Kategorie: International
Prozessbeginn bei Air France
Gewerkschafter, die ihre Bosse angegangen haben sollen, stehen vor Gericht
»Streiken wie in Frankreich«, heißt es auf Aufklebern, die in den letzten Monaten wieder vermehrt in Deutschland zu sehen sind. Damit wird Solidarität mit Arbeitskämpfen ausgedrückt, die Fabrikbesetzungen und andere kreativen Protestformen mit einbeziehen. Doch deswegen werden in Frankreich vermehrt Gewerkschaftsmitglieder kriminalisiert.
Am 27. September begann in Bobigny bei Paris der Prozess gegen 15 Beschäftigte von Air France wegen gezielter Gewalt und Sachbeschädigung. Ihnen wird vorgeworfen am 5. Oktober 2015 bei Protesten gegen die Entlassung von 2900 Beschäftigten in einen Sitzungssaal eingedrungen und zwei Air-France-Manager bedrängt zu haben. Die Bilder, auf denen zu sehen ist, wie die Manager auf der Flucht vor den wütenden Beschäftigten über einen Zaun steigen und sich dabei ihre Hemden zerreißen, gingen damals um die Welt. Das Gericht versucht mit Hilfe des von der Polizei gesammelten Bildmaterials die 15 Angeklagten als Rädelsführer hinzustellen. Ein Bündnis verschiedener Gewerkschaften, darunter CGT und Sud, hatten zu Solidaritätsaktionen während des Prozesses aufgerufen,
»Im Gerichtssaal herrschte eine überaus solidarische, aber auch teilweise aggressive Stimmung. Der Richter drohte mehrmals mit Räumung des Saals«, erzählt der Basisgewerkschafter Willi Hajek, der den Prozess besuchte, gegenüber »nd«. Es seien Erklärungen verlesen worden, die die sofortige Wiedereinstellung der entlassenen Air-France-Beschäftigten und den Freispruch aller Angeklagten forderte. Die Staatsanwaltschaft forderte für fünf Angeklagte Haftstrafen von zwei bis vier Monate mit Bewährung. Zehn Beschuldigte sollen eine Strafe von 1000 Euro bezahlen. Ein Urteil wird für den 30. November erwartet.
»Der Prozess gegen die Air France Kollegen ist nur ein Teil der Repression gegen Akteure der Bewegungen gegen das Arbeitsgesetz el Khomri und gegen kämpferische Gewerkschafter«, meint Hajek. So müssen sich am 19. Oktober acht CGT-Mitglieder des Traktorenreifenwerks Goodyear in Amiens wegen Bossnapping vor Gericht verantworten. Sie gehörten zum Verhandlungskomitee. Ihnen wird vorgeworfen, im Kampf gegen die Werkschließung zwei Manager in ihrem Büro eingeschlossen zu haben, um mit ihnen die Modalitäten der Schließung zu verhandeln.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1027834.prozessbeginn-bei-air-france.html
Peter Nowak
Zurück Einseitige und konfliktscheue Nobelpreisvergabe
Warum teilt sich der kolumbianische Präsident den Preis nicht mit der FARC?
Angesichts der Tatsache, dass sogar Bundeskanzlerin Merkel als Kandidatin für den Friedensnobelpreis gehandelt wurde, wobei niemand sagen konnte, wofür eigentlich, ist die Entscheidung, den kolumbianischen Präsidenten damit zu bedenken, so schlecht nicht. Schließlich wird damit der Focus auf einen jahrzehntelangen Konflikt gelenkt, der noch nicht vorbei ist.
Das liegt nicht nur daran, dass eine knappe Mehrheit in Kolumbien am Wochenende gegen den Vertrag votiert [1] hat, sondern macht deutlich, dass noch immer eine starke Rechte im Land aktiv ist und auch Unterstützung in der Bevölkerung hat, die die Guerillaund die sozialen Proteste am liebsten repressiv mit der Zerschlagung der Bewegungen lösen wollen. Darin haben die herrschenden Kreise Kolumbiens Erfahrung.
Die FARC hat sich schließlich erst gegründet, weil immer mehr politisch engagierte Landarbeiter und Gewerkschafter ermordet worden waren. Als Mitte der 1980er schon einmal ein Versuch der Guerilla gestartet wurde, sich in den politisch Prozess auf friedliche Weise einzubringen, wurde die von der FARC gegründete Partei Union Patrotico [2] mit Terror zerschlagen. Einfache Mitglieder, Zeitungsverkäufer, Besucher von Veranstaltungen bis hin zum Präsidentschaftskandidaten wurden ermordet [3].
Daher ist es kein gutes Zeichen, wenn sich nach der knappen Ablehnung des Friedensabkommens der kolumbianische Präsident mit den harten Rechten um Uribe treffen will. Das sind die Sachverwalter der Großgrundbesitzer und ihrer Todesschwadronen. Sie wollen immer noch ein System der Ausbeutung und Ungleichheit dadurch perpetuieren, in dem sie die Träger der sozialen Proteste ausschalten wollen.
Santos war lange Zeit ein Exponent der extremen Rechten
Doch es soll ein Kompromiss mit den Rechten sein, die sich bisher dagegen sträuben. Präsident Santos dürfte es nicht schwer verfallen, bei Nachverhandlungen zur Rettung des Friedensabkommens diesen Rechten Zugeständnisse zu machen. Er kommt schließlich aus diesen Kreisen, war lange Zeit auch ein Vertreter einer Politik der Repression gegen Guerilla und die sozialen Bewegungen inKolumbien, er war auch als Verteidigungsminister unter Präsident Uribe an deren Menschenrechtsverletzungen beteiligt.
Wenn jetzt der Druck auf die FARC zunimmt, noch mehr Forderungen der Rechten zu akzeptieren, um das Abkommen zu retten, wäre das angesichts der bekannten mörderischen Traditionen der kolumbianischen Oberschicht und ihrer Schwadronen nicht nur für sie, sondern auch für die Aktivisten der sozialen Bewegungen lebensgefährlich. Daher ist umso unverständlicher, dass das Nobelpreiskomitee den Preis nicht geteilt hat.
Neben Santos hätte die FARC die andere Hälfte verdient. Schließlich hat sie viel mehr zu verlieren, wenn sie sich auf ein Abkommen einlässt, das dann nicht umgesetzt wird. Die Erinnerung an die Massaker gegen die UP in den 1980er Jahren zeigen, was sie riskieren, wenn sie sich auf Frieden mit der Oligarchie einlassen. Eine Teilung des Preises hätte auch in Kolumbien als Signalverstanden werden können, dass nicht nur die Regierung, sondern auch die andere Seite bei den Verhandlungen unter internationaler Aufmerksamkeit steht.
Das verhindert im Zweifel nicht unbedingt den Terror der Todesschwadronen. Doch es wäre ein Signal gewesen, dass bei den Verhandlungen zwischen der FARC und der kolumbianischen Regierung zwei gleichberechtigte Partner gegenübersitzen. Zudem wäre deutlich geworden, dass die Gründe, die zur Bildung der FARC wie auch der weiter bestehenden Guerilla ELN in den zutiefst ungerechten sozialen und politischen Verhältnissen des Landes liegt. Solange sie nicht grundlegend geändert sind, kann von Frieden keine Rede sein.
Gerade dieses Signal wollte das Nobelpreiskomitee aber nicht aussenden. Indem es einseitig nur den kolumbianischen Präsidenten und nicht auch deren Verhandlungspartner auszeichnete, ergriff es auch eindeutig Partei für genau diese Seite.
Politische Vergangenheit der Ausgezeichneten spielt keine Rolle
Dabei hat das Nobelkomitee in der Vergangenheit nach Friedensverhandlungen öfter beide Seiten mit dem Preis ausgezeichnet, beispielsweise den israelischen Ministerpräsidenten Rabin und seinen Vertragspartner auf palästinischer Seite Arafat. Beide wurden aus unterschiedlichen Gründen und von unterschiedlicher Seite für ihre politische Vita kritisiert. Doch ausgezeichnet wurden sie wegen ihrer Rolle im konkreten Friedensprozess. Genau so hätte es auch im Kolumbienkonflikt geschehen müssen.
Natürlich ist bekannt, dass auch die FARC Menschenrechtsverletzungen begangen hat. Dazu hat sie sich in den letzten Wochen auch bekannt und Entschädigung angekündigt. Dass auch Santos in seiner politischen Vita an vielen Menschenrechtsverletzungender kolumbianischen Oligarchie beteiligt [4] war, wird indessen weniger erwähnt.
Hätte auch die FARC die Hälfte des Preises bekommen, hätte das Nobelkomitee die Entscheidung verteidigen müssen, eine Organisation auszuzeichnen, die nach den Anschlägen vom 11.September 2001 völlig willkürlich auf Terrorlisten gesetzt wurde, obwohl sie mit den islamistischen Angriffen nichts zu tun hat. Indem es nun einseitig nur eine Seite im kolumbianischen Konflikt mit den Preis bedachte, setzt es seine bisherige Linie fort. Konfliktscheu, konservativ und immer an Rockzipfel der Mächtigen hängend.
http://www.heise.de/tp/news/Einseitige-und-konfliktscheue-Nobelpreisvergabe-3343281.html
Peter Nowak
Links:
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[2]
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Kleine Erfolge
Nikolai Huke zieht Bilanz der Krisen-Protestbewegung in Spanien
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Knapp fünf Jahre ist es her, dass in Spanien im Zeichen der Euro- und Bankenkrise eine massive Protestbewegung mit Platzbesetzungen, Großdemonstrationen und Streiks eine solidarische Gesellschaft einforderte. Am 15. März 2011 besetzte die Bewegung der Indignados öffentliche Plätze in zahlreichen spanischen Städten.
Die Aktion, die bewusst in Abgrenzung zu sämtlichen etablierten politischen Organisationen vorbereitet wurde, gab der Unzufriedenheit großer Teile der spanischen Bevölkerung mit der Austeritätspolitik einen politischen Ausdruck, schreibt der Tübinger Politologe Nicolai Huke in seiner im Verlag Edition Assemblage herausgegeben fundierten Untersuchung über die kurze Geschichte der Krisenproteste in Spanien.
Obwohl Indignados mit ihren Platzbesetzungen zum Symbol geworden waren, bildeten sie nur einen Teil der spanischen Protestbewegung ab. Ausführlich geht Huke auf die von der Bewegung der Hypothekenbetroffenen (PAH) organisierten Kämpfe gegen Zwangsräumungen ein. „Das individuelle Problem der Hypothekenschulden wurde zu einer Frage kollektiver Organisierung“, beschreibt er die Bedeutung der wesentlich von Frauen getragenen Organisation.
Auch bei den Protesten im Bildungs- und Gesundheitsbereich in den Jahren 2012 bis 2014 spielten Frauen eine wichtige Rolle. Die Marea Verde im Bildungs- und die Marea Blanca im Gesundheitsbereich mobilisierten nicht nur gegen die staatliche Kürzungsorgie. Mit ihrer Forderung nach Bildung und Gesundheit für Alle konnten sie auf großen Vollversammlungen Lehrende, Schüler/innen aber auch Eltern und Patient/innen begeistern. Huke beschreibt, wie die etablierten Gewerkschaften irritiert über die neuen Aktionsformen waren, sich aber in der politischen Auseinandersetzung neue Kooperationen herausbildeten.
Höhepunkt dieser gewerkschaftlichen Mobilisierung war der landesweite Generalstreik vom 29. März 2012. Im letzten Kapitel skizziert der Politologe die verschiedenen neuen Parteineugründungen wie CUP und Podemos aber auch kommunale Wahlbündnisse in Madrid und Barcelona, mit denen die Aktivisten die Institutionen besetzen wollten. Diese neuen Parteien profitierten von der Erschöpfung des außerparlamentarischen Protestzyklus, die spätestens ab 2014 deutlich geworden war.
Hukes Fazit der kurzen Geschichte der spanischen Protestbewegungen ist dennoch optimistisch. Ihnen sei es gelungen, „kleine Erfolge zu erzielen, die durch ihr erfolgreiches Scheitern die spanische Gesellschaft grundlegend veränderten“.

http://fm1.apm.ag/verdi_news_wcms/fmpro?-db=verdi_news_wcms.fp5&-lay=e&-format=txtdet.html&-recid=41551&-find
Peter Nowak
„Sehen Sie, wir sollten mehr miteinander reden“
Das Gespräch zwischen Sahra Wagenknecht und Frauke Petry: Missverständnisse überwiegen
In der Weimarer Republik waren sich Kommunisten und Nazis nicht nur verfeindet. Immer wieder kam es zu körperlichen Auseinandersetzungen. Doch es gab eine Praxis, die heute kaum mehr vorstellbar ist. Kommunisten und Nazis stritten in Versammlungen gegeneinander, jede Seite hatte ihre auch schlagkräftigen Mitglieder und Sympathisanten dabei und nach der Schlacht der Argumente gab es dann oft die Saalschlacht.
Das muss man wissen, wenn heute darum gestritten wird, ob die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei, Sahra Wagenknecht, ein Streitgespräch mit der Vorsitzenden der AfD, Frauke Petry, führen darf. Es war in der letzten Ausgabe der FAS veröffentlicht und ist auf Wagenknechts Homepage[1] dokumentiert.
Die Bewertung ist denkbar unterschiedlich und hängt wohl vor allem davon ab, wie man Wagenknechts Versuche beurteilt, die AfD-Wähler, die mal die Linke oder die PDS gewählt haben, wieder auf ihre Seite zu ziehen. Das kann man für eine kluge Politik oder eine Anbiederung an die Rechten halten. Die Reaktionen könnten gegensätzlicher nicht sein.
Die Süddeutsche Zeitung holt die Totalitarismuskeule hervor
Für die Süddeutsche Zeitung ist das Gespräch ein Anlass, wieder einmal die Totalitarismuskeule aus der Schublade zu holen[2]:
Ein Doppelinterview mit Rechtspopulistin Petry und Linken-Fraktionschefin Wagenknecht zeigt, wie sehr sich linker und rechter Rand angenähert haben. Die Gemeinsamkeiten sind groß – und gefährlich.Constanze von Bullion
Dabei zieht die Journalistin den ganz großen Bogen über angebliche Schnittmengen zwischen Kommunisten und Nazis in der Weimarer Zeit bis zum angeblichen „ultralinken Labour-Chef“ Corbyn, der wegen seiner EU-Skepsis mit für den Brexit verantwortlich sein soll. Die Autorin schreibt, dass Petry und Wagenknecht wie ein altes Ehepaar in dem Streitgespräch aufgetreten seien.
Man mäkelt zwar aneinander herum, aber im Kern, na ja, man kann miteinander leben.
Da müsste die SZ eigentlich zufrieden sein, denn dass Politiker unterschiedlicher Parteien miteinander leben können sollen, gehört ja wohl zum Einmaleins bürgerlicher Politik. Auch die Taz-Wirtschaftsredakteurin Ulrike Hermann schreibt von Konsensgesprächen[3] zwischen Wagenknecht und Petry.
Die „Junge Welt“, die Wagenknecht politisch lange sehr nahe stand und die sie heute noch weitgehend unterstützt, rechtfertigt das Streitgespräch mit dem Argument: „Wahlkampf heißt auch, sich ins Gespräch zu bringen“[4] und sieht die Linksparteipolitikerin gar als Aufklärerin.
Dort gibt es keine Fraternisiererei; Wagenknecht entlarvt Petry als aalglatte Opportunistin. Gegen das beständige Einfordern sozialer Antworten kann die AfD-Frau nur die Unkenntnis ihres eigenen Parteiprogrammes setzen. Und da von Hetze gegen noch Ärmere auf Dauer auch niemand satt wird, muss die Rechte gelegentlich linken Positionen beipflichten. So ’seltsam nah beieinander‘, wie Frau Bullion das zusammenleimt, war es nicht.Junge Welt[5]
Wenn man das Interview liest, findet man genügend Stellen, wo Wagenknecht klar den Dissens zu Petry nicht nur in der Sozial- , sondern auch in der Wirtschaftspolitik benennt. So heißt es schon ziemlich am Anfang des Streitgesprächs:
Es gibt keine Überschneidungen, Frau Petry. Sie hätten im Gegensatz zu mir jeder Verschärfung des Asylrechts zugestimmt. Laut Programm will die AfD, dass Deutschland sich in der Einwanderungspolitik an Kanada und an den Vereinigten Staaten von Amerika orientiert. Sie wollen also gezielt Hochqualifizierte aus ärmeren Ländern abwerben. Das ist das genaue Gegenteil von Hilfe. Dass Sie den Menschen in ihren Herkunftsländern helfen wollen, habe ich bislang auch nicht als AfD-Position wahrgenommen. Ebenso wenig, dass Sie die Bedingungen in den Flüchtlingslagern verbessern wollen. Stattdessen lese ich, dass Ihr Parteifreund Alexander Gauland die „menschliche Überflutung“ bei uns eindämmen will. Solche Worte finde ich menschenverachtend.Sahra Wagenknecht
Allerdings verweist Wagenknecht die Forderung nach offenen Grenzen, die im Parteiprogramm der Linkspartei steht, in eine ferne Zukunft, hält sie also für nicht aktuell. Damit stellt sie sich in Widerspruch zu vielen Menschen, denen auch klar ist, dass die Forderung nicht hier und heute umgesetzt werden wird. Für sie ist diese Forderung aber Richtschnur für ihre Unterstützung und Solidarität mit Migranten.
Wagenknecht hat in dem Streitgespräch auch an mehreren Stellen die wirtschaftsliberale Grundorientierung der AfD deutlich benannt, sich dabei aber selber in Widersprüche verstrickt, wenn sie sich später einen wirtschaftsliberalen Vordenker beruft:
Das Hauptargument gegen die Konzerne können Sie bei Walter Eucken nachlesen, einem der Väter der Sozialen Marktwirtschaft: Es ist deren wirtschaftliche Macht.Sahra Wagenknecht
Sahra Wagenknecht
Das ist aber kein Versehen. Schließlich hat sich Wagenknecht schon länger auf Ludwig Erhard berufen und versucht damit, liberale und konservative Wähler für ihre Wirtschafskritik zu gewinnen. Dass sie damit aber den Anspruch einer grundsätzlichen Kritik an Staat und Kapital aufgibt, nimmt sie in Kauf.
Es geht schließlich um Wählerstimmen. Im Streitgespräch hat Petry die angeblichen Gemeinsamkeiten mit der Linken in ihrer EU-Kritik oder im Freihandel in den Mittelpunkt gerückt, um die Wähler, die von der Linken zur AfD gewechselt sind, zu halten bzw. weitere zu gewinnen. Daher auch Petrys Avancen an Wagenknecht zur Fortsetzung des Gesprächs.
Wir sollten mehr miteinander reden.
Das ist im Grunde eine Aufforderung, die an die Wähler der Linkspartei gerichtet ist. Dass Petry damit linken Positionen beipflichtet, wie die junge Welt mutmaßt, ist eine Taktik, die mittlerweile alle erfolgreichen Rechtsparteien in Europa verfolgen. Pionier war dabei der Front National, der manchmal eine sozialistisch klingende Rhetorik anwendet, um seine Stellung als neue Wahlpartei der französischen Arbeiter zu halten.
Nur hat ein solches soziales Bekenntnis von Rechts nichts mit dem Sozialismus der emanzipatorischen Teile der Arbeiterbewegung zu tun. Was hinter den nationalen Phrasen von Rechts steckt, ist ein nationalstaatlicher Protektionismus, der einer kleinen Gruppe besondere Vorrechte und Privilegien bringen soll. Es ist also eine zutiefst anti-egalitäre und ausgrenzende Sozialstaatsvorstellung, die hinter der rechten Sozialstaatsrhetorik steckt.
Universelle Werte statt nationalstaatliche Sozialstaatsvorstellungen
Daher greift es in der Tat zu kurz, wenn Wagenknecht Petry nur vorhält, sei würden die sozialen Phrasen gar nicht ernst nehmen. Die Position von Wagenknecht zeigt das Dilemma derer auf, die immer noch den keynsianistischen Wohlfahrtsstaat wieder beleben wollen. Das aber ist in der heutigen Phase des Kapitalismus nicht mehr möglich.
Wer es trotzdem versucht, landet schnell bei protektionistischen Vorstellungen, wie sie bei den skandinavischen Rechtsparteien besonders virulent sind. Ihre Utopie ist ein soziales Volksheim ohne die Zugewanderten. Dagegen gilt es Gleichheit, Solidarität und ein schönes Leben für alle Menschen stark zu machen, was Wagenknecht bei aller Kritik am Rassismus der AfD nicht getan hat.
Jenseits der Themenkomplexe Soziales und Flüchtlingspolitik bleiben wichtige Topics in dem Streitgespräch unerwähnt, die sich um Minderheitenrechte drehen. In der Programmatik sind da Linke und AfD denkbar weit entfernt. Doch an der Basis der Linken ist die Trennung oft nicht so scharf. Nicht nur am Beispiel des Streitgesprächs zwischen Wagenknecht und Petry wird über die Gefahr diskutiert, Minderheitenrechte gegen Arbeiterinteressen zu stellen.
Das wird dem slowenischen Soziologen rgeworfen, der in einem Newsweek-Beitrag[6] den Hillary-Konsens angriff, mit dem sich angeblich gesellschaftliche Minderheiten gegen die Reste der alten US-Arbeiterklasse positionieren würden.
Sie gestehen allen Minderheitenforderungen höchste Legitimität zu, sie unterstützen den Kampf um Frauen- und Homosexuellenrechte – aber um den Preis eines ungehinderten Funktionierens des Kapitalismus.Slavoj Žižek
Ihm wirft die Publizistin Isolde Charim vor, einem linken Konservatismus zu huldigen[7]. Damit übernimmt sie eine Klassifizierung des französischen Soziologen Dider Eribon, der mit seinen Bestseller Rückkehr nach Reims[8] auch in Deutschland bekannt wurde.
Das Buch setzt sich mit der Frage auseinander, warum das Band zwischen den Lohnabhängigen und der politischen Linken, das in Frankreich bis in die 1970er Jahre gehalten hat, gerissen ist und viele Arbeiter jetzt rechts wählen. Eribon formuliert zwei einfache Forderungen[9], um dieses Band wieder zu knüpfen.
Als Erstes muss die Linke aufhören, soziale Forderungen wie ordentliche Gehälter, gute Wohnungen, anständige Arbeitsbedingungen, Pensionen, Sozialversicherung und ein anständiges Gesundheitssystem zu ignorieren. Wir müssen gegen die Zerstörung des Wohlfahrtsstaates in Europa kämpfen. Also müssen wir soziale Bewegungen unterstützen und Teil davon sein.Dider Eribon
Zudem betont er, dass eine Linke für die Minderheitenrechte eintreten muss:
Na ja, ich denke, die Linke muss lernen, dass der Kampf gegen neoliberale Politik die individuellen Rechte von allen Menschen stärken muss. Das sind kollektive und internationale Rechte, kollektiv und international erkämpft. LGBT-Rechte sind ein wichtiger und legitimer Teil des Kampfes, eine bessere Welt aufzubauen.Dider Eribon
Es geht also nicht darum, die Rechte der Arbeiter gegen die LGBT-Rechte auszuspielen, wie es bei Žižek anklingt, sondern ein politisches Projekt zu entwerfen, das sie einschließt.
Gemeinsam streiken, statt mit Karl Popper die offene Gesellschaft hoch leben zu lassen
Das muss sich aber nicht immer um realpolitische Forderungen drehen, wie die Frage, ob Clinton als kleineres Übel gegen Trump oder die EU gegen den Nationalstaat unterstützt werden sollen. In den 1970er und 1980er Jahren unterstützten Schwule und Lesben aus London den britischen Bergarbeiterstreik, woran im letzten Jahr der Film Pride[10] erinnerte.
Das hatte eine Vorgeschichte. Zuvor beteiligten sich Bergarbeitergewerkschafter als Streikposten für einen Streik indischer Frauen in London beim [11]. Damals wurde nicht so abstrakt über Arbeiter- versus Minderheitenrechte diskutiert und es trafen sich keine Parteienvertreter zum Streitgespräch. Es kamen soziale Bewegungen miteinander in Kontakt und schrieben Geschichte.
Heute wird hingegen die gegen jede Veränderung abgeschottete offene Gesellschaft des Karl Popper als Antidot gegen die AfD aufgeboten[12], und man wundert sich, dass dabei nur die mitmachen, die in der Gesellschaft so privilegiert sind, dass sie diese so erhalten wollen, wie sie ist.
Anhang
http://www.heise.de/tp/artikel/49/49627/2.html
Links
[1]
http://www.sahra-wagenknecht.de/de/article/2432.streitgespr%C3%A4ch-zwischen-sahra-wagenknecht-und-frauke-petry.html
[2]
http://www.sueddeutsche.de/politik/populismus-die-heimliche-klammer-zwischen-ganz-rechts-und-ganz-links-1.3188307
[3]
http://www.taz.de/!5340887/
[4]
https://www.jungewelt.de/2016/10-05/040.php
[5]
https://www.jungewelt.de/2016/10-05/040.php
[6]
http://europe.newsweek.com/slavoj-zizek-hillary-clinton-donald-trump-us-presidential-election-bernie-489993?
[7]
http://www.taz.de/Kolumne-Knapp-ueberm-Boulevard/!5339428/
[8]
http://www.suhrkamp.de/buecher/rueckkehr_nach_reims-didier_eribon_7252.html
[9]
http://www.taz.de/!5340042/
[10]
http://www.wildbunch-germany.de/movie/pride
[11]
https://socialistworker.co.uk/art/43226/Here+to+stay,+here+to+fight+-+how+the+Grunwick+strike+changed+everything
[12]
http://www.taz.de/!5339061
FPÖ hält nicht viel vom Urheberrecht
Filmpiraten vs. FPÖ, Teil II
Einen ersten juristischen Erfolg erzielte das Erfurter Kollektiv «Filmpiraten» gegen die Freiheitliche Partei Österreich. Das Wiener Handelsgericht wies eine Klage der FPÖ zurück, die die Existenz des linken Medienkollektivs gefährdet hätte. Die FPÖ hatte die Filmaktivist_innen vor dem Handelsgericht wegen falscher Anschuldigungen und Behinderung der Meinungsfreiheit verklagt. Dabei hatten die Filmpiraten nur ihr Urheberrecht verteidigt (siehe Augustin 384, Februar 2015).
Auf dem Kanal «FPÖ-TV» wurden ohne ihre Zustimmung und ohne Nennung der Quellen Ausschnitte ihres Videoberichts über den Prozess gegen den Jenaer Studenten Josef S. verwendet, der 2013 bei einer Demonstration gegen den von der FPÖ organisierten Wiener Akademikerball unter der Beschuldigung des schweren Landfriedensbruchs festgenommen worden war und trotz unklarer Beweislage monatelang in Untersuchungshaft saß (s. Interview mit Josef S. im Augustin 382 oder auf www.augustin.or.at). Die Filmpiraten forderten von der FPÖ eine Unterlassungserklärung, ihr Videomaterial nicht mehr zu verwenden. Die nun vom Handelsgericht abgewiesene Anzeige war eine versuchte Retourkutsche der rechten Partei.
«Bei der Verwendung von urheberrechtlich geschütztem Material ist in aller Regel davon auszugehen, dass dies nicht unbeschränkt und frei von jeglichen Restriktionen geschehen kann», belehrt Richter Heinz-Peter Schinzel in der Urteilsbegründung die FPÖ-Juristen. Der Richter teilt auch die Befürchtung der Filmpiraten, durch die Verwendung ihres Materials durch die FPÖ könne der falsche Verdacht entstehen, das antifaschistische Videokollektiv billige die Berichterstattung der rechten Partei. Jan Smendek vom Verein Filmpiraten bezeichnet die Abweisung der FPÖ-Klage als ersten Schritt in die richtige Richtung. Weil die FPÖ Berufung gegen das Urteil eingelegt hat, sei es aber noch zu früh, von einem endgültigen Erfolg zu sprechen.
Peter Nowak
www.filmpiraten.org
Chelsea Manning braucht unsere Solidarität
Nach dem Suizidversuch der Whistleblowerin gibt es eine internationale Kampagne für ihre Freilassung
Im September 2016 war die inhaftierte WikiLeaks-Informantin Chelsea Manning aus Protest gegen die Haftumstände und die Verweigerung von Medikamenten, die sie als Transgender benötigt, in den Hungerstreik getreten. Sie werde keine Nahrung zu sich nehmen, bis sie „ein Minimum an Würde, Respekt und Menschlichkeit“ erfahre und die „konstante, bewusste und übereifrige Überprüfung durch das Gefängnis- und Militärpersonal“ ende. Am 13. September beendete sie ihren fünftägigen Hungerstreik, nachdem ihr das US-Militär zugesagt hat, Manning als Transgender einen operativen Eingriff zur Geschlechtsumwandlung zu ermöglichen. (GWR-Red.)
In den letzten Monaten war es um die US-Whistleblowerin Chelsea Manning ruhig geworden. Die IT-Spezialistin war wegen Spionage und Verrat von Militärgeheimnissen zu einer Haftstrafe von 35 Jahren verurteilt worden, weil sie Dokumente und Videos an die Plattform Wikileaks geschickt hatte, die Kriegsverbrechen von US-Militärs während ihres Kriegseinsatzes im Irak dokumentieren. Doch seit einigen Wochen wächst weltweit die Angst um Mannings Leben, die als Transgender ihre Haftstrafe in dem Militärgefängnis für Männer Fort Leavenworth verbüßen muss. Dort verübte Manning in den Morgenstunden des 6. Juli 2016 einen Suizidversuch. Entsprechende Gerüchte wurden von ihren Anwälten mittlerweile bestätigt.
„Ich bin okay. Ich bin froh, am Leben zu sein. Vielen Dank für Eure Liebe. Ich komme da durch“, ließ Manning über Twitter ihren Unterstützer_innen mitteilen. Doch nach ihrem Suizidversuch drohen der Whistleblowerin nun neue Anklagen. Manning werden bedrohliches Verhalten, der Besitz verbotener Gegenstände und der Widerstand gegen Gefängnispersonal vorgeworfen. Kommt es zu einer Verurteilung, befürchtet die US-Menschenrechtsorganisation (ACLU) die unbefristete Einzelhaft, die Wiedereinstufung auf die höchste Sicherheitsstufe sowie neun zusätzliche Haftjahre ohne die Möglichkeit der Haftaussetzung. Solidaritätsgruppen warnen, dass solche Restriktionen das Leben der psychisch angeschlagenen Gefangenen gefährden könnten.
Mit einer Petition wollen die Unterstützergruppen die Öffentlichkeit gegen die erschwerten Haftbedingungen von Manning aufrütteln. „Chelsea braucht unsere Solidarität“, lautet ihr Motto.
Das Interesse ist zumindest in Deutschland nach ihrer Verurteilung zurückgegangen. Der Wikipedia-Eintrag zu Manning wurde seit 2014 nicht mehr aktualisiert. Doch nach ihren Suizidversuch hat der Chaos Computer Club (CCC), deren Ehrenmitglied Manning ist, ihre Begnadigung gefordert: „Die unmenschlichen Haftbedingungen haben Chelsea Manning an den Rand des Selbstmords getrieben. Als Strafe für ihren Versuch sollen diese nun noch verschärft werden“, kritisiert der CCC die US-Behörden. Mannings Haftbedingungen wurden schon 2012 vom UN-Berichterstatter als Folter kritisiert.
Nicht auf eine mögliche Begnadigung durch den Präsidenten verlassen
Der CCC fordert, wie andere Solidaritätsgruppen in aller Welt, dass der scheidende US-Präsident Barack Obama Manning begnadigt und so den grausamen Bedingungen ein Ende bereitet. „Das wäre endlich das langersehnte Zeichen für Whistleblower, auf das viele hoffen“, heißt es in der Erklärung.
Doch Solidaritätsgruppen in den USA warnen vor Illusionen in einen Gnadenakt von Obama. Sie verweisen darauf, dass es bisher nicht gelungen ist, den nach einem juristisch äußert fragwürdigen Indizienpross, der von massiver politischer Hetze begleitet war, zu einer lebenslänglichen Haft verurteilten Aktivisten des American Indian Movement Leonard Peltier freizubekommen. Nachdem Peltier vor mehr als einem Jahrzehnt schwer erkrankte, konzentrierten sich die Hoffnungen vieler seiner Unterstützer_innen auf eine Begnadigung durch Präsident Clinton. Doch die war ausgeblieben. Peltiers kritischem Gesundheitszustand zum Trotz, ist es nicht gelungen, die außerparlamentarische Kampagne für seine Freilassung wieder mit mehr Elan zu forcieren.
Deshalb wollen sich viele Unterstützer_innen von Manning verstärkt darauf konzentrieren, die Solidaritätsbewegung für ihre Freilassung sowohl in ihren eigenen Ländern als auch auf transnationaler Ebene zu stärken. Nur so könne der nötige Druck erzeugt werden, damit zunächst Mannings Haftbedingungen nicht noch weiter verschärft werden und der Druck für ihre Freilassung wächst.
Manning did the right thing
Dabei ist wichtig, Chelsea Manning nicht in erster Linie als Opfer, sondern als eine Aktivistin zu sehen, die durch die Veröffentlichung von Dokumenten geheim gehaltene Kriegsverbrechen im Irak bekannt gemacht hat. In Zeiten, in denen die Herrschenden aller Länder, auch in Deutschland, Kriege nicht nur wieder planen, sondern auch in ihr politisches Kalkül einbeziehen, solle Manning als ein Beispiel für einen Widerstand im Herzen der Kriegsmaschinerie gelten. Daher sollte neben ihrer Freilassung immer auch das Lob ihrer Aktionen im Mittelpunkt stehen. Die Parole „Manning did the right thing“ sollte auf keiner Antikriegsaktion fehlen.
http://www.graswurzel.net/412/manning.php
Peter Nowak
Ist die Zerstörung alter Kulturdenkmäler ein Verbrechen?
Die Frage müsste lauten, warum werden nicht soziale Sicherheit, Bildung und Kultur zum Weltkulturerbe erklärt?
„Malischer Kulturschänder verurteilt“, titelte[1] die bürgerliche FAZ und die TAZ, das schon längst dem Teenageralter entwachsende Blatt der Bürgerkinder, hat fast den gleichlautenden Aufmacher „Haft für den Kulturschänder“[2]. Beide Autoren betonen gleichermaßen, dass der malische Tuarag-Aktivist Ahmad al Faqi al-Mahdi noch recht glimpflich davon gekommen ist, weil er für seinen Anteil an der Zerstörung von Mausoleen in Timbuktu (siehe Islamistischer Bilderstürmer vor Gericht[3]) nur neun Jahre Haft bekommen hat. Wäre er nicht voll geständig gewesen und hätte er sich für die Zerstörungen nicht entschuldigt, wäre die Strafe sicher härter ausgefallen.
Nun scheint mit dem Urteil niemand ein Problem zu haben. Schließlich gehört der Angeklagte zu den Tuareg-Aktivisten, die zeitweise mit den Islamisten verbündet waren und in den von ihnen eroberten Gebieten eine Terrorherrschaft errichteten[4]. Tatsächlich gäbe es viele Gründe, den Islamisten und ihren Verbündeten den Prozess zu machen.
Dazu zählt ihr Terror durch eine brutale Scharia-Auslegung, die Verfolgung von Frauen, die sich nicht von den Islamisten unterdrücken lassen wollten, Grausamkeiten gegen Andersdenkende. Doch statt den Angriff auf Würde und Rechte der Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, wird vom Internationalen Strafgerichtshof die Zerstörung alter Gemäuer als Kriegsverbrechen verurteilt.
Ein katholischer Heiliger als Kriegsverbrecher?
Dabei gehörte die Zerstörung von Kirchen und Gebäuden und Orten, die zu heiligen Städten erklärt worden waren, jahrtausendelang zur Praxis jeder Armee, die ein Gebiet besetzt hat. Es war in der Regel eine Machtdemonstration und sollte die Unterlegenen demoralisieren. Als sich in Europa das Christentum ausbreitete, war die Zerstörung von Heiligtümern der zu Heiden erklärten Indigenen ein wichtiger Bestandteil der Expansion.
Bonifatius soll einen für die Bewohner einer germanischen Provinz heiligen Baum gefällt haben, um ihnen zu demonstrieren, dass dort nicht der Donnergott wohnt, der Blitz und Verderben über die Menschen bringt. Bonifatius wird von Katholiken bis heute verehrt[5]. Teile seiner Reliquien werden noch immer im Dom zu Fulda von Gläubigen angebetet. Verehren sie damit einen Verbrecher, sogar einen Kriegsverbrecher?
Nach dem Urteil des Internationalen Strafgerichtshof könnte seine Tat so klassifiziert werden. Schließlich ließ Bonifatius den „heiligen Baum“ fällen, um die bisherige Kultur und Religion der Indigenen nachhaltig zu erschüttern. Das waren aber gängige Methoden aller Propheten, die eine neue Religion etablieren wollten. Dazu mussten erst die alten Glaubenssysteme und ihre heiligen Orte entweiht werden.
Daneben wurden solche Zerstörungen seit jeher in eroberten Gebieten durchgeführt. Das galt bei Kriegen in Europa, mehr noch aber in den von den Europäern eroberten Gebieten auf den afrikanischen, amerikanischen und asiatischen Kontinenten. Die noch heute heuchlerisch als Entdecker gefeierten Eroberer wären nach dem Urteil aus Den Haag alle Kriegsverbrecher.
Zerstörung von Kulturdenkmälern kann auch Befreiung zum Motiv haben
Doch gab es auch ein anderes Motiv der Zerstörung von alten Kulturdenkmälern. Bei Revolutionen kann damit der Sturz der alten, verhassten Ordnung symbolisiert werden. In der kurzen Zeit der Macht der Wiedertäufer in Münster, die in dem historischen Roman Q[6] des Künstlerkollektivs Luther Blissett als eine Mischung aus religiösem Wahn und Diktatur des frühbürgerlichen Proletariats beschrieben wird, war der Abriss des monumentalen Doms ein demonstratives Zeichen dafür, dass die alten Mächte verloren haben.
Es dauerte allerdings nur wenige Monate und die alten Herrscher eroberten die Stadt zurück und ließen den Dom noch monumentaler wieder aufbauen. Auch später zerstörten aufbegehrende Menschen Kulturstätten, Kirchen und Schlösser der alten Mächte, um damit deutlich zu machen, dass diese auch architektonisch ihren Einfluss verloren haben. Das war zum Beispiel während der spanischen Revolution der Fall, als vor allem die Landbevölkerung den verhassten Klerus und die Feudalgesellschaft damit bestrafen wollte, indem viele Klöster, Schlösser und Kirchen zerstört wurden.
Der Roman Ästhetik des Widerstands[7] von Peter Weiss beginnt mit einem langen Kapitel, in dem sich drei deutsche Antifaschisten vor dem in Berlin ausgestellten Pergamonaltar[8] über die Rolle von Kunst unterhalten.
Sie interpretieren die Motive des Altars als antike Klassenkämpfe und sehen in ihm ein Denkmal der Inspiration für ihre Kämpfe, das sie bewahren wollen. An einer Stelle kommt die alte Mutter eines der drei Antifaschisten kurz zu Wort, die einwirft, dass die Unterdrückten diese alten Steine weniger kulturphilosophisch betrachten würden. Für sie wären sie eher gute Barrikaden bei den Revolten. Auch für den Hausgebrauch könnten sie verwendet werden.
Weltkulturerbe ist eher ein Programm zur Förderung des Tourismus
So berichten immer wieder Archäologen, dass Dorfbewohner in Peru und Mexiko Steine für den Hausbau aus Stätten mitnehmen würden, die zum Weltkulturerbe erklärt worden sind. Kritiker sehen im Weltkulturstatus vor allem eine Förderung für zahlungskräftige Touristen, die sich an den alten Kulturen erfreuen wollen. Für die Bewohner der Umgebung habe das nicht immer positive Folgen.
Wenn nun der Internationale Gerichtshof sein Urteil damit begründet, dass die Denkmäler für die Bewohner von Timbuktu einen „hohen symbolischen und moralischen Wert“ haben, sind sicher die Ausrichter der Tourismusprogramme auch gemeint. Die meisten Menschen in dieser Umgebung aber profitieren davon nicht, dass alte Gemäuer zu Kulturdenkmälern erklärt werden. Was sie brauchen, ist eine soziale Versorgung, Bildung und Gesundheit.
Solche Forderungen wurden immer wieder von einer starken sozialen Bewegung in Mali gestellt, was in dem Film Bamako[9] von Abderrahmane Sissako[10] deutlich wird, der ein fiktives Sozialforum in Malis Hauptstadt zum Thema hat.
Dort werden viele drängende Probleme der malischen Bevölkerung angesprochen: Armut, Unterernährung, Perspektivlosigkeit und die Migration vieler junger Menschen. Der Schutz von alten Gemäuern gehört nicht dazu.
So sollte doch die Frage gestellt, warum nicht das Zur-Verfügung-Stellen sozialer Versorgungssysteme, von Bildung und Gesundheit zum Weltkulturerbe erklärt wird und alle die Kräfte in Politik und Wirtschaft, die dafür verantwortlich sind, dass dies nicht gewährleistet wird, juristisch zur Verantwortung gezogen werden?
http://www.heise.de/tp/artikel/49/49549/1.html
Peter Nowak
Anhang
Links
[0]
https://www.flickr.com/photos/magharebia/8456723770/in/album-72157627453032919/
[1]
http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/afrika/malischer-kulturschaender-in-den-haag-verurteilt-14455909.html
[2]
http://www.taz.de/!5339596/
[3]
http://www.heise.de/tp/artikel/49/49217/
[4]
http://www.heise.de/tp/artikel/49/49217/
[5]
http://www.bistum-fulda.de/bistum_fulda/bistum/bistumsheilige/heiliger_bonifatius.php
[6]
http://www.assoziation-a.de/buch/186
[7]
http://www.suhrkamp.de/buecher/die_aesthetik_des_widerstands-peter_weiss_45688.html
[8]
http://www.smb.museum/museen-und-einrichtungen/antikensammlung/sammeln-forschen/3d-modell-des-pergamonaltars.html
[9]
http://www.archipel33.fr/site/index.php?option=com_content&task=view&id=287&Itemid=2&lang=fr
[10]
http://www.imdb.com/name/nm0803066
Linke EU-Kritik wieder möglich
Ein Kongress der Linkspartei in Berlin wirft Fragen auf
Nach der knappen Entscheidung für einen Brexit beim Referendum in Großbritannien brach in allen politischen Lagern zunächst das große Schweigen über die europäische Perspektive an. Nur die Rechten jubilierten. Selbst Parteien wie die FPÖ in Österreich taten so, als wäre die Entscheidung für den Brexit auch ihr Erfolg. Besonders in die Bredouille gerieten nach der strukturell rechten Entscheidung für den Brexit linke EU-Kritiker. Sollten sie aus Angst, den Rechten in die Hände zu spielen, ganz auf die eigene Kritik verzichten? Oder sollten sie im Gegenteil, ihre eigene linke Kritik stärker ausformulieren, gerade um den Rechten nicht das Monopol auf die EU-Kritik zu überlassen.
Diese Frage hat die von der Linken im Bundestag am Freitag organisierte Konferenz letztlich nicht beantwortet, die unter dem Titel „Krise der EU – Zeit für einen Neustart“ (https://www.linksfraktion.de/termine/detail/krise-der-eu-zeit-fuer-einen-linken-neustart/) offen gelassen. Die Konferenz wurde von Gregor Gysi eröffnet, der zunächst weit in die Geschichte zurückging. Er verordnete die Losung von den Vereinigten Staaten von Europa bei den Pazifisten und den NS-Gegnern. Dabei blendete er aus, dass es auch ein NS-Konzept eines unter Deutscher Hegemonie vereinigten Europas, ein Konzept, dass Brexit-Befürworter in Großbritannien sehr zur Empörung deutscher Medien in letzter Zeit immer wieder mal anführten.
Die Mär von den Millionen Migranten
Dabei waren auch von Gysi merkwürdige Thesen zu hören, wenn er mit dem Argument gegen den Bau einer Mauer zur Flüchtlingsabwehr eintrat, weil die in kurzer Zeit von Millionen Flüchtlingen gestürmt würde. Dabei scheint er nicht berücksichtigt zu haben, dass er damit selber das Bild von der „Flüchtlingsflut“ bedient, die auch unterschiedliche Rechte Gruppen bedienen.
Zudem hat Gysi nicht erklärt, woher er die empirischen Daten für diese Behauptung nimmt. In einen Passage malte der Politiker das Schreckensbild einer französischen Präsidentin Le Pen an die Wand, die in einer günstigen Stimmung ein Referendum über den EU-Austritt ihres Landes starten würde und dann wäre die Gemeinschaft endgültig tot. Die Beschwörung der Gefahr von Rechtsaußen dient meistens dazu, die Linke auf noch mehr Bündnisfähigkeit und Kompromisse mit der bürgerlichen Mitte einzustimmen und diese Absicht war bei Gysi klar erkennbar.
Wenn in der stärksten Macht der EU in Deutschland ein Politikwechsel gelänge, wäre das nach Gysis Meinung ein wichtiger Beitrag für diesen Neustart, so warb er für seine Lieblingsidee einer Regierung von SPD, Grünen und Linken.
Neustart statt radikaler EU-Kritik
Das Muster seiner Rhetorik war klar zu erkennen. Erst sparte er nicht mit klarer Kritik an der gegenwärtigen Verfasstheit der EU, um im nächsten Satz zu betonen, es gehe um einen Neustart und nicht um einen Abriss und Neubau.
Die Europäische Union sei undemokratisch, unsozial und in einer tiefen Krise, gab Gysi den scheinbar konsequenten Kritiker, um im nächsten Satz zu betonen, dass er nicht für eine Auflösung dieser EU, sondern für einen Neustart plädiere. Sein Hauptargument lautet, dass der Hauptverdienst der EU darin bestände, dass zwischen ihren Mitgliedsorganisationen keine Kriege geführt worden seien.
Auch den Euro kritisierte Gysi zunächst scharf. Er sei falsch konstruiert, betonte er mit Verweis auf seinen innerparteilichen Kontrahenten Lafontaine, der auf diese Missstände früh hingewiesen habe. Vor einer gemeinsamen Währung hätte eine Sozialunion stehen müssen, betonte Gysi. Im nächsten Augenblick warnte er allerdings vor einem Zurück zu nationalen Währungen. Also auch hier war die Absicht erkennbar, klare Missstände zu benennen, um dann vor einen radikalen Bruch zu warnen. Am Ende bekam er für die Absichtsbekundung, für ein soziales Europa zu kämpfen und die Linke in Europa zu stärken, viel Applaus.
Mit diesem Einleitungsreferat gab Gysi die Linie vor, auf der dieser Kongress beruhte. Eine auch scharfe Kritik an der Verfasstheit der EU wird dazu genutzt, um sowohl in Deutschland als auch auf europäischer Ebene einer entschiedenen Reformpolitik das Wort zu reden. Daher war es auch klar, dass Vorstellungen, wie sie im Zuge der Eurokrise durchaus nicht von radikalen Linken, sondern von Ökonomen, aber auch von Liberalen wie Soros formuliert[1] wurden, wie ein Ausscheiden Deutschlands aus dem Euro, auf der Konferenz ignoriert wurden. Solche Diskussionen passen nicht zum Bemühen, die Linke auch in Europa als konstruktive Reformkraft zu präsentieren.
Der allgemein dem linken Flügel der Linkspartei zugeordnete Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko formuliert in einem Interview[2] die Aufgabe der Linken in der europäischen Perspektivdiskussion ebenso allgemein wie nebulös: „Unsere Aufgabe ist es, darin eine alternative Form der europäischen Kooperation einzubringen.“
Auch Sahra Wagenknecht, die zu dem EU-kritischeren Teil der Linkspartei gerechnet wird, belässt es beim Aussenden widersprüchlicher Signale, die ausdeutbar sind. So forderte sie bereits unmittelbar nach der Brexit-Entscheidung einen Neustart der EU[3], kritisierte dort die schrillen Töne, mit denen die rassistische Grundierung umschrieben wird und sah im Brexit gleichzeitig sogar „die historische Chance, den Menschen ihre Stimme zurückzugeben“.
Syriza-Vertreter fehlten auf der Konferenz
Der Ausgangspunkt dieser Neustart-Diskussion war die Brexit-Entscheidung, ein Ereignis, bei dem die Linke nur eine geringe Rolle spielte. Ein Jahr zuvor gab es einen anderen linken Neustart-Versuch, der kurzzeitig viele Menschen motivierte. Das war die Wahl in Griechenland, die mit Syriza eine Partei an die Regierung brachte, die in der gleichen Europafraktion wie die Linkspartei ist. Kurzzeitig versäumte die Linkspartei es auch nicht, Tsipras als ihren Freund und Genossen herauszustellen.
Da fällt es schon auf, dass auf der Neustart-Konferenz weder Tsipras noch seine Kritiker zu finden waren. Auch der Kurzzeitfinanzminister Varofakis, der Schäuble und Co. auf die Palme brachte, aber viele in Europa mit seinem unkonventionellen Politikstil begeisterte, fehlte auf der Konferenz. Das wirft Fragen auf. Will man sich heute mit Tsipras nicht mehr zeigen, weil er dem Druck von Deutsch-Europa nicht standhalten konnte? Oder hat Tsipras kein Interesse mehr an einer zu engen Bindung an die Linkspartei. Schließlich hat er sich in letzter Zeit den europäischen Sozialdemokraten angenähert. Interessant wäre auch, ob die Neugründungsversuche von Varoufakis bei der Linkspartei eher als Konkurrenz oder als Unterstützung betrachtet werden-
Keine Experimente in Europa
Dabei dürfte sich die europäische Linke eine weitere Zersplitterung kaum leisten können. Schließlich bekam Gysi viel Applaus, als er die Schwäche der Linken auf europäischer Ebene beklagte.
Die dürfte sich auch den Einfluss der Linken auf die europäische Perspektivdiskussion auswirken. Schließlich haben auch wirtschaftsnahe Kreise den Brexit-Schock erholt und entwickeln neue Pläne für Europas Zukunft. Dazu gehören das Jaques Delors-Institut[4] in Berlin, dessen Direktor Henrik Enderlein in der Taz das Gegenprogramm zu den Plänen der Linken verkündete[5], ohne sie selber anzugreifen.
Neustart für europäische Proteste?
„Europa ist das Bindeglied zwischen dem Nationalstaat und der Globalisierung. Wer die offene Gesellschaft will, sollte Europa stärken. Und Europa stärken, das heißt nicht, das ganze EU-Projekt noch einmal neu aufzusetzen, sondern die kleinen, aber wichtigen pragmatischen Schritte zu gehen. Den großen Wurf, der alles noch einmal ganz neu und viel besser macht, wollen in der Regel nur theorieverliebte Wissenschaftler – und Populisten. Er würde Europa und Deutschland mehr schaden als nützen.“
Die wirtschaftsnahen Denkfabriken sehen das Wegbrechen Großbritanniens als Chance für eine Anpassung Europas[6], die mit den von der Linken geforderten Neustart wenig zu tun hat. So hoffen manche EU-Politiker die Militarisierung der EU nun zügiger vorantreiben zu können. Schließlich hat die britische Regierung aus Gründen der Souveränität hier eher gebremst.
Eine linke Europapolitik sollte auch diese Projekte nicht aus den Augen verlieren. Und sie sollten einen Neustart Europas nicht in erster Linie als Kooperation von Institutionen begreifen sondern als Lernprozess, wie es möglich ist, auf europäischer Ebene gemeinsame Proteste, Streiks und Arbeitskämpfe zu koordinieren.
Wie schlecht es damit bis heute bestellt ist, zeigte sich an der Nichtreaktion auf den Tod von Abd Elsalarm Ahmed Eldanf, der in der Nacht vom 14. auf den 15. September als Streikposten von Streikbrechern überfahren und tödlich verletzt wurde. Während in Italien Tausende Menschen dagegen protestierten, gab es in Deutschland überhaupt keine Reaktionen. Dabei richten sich die Arbeitskämpfe in der norditalienischen Logistikindustrie[7] gegen Konzerne, die in allen europäischen Ländern vertreten sind. Gemeinsame Proteste auf europäischer Ebene wären ein wichtiges Signal für einen linken europäischen Neustart. Bezeichnend, dass diese Aspekte bei der parlamentarischen Linken nicht erwähnt wurden.
http://www.heise.de/tp/artikel/49/49508/1.html
Peter Nowak
Anhang
Links
[1]
http://www.handelsblatt.com/politik/konjunktur/nachrichten/george-soros-eine-eurozone-ohne-deutschland-haette-weniger-probleme/8043396-2.html
[2]
http://www.jungewelt.de/2016/09-23/005.php
[3]
http://www.sahra-wagenknecht.de/de/article/2377.referendum-in-gro%C3%9Fbritannien-zeit-f%C3%BCr-einen-neustart-der-eu.html
[4]
http://www.delorsinstitut.de/
[5]
http://www.taz.de/!5339040/
[6]
http://www.delorsinstitut.de/publikationen/alle-publikationen/brexit-als-chance-fuer-eine-konstitutionelle-reform-der-eu/
[7]
http://de.labournet.tv/video/6673/der-kampf-der-logistikarbeiterinnen-italien
Proteste gegen TTIP statt soziale Kämpfe im eigenen Land
Mit dem Widerstand gegen TTIP und CETA kann man anscheinend gegen den Kapitalismus wettern, ohne die wirtschaftlichen Bedingungen in Deutschland oder anderswo auch nur anzukratzen
Als großartigen Erfolg „für die freihandelskritische Bewegung“ bewertet[1] das Netzwerk Attac die Demonstrationen von ca. 320.000 Menschen gegen TTIP und CETA am 17. September in sieben deutschen Städten. Dabei wurde in der Pressemitteilung schnell klar, dass es Attac darum geht, innerhalb der SPD die freihandelskritischen Kräfte zu stärken.
Diese Kritik von Peter Nowak ist berechtigt, aber sie ändert nichts  daran, dass die Bewegung gegen CETA und TTIP – in ihren Auswirkungen –   eine antikapitalistische Bewegung ist. Ganz gleich, welche Illusionen  sich Teile der Bewegung machen, ist diese Bewegung antikapitalistisch,  weil sie sich einen virtuellen Platz am Verhandlungstisch des  Großkapitals erkämpft hat.
Profitproduktion und ihres Handelsaustausches, und sie können nicht  verhindern, dass sich das „tumbe Volk“ in diese Verhandlungen einmischt.  Mit dieser Einmischung in die Entscheidungen der globalen Großkonzerne  wird das Eigentumsrecht der Kapitalisten auf höchster Ebene in Frage  gestellt. „Eigentumsrecht“ heißt ja nichts anderes, als die freie  Entscheidung über eine Sache.
Diese freie Entscheidung über die Produktions- und Handelssachen wird  durch die Bewegung gegen CETA und TTIP gebrochen und durchbrochen.
Hinter der Bewegung gegen CETA und TTIP steht die Enteignung des  Kapitals, steht die Aneignung der Produktionsmittel durch das  lohnabhängige Volk.
Wir sollten falsche Ansichten in dieser Bewegungund mit dieser Bewegung  kritisieren, aber wir sollten mit den falschen Ansichten nicht die ganze  Bewegung in Frage stellen.
Die Überschrift über Peters Artikel konstruiert einen Gegensatz zwischen dem Kampf gegen TTIP und CETA und den sozialen Kämpfen in Deutschland.
Der Kampf gegen TTIP und CETA steht aber nur soweit in Konkurrenz zu den  anderen sozialen Kämpfen in Deutschland, als man TTIP und CETA mit  nationalistischen und sozialdemokratischen Beweggründen kritisiert.
Die Bewegung gegen TTIP und CETA steht nur dann in Konkurrenz zu anderen  sozialen Kämpfen in Deutschland, wenn nicht genügend deutlich gemacht  wird, dass es bei TTIP und CETA um ein Komplott des amerikanischen und  europäischen Kapitals handelt zunächst gegen die erstarkende Konkurrenz  der BRIC-Staaten,  dann aber auch gegen die sozialen und ökologischen Interessen der  Lohnabhängigen und aller NIchtkapitalisten in beiden Hemisphären,
meint Wal Buchenberg

Die Vernunft und die SPD
Schon im Titel macht Attac deutlich, welche Botschaft von der Demonstration ausgegangen sein soll: „Gabriel muss zur Vernunft kommen“, heißt es da – und dann betont Roland Süss vom Attac-Aktionskreis noch einmal:
Die Demonstrationen sind zudem ein deutliches Zeichen, dass der Versuch von Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel gescheitert ist, der Bevölkerung das geplante Abkommen mit Kanada als harmlos zu verkaufen. Jetzt ist es an den Delegierten des nicht öffentlich tagenden SPD-Parteikonvents am Montag, Gabriel zur Vernunft zu bringen.Roland Süss
Davon abgesehen, dass sicher nicht alle derjenigen, die am Samstag gegen TTIP und CETA auf die Straße gegangen sind, ihr Engagement auf Spielgeld für Konflikte innerhalb der SPD reduzieren lassen wollen, ist es auch fragwürdig, dass Attac Gabriels Eiertanz um TTIP und CETA zur Frage der Vernunft erklärt. Solche emotionalen Anwandlungen sind Teil einer populistischen Rhetorik, die nicht nur Parteien wie die AfD gut beherrschen. Doch gerade emanzipative Kräfte sollten von Interessen reden, die hinter bestimmten politischen Entscheidungen stehen und könnten beispielsweise über die unterschiedlichen Kapitalfraktionen informieren, die mehr oder weniger Interesse an Abkommen wie CETA und TTIP haben.
Drückt sich in Gabriels Eiertanz gerade dieses Lavieren zwischen den unterschiedlichen Kapitalfraktionen und dann noch den Willensbekundungen einer SPD-Basis aus, die in der Frage von TTIP und etwas weniger auch bei CETA eine Renitenz an den Tag legt, die man beispielsweise bei von der SPD maßgeblich forcierten Entscheidungen wie der Agenda 2010 vermisst hat. Man könnte sogar die Vermutung äußern, dass für viele SPD-Mitglieder und auch Funktionäre, vor allem der mittleren Ebene, die Gegnerschaft zu TTIP und CETA der Ersatz dafür ist, dass nicht wenigstens versucht wird, den real existierenden Kapitalismus für den Großteil der Menschen etwas sozialer zu gestalten.
Genau das war über Jahrzehnte das sozialdemokratische Kerngeschäft und wurde mit Begriffen wie Humanisierung der Arbeitswelt und sozialer Kapitalismus bezeichnet. Reformen sollten nach diesen sozialdemokratischen Vorstellungen dazu beitragen, dass die Arbeitszeit verkürzt, die Mitbestimmung in den Betrieben ausgeweitet wird. So sollte der Kapitalismus für die Lohnabhängigen zumindest erträglicher gemacht werden. Doch spätestens in der neoliberalen Phase bekam der Begriff Reform einen neuen Klang. Er kündigte den Lohnabhängigen weitere Verschlechterungen ihrer Lebenssituation, Kürzungen von Leistungen und Verlängerungen von Renten- und Arbeitszeiten an. Die Hartz IV-Reform war dafür nur das prägnanteste Beispiel.
Dieser Wandel ist damit zu erklären, dass der weltweite Konkurrenzkapitalismus auf der Jagd nach immer besseren Verwertungsbedingungen auch nicht mehr die kleinsten Verbesserungen zulassen will. Damit begann aber auch der Niedergang der Sozialdemokratie, weil es eben die Hoffnung nicht mehr gab, durch kleine Reformen Verbesserungen der eigenen Lebens- und Arbeitsverhältnisse zu erreichen.
Ersatzhandlung TTIP
Wenn schon die Kapitalverhältnisse und die Standortlogik selbst die kleinsten Verbesserungen für die Masse der Bevölkerung nicht mehr ermöglicht, bekommen Abkommen wie TTIP oder CETA die Funktion einer Ersatzhandlung. Man kann scheinbar gegen den Kapitalismus wettern, ohne den eigenen Standort auch nur anzukratzen. Im Gegenteil, man kann sich als Verteidiger des „eigenen“ Kapitalstandortes feiern lassen, den man gegen fremde Standorte, hier besonders die USA, verteidigen will. Damit gelingt es in Zeiten, wo es über den wichtigen Alltagswiderstand der Betroffenen hinaus kaum relevanten Widerstand gegen die ständigen Verschlechterungen für Erwerbslose, prekär Beschäftigte und Migranten in Deutschland gibt, Massen auf die Straße zu bringen.
Am ersten Septemberwochenende beteiligten sich maximal 800 Menschen an einer Protestaktion[2] vor dem Bundesarbeitsministerium (Erst herrscht Ruhe im Land[3]), das in der letzten Zeit zahlreiche Verschlechterungen für Erwerbslose und Migranten zu verantworten hat, eben die Reformen im Zeitalter des Neoliberalismus.
Wenn nun zwei Wochen später 320.000 gegen TTIP auf die Straße gehen, dann ist das kein Zufall. Im ersten Fall hätte man sich mit einen deutschen Staatsapparat anlegen müssen, der alles tut, um die Kapitalverhältnisse am Standort Deutschland zu verbessern. Ein Protest dagegen hätte eine Distanz oder sogar eine Kritik am Standort Deutschland zur Voraussetzung. Proteste gegen TTIP und CETA hingegen können den Standort Deutschland entweder ganz ausklammern oder ihn sogar verteidigen vor Angriffen aus Übersee. Das ist auch der Grund, warum sämtliche Parteien rechts von der Union gegen TTIP[4]. Die AfD liefert die Begründung[5] präzise mit:
Gerade bei den vielfältigen Interessen der EU-Staaten muss man darauf bestehen, dass die einzelnen Mitgliedsstaaten, insbesondere Deutschland, direkt am Verhandlungstisch sitzen. In Bezug auf die USA sehen viele Bürger Deutschland und die EU als einen unterlegenen Junior-Partner und das Freihandelsabkommen als eine willkommene Gelegenheit für den Stärkeren, seine Macht noch weiter auszubauen.AfD
Die AfD befürwortet also eigentlich den Freihandel, sieht aber in den Vertrag die deutschen Interessen zu wenig berücksichtigt. Wenn man liest, wie auf rechten Webseiten gegeifert[6] wird, dass Konzerne wie VW in den USA für ihre Vertragsverletzungen in Sachen Umweltschutz zur Kasse gebeten werden, ahnt man, dass sich hier ein Antiamerikanismus mit einer Formierung zur deutschen Volksgemeinschaft paaren können, in der der ehemalige Nazikonzern VW natürlich eine besondere Rolle spielt.
Vergleich zur deutschen Anti-Pershing-Bewegung der 1980er Jahre
Ein Großteil der Gegner von TTIP und CETA, die am Wochenende auf die Straße gegangen sind, würden sich von einem solchen extremen Standortnationalismus distanzieren. Deswegen durfte die AfD-Führung auf den Demonstrationen auch offiziell nicht teilnehmen (AfD auf einer TTIP-Demo unerwünscht[7]). Wie viele AfD-Wähler dabei waren, ist natürlich nicht so leicht zu ermitteln. Aber wie bei den vorigen Anti-TTIP-Demonstrationen gab es auch am Wochenende Parolen, die zumindest auch einer deutschnationalen TTIP-Kritik gegenüber offen sind. Hier gibt es durchaus Parallelen zu den Massendemonstrationen der als Friedensbewegung firmierenden Anti-Pershing-Bewegung der 1980er Jahre. Auch damals war sie eher von der Traditionslinken dominiert, aber es gab auch genügend Raum für deutschnationale Untertöne, in denen sich diejenigen ausdrücken konnten, die den Alliierten nicht verziehen haben, dass sie 1945 gemeinsam das NS-Deutschland besiegten. Daher traf auch der Publizist Wolfgang Pohrt einen wunden Punkt, als er in der Friedensbewegung der 1980er Jahre eine deutschnationale Erweckungsbewegung[8] erkennen wollte.
Wenn nun die Taz in ihrer TTIP-CETA-Beilage über die Demonstrationen gegen TTIP und CETA schreibt: „Die Proteste sind damit so mächtig, wie einst die gegen die Stationierung von Atomwaffen, den Transport von Castoren oder die Globalisierung“, dann ist es auf jeden Fall angebracht, sich einige Fragen zu stellen. Wird mit dem Kampf gegen die Globalisierung nicht gerade gegen die Aspekte im Kapitalismus mobilisiert, die zumindest von Karl Marx noch auf dessen Positivseite verbucht worden sind? Und kann eine Bewegung, die die Globalisierung und nicht die Ausbeutung und die Verwertung im Kapitalismus zum Gegenstand ihrer Kritik macht, sich wirklich inhaltlich so klar von einer AfD oder einem Donald Trump distanzieren, wie es die Organisatoren der Demonstrationen verbal in den letzte Wochen getan haben?
Solche Fragen zu stellen, bedeuten nun keineswegs, etwa TTIP und CETA emanzipatorische Ziele und Zwecke unterzuschieben oder die Masse der Demonstranten, die am Samstag auf die Straße gegangen sind, in die rechte Ecke zu stellen. Es soll vielmehr deutlich werden, dass es nicht diese Verträge sind, die den Kapitalismus für viele Menschen so unerträglich machen. Wenn Kapitalismuskritiker mit dieser Intention auf die Demonstrationen gegangen sind, konnten sie sie vielleicht als Forum nutzen, um einigen TTIP-Kritikern diese Zusammenhänge näher zu bringen. Roland Röder von der Nichtregierungsorganisation Aktion 3Welt Saar[9] hat diesen Zusammenhang in einem Kommentar[10] in der linken Wochenzeitung Jungle World auf den Punkt gebracht:
Alles in allem gibt es gute Gründe, gegen TTIP zu sein – die leidigen informellen Schiedsgerichte, die noch nicht mal den Anschein von Öffentlichkeit wahren, sind einer davon. Aber es gibt keinen Grund, TTIP zum letzten Gefecht zu erklären. Das ist NGO-Propaganda im Katastrophenmodus. Gegen TTIP zu sein, ist so sinnvoll wie gegen Arbeitsverdichtung und für Lohnerhöhungen zu sein. Nur schafft man damit keine Ausbeutung ab, weder national noch international. Wie auch, schließlich gibt es einen fairen Kapitalismus genauso wenig, wie es faires Wetter gibt.Roland Röder
Anhang
Links
[0]
http://attac.de
[1]
http://www.attac.de/ceta-demos-impressionen
[2]
http://berlin.blockupy-frankfurt.org/
[3]
http://www.heise.de/tp/artikel/49/49322/
[4]
http://www.taz.de/!5338407/
[5]
http://www.alternativefuer.de/programm-hintergrund/hintergrundinformationen/freihandelsabkommen/
[6]
http://www.pi-news.net/2016/09/vw-bosch-und-deutsche-bank-sollen-milliarden-blechen
[7]
http://www.heise.de/tp/artikel/49/49252/
[8]
http://www.zeit.de/1981/45/ein-volk-ein-reich-ein-frieden
[9]
http://www.a3wsaar.de/
[10]
http://jungle-world.com/artikel/2016/36/54791.html
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Kommentar von Wal Buchenberg zu den Artikel auf dem Blog marx-forum:
In den vergangenen Wochen und Monaten sind Hunderttausende gegen die geplanten Abkommen CETA und TTIP auf die Straße gegangen.
Peter Nowak hat ganz recht, manche Illusionen und Motive der Bewegung gegen CETA und TTIP zu hinterfragen.  Es gibt tatsächlich Kräfte in dieser großen Bewegung, die diese beiden  Abkommen mittels „Standortlogik“ kritisieren. In ihrer Logik  sind das  europäische Kapital und die EU-Bürokraten eigentlich gut, und werden vom  „bösen“ US-Kapital auf die schiefe Bahn des Abbaus sozialer und  ökologischer Standards getrieben.
Diese nationalistische „rosa Brille“ macht es möglich, dass sich auch  antiamerikanische Anhänger der Rechten unter die Demonstranten mischen.
Erst herrscht Ruhe im Land

„Gemeinsam kämpfen gegen Rassismus und Soziabbau“ lautete das Motto eines Transparents, das zwei Aktivsten am 2. September an der Fassade des Berliner Hauptbahnhofs angebracht hatten. Sie wurden dafür kurzzeitig festgenommen[1].
Berlin-Blockade, zweiter Versuch
Manche verfassen bereits Nachrufe auf das »Blockupy«-Bündnis. Dieses ruft indessen zu einem Aktionswochenende in Berlin auf.
Ende Juli machte eine merkwürdige Reisegruppe mit Koffern und Kartons kurzzeitig Halt vor dem Bundesarbeitsministerium. »Blockupy zieht nach Berlin« hieß das Motto der Veranstaltung, die bei einigen Linken jedoch für Spott sorgte. Schließlich war das »Blockupy«-Bündnis hauptsächlich für drei politische Großdemonstrationen und -blockaden in Frankfurt am Main bekannt, die die Polizei mit Großeinsätzen beendete, und nicht für Polittheater. Die »Blockupy«-Aktion 2015 war mit einer in den vergangenen Jahren in Deutschland eher ungewöhnlichen linken Militanz verbunden. Deshalb waren manche überaus verwundert, dass die Organisatoren des Bündnisses mit einem im Vergleich zu den Ereignissen des vergangenen Jahres harmlosen Auftritt ihren Einstand in Berlin gaben.
Für den 27. August hatten sich einige Unterstützer von »Blockupy« anlässlich des Tags der offenen Tür der Bundesregierung erneut das Bundesarbeitsministerium für eine Protestaktion ausgesucht. Sie entrollten ein Transparent mit der Parole »Exit Fortress Europe, Austerity, Capitalism – Blockupy 2.9. Berlin«. Damit machten sie auf den bundesweiten Aktionstag am Freitag aufmerksam. Wie schon anlässlich der Demonstrationen und Blockaden in Frankfurt müssen die Teilnehmer auch in Berlin früh aufstehen. Bereits ab 7.30 Uhr wollen sie vom Potsdamer Platz und vom Gendarmenmarkt aus zur Blockade des Arbeitsministeriums aufbrechen.
Mit der Wahl dieses Ziels richtet das Bündnis seine Kritik unter anderem auf die Austeritätspolitik, die im Wesentlichen von Deutschland ausgeht. »Wir glauben, es ist dringend an der Zeit, das Lager der Solidarität im Zentrum des europäischen Kapitalismus sichtbar werden zu lassen und hier gemeinsam die vermeintliche Alternativlosigkeit der neoliberalen Mitte anzugreifen – bevor nationale ›Lösungen‹ in Gesetzen, in Parlamenten und auf der Straße überhand nehmen«, heißt es in dem zentralen Aufruf. In einem Text zur »Feministischen Intervention« wird an den Druck erinnert, der durch die in Deutschland vorangetriebenen Hartz-Reformen auch europaweit auf die Bereiche der sozialen Reproduktion ausgeübt wird. »Was im politischen Laboratorium Deutschland erfolgreich getestet wurde, soll nun als Exportschlager allen anderen europäischen Ländern aufgezwungen und in Deutschland weiter verschärft werden«, heißt es dort. Die Verfasserinnen und Verfasser erinnern daran, dass besonders alleinerziehende Frauen von Armut betroffen sind.
Die geplante Blockade ist dabei nur der Auftakt eines Aktionswochenendes. Am 3. September ruft ein Bündnis unter dem Motto »Aufstehen gegen rechts« zum Protest gegen den Aufstieg der AfD auf. Die Beteiligung von Grünen und SPD an dieser Demonstration ruft nicht nur Freude hervor. »Vom pragmatischen Antihumanismus von SPD, Grünen und CDU zur authentischen Menschenfeindlichkeit einer Frauke Petry und eines Björn Höcke ist es nur ein kleiner Schritt«, heißt es in einem Aufruf des Blocks »Nationalismus ist keine Alternative«, der vom kommunistischen Bündnis »Ums Ganze« getragen wird. Dort wird auch »Sahra Obergrenze Wagenknecht« als ein Beispiel dafür benannt, wie parlamentarische Linke den Rassismus entschuldigen oder sogar forcieren.
»Mit der geplanten Blockade des Bundesarbeitsministeriums wollen wir deutlich machen, dass die jüngsten Hartz-IV-Verschärfungen von den Intentionen her das umsetzen, was auch die AfD fordert«, sagt Klaus Steinle von der Berliner »Blockupy«-Plattform der Jungle World. »Denn mit den Arbeitsmigranten aus EU-Ländern und den Alleinerziehenden werden genau die Gruppen noch einmal schlechter gestellt, die auch im Visier der Rechtspopulisten stehen«, betont Steinle. Er erwartet eine dreistellige Teilnehmerzahl. Hannah Schuster, Pressesprecherin von »Blockupy«, sieht in dem Aktionswochenende mehr als ein Event. »Es geht um den Versuch, ein linkes Projekt, einen linken Pol zu bilden, der die soziale Frage und Antirassismus offensiv zusammenführt«, sagt sie. Darüber soll am 4. September auch auf einem bundesweiten Aktionstreffen in den Räumen der Rosa-Luxemburg-Stiftung am Berliner Mehringplatz beraten werden.
Das »Blockupy«-Bündnis muss derzeit auch gegen seine mediale Darstellung ankämpfen. Denn stellenweise werden schon Nachrufe verfasst. So sieht der Taz-Redakteur Martin Kaul in dem Aktionswochenende den »Abschluss eines einst erfolgreichen Bündnisses«, das seinen Glanz verloren habe. Dass selbst die rechte Boulevardpresse vor der geplanten Ministeriumsblockade keine Schreckensmeldungen über drohende Gewalt verbreitet, zeigt, dass das Bündnis auf der Gegenseite nicht mehr ernst genommen wird. Niemand scheint zu erwarten, dass am kommenden Wochenende Berlin lahmgelegt wird wie Frankfurt die drei Jahre zuvor. Das liegt vor allem an der Ratlosigkeit der Krisenprotestbewegung auf europäischer Ebene. »Bisher gibt es keine wirksame emanzipatorische Antwort auf die europäische Krise«, heißt es im Aufruf von »Nationalismus ist keine Alternative«.
Der Politologe Nikolai Huke hat kürzlich im Verlag Edition Assemblage unter dem Titel »Krisenproteste in Spanien« ein Buch veröffentlicht, in dem er detailliert aufzeigt, wie die verschiedenen gewerkschaftlichen und sozialen Protestbewegungen in den vergangenen fünf Jahren an ihre Grenzen gestoßen sind. Dabei weist Huke auch nach, dass es nicht Parteien wie Podemos waren, die den sozialen Protestbewegungen ihre politische Kraft genommen haben. Vielmehr profitierten solche neuen Parteien von der Erschöpfung des außerparlamentarischen Protestzyklus. Podemos brauchte Huke zufolge gar nicht an die Regierung zu kommen, um zu verdeutlichen, dass der Anspruch einer ganz anderen Politik bereits gescheitert ist. Trotzdem kommt der Autor zu dem gar nicht so pessimistischen Schluss, dass es den unterschiedlichen Bewegungen, aber auch der neuen linken Partei in Spanien gelang, »in diesem Prozess kleine Erfolge zu erzielen, die durch ihr erfolgreiches Scheitern die spanische Gesellschaft grundlegend veränderten«. Huke hat diese These auch am Beispiel der Bewegung gegen die Zwangsräumungen und der jahrelangen Kämpfe im Bildungs- und Gesundheitsbereich gut belegt. In diesen Sektoren führten Beschäftigte teilweise lang anhaltende Arbeitskämpfe, aber meist ohne die bisher dominierenden Gewerkschaften.
Auch das »Blockupy«-Netzwerk hat in den vergangenen Monaten verstärkt das Augenmerk auf Arbeitskämpfe in Bereichen gerichtet, die bisher kaum gewerkschaftlich organisierbar waren. Anfang Oktober 2015 fand in Poznan unter dem Motto »Dem transnationalen Streik entgegen« eine europaweite Konferenz statt (Jungle World 42/15). Im Oktober wird es in Paris erneut eine Konferenz zum selben Thema geben, auf der auch die jüngsten Erfahrungen mit den Arbeitskämpfen und sozialen Bewegungen in Frankreich einfließen sollen. Am 1. März 2016 gab es erstmals in mehreren europäischen Ländern zugleich Aktionen gegen prekäre Arbeitsverhältnisse (Jungle World 8/16). Wenn das Protestbündnis diese Orientierung weiterverfolgt, könnte der Begriff Krisenproteste eine neue Bedeutung bekommen: Es ginge dann nicht mehr um die Banken und die Börse, sondern um die alltägliche Krise der prekär Beschäftigten im Kapitalismus.
http://jungle-world.com/artikel/2016/35/54762.html
von Peter Nowak
Die vergessene Whistleblowerin Chelsea Manning
Ihr Selbstmordversuch und ihre verschärften Haftbedingungen wurden in Deutschland kaum wahrgenommen
In der letzten Woche wurde in manchen Medien kurz vermeldet, dass die Fraktionen der Linken und der Grünen einen neuen Anlauf nehmen, um den US-Whistleblower Snowden doch noch die Möglichkeit zu geben, in Deutschland vor dem NSA-Untersuchungsausschuss aussagen zu können[1].
In einem Brief an den Bundesgerichtshof fordern beide Fraktionen, dass die Blockade der Bundesregierung gegen eine Vernehmung von Snowden in Deutschland beendet werden soll. Allerdings dürfte das Ansinnen, Snowden nach Deutschland zu bringen, genau so wenig Chancen auf Verwirklichung haben wie bisher. Die mit antiamerikanischem Furor geführte Debatte über die NSA hat in Deutschland merklich an Bedeutung verloren. Im Zuge der internationalen Terrorgefahr betonen Politiker und Geheimdienstexperten wieder die Gemeinsamkeit der unterschiedlichen Dienste.

Zudem dürfte es sich Snowden zweimal überlegen, ob er nach Deutschland reist, wo nicht ausgeschlossen werden kann, dass er in die USA ausgeliefert wird. Zudem haben Medien[2] und Politiker[3] in Deutschland Snowden mehrmals beschuldigt, mit dem russischen Geheimdienst zu kooperieren. Das könnte sogar in Deutschland juristische Folgerungen haben. Das Schicksal der Whistleblowerin Chelsea Manning deutet die Gefahr an, die Snowden droht, sollte er an die USA ausgeliefert werden.
Selbstmordversuch bestätigt
Die Gerüchte, wonach Manning im Militärgefängnis von Fort Leavenworth einen Selbstmordversuch unternommen hat, bestätigen sich[4] laut der Anwälte von Manning. Ihnen zufolge hat ihre Mandantin in den Morgenstunden des 6. Juli einen Suizidversuch unternommen. Auf ihrer Twitterseite[5] hinterließ Manning die Botschaft: „Ich bin okay. Ich bin froh, am Leben zu sein. Vielen Dank für Eure Liebe. Ich komme da durch.“
Auf der Internetseite der Kampagne für Mannings Freilassung[6] wird der Selbstmordversuch mit den erschwerten Haftbedingungen von Manning in Verbindung gebracht[7]. Erschwerend kommt hinzu, dass der Transgender Manning die 25jährige Haftstrafe wegen Spionage und Verrat in einem Militärgefängnis für Männer verbüßen muss. Chelsea Manning hatte wichtige Dokumente und Videos an die Plattform Wikileaks geschickt, die Kriegsverbrechen von US-Militärs während ihres Engagements im Irak dokumentieren.
Nach Suizidversuch verschärfte Repression im Gefängnis
Nach ihrem Suizidversuch versuchen Solidaritätsgruppen mit einer Petition gegen die erschwerten Haftbedingungen vorzugehen[8]. Die US-Behörden versuchen hingegen, die Haftbedingungen gegen Manning noch zu erschweren[9].
Manning droht eine erneute Anklage. Vorgeworfen werden ihr bedrohendes Verhalten, der Besitz verbotener Gegenstände und der Widerstand gegen Gefängnispersonal. Kommt es zu einer Verurteilung, befürchten US-Menschenrechtsorganisationen[10] unbefristete Einzelhaft, Wiedereinstufung auf die höchste Sicherheitsstufe sowie neun zusätzliche Haftjahre ohne die Möglichkeit der Haftaussetzung.
Der Chaos Computer Club, dessen Ehrenmitglied Mannings ist[11] fordert eine Begnadigung von Mannings und kritisiert ihre Haftbedingungen. In der Erklärung heißt es:
Die unmenschlichen Haftbedingungen haben Chelsea Manning an den Rand des Selbstmords getrieben. Als Strafe für ihren Versuch sollen diese nun noch verschärft werden. Mannings Haftbedingungen wurden schon 2012 vom UN-Berichterstatter als Folter kritisiert. Wir fordern den scheidenden US-Präsidenten Barack Obama auf, Manning zu begnadigen und so den grausamen Bedingungen ein Ende zu bereiten. Das wäre endlich das langersehnte Zeichen für Whistleblower, auf das viele hoffen.
Die Erklärungen von Netzpolitik und dem CCC sind eine der wenigen Stimmen, die in Deutschland Solidarität mit Mannings fordern. Der Suizidversuch wurde kaum wahrgenommen. Der deutschsprachige Wikileaks-Eintrag zu Manning[12] wurde seit längerem nicht mehr aktualisiert.
Das harte Vorgehen der US-Behörden gegen die Whistleblowerin demonstriert, dass Menschen, die es wagen, Kriegsverbrechen bekannt zu machen, mit den Folgen bis zur Vernichtung rechnen müssen- Dass sich die deutschen Repressionsorgane nicht anders verhalten würden, ist klar. In Zeiten, in denen der Krieg wieder häufiger als Möglichkeit der Politik ins Spiel gebracht wird, gehören harte Sanktionen gegen Menschen, die die Folgen des Krieges nicht einfach als Kollateralschaden hinnehmen wollen, zum Politikgeschäft.
Eine internationale Plattform für die Freiheit von Manning wäre dringend notwendig. Das Desinteresse in weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit zeigt einmal mehr, der Hype um Snowden galt und gilt weniger der Informationsfreiheit und der Solidarität mit den Whistleblowern, er war vielmehr darauf ausgerichtet, moralisch Punkte im Kampf zwischen Deutschland und den USA zu machen.
Peter Nowak
http://www.heise.de/tp/artikel/49/49295/1.html
Anhang
Links
[0]
https://twitter.com/SaveManning/status/476438342867763200
[1]
http://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-08/nsa-edward-snowden-gruene-linke-untersuchungsausschuss-deutschland
[2]
http://www.bild.de/politik/ausland/edward-snowden/von-russen-als-spion-angeworben-46601344.bild.html
[3]
http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/hans-georg-maassen-edward-snowden-ein-russischer-agent-a-1096833.html
[4]
http://de.euronews.com/2016/07/12/chelsea-manning-nach-suizidversuch-ich-bin-okay
[5]
https://pbs.twimg.com/profile_images/643848486010638336/OmQvY0Rl.png
[6]
https://www.chelseamanning.org
[7]
https://www.chelseamanning.org/featured/chelsea-manning-could-face-punishment-for-suicide-attempt
[8]
https://www.freemanning.de
[9]
https://netzpolitik.org/2016/whistleblowerin-chelsea-manning-droht-unbefristete-einzelhaft
[10]
https://www.aclu.org/news/chelsea-manning-faces-new-charges-indefinite-solitary-confinement-related-suicide-attempt
[11]
https://ccc.de/de/updates/2016/begnadigung-fur-chelsea-manning
[12]
https://de.wikipedia.org/wiki/Chelsea_Manning
Giftige Geschäfte
Nach einer Umweltkatastrophe in Vietnam im Frühjahr halten die Proteste gegen das verantwortliche Unternehmen und die vietnamesische Regierung, die mit dem dubiosen Konzern kooperiert, an.
Unabhängige Umweltschützer sind bei vielen Regierungen nicht gerne gesehen. Das ehemals realsozialistische Vietnam, das schon längst den Weg der kapitalistischen Marktwirtschaft eingeschlagen hat, geht derzeit gegen Menschen vor, die die Umweltverbrechen des taiwanesischen Konzerns Formosa Plastics Group (FPG) in Vietnam öffentlich machen wollen. So wurden von der vietnamesischen Regierung kürzlich Repressalien gegen Blogger verschärft, die Videos über weltweite Aktionen ins Netz stellen, mit denen eine angemessene Entschädigung für die Umweltverschmutzungen des Konzerns in Vietnam und die Bestrafung der dafür Verantwortlichen gefordert wird.
Anfang April waren über mehrere hundert Kilometer an der Küste Vietnams Millionen toter Meereslebewesen angeschwemmt worden. Zudem gibt es Berichte über schwere Erkrankungen von Menschen, die Fisch aus diesem Gebiet verzehrt haben. Die Formosa Ha Tinh Steel Company soll zuvor 200 Tonnen hochgiftige Chemikalien ins Meer geleitet haben (Jungle World 25/2016). In Vietnam waren daraufhin wochenlang Menschen aus Protest gegen den Umweltskandal auf die Straße gegangen.
FPG hat zwar mittlerweile eine Entschädigung von 500 Millionen US-Dollar zugesagt. Für die Kritiker des Unternehmens ist diese Summe angesichts der immensen Umweltschäden in Vietnam und der Vergiftung der Meere jedoch völlig unzureichend. Zudem ist noch unklar, wie viele Menschen Gesundheitsschäden durch die Aktivitäten von FGB erlitten haben. Bekannt ist bisher nur, dass ein Taucher gestorben ist, nachdem er in dem Teil des Meeres unterwegs gewesen war, in den FPG das Gift geleitet hatte. Dass die vietnamesische Regierung die Aufklärung der Umweltschäden und der Folgen erschwert, zeigte sich, als Experten vor Ort recherchieren wollten. Die vietnamesische Regierung erlaubte ihnen nicht, Meerwasserproben zu entnehmen, so dass sie sich auf die Daten der Regierung stützen mussten.
Der 1954 in Taiwan gegründete Konzern Formosa war im antikommunistischen Klima des Vietnamkrieges zum weltweit führenden Unternehmen auf dem Gebiet der Chemie und Biotechnologie geworden war. Daher erstaunt die heutige Kooperation, doch schon lange unterhält die Volksrepublik Vietnam, die mit China über Grenzfragen zerstritten ist, gute Kontakte mit Taiwan. Zudem könnte eine unabhängige Zivilgesellschaft die Kritik auch auf die Umweltbilanz vietnamesischer Unternehmen ausweiten. Das wollen die vietnamesischen Behörden verhindern. Dennoch haben sich am 17. Juni anlässlich der FPG-Jahreshauptversammlung in Taiwan neben internationalen Umweltschützern auch Vietnamesen in verschiedenen Ländern an Protesten beteiligt. In Köln organisierte die Gruppe »Viet Zukunft« an diesem Tag eine Unterschriftenkampagne für eine angemessene Entschädigung. Um politische Verfolgung in Vietnam zu vermeiden, unterhält die Initiative aber keine Homepage und es finden sich auch keine Videos über die Aktion.
Doch FPG ist nicht erst wegen der Umweltschäden in Vietnam in die Kritik geraten. Bereits 1998 wurden Konzernmitarbeiter dabei erwischt, wie sie 3 000 Tonnen giftiger Abfälle vor der kambodschanischen Hafenstadt Sihanoukville im Meer versenken wollten. Auch in Kambodscha geht die dortige eng mit der vietnamesischen Regierung verbündete Kommunistische Partei seit Jahren repressiv gegen zivilgesellschaftliche Initiativen und Gewerkschaften vor. In Taiwan ist in den vergangenen Jahren die Kritik an dem Gebaren des Konzerns gewachsen. Mittlerweile steht FPG auf einer Liste der zehn größten Umweltverschmutzer des Landes. Unabhängige Gewerkschaften prangern auch die Arbeitsbedingungen in dem Konzern an. Immer wieder komme es in Betrieben von FPG zu Todesfällen und anderen Unfällen, schreibt auch die Stiftung Ethecon, die dem Konzern bereits 2009 ihren alljährlich ausgelobten Schmähpreis Black Planet Award verliehen hat. Ethecon hat unter anderem die Forderungen der internationalen Protestbewegung gegen FPG in Deutschland bekannt gemacht.
http://jungle-world.com/artikel/2016/34/54726.html
Peter Nowak
Überdosis Trump in den deutschen Medien
– aber zu den Berliner Wahlen nur Kunstkritik?
Droht Anfang November ein Bundespräsident Trump? Diesen Eindruck konnte man in den letzten Wochen haben. Fast täglich wurden wir mit den neuesten Äußerungen des republikanischen Präsidentschaftskandidaten bombardiert, die in der Regel mit dem Hinweis versehen waren, nun habe Trump endgültig seine Chancen auf einen Sieg verspielt. Wenn es doch anders kommt, wird der Großteil dieser Medien das alte Feindbild Amerika polieren, das unter Bush und Reagan so gut zog und unter Obama etwas floppte.
Was die angeblich karrierehemmenden Äußerungen Trumps betrifft, sei nur daran erinnert, dass Präsident Reagan zum Scherz vor einem nicht abgeschalteten Mikrophon der Sowjetunion mal den Krieg erklärte. Beim konservativen Wählersegment hat ihm das nicht geschadet. Was aber die „Überdosis US-Wahlen“ in den hiesigen Medien betrifft, so hat Karsten Laske in der Wochenzeitung Freitag treffend formuliert[1]: „Eine Nachricht, wer am Ende das Ding gewonnen hat und Präsident wird. Das nehme ich gern zur Kenntnis.“
Berlin-Wahl entscheidet über Karriereknick von Gabriel
Bis dahin könnten wir uns ja mal daran erinnern, dass in den nächsten Wochen in Mecklenburg Vorpommern und Berlin Landtags- bzw. Abgeordnetenhauswahlen abgehalten werden, die durchaus nicht unwichtig für die repräsentative Politik in Deutschland sind. Hier könnte sich entscheiden, ob Sigmar Gabriel noch vor den Bundestagswahlen seinen innerparteilichen Absturz erlebt.
Obwohl viele Konkurrenten ihn gerne die Bundestagswahlen verlieren lassen würden, weil auch sie keine viel besseren Ergebnisse erzielen würden, wäre Gabriel wohl nicht mehr zu halten, wenn die Partei in Mecklenburg Vorpommern nicht mehr den Ministerpräsidenten stellen würde und auch in Berlin hinter die Union zurück fiele. Bisher liegt sie in Umfragen nur noch wenige Punkte vor der Henkel-CDU. Zudem dürfte sich bei beiden Landtagswahlen die Etablierung der rechtspopulistischen AFD fortsetzen, so dass sie dann auch für die Bundestagswahlen gute Ausgangsbedingungen hat.
In Mecklenburg-Vorpommern wird sich zeigen, ob daneben noch eine offen neonazistische Partei eine Chance zum Einzug ins Parlament hat. Die NPD liegt in den Umfragen in einem Bereich, der das nicht als unmöglich erscheinen lasst.
Kunstkritik oder Wahlkampf
Das müssten eigentlich Gründe genug sein, die hiesigen Wahlen und nicht die neuesten Trump-Äußerungen mehr in den Fokus der Berichterstattung zu stellen. Doch in den letzten Wochen hatte man den Eindruck, es handelte sich bei den Wahlen um eine Freiluft-Kunstausstellung. Die Wahlplakate der verschiedenen Parteien wurden zum Gegenstand ästhetischer Betrachtungen, wie sie sonst bei Ausstellungen erfolgen.
Dazu haben die Parteien auch selber beigetragen. So verzichtete die SPD auf ihren ersten großen Plakatwänden ganz auf ihr Logo[2] und zeigte nur ihren Spitzenkandidaten Müller blass im Hintergrund, während im Vordergrund das Leben einer Metropole vorbeizog, beispielsweise eine Frau mit Kopftauch, die eine Rolltreppe hochfährt.
Die Piratenpartei, obwohl bei den Wahlen wohl chancenlos, hat im Bezirk Berlin-Friedrichshain das Thema Gefahrengebiet[3] sogar mit Leuchtdioden zum Ausdruck gebracht. Mittlerweile wurden diese Plakate aber wohl von Sammlern kurzerhand entwendet. Damit hat die Partei nach den Wahlen zumindest nicht das Problem der Entsorgung ihrer eigenen Plakate. Vor allem kleine Parteien erleben eine Überraschung, wenn ihnen eine Rechnung ins Haus flattert, weil sie die ihre Werbung nicht fristgemäß entsorgt haben.
Auch die AFD-Plakate waren Gegenstand ästhetischer Betrachtungen, weil sie Homosexuelle Islamkritik vortragen lassen. Dabei haben sie doch nur von ihren rechtspopulistischen Freunden aus anderen Ländern abgeschrieben, die etwa in Frankreich und Belgien schon längst erkannt haben, dass man auch ungeliebte Minderheiten mal wahltaktisch umarmen kann. Diese Avancen stoßen durchaus bei manchen in der Zielgruppe auf Zustimmung. Bei so viel Kulturkritik im Wahlkampf war man überrascht, dass manchmal auch über Inhalte gestritten wurde.
So reklamierte die SPD „Oma Anni“, die für ein Plakat der Linken als Mietrebellin[4] ausgewiesen wird, für die Sozialdemkokraten[5].
Die Seniorin hat erklärt, dass sie schon so lange SPD wählt, dass sie das mit 95 nicht mehr ändern will. Zum Glück für die Linke hat sie aber der Partei die Zustimmung gegeben, ihr Konterfei für Wahlkampfzwecke zu verwenden. Die Frage wäre jetzt, ob Oma Anni der Ausschluss drohen würde, wenn sie denn SPD-Mitglied wäre. So ist der ganze Streit für die Linke sogar von Vorteil. Sie kann so aufzeigen, dass sogar bei der SPD-Traditionswählerschaft die Vorbehalte gegen die Linkssozialdemokraten zurückgehen und könnte damit entsprechende Signale in die SPD-Stammwählerschaft senden.
Zudem hat die Linke damit klargestellt, dass sie tatsächlich eine echte Mietrebellin abgelichtet haben, die mit anderen Senioren seit Jahren gegen massive Mietsteigerungen in der Siedlung am Steinberg am Rande von Berlinkämpft. Andere Parteien haben für ihre Figuren von professionellen Darstellern spielen lassen.
Dass die Debatte über die Berliner Wahlen in den Medien bisher mehr oder weniger unter Kunstkritik lief, zeigt den Bedeutungsverlust der Parteienpolitik. Wo scheinbar alles Event und Kunst wird, kann die Wahl natürlich keine Ausnahme machen. Warum soll auch um politische Inhalte gestritten werden, wenn prinzipiell alle Parteien scheinbar dasselbe wollen, nämlich den Wirtschaftsstandort Deutschland stärken, und daher austauschbar sind.
Weil die Zwänge der kapitalistischen Wirtschaft keine Experimente erlauben und Justiz, Schuldenbremse und EU-Verträge dafür sorgen, dass auf keinen Fall eine Reform verabschiedet wird, die nicht „der Wirtschaft“, wohl aber der Mehrheit der lohnabhängigen Bevölkerung Verbesserungen bringt, gibt es auch keinen Grund mehr, bei Wahlen über Politik zu streiten.
Innere Sicherheit als Wahlkampfthema
Da kommen zumindest für die Sicherheitspolitiker aller Parteien die Anschläge der letzten Wochen wie gerufen, um doch noch etwas Politik in den Wahlkampf zu bringen. Die schon abgeschriebene Henkel-CDU hofft, mit Forderungen nach einem Burka-Verbot und nach der Rücknahme der doppelten Staatsbürgerschaft noch aufzuholen.
Denn für ein Burka-Verbot sind auch viele Menschen, die sich für eine säkulare Gesellschaft einsetzen[6] und nicht zu den traditionellen CDU-Wählern zählen. Tatsächlich kann ein Burkaverbot durchaus nicht einfach mit einer Law-and-Order-Politik gleichgesetzt werden und es wäre töricht von Grünen, Sozialdemokraten und Linken, wenn sie als Reflex die Burka verteidigen würden und die Kritik von Feministen und Säkularen ignorieren würden.
Für die Henkel-CDU ist es der letzte Versuch, doch mit dem Sicherheitsthema bei den Berliner Wahlen zu punkten. In den letzten Wochen ist er mit seiner Politik gescheitert, soziale Konflikte um das linke Hausprojekt Rigaer Straße 94[7] zu einem Thema der Sicherheitspolitik zu machen. Doch zumindest in der unmittelbaren Nachbarschaft waren alle Versuche gescheitert, die Bewohner der Hauses, die in der Mehrheit Mietverträge haben, als „Chaoten und Politkriminelle“ zu figurieren. In den Tagen der Rund-um-die-Uhr-Belagerung des Hauses durch die Polizei wuchs die Solidarität der Nachbarschaft[8].
Dadurch wurde auch die Gentrifizierung im Stadtteil ein Thema für Menschen, die sich bisher nicht politisch artikulieren[9]. Nachdem die Forderung nach Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien in der Nachbarschaft immer lauter wurden, die Henkel-CDU aber dazu nicht bereit war, sorgte ein Gerichtsurteil für zeitweilige Entspannung.
Die Räumung von einigen Räumen des Hausprojekts wurde als rechtswidrig erklärt, die Belagerung beendet. Das Beispiel bestätigt die These, die die Politikwissenschaftlerin Anna Kern in ihrem jüngsten Buch Urbane Sicherheitsregime im Neoliberalismus[10] ausführlich begründete. Die Produktion von Sicherheit und Unsicherheit ist gesellschaftlich bedingt und es gibt durchaus nicht nur die Frontstellung repressiver Staat gegen die Bevölkerung.
Wenn große Teile dieser Bevölkerung da nicht mitmachen, hat die Law-and-Order-Politik keine Grundlage. Das musste die Henkel-CDU im Fall der Rigaer Straße erfahren. Ob sie mit dem Versuch die Anschläge der letzten Wochen für Gesetzesverschärfungen mehr Erfolg hat, wird sich am Wahlabend zeigen. Dann werden wir auch feststellen, dass die vollmundigen Erklärungen von Grünen und SPD, mit der Henkel-CDU kein Bündnis einzugehen, nur bis zum Wahlabend gelten.
Entweder die CDU ist der große Verlierer, dann kommt es zu einer Koalition der Parteien links von der Union. Sollte aber die CDU stärkste Partei werden, werden alle sagen, der Wähler hat eben anders entschieden. Zumindest hat die Debatte über die Innere Sicherheit dazu geführt, dass im Vorfeld der Berliner Wahlen nicht nur über die Ästhetik der Plakate gesprochen wird.
http://www.heise.de/tp/artikel/49/49192/1.html
Peter Nowak
Anhang
Links
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https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Abgeordnetenhaus.jpg
[1]
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/lasst-es-doch-einfach-mal
[2]
http://www.tagesspiegel.de/berlin/wahlkampagne-fuer-berlin-spd-wirbt-mit-mueller-aber-ohne-parteilogo/13944720.html
[3]
https://berlin.piratenpartei.de/wp-content/uploads/2016/06/bknvuTLQ.jpg
[4]
http://images.google.de/imgres?imgurl=http://bilder4.n-tv.de/img/incoming/crop18365631/7811322856-cImg_16_9-w1200/oma-anni.jpg&imgrefurl=http://www.n-tv.de/politik/Linke-werben-mit-SPD-Waehlerin-Oma-Anni-article18365676.html&h=675&w=1200&tbnid=LS1nOToFaFEZQM:&tbnh=90&tbnw=160&docid=kj8AyfSvo9_EhM&client=firefox-b&usg=__1NfVVIOv1rCFm-lXEDMkKOtRScE=&sa=X&ved=0ahUKEwjyk7T1x9LOAhWLJsAKHU0pBd0Q9QEINjAH
[5]
https://www.berlinonline.de/mitte/nachrichten/4519369-4015813-streit-um-oma-anni-aus-kleinkleckersdorf.html
[6]
http://www.a3wsaar.de/aktuelles/details/d/2014/07/12/ja-zum-burka-verbot-in-frankreich/
[7]
https://rigaer94.squat.net
[8]
https://nordkiezlebt.noblogs.org/
[9]
http://mietenstoppfriedrichshain.blogsport.de
[10]
http://www.dampfboot-verlag.de/shop/artikel/produktion-von-un-sicherheit-urbane-sicherheitsregime-im-neoliberalismus
