dass sein Vorgehen juristische Folgen haben kann, ist nicht gering.

Gerade in einer Zeit, in der die Öffentlichkeit davon überzeugt werden sollen, dass es sich bei den Hackerangriffen auf Bundestagscomputer um einen „Angriff auf uns alle“ handelt. Solche Floskeln haben wir immer dann gehört, wenn die wieder einmal Rechte eingeschränkt werden sollen. Nebenbei werden die durch die verschiedenen Überwachungsdebatten diskreditierten Verfassungsschutzbehörden auf diese Weise wieder rehabilitiert und bekommen sogar noch mehr Macht, als sie offiziell bisher hatten. Die Taz bringt das Dilemma so auf den Punkt [6]:

Der Bundestag muss sich also helfen lassen – doch von wem? Dass der Verfassungsschutz bei der Aufklärung mitwirkt, hat zwar selbst die Linksfraktion akzeptiert; doch dass sich das Parlament beim Aufbau seines Computersystems komplett in die Abhängigkeit von Bundesbehörden wie dem Verfassungsschutz oder dem BSI begibt, dürfte auf Vorbehalte stoßen – schließlich ist die Gewaltenteilung zentral für die Demokratie.

So könnte die Dramatisierung der Hackerangriffe auf Bundestagscomputer einen Beitrag dazu leisten, dass die Hack-Aktivismus kriminalisiert und staatliche Überwachungsbehörden rehabilitiert werden.

http://www.heise.de/tp/news/Viel-Laerm-um-Hackerangriffe-auf-den-Bundestag-2691006.html

Peter Nowak

Links:

[1]

http://www.deutschlandfunk.de/cyberangriff-auf-bundestag-der-unsichtbare-feind.720.de.html

[2]

http://www.golem.de/news/iuk-kommission-das-protokoll-des-bundestags-hacks-1506-114635.html

[3]

https://wikileaks.org/cablegate.html

[4]

http://www.nomeproject.com/de/ausstellungen/overexposed

[5]

http://www.paolocirio.net/

[6]

http://www.taz.de/Angriff-aufs-Netz-des-Bundestags/!5203618/

Im Schatten der Bretterbude

Die Bakuninhütte in Thüringen war einst Treffpunkt der libertären Bewegung. Nun wird der wechselvollen Geschichte des Gebäudes eine Ausstellung gewidmet.

Wer rastet, der rostet«, lautet das Motto von Rudolf Dressel, der noch mit 95 Jahren in seiner Oldtimer-Werkstatt in Berlin-Zehlendorf arbeitet. Dem Senior des Familienbetriebes würde auf den ersten Blick wohl niemand Sympathien mit anarchosyndikalistischem Gedankengut unterstellen. Und doch ließ es sich Dressel nicht nehmen, am 17. Mai zu einer besonderen Wanderhütte zu fahren, die knapp fünf Kilometer entfernt von Meinigen liegt, einem kleinen Städtchen in Thüringen: die Bakuninhütte.

Dressel war eingeladen worden, bei der Eröffnung der Doppelausstellung »Meiningen und seine Anarchisten« zu sprechen, die bis zum 27.  September im Meininger Schloss Elisabethenburg zu sehen sein wird. Während im ersten Raum Exponate zum Leben Erich Mühsams zu finden sind, die bereits in mehreren deutschen und israelischen Städten zu sehen waren, ist die zweite Ausstellung der kurzen Geschichte der Bakuninhütte gewidmet. Für Dressel beginnt hier eine Reise zurück in seine Kindheit.

Zusammen mit seiner Familie verbrachte Dressel in den zwanziger Jahren viel Zeit in dieser Gegend. »Hier stand das Karussell«, sagt Dressel und zeigt auf eine leere Stelle vor der Hütte. Das Karussell lockte damals viele Jungendliche aus Südthüringen zur Bakuninhütte, die seit Mitte der zwanziger Jahre nicht nur ein Treffpunkt der syndikalistischen und anarchistischen Bewegung Thüringens und Hessens war. Sie war auch ein Ort, um sich über die Theorie und Praxis von Anarchismus, Syndikalismus und Rätekommunismus zu informieren. Zu den Referenten, die aus Deutschland und den Nachbarländern angereist kamen, gehörten auch Augustin Souchy und Erich Mühsam. Am 9. Februar 1930 schrieb Mühsam an seine Frau Zenzl: »Diese Hütte haben die Genossen gebaut, 600 Meter hoch, mitten in den schönsten Wald.«

Obwohl das anarchistische Hüttenleben nach der ersten Razzia im März 1933 für beendet erklärt wurde, scheint sich die libertäre Szene dort weiterhin getroffen zu haben. »Ist Ihnen bekannt, dass die Kommunisten und Syndikalisten wieder ihr Unwesen auf der sogenannten Siedlung treiben? Wenn nicht, möchten wir Sie als Nationalgesinnte darauf hinweisen, denn wir fühlen es als unsere Pflicht, sie nicht wieder hoch kommen zu lassen.« Der Denunziantenbrief an die NSDAP war mit dem Satz »Einer, der die Sache genau beobachtet« unterschrieben. Der Autor lamentierte, dass »nationale Gastwirte aufs schwerste geschädigt würden«, wenn man den Linken gestatte, auf der Hütte Getränke zu verkaufen. Im Mai 1933 wurde das Verbot endgültig durchgesetzt, die Nazis nahmen die Hütte in Beschlag und Anarchisten, die weiter aktiv für ihre Überzeugungen eintraten, mussten um ihr Leben fürchten.

Die Geschichte der Bakuninhütte geriet über die Jahre in Vergessenheit. Wer sich überhaupt noch erinnern konnte, dachte an die »Paganinihütte«, wie sie in den sechziger und siebziger Jahren von den älteren Bewohnern der Region genannt wurde, die selbst noch dort oben an Freizeitvergnügungen teilgenommen hatten. Ob die Namensänderung auf einem Hörfehler beruhte oder der italienische Komponist politisch einfach weniger belastet war als der russische Anarchist, lässt sich heute nicht mehr klären.

Die wechselhafte Geschichte der Hütte riss auch mit Gründung der DDR nicht ab. In den ersten Jahren wurde die Hütte als Freizeit- und Erholungsheim von der FDJ und ihr nahestehenden Organisationen genutzt. Unter den Besuchern befanden sich auch einige der Mitbegründer der Hütte aus den zwanziger Jahren, die mittlerweile der SED beigetreten waren. Später wurde das Gebäude zu einem Naturschutzheim umfunktioniert, in dem sich engagierte Ökologen bereits in den späten sechziger Jahren mit den Gefahren des Kalibergbaus auseinandersetzten. Im letzten Jahrzehnt vor der Wende wurde die gesamte Region um die Hütte zum Übungsgelände der Polizei erklärt und für die Bewohner gesperrt.

Nach 1989 entdeckten junge Leute in Meiningen und Umgebung, die sich gegen Nazis und Rassisten engagierten, den Anarchismus neu. Sie gründeten die Freie Union Revolutionärer Anarchisten (Fura), die für Konservative in Süd­thüringen bald zum Inbegriff des lokalen Linksextremismus wurde. 2006 wurden einem Meininger Kulturzentrum die öffentlichen Mittel gestrichen, weil dort auch die Fura eine Postadresse hatte.

Als sich die jungen Anarchisten für die Geschichte der Bakuninhütte zu interessieren begannen, sahen sich Verwaltung und Politik unter Zugzwang. 2009 erließ die Gemeinde ein absolutes Nutzungsverbot für das Gebäude. CDU-Politiker wollten die Hütte sogar abreißen lassen. Die Hütte habe sich nicht zu einer Wallfahrtsstelle entwickeln sollen, erklärte Uwe Kirchner, der damalige Sprecher des Meininger Landratsamts.

Dass sechs Jahre später vor dem Meininger Schloss Elisabethenburg eine Fahne mit der Aufschrift »Meiningen und seine Anarchisten« weht, wertet Kai Richarz auch als einen politischen Erfolg. Er gehörte zu den Jugendlichen aus Südthüringen, die sich im Kampf gegen Nazis politisiert hatten und sich in der Fura organisierten. Seit Jahren setzt sich Richarz für den Erhalt der Bakuninhütte ein. Mittlerweile studiert er in Berlin Geschichte und Philosophie, doch das Thema treibt ihn immer noch um. Er forscht über die Geschichte des Anarchismus und Syndikalismus in Thüringen und wurde als Referent der Tagung »Erich Mühsam in Meiningen. Ein historischer Überblick zum Anarchosyndikalismus in Thüringen« eingeladen, die vom 11. bis 13. Juni in Meiningen stattfinden soll.

Die Ausstellung, deren Exponate aus dem Archiv der Meininger Anarchosyndikalisten stammen, thematisiert eine Fülle historischer Gegebenheiten. Einige Tafeln führen in die Geschichte der Jugendbewegung ein, die bald nach ihrer Entstehung in unterschiedliche Flügel aufsplitterte. Manche wurden nach dem Ersten Weltkrieg Herolde der völkischen Bewegung, andere engagierten sich bei den Kommunisten oder Anarchisten. Wie fließend die Übergänge auch innerhalb der linken Strömungen waren, zeigt das Schicksal der damals in Meiningen lebenden, jüdischen Familie Aul, die in den zwanziger Jahren auch zu den regelmäßigen Nutzern der Hütte zählte. In der Ausstellung ist das Mitgliedsbuch zu sehen, das Martin und Herbert Aul als Kämpfer der anarchosyndikalistischen Kolonne Durutti ausweist. Während Herbert Aul 1944 von der SS in Paris erschossen wurde, kehrte sein Bruder 1946 nach Meiningen zurück und machte in der SED Karriere. Ihre Mutter Bella Aul, die in den zwanziger Jahren von der SPD in die KPD gewechselt war und in der Weimarer Republik als aktive und emanzipierte Frau in Meiningen bekannt war, wurde in Auschwitz ermordet. Bis 1989 erinnerte ein Straßenname an sie. Und heute gibt es eine Initiative, die sich dafür einsetzt, dass in Meiningen wieder eine Straße an die verfolgten und ermordeten jüdischen Linken der Stadt erinnert.

Die Doppelausstellung »Sich fügen heißt lügen: Erich Mühsam, Anarchisten in Meiningen und die Bakuninhütte« läuft noch bis 27. September im Schloss Elisabethenburg in Meiningen.

http://jungle-world.com/artikel/2015/22/52049.html

Peter Nowak

Die Spur führt zur Bakuninhütte

In Meiningen wird in einer Ausstellung an Erich Mühsam und den Anarchosyndikalismus in Thüringen erinnert

Fast stünde sie heute nicht mehr, die Bakuninhütte bei Meinigen in Thüringen. Doch jetzt gibt es sogar eine Ausstellung, welche die Geschichte des früheren Anarchisten-Treffpunkts beleuchtet.

»Meiningen und seine Anarchisten«, so lautet die Aufschrift auf einer Fahne, die bis zum 27.September vor dem Schloss Elisabethenburg des thüringischen Städtchens Meiningen hängt. Sie verweist auf eine Doppelausstellung, die Mitte Mai in dem repräsentativen Gebäude der Stadt eröffnet wurde. Ein Teil widmet sich dem Leben und Tod des anarchistischen Schriftstellers Erich Mühsam.

Die Schau wurde bereits in verschiedenen Städten Deutschlands sowie in Tel Aviv gezeigt. Sie gibt einen guten Überblick über die Biografie eines Mannes, der im Lübeck der Buddenbrooks geboren wurde und 1901 aus der ihm von den Eltern zugedachten Rolle als angepasster Bürger ausbrach. Mühsam wurde Publizist und kämpfte unermüdlich gegen die militaristischen, deutschnationalen Kreise in Deutschland. Über Mühsams Ermordung in nationalsozialistischer Haft ist viel geschrieben wurde. Manche kennen auch noch sein Engagement in der bayerischen Räterepublik, das ihm eine lange Haftstrafe und den Hass der deutschnationalen und konservativen Kräfte einbrachte. Nur wenige jedoch wissen, dass Mühsam in der Weimarer Republik sehr viel gereist ist, um Initiativen von syndikalistischen Gewerkschaften und Freidenkern zu unterstützen.

Vielerorts hielt er Reden und ermutigte seine Zuhörer, sich für ihre eigenen Interessen zu organisieren. Im Rahmen seiner vielen Reisen kam Mühsam auch ins thüringische Meinigen und besuchte die rund fünf Kilometer entfernte Bakuninhütte. Auf einer Postkarte an seine Frau Zenzl schrieb Mühsam am 9. Februar 1930: »Diese Hütte haben die Genossen gebaut« – 600 Meter hoch, mitten im schönsten Wald.

85 Jahre später steht die kleine Hütte, benannt nach dem russischen Anarchisten Michail Bakunin (1814-1876), als Kulturdenkmal wieder im Mittelpunkt des Interesses in Südthüringen. Die Lokalzeitung brachte kürzlich eine ganze Seite darüber, weitere Beiträge sollen folgen. Dieses neue Interesse an der Hütte mit ihrer bewegten Geschichte ist ein besonderer Erfolg für den Wanderverein Bakuninhütte. Seit 2006 hat der Verein dafür gekämpft, dass das einmalige Zeugnis der syndikalistischen und anarchistischen Geschichte in Südthüringen überhaupt wieder der Öffentlichkeit zugänglich wird. Dabei wurden den Vereinsmitgliedern anfangs von Politikern und Behörden viele Steine in den Weg gelegt. Noch 2009 erließ man ein absolutes Nutzungsverbot, CDU-Politiker wollten das historische Gebäude sogar abreißen lassen. »Die Hütte habe sich nicht zu einer Wallfahrtsstelle entwickeln sollen«, erklärte der damalige Sprecher des Meininger Landratsamts Uwe Kirchner im Jahr 2009.

Die Treffen von Libertären, Kommunisten, Gewerkschaftern hoch über Meiningen waren schon Mitte der 1920er Jahre den Behörden suspekt. Das wird in der vom Wanderverein Bakuninhütte konzipierten Schau dokumentiert, die mit ihren zahlreichen Tafeln eine wichtige Fundgrube ist.

Kai Richarz hat sich bereits als Jugendlicher für den Erhalt der Bakuninhütte eingesetzt. Mittlerweile studiert er in Berlin Geschichte und Philosophie, doch das Thema hat ihn nicht losgelassen. Er hat bereits Artikel  zum Thema veröffentlicht. Richarz ist auch einer der Referenten der Fachtagung »Erich Mühsam in Meiningen. Ein historischer Überblick zum Anarchosyndikalismus in Thüringen«, die vom 11. bis 13. Juni in Meiningen stattfinden wird. Es gibt also in der nächsten Zeit einige Gelegenheit, Meiningen und seine Anarchisten in Vergangenheit und Gegenwart kennenzulernen.

Termine und weitere Informationen unter: www.muehsam-in-meiningen.de

Peter Nowak

Sind Hautfarbe und die Religion doch entscheidend?

Teurer Kampf ums Urheberrecht

Das alternative Videokollektiv Filmpiratinnen und Filmpiraten e.V. aus Erfurt muss sich derzeit gegen eine Klage der FPÖ vor dem Handelsgericht in Wien wehren. Die rechte Partei verletzte das Urheberrecht der Erfurter Journalisten und überzieht sie nun im Gegenzug mit einem Prozess, dessen Kosten bereits das Aus für das Filmkollektiv bedeuten könnten.

Fast ein Jahrzehnt berichten die Videojournalisten über Antifademonstrationen, Flüchtlingsproteste oder Solidaritätsaktionen beispielsweise während des Einzelhandelsstreiks. Zunächst konzentrierte sich ihre Medienarbeit auf Thüringen. Mittlerweile sind die kritischen Journalisten europaweit mit der Kamera unterwegs. So berichteten sie auch über das Verfahren gegen den Jenaer Antifaschisten Josef S. in Wien. Die österreichische Justiz hatte den Studenten schweren Landfriedensbruch bei Protesten gegen den jährlichen Akademikerball in 2013 vorgeworfen. Dazu lädt die rechtspopulistische FPÖ alljährlich Ende Januar Politiker der rechten Szene Europas ein. Wegen der monatelangen Untersuchungshaft trotz unklarer Beweislage sprachen Menschenrechtsorganisationen von Kriminalisierung des Antifaschisten. Der Jenaer Oberbürgermeister Albrecht Schröder (SPD) verlieh S. im vergangenen Jahr einen Preis für Zivilcourage.
Die FPÖ stellte Ausschnitte eines Videoberichts der Filmpiraten über den Prozess gegen Josef S. und die Preisverleihung auf ihren Kanal FPÖ-TV. „Sie haben die Aufnahmen in einen neuen Kontext gesetzt und gleichzeitig gegen die Creative Commons-Lizenz verstoßen, die nicht-kommerzielle Nutzung und Weitergabe unter gleichen Bedingungen voraussetzt“, erklärte der Videojournalist Jan Smendek. Daher hatte der Verein die FPÖ wegen der Urheberrechtsverletzung abgemahnt. Daraufhin verklagte die FPÖ die Filmpiraten beim Wiener Handelsgericht wegen Behinderung der Meinungsfreiheit und falscher Anschuldigungen. Gegenüber dem Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) erklärte ein FPÖ-Sprecher: „Wir fordern in unserer Klage gegen die ‚Filmpiraten‘ weder Geld noch Sonstiges, sondern lediglich die gerichtliche Feststellung, dass die von den ‚Filmpiraten‘ behaupteten Ansprüche gegen die FPÖ nicht zu Recht bestehen“.
Mittlerweile wurde bekannt, dass die FPÖ auch in Österreich ihre Kritiker häufiger mit solchen Klagen überzieht. Betroffen davon sind die „Initiative Heimat ohne Hass“, die Zeitschrift „Linkswende“ und der österreichischen Kriminalbeamte und Datenforensiker Uwe Sailer, der sich gegen die FPÖ engagiert. Die aufgrund der österreichischen Parteienfinanzierung sehr solvente Partei versucht, ihre Kritiker mit den Klagen finanziell unter Druck zu setzen, kritisiert ein Autor der „Linkswende“. Für die Filmpiraten geht es dabei um ihre Existenz. Der Streitwert liegt bei 35000 Euro. „Bis jetzt sind schon über 5.000 Euro an Anwaltskosten entstanden, die wir im Vorfeld aufbringen mussten“, erklärt Smendek. Die Auseinandersetzung kann sich noch über Monate hinziehen und teuer werden. Ein vom Wiener Handelsgericht vorgeschlagener Vergleich, bei dem beide Seiten ihre Klagen zurückziehen, ist für Smendek nicht annehmbar. „Die FPÖ könnte dann weiter unser Urheberrecht verletzen und wir würden auf einen Teil der Gerichtskosten sitzen bleiben“, begründet der Journalist die Ablehnung. So wird es wohl in einigen Monaten zum Prozess kommen.

Unter dem Motto „Sei unser Held – FPÖ kostet Nerven und Geld“ wird auf der Homepage www.filmpiraten.org zu einer Spendenkampagne aufgerufen. SPENDENKONTO Filmpiratinnen e.V.
IBAN: DE56430609676027819400
BIC: GENODEM1GLS GLS Bank.

aus: «M» – MENSCHEN – MACHEN – MEDIEN

https://mmm.verdi.de/aktuell-notiert/2015/teurer-kampf-ums-urheberrecht

Peter Nowak

Was ist Arbeit wert?

Mit Klagen schlagen

Die rechtspopulistische FPÖ überzieht ihre Gegner mit einer Klagewelle. Mittlerweile ist auch ein antifaschistisches Medienprojekt aus Erfurt betroffen.

Antifaschistische Medienschaffende kennen das Problem. Rechte benutzen Texte, Fotos oder Videos ohne Erlaubnis und instrumentalisieren diese für ihre Propaganda. In der Regel genügt eine Abmahnung wegen Urheberrechtsverletzung, um solche Aneignungsversuche von rechts zu beenden. Das dachte auch das Erfurter Kollektiv der Filmpiraten, das seit mehr als zehn Jahren Videos von antifaschistischen Aktionen und sozialen Protesten ins Netz stellt. Anfangs konzentrierte sich das Medienprojekt, für das alle Beteiligten unentgeltlich arbeiten, auf Thüringen. In den vergangenen Jahren hat es seinen Tätigkeitsbereich ausgeweitet. So berichteten die Filmpiraten auch über das Verfahren gegen den Jenaer Antifaschisten Josef S. in Wien. Die österreichische Justiz hatte dem Studenten unter anderem schweren Landfriedensbruch bei Protesten gegen den Akademikerball im Jahr 2013 vorgeworfen. Zu dieser Veranstaltung lädt die rechtspopulistische FPÖ alljährlich Ende Januar Politiker der rechten Szene Europas ein.

Weil Josef S. trotz unklarer Beweislage monatelang in Untersuchungshaft saß, sprachen Menschenrechtsorganisationen von einer Kriminalisierung des Antifaschismus (Jungle World 31/14). Der Jenaer Oberbürgermeister Albrecht Schröter (SPD) verlieh S. im vorigen Jahr einen Preis für Zivilcourage. Die FPÖ zeigte Ausschnitte eines Videoberichts der Filmpiraten über den Prozess gegen Josef S. und die Preisverleihung auf ihrem Kanal FPÖ-TV. »Sie haben die Aufnahmen in einen neuen Kontext gesetzt und gleichzeitig gegen die CC-Lizenz verstoßen, die nichtkommerzielle Nutzung und Weitergabe unter gleichen Bedingungen voraussetzt«, berichtet der Videojournalist Jan Smendek vom Verein der Filmpiraten im Gespräch mit der Jungle World. Daher waren die linken Medienjournalisten sich auch sicher, dass die FPÖ das Video nach einer Abmahnung von ihrer Homepage entfernen würde.

Doch die FPÖ reagierte mit einer juristischen Strategie, die für die Filmpiraten existenzbedrohend werden könnte. Die rechtspopulistische Partei verklagte den Verein vor dem Wiener Handelsgericht.

»Sie werfen uns vor, falsche Behauptungen aufzustellen und damit die Meinungsfreiheit der FPÖ zu behindern. In der Anklage berufen sie sich auf die freie Meinungsäußerung in Artikel 10 der europäischen Menschenrechtskonvention«, erklärt Smendek. Dass die FPÖ mit dem Versuch, die Abmahnung wegen einer Urheberrechtsverletzung in eine Verletzung der Meinungsfreiheit umzudeuten, juristischen Erfolg haben wird, ist unwahrscheinlich. Doch die mit dem Verfahren verbundenen Kosten belasten die Filmpiraten bereits jetzt.

Der Streitwert beträgt 35 000 Euro. Zusätzlich werden den Filmpiraten 2 698,13 Euro in Rechnung gestellt. In der Klage wird der Verein aufgefordert, innerhalb einer Frist Stellung zu nehmen. »Bis jetzt sind schon über 5 000 Euro an Anwaltskosten entstanden, die wir im Vorfeld aufbringen müssen«, so Smendek. Zumindest diese Kosten sind bereits durch eine Solidaritätskampagne gedeckt.

Mittlerweile ist auch bekannt geworden, dass die FPÖ ihre Kritiker in Österreich mit einer Klagewelle überzieht. Unter der Überschrift »Linksaktivisten klagen über FPÖ-Klagen« berichtete der Wiener Kurier im Januar über eine Pressekonferenz, auf der mehrere antifaschistische Organisationen darüber berichteten, wie ihre Existenz durch juristische Manöver der FPÖ gefährdet wird. Dort informierte die Initiative »Heimat ohne Hass«, die rechtsextreme Aktivitäten in sozialen Netzwerken dokumentiert, über eine Urheberrechtsklage der Polizeigewerkschaft AUF, die der FPÖ nahesteht, wegen der Veröffentlichung eines Fotos, das einen Personalvertreter zeigt, der bei der Räumung der »Pizzeria Anarchia« in Privatkleidung, mit Pistole und Eisernem Kreuz aufgetreten war. Der Streitwert, der für die antifaschistische Initiative existenzbedrohend sei, betrage 33 400 Euro.

Auch der ehemalige Kriminalbeamte und Datenforensiker Uwe Sailer geriet wegen seiner deutlich geäußerten Ablehnung der FPÖ ins Visier der rechten Partei. So heißt es auf der Internetplattform Linkswende: »Seit 2008 wird der fleißige Nazi-Aufdecker und Kenner der rechten Szene, Uwe Sailer, gezielt von der FPÖ verleumdet. Er soll mittels Klagen in den finanziellen Ruin getrieben werden.« Die Freiheitlichen hätten gegen Sailer mehr als 70 Anzeigen unter anderem wegen Amtsmissbrauchs und Urheberrechtsverletzungen gestellt. Alle Verfahren seien letztlich eingestellt und Sailer entlastet worden. Doch auf einem Teil der Verfahrenskosten blieb er sitzen. In einem Interview mit Linkswende sagte Sailer: »Die FPÖ bringt etwa eine Urheberrechtsklage mit einem Streitwert von 1 600 Euro ein. Kurz vor der Verhandlung zieht sie die Klage zurück und man bleibt als Beschuldigter trotzdem auf 400 Euro für Gericht und Anwalt sitzen.«

Ein Autor der Internetplattform kritisiert: »Die durch die österreichische Parteienfinanzierung solvente Partei versucht ihre Kritiker mit den Klagen finanziell unter Druck zu setzen.« Nun versucht die FPÖ mit ihrer Klage gegen die »Filmpiraten«, diese Methode auch über Österreich hinaus auszuweiten.

Wie bei den österreichischen FPÖ-Gegnern ist auch in diesem Fall ein Projekt betroffen, das seit seiner Gründung eng mit antifaschistischem Engagement verbunden ist. Initiiert wurde das Medienprojekt Filmpiraten von jungen Linken aus dem Umfeld des besetzten Hauses auf dem ehemaligen Unternehmensgelände von Topf & Söhne in Erfurt. Der Industriebetrieb baute die Krematorien in verschiedenen Konzentrationslagern auch im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Die Bewohner und Unterstützer des im April 2009 geräumten Gebäudes haben wesentlich dazu beigetragen, dass die Geschichte von Topf & Söhne bekannt und in Erfurt ein Gedenkort eingerichtet wurde (Jungle World 17/09). Zu den bekanntesten Videoarbeiten der Filmpiraten gehört der Film »Topfgang« von 2005, der einen Rundgang über das damals noch besetzte Gelände von Topf & Söhne dokumentiert. Neben der historischen Aufarbeitung von NS-Verbrechen gehörte bei den Hausbewohnern und ihren Unterstützern auch die Kritik am Nationalismus insbesondere in seiner deutschen Ausprägung zu den Schwerpunkten. Berühmt sind die Demons­tratio­nen, die über mehrere Jahre für den Vorabend des 3. Oktober in Erfurt organisiert wurden. Die Medienarbeit der Filmpiraten begann 2004 denn auch mit einer kurzen Dokumentation der antinationalen Demonstration. Damit sie ihre Arbeit fortsetzen können, rufen sie auf ihrer Homepage unter dem Motto »Sei unser Held – FPÖ kostet Nerven und Geld« zu Spenden auf. Ende Februar soll der Prozess in Wien beginnen, berichtete der MDR.

http://jungle-world.com/artikel/2015/08/51477.html

Peter Nowak

„Wir wollen unabhängig bleiben“

MAGAZIN In den späten Achtzigern war der „telegraph“ eine wichtige Stimme der linken DDR-Opposition. Und noch immer findet die im Selbstverlag herausgegebene Zeitschrift ihre Leser. Ein Gespräch mit den Machern

taz: Herr Wolf, Herr Schreier, beim 25. Jahrestag zur Maueröffnung kam die linke Opposition für eine eigenständige DDR nicht vor. Fühlen Sie sich manchmal auf verlorenem Posten?

Andreas Schreier: Viele der Hauptforderungen von 1989 sind uneingelöst geblieben. Wir haben sie auch nach dem Diebstahl unserer Revolution durch die Medien und Parteien der BRD nicht vergessen. Damals wollten wir ein Ende der Überwachung und bekamen neue und viel perfektere Formen der Überwachung. Wir waren gegen Militarisierung, heute wird eine neue deutsche Verantwortung in der Welt gepredigt und an der Grenze zu Russland kräftig gezündelt. Das Recht auf Reisefreiheit endet heute vor Lampedusa und Demokratie, wenn überhaupt, vor den Toren der Banken und Konzerne.

Vor einigen Monaten hieß es, der telegraph sei in der literarisch-politischen Zeitschrift Abwärts aufgegangen. Wieso produzierten Sie nun doch wieder eine eigene Ausgabe?

Andreas Schreier: Die telegraph-Redaktion beteiligt sich an der Zeitschrift Abwärts, die im März dieses Jahres das erste Mal erschienen ist. Doch eine Einstellung des telegraphs war nie beabsichtigt. Einige missverständliche Formulierungen im Abwärts haben einen falschen Eindruck hinterlassen. Seit dem Erscheinen der aktuellen Nummer gab es viele freudige Reaktionen von LeserInnen, die froh sind, dass es uns noch gibt.

Dietmar Wolf: Wir wurden von der Literatenszene in Prenzlauer Berg um Bert Papenfuß angefragt, ob wir uns an der Herausgabe des Abwärts beteiligen wollen. Schließlich kennen und schätzen wir uns seit sehr vielen Jahren.

Ist also die viel diskutierte Krise der linken Medien an Ihnen vorbeigegangen?

Andreas Schreier: Nein, wir hatten zwischenzeitlich tatsächlich überlegt, den telegraph ins Internet zu verlegen. Wir haben viel Druck von unseren LeserInnen bekommen, die weiterhin eine gedruckte Ausgabe in den Händen halten wollten. Das motivierte uns natürlich bei der Herstellung der aktuellen Ausgabe. Wir werden allerdings unser Angebot im Internet ausweiten und dort auch Artikel zur nichtkommerziellen Nutzung verfügbar machen.

Im Impressum des telegraphs findet sich kein Verlagshinweis. Gibt es keine Verlage, die die Zeitschrift drucken wollen?

Dietmar Wolf: Es wäre kein Problem, einen Verlag zu finden. Doch wir wollen unsere Unabhängigkeit behalten. Die Umweltblätter, aus denen der telegraph hervorgegangen ist, wurden als Samisdat hergestellt, also im Selbstverlag. Diesen Anspruch halten wir auch heute aufrecht. Der telegraph ist Handarbeit von der Planung bis zum Vertrieb. Dazu kommt, dass niemand in der Redaktion daran verdient. Wir kümmern uns um den telegraph neben unserer Lohnarbeit.

Andreas Schreier: Natürlich bedeutet das auch, dass sich die Redaktion um die nicht ganz einfache Frage des Vertriebs und um die Frage der Finanzierung kümmern muss.

Der Untertitel des telegraphs lautete lange Zeit „ostdeutsche Zeitschrift“. Wollten Sie sich damit gegen die Westberliner Linke abgrenzen?

Dietmar Wolf: Der Untertitel hat 1998 beim telegraph Einzug gehalten. Damals produzierten wir eine Ausgabe mit dem provokanten Titel „Kolonie Ostdeutschland“. Wir beschäftigten uns darin mit unserer ostdeutschen Sozialisation und den Folgen der Übernahme unserer Betriebe, unserer Häuser und unserer Kultureinrichtungen durch WestinvestorInnen.

Andreas Schreier: Die damalige Abgrenzung gegen Bayern- oder Schwaben-Yuppies war aus unserem Blickwinkel nicht fremdenfeindlich, sondern eher eine Form des Klassenkampfs. Mit den Westberliner Linken hatte das nur in sofern etwas zu tun, als sie in einigen Fällen uns gegenüber ähnlich raumgreifend und ignorant auftraten wie diese westdeutschen Geldsäcke.

Warum haben Sie diesen Untertitel wieder fallen gelassen?

Dietmar Wolf: Der Untertitel ist weg, doch der telegraph bleibt eine ostdeutsche Zeitschrift. Wir sind spätestens mit der Einheit unwiderruflich zu Ostdeutschen gemacht worden, das lässt sich nicht ändern.

Andreas Schreier: In Zeiten, in denen eine Bundeskanzlerin und ein Bundespräsident aus dem Osten kommen, lässt sich über diesen Begriff schwer etwas Gesellschaftskritisches transportieren. Mittlerweile kennen wir auch viele westdeutsche Linke, mit denen uns mehr verbindet als mit, sagen wir mal, dem neureichen Villenbesitzer in Dresden.

Es ist auch auffällig, dass im aktuellen Heft nicht in das Loblied auf die freiheitliche Maidan-Bewegung eingestimmt wird.

Dietmar Wolf: Wir werfen großen Teilen der Linken und auch der antifaschistischen Bewegung vor, dass sie bis auf wenige Ausnahmen die Augen vor den faschistischen Tendenzen in der heutigen Ukraine verschließt. Wenn wir die benennen, rechtfertigen wir nicht Putins Politik. Wir fordern eine eigenständige Positionierung der unabhängigen Linken ein.

Engagiert sich die telegraph-Redaktion neben der Herausgabe der Zeitschrift politisch?

Andreas Schreiner: Wir organisieren seit fast 15 Jahren regelmäßig am 8. Mai im Haus der Demokratie ein Fest zur Befreiung vom Nationalsozialismus. Dafür erhielten wir in den letzten Jahren viel Zustimmung, aber auch Kritik.

Wie kann man etwas dagegen haben, das Ende des Nationalsozialismus zu feiern?

Dietmar Wolf: Das haben wir uns auch gefragt. Doch es gab einige NGOs und Einzelpersonen, die mit einem Fest an diesem besonderen Tag nichts anfangen konnten. Nach langen Diskussionen hoffen wir nun, mit den Festvorbereitungen zum 70. Jubiläum am 8. Mai 2015 beginnen zu können. Wir wollen an dem Tag mit den Opfern des NS die Befreiung feiern.

Wird bis dahin eine neue telegraph-Ausgabe erscheinen?

Dietmar Wolf: Lassen wir uns überraschen. Es kann sein, dass wir in einem Monat das nächste Heft herausgeben oder auch erst in einem Jahr. Wenn wir der Meinung sind, wir haben genug Stoff für ein gutes Heft, wird es erscheinen.

Der aktuelle telegraph ist in ausgesuchten Buchhandlungen und über www.telegraph.cc erhältlich

Andreas Schreier

50, ist Diplom-Ingenieur und telegraph-Redakteur. 1989 war er Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Sicherheit am Zentralen Runden Tisch der DDR.

Dietmar Wolf

50, ist Web-Programmierer. Er hat im April 1989 die Ostberliner Autonome Antifa mitbegründet und ist seit 25 Jahren telegraph-Redakteur.

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=bl&dig=2014%2F12%2F04%2Fa0199&cHash=a6c9237dbf291509383fdd159e5e6118

INTERVIEW PETER NOWAK

„Ich brauche keinen importierten Rassismus“