Nun könnte man ja auch andere Dogmen angesichts der Gaskrise über Bord werfen. Dazu gehört das Mantra, dass man mit Russland keine Beziehungen mehr haben kann, solange der Krieg in der Ukraine tobt. Das ist nun keineswegs selbstverständlich. Natürlich hat die deutsche Regierung 2003 die Beziehungen zu den USA nicht abgebrochen, nachdem diese einen von der damaligen "rot-grünen" Bundesregierung abgelehnten Angriff auf den Irak gestartet hatten.
Vor einigen Wochen hatte man noch den Eindruck, in Deutschland wollten sich alle möglichst heute und sofort von der russischen Gasversorgung verabschieden. Es schien, als würde es manchen Menschen schon ein psychisches Unbehagen bereiten, wenn überhaupt noch „Putin-Gas“ in Deutschland durch die Leitungen fließt. Irgendwie hatten aber alle schon geahnt, dass …
Eine Kritik am liberalen Antirassismus ist ebenso notwendig, wie die Zurückweisung der Schimäre von der Verteidigung eines national begrenzten Sozialstaats.
Von Peter Nowak
Nun hat mit der AfD auch in Deutschland eine rechtspopulistische, in Teilen auch faschistische Partei im Parlament Einzug gehalten. Und nun wird auch hier verstärkt eine Diskussion geführt, die in vielen anderen europäischen Ländern schon länger diskutiert wird: Warum gelingt es den Rechten, in Teilen der Arbeiter_innenklasse Wähler_innen zu gewinnen? Dabei handelt es sich meistens um Regionen, in denen fordistische Industriezweige und damit auch eine ganze Arbeiterkultur verschwunden sind. So hat der Front National in Frankreich…
Wie eine linksliberale Moralisierungsstrategie den Rechten in die Hände arbeitet
„Private Helfer retten Flüchtlinge und Migranten im Mittelmeer aus Seenot. Ist das legitim? Ein Pro und Contra“ – diese Einleitung einer Debatte über die europäische Flüchtlingspolitik in der Wochenzeitung „Die Zeit“ beschäftigt die liberalen Gemüter der Republik. Doch reagierten sie nicht mit Argumenten, sondern mit Moral und Entsetzen[1].
Manche waren auch schockiert und getriggert, dass mal ausformuliert wurde, was schon längst praktische Politik ist. Dabei waren die Debattenbeiträge nun längst nicht so zugespitzt, wie es die Einleitung suggerierte. Das ist ja auch nicht verwunderlich. Es ist schließlich bekannt, dass die Überschrift und die Einleitung dazu dienen, mit pointierter Zuspitzung Aufmerksamkeit zu erregen.
Im Kern formuliert die langjährige Taz-Journalistin Mariam Lau, die schon vor einigen Jahren zur „Zeit“ gewechselt ist, die Maxime der Politik in fast allen europäischen Staaten. Die besagt schließlich, um die ganz Rechten nicht noch größer werden zu lassen, müssen die etablierten Parteien selbst Anstrengungen in der Abwehr von Migranten unternehmen.
Dafür steht nicht nur in Deutschland aktuell der Innenminister Seehofer, dafür stehen auch führende Politiker aller anderen im Parlament vertretenen Parteien, vielleicht mit Ausnahme der meisten in der Linksfraktion. Lau bringt dieses Credo gut auf den Punkt:
Italien hat all dem über Jahre hilflos zugesehen. In den zwei Wochen, in denen ich mal an Bord eines privaten Rettungsschiffes mitgefahren bin, hat keiner der Helfer auch nur einen Gedanken daran verschwendet, wie die sozialdemokratische Regierung von Matteo Renzi ihren Bürgern erklären soll, dass sie Tausende von Menschen einkleiden, beherbergen und ernähren sollen, die gekommen sind, um zu bleiben – legal, illegal, ganz egal. Wie lange sich demokratische Parteien und Institutionen halten können, wenn sie in entscheidenden Fragen machtlos wirken – das ist nun einmal nicht das Problem von Leuten, die das absolut Gute tun. Nun weht ein anderer Wind in Italien. Die Regierung Renzi ist kaputt, der stellvertretende Ministerpräsident Salvini sagt: „Wir wollen nicht zu Europas Flüchtlingslager werden“, und noch immer liest man in deutschen Zeitungen, Salvini errege sich über ein „Pseudo-Problem“. Ein Spaziergang durch Rom müsste eigentlich jeden eines Besseren belehren. Auf den Straßen ist das Elend der Flüchtlinge nicht zu übersehen.
Miriam Lau, Die Zeit[2]
Im letzten Satz ihres vieldiskutierten Beitrags fasst Lau die Intention ihres Beitrags noch mal einem Satz zusammen.
Wer mit dem Verweis auf Menschenrechte jede Sicherung der Grenzen zu verhindern versucht, wird am Ende denen in die Hände spielen, die gar kein Asylrecht mehr wollen.
Mariam Lau, Die Zeit[3]
Das sind Positionen, wie sie von fast allen Parteien jenseits der AfD ebenso formuliert und auch immer wieder in Politik umgesetzt wird. Lange bevor es die AfD gab, waren es andere ultrarechte Parteien, die als Argument herhalten mussten, um die Migrationsgesetze zu verschärfen.
Die „Zeit-Debatte“ hätte Anlass sein können, genau darüber zu reden. Stattdessen verwandelte sie sich in eine Zurschaustellung von Betroffenheit. Es wurde die Frage gestellt, ob man überhaupt diskutieren darf, was die Zeit unter Pro und Contra abhandelte.
Damit haben diese Liberalen, wie so oft, den Rechten die Argumente in die Hand gegeben, die ja immer davon ausgehen, dass es in unserer Gesellschaft Tabus in den Debatten gibt. Zudem verstricken sich aber die Liberalen selbst den Fallstricken des Humanitätsdiskurses.
Warum haben Menschen im globalen Süden nicht ein Recht, so sicher zu reisen, wie es heute vom Stand der Technik möglich ist?
Zur „Zeit-Debatte“ erklärt der Journalistikprofessor Klaus-Jürgen Altmeppen im Deutschlandfunk[4]: „Man kann diese Frage natürlich stellen, aber dann muss sich die ‚Zeit‘ auch die Frage gefallen lassen, was das denn soll, diese Frage zu stellen.“
Es sei ganz einfach eine Frage von Humanität und Menschenwürde, Leben zu retten und da gebe es kein Contra, formuliert Altmeppen ein liberales Credo, das aber in sich nicht schlüssig ist. Denn es ist keine Naturkatastrophe, die die Migranten ins offene Meer treibt. Es ist meist die Suche nach besseren Arbeits- und Lebensbedingungen, die die Menschen auf die Boote treibt.
Wenn es darum ginge, das Leben und die Gesundheit der Menschen zu retten, müsste man eine transnationale Bewegung initiieren, die sichere Transitwege für diese Menschen erzwingt. Warum sollen Menschen im globalen Süden nicht mit genau dem Maß an Sicherheit sich in der Welt bewegen, das der heutige Stand der Technik erlaubt und von dem die Menschen im globalen Norden, vorausgesetzt, sie haben genug finanzielle Mittel, in der Regel partizipieren?
Es gibt bekanntlich keine absolute Sicherheit, wie die Flugzeugabstürze zeigen. Doch es ist die Regel, dass Menschen, die heute aus Europa oder den USA in den globalen Süden reisen, ohne große Fährnisse ankommen. Die meisten Menschen aus dem globalen Süden haben diese Sicherheit nicht.
Darin besteht die grundlegende Verletzung ihrer Menschenrechte. Es ist seltsam, dass von den Liberalen, die sich die bedingungslose Verteidigung der Menschenrechte auf die Fahne geschrieben haben, darüber gar nicht geredet wird. Für sie heißt bedingungslose Verteidigung der Menschenrechte, dass Menschen, die sich auf Grund der ungerechten Ordnung der Welt schon in Lebensgefahr begeben haben, wenigstens die Hoffnung auf Rettung haben.
Das ist aber keine bedingungslose Verteidigung der Menschenrechte, sondern ein absolutes Minimalprogramm, das in der Zeit-Debatte auch Mariam Lau nicht außer Kraft setzen will, wohl aber die europäischen Rechten aller Parteien.
Für ein Recht auf würdiges Leben in den Heimatländern
Wenn aber selbst die selbsternannten bedingungslosen Verteidiger der Flüchtlingsrechte vom Recht auf einen Transfer auf dem Stand der heutigen Technik nicht einmal reden und dieses Recht auch kaum gefordert wird, dann müsste sich doch verstärkt die Frage stellen, warum es nicht auch für die Menschen im globalen Süden ein Recht gibt, ein würdiges Leben in ihren Herkunftsländern zu führen, ohne sich in Lebensgefahr zu begeben?
Es ist tatsächlich eine offene Frage, warum die Streiter für die globalen Menschenrechte in Deutschland darüber kaum diskutieren. Warum haben die Menschen nur als Refugees Rechte und nicht als Menschen, egal, wo sie leben wollen?
Die Frage gehört zu den starken Stellen im vor einigen Jahren vieldiskutierten und mittlerweile verramschten Buch Der neue Klassenkampf[5] des slowenischen Philosophen Slavoj Zizek[6].
Schon der reißerische und generalisierende Untertitel „Die wahren Gründe für Flucht und Terror“ verweist auf die vielen Schwachstellen des Buches, das sich so liest, als hätte Zizek ein Extrakt seiner Arbeiten der letzten Jahre für Spiegelleser in dem Buch versammelt.
So ist es auffallend, dass in den Fußnoten überwiegend auf seine eigenen Bücher verwiesen wird. Wenn ein Buch damit beworben wird, die wahren Gründe für irgendetwas zu entlarven, sollte man generell Misstrauen hegen, wenn nicht gegen den Autor, dann gegen die Werbeabteilung eines Verlags, der mit solchen platten Aussagen Leser ködern will.
Auch der manische Israel-Bezug ist verstörend. In fast jedem Kapitel wird an einer Stelle die israelische Politik als Beispiel für Erscheinungen genannt, die der Autor ablehnt. Das geschieht auch, wo ein Vergleich an den Haaren herbeigezogen ist.
Stark ist das Buch aber da, wo Zizek das Recht fordert, dass Menschen im globalen Süden auch das Recht auf ein würdiges Leben haben und den Vorschlag macht, ihre Kämpfe gegen Ausbeutung und Unterdrückung durch multinationale Konzerne, Wirtschaftsverträge mit dem globalen Norden aber auch gegen eine korrupte und diktatorische Herrschaftsschicht in „ihren“ Ländern zu unterstützen.
Gemeinsame Kämpfe statt Respekt anbieten
Das können Kämpfe um Land, um Freiheiten oder um Arbeitsrechte sein. Diese Art von transnationaler Unterstützung ist tatsächlich eine Leerstelle in der Flüchtlingsbewegung vor allem in Deutschland. Und stark ist Zizek da, wo er fordert, dass man den Migranten nicht Respekt, sondern den gemeinsamen Kampf um ihre Rechte anbieten sollte.
„Respektiert die anderen nicht einfach nur, bietet ihnen einen gemeinsamen Kampf an, da unsere Probleme heute gemeinsame Probleme sind“, zitiert sich Zizek im letzten Kapitel selbst. Deutlich wird hier und an vielen anderen Stellen, dass Zizek mit seiner Kritik an der oft liberalen Flüchtlingsbewegung keineswegs die Migranten und die Migration kritisiert und infrage stellt.
Er legt vielmehr die Wunde in die Schwachstellen einer liberalen Pro-Migrationsbewegung, die die Menschen nur als Schutz- und Hilfesuchende wahrnimmt und sich schon als Vertreter der bedingungslosen Menschenrechte hinstellt, wenn sie die Menschen nicht ersaufen lassen wollen. Die Reaktion auf die „Zeit-Debatte“ hat die Schwächen dieser Position nur wieder einmal offengelegt und die besten Seiten in Zizeks Buch bestätigt.
Peter Nowak
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http://www.heise.de/-4110471
https://www.heise.de/tp/features/Warum-nicht-ueber-Seenotrettung-diskutieren-4110471.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.deutschlandfunk.de/fluechtlinge-entsetzen-ueber-die-zeit-wegen-pro-und-contra.1939.de.html?drn:news_id=902822
[2] https://www.zeit.de/2018/29/seenotrettung-fluechtlinge-privat-mittelmeer-pro-contra/komplettansicht
[3] https://www.zeit.de/2018/29/seenotrettung-fluechtlinge-privat-mittelmeer-pro-contra/komplettansicht
[4] https://www.deutschlandfunkkultur.de/debatte-um-pro-und-contra-zur-seenotrettung-es-ist-eine.1008.de.html?dram:article_id=422800
[5] https://www.ullstein-buchverlage.de/nc/buch/details/der-neue-klassenkampf-9783550081446.html
[6] http://www.lacan.com/frameziz.htm
Auch ein 68er Resultat – Kongressbericht von Peter Nowak
Die Neue Gesellschaft für Psychologie (NGfP) sieht sich in der Tradition des Aufbruchs von 1968er. Jährlich organisiert sie einen Kongress, der sich mit wichtigen Stichwortgeber_innen des globalen Aufbruchs vor 50 Jahren befasst. Der diesjährige Kongress fand am zweiten Märzwochende unter dem Motto „Paralyse der Kritik – Gesellschaft ohne Opposition“ stand, da Herbert Marcuse, entliehen wurde. Wie ein schwarz-roter Faden zog sich die Frage durch die Panels und Arbeitsgruppen der drei Tage. Haben wir es aktuell wie 1968 erneut mit einer Gesellschaft ohne Opposition zu tun oder verbieten sich kurzschlüssige Analogien? Der Vorbereitungskreis betonte in der Einladung eher die Unterschiede zwischen 1968 und heute: „Gleichzeitig müssen wir berücksichtigen, dass und wie sich die Welt (der Kapitalismus) seit der Verweigerungsrevolte von ’68 verändert hat – Stichwörter: Entkollektivierung und Prekarisierungder Arbeitsverhältnisse in ihrer gesamten sozialen Bandbreite, Unterwerfung von Wissenschaft, Bildung und Gesundheitswesen unter das direkte Diktat der Kapitalakkumulation, zerstörerische Aspekte der forcierten internationalen Arbeitsteilung und der globalen Zyklen seit 1971/73“.
Auch der Historiker Karl-Heinz Roth betonte in seinen vielbeachteten Impulsreferat am Samstagmorgen, dass die Revolte von 1968 ein globaler Aufstand war, der in den nominalsozialistischen Polen und Tschechien seine ersten Niederlagen durch die autoritäre Staatsmacht erleben musste. Roth zeichnete ein düsteres Bild der aktuellen politischen Situation. Heute habe man den Eindruck, als habe der Aufbruch von 1968 nie stattgefunden. Roth sprach angesichts der massenhaften Enteignung von Bäuerinnen und Bauern im globalen Süden und der Prekarisierung großer Teiler der Lohnabhängigen von einer Restauration von Klassenherrschaft im Weltmaßstab. Ob ein neuer sozialrevolutionärer Aufbruch heute noch möglich ist, sei völlig offen. Es gehe zunächst darum, das Ausmaß der eigenen Niederlage rücksichtslos zu analysieren. Dazu gehöre auch der Fakt, dass ein Teil der Errungenschaften von 1968 sich in Stabilisatoren des Kapitalismus verwandelt hätten.
Wie aus dem Individualismus der Egotrip wurde
So legtet Roth in seinen Vortrag da, wie die in der 1968er Bewegung starken Betonung des Individuums zum Egotrip und zum „Selfismus“ wurde und auch die Funktion veränderte. Anfangs habe die Betonung der Individualität den Widerstand gegen die Verhältnisse, die die Menschen auch persönlich nicht mehr aushalten wollten, befördert. Doch der heutige Selfismus verhindere Solidarität. Roth wie die meisten anderen Referent_innen verwiesen auf die massive Prekarisierung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, mit der heute junge Leute konfrontiert sind. Mit der Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse hingegen sei die Angst wider das beherrschende Gefühl vieler Menschen geworden, doch Angst mobilisiere in der Regel nicht sondern lähme. Das Unbehagen an den Verhältnissen ist deshalb nicht verschwunden, aber nicht der Widerstand dagegen kaum vorhanden. Stattdessen wird das Sich Einrichten in den Verhältnissen zur Überlebensmaxime. Diesen Befund bestärkte die Erziehungswissenschaftlerin Andrea Kleeberg-Niepage exemplarisch an Texten von jungen Erwachsenen, einer Gymnasiastin und einer Hauptschülerin. Sie sollten im Rahmen eines n Forschungsprojekt ihre Zukunftserwartungen formulieren. Die Schülerinnen waren durchaus nicht zufrieden mit ihrer Lebenssituation und ihren Zukunftserwartungen. Doch statt Gesellschaftskritik folgte eine Klage über undurchschaubare Kräfte, die sie nicht kontrollieren können. Anpassung statt Protest und Widerstand wird dann zur einzigen Überlebensstrategie
Kritik der repressiven Toleranz
Die Sozialwissenschaftler_innen Julia Plato und Falk Sickmann sind bei ihrer Aktualisierung von Herbert Marcuses Kritik an der repressiven Toleranz bei Slavoj Žižek fündig geworden. Der kritisiert, dass sich große Teile der Linken zum Wurmfortsatz des Liberalismus gemacht. hätten und damit unbeabsichtigt den Rechtspopulismus stärkten. Deutlich sei das in den USA geworden, wo Trump die Liberale Hillary Clinton besiegte. Plato und Sickmann haben zur Illustration zur Kritikder repressiven Toleranz ein Foto vom Eingang eines Cafés in einen Berliner Szenebezirk eingeblendet, wo eine Tafel verkündete, dass Rassismus, Antisemitismus und Homophobie nicht akzeptiert werde. Eine Zeile darüber war die Zahlungsmittel und –arten, aufgelistet, die akzeptiert sind. Eine wahrscheinlich alltägliche Hinweistafel. Dass die Basis der Akzeptanz der Besitz von Bargeld oder Kreditkarten ist, wird gar nicht besonders wahrgenommen, weil es die Grundlage des Kapitalismus ist. Kongressteilnehmer_innen beklagten, dass man der globalen Dimension der 68er-Bewegung nicht gerecht werde, wenn man nicht über den europäischen Tellerrand blickt. Zu den wenigen Ausnahmen auf dem Kongress gehörte das Referat der Ethnologin Raina Zimmering über die Bedeutung und Aktualität des Zapatismus. Für folgende Kongresse wäre die Einbeziehung weiterer Beispiele der aktuellen Widerstandspraxen global aber auch auf lokaler Ebene wünschenswert. Dadurch würde vielleicht auch die jüngere aktivistische Linke angesprochen, die auf der Konferenz kaum vertreten war.
aus: express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, Ausgabe: Heft 3/2018
Ein Kongress in Berlin zeigt, wie ein Teil der ehemaligen 68er-Bewegung mit dazu beigetragen hat, dass sich die Verhältnisse, gegen die man einst kämpfte, noch mehr stabilisierten
Studierende opponieren gegen den in Berlin lehrenden Historiker Jörg Baberowski, dem nicht nur von ihnen, sondern auch in einem Gastbeitrag in der linksliberalen Frankfurter Rundschau rechtslastiges Gedankengut vorgeworfen wird.
Eigentlich ist es doch sehr erfreulich, dass 50 Jahre nach 1968, zumindest einige Studierende nicht nur über diese Ereignisse resümieren, sondern die damalige Parole „Unter den Talaren der Muff von Tausend Jahren“ heute zu aktualisieren versuchen. Dass die kritischen Studierenden von den konservativen Medien, FAZ und Welt verurteilt werden, ist nicht verwunderlich.
Diese Zeitungen haben auch vor 50 Jahren wütend auf diejenigen reagiert, die damals die Parole propagierten. Verwunderlicher ist dann schon, dass die grünennahen Taz, die ja immer ihre Nähe zur 1968er-Bewegung herausstellt, ganz klar Front gegen die Kritiker Baberowski macht und ihn in einen langem Artikel als Opfer linker Ideologen hinstellt. Das ist ein gutes Beispiel für die „Paralyse der Opposition“.
So beschrieb Herbert Marcuse 1968 die Gesellschaft in der BRD. Die Neue Gesellschaft für Psychologie, ein Kreis von Sozialwissenschaftlern, die sich selbst in der Tradition von 1968 sehen, hat auf ihrem diesjährigen Kongress, der am vergangenen Wochenende in Berlin zu Ende gegangen ist, Marcuses Verdikt auf die heutige Zeit übertragen. Auch seine Aufforderung „Weitermachen“ wollen sie in die heutige Zeit übernehmen.
Entkollektivierung und Prekarisierung und welchen Anteil die 68er daran hatten
Dabei übersehen sie die Schwierigkeiten eines solchen Unterfangens nicht, wie das Programm ausweist:
Gleichzeitig müssen wir berücksichtigen, dass und wie sich die Welt (der Kapitalismus) seit der Verweigerungsrevolte von ’68 verändert hat – Stichwörter: Entkollektivierung und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse in ihrer gesamten sozialen Bandbreite, Unterwerfung von Wissenschaft, Bildung und Gesundheitswesen unter das direkte Diktat der Kapitalakkumulation, zerstörerische Aspekte der forcierten internationalen Arbeitsteilung und der globalen Zyklen seit 1971/73.
Aus dem Vorwort zum Konferenzprogramm
Die Auswirkungen dieser Veränderungen auf die Individuen wurden in verschiedenen Arbeitsgruppen veranschaulicht. So stellte die Erziehungswissenschaftlerin Andrea Kleeberg-Niepage Texte vor, in denen sich Jugendliche, eine Gymnasiastin und eine Hauptschülerin, der Frage widmen, was sie von der Zukunft erwarten.
Trotz vieler Unterschiede machte Kleeberg-Niepage eine Gemeinsamkeit fest: In beiden Texten fehlt jeder Hinweis auf eine Protesthaltung. Unzufriedenheit mit den Verhältnissen war zwar durchaus vorhanden, aber es herrscht die Vorstellung „wenn ich es nicht schaffe, ist es mein eigenes Verfehlen“. Gesellschaft wurde in den Schreiben nicht adressiert und so war es nur folgerichtig, dass es auch keine gesellschaftskritischen Gedanken gab. Aber es gab in den Schreiben auch keinen Hinweis auf die Vorstellung einer glücklichen Zukunft im Kapitalismus.
Vielmehr sahen sich die Schreiberinnen als Objekte blinder Mächte und die einzige Möglichkeit, die sie haben, ist, sich zu arrangieren und das Beste daraus zu machen. Es wäre interessant gewesen, diese Ergebnisse mit Befragungen von Jugendlichen in der DDR zu kontrastieren.
Ein Beispiel ist das Langzeitfilmprojekt „Die Kinder von Golzow“, in dem eine Landschulklasse ab 1961 filmisch begleitet wurde. Die Hoffnungen, Wünsche und Ängste der Menschen kamen zu Sprache. Auch beim Bankett der 500 Träumer, einem Preisausschreiben in der DDR im Jahr 1970 sollen sich Jugendliche die Welt im Jahr 2000 vorstellen. Man kann heute darüber spotten, aber man kann sich auch darüber Gedanken machen, warum die Jugendlichen damals weniger Zukunftsangst hatten, weniger das Gefühl, dass „blinde Mächte“ über ihr Schicksal bestimmen, als heute.
Wie aus dem Individualismus der Egotrip wurde
Eine Stärke des Kongresses bestand dahin, dass immer wieder auch die Frage gestellt wurde, wie Akteure der 1968er -Bewegung, den Kapitalismus mit stabilisieren halfen, anfangs oft gegen ihren Willen. So hat der Historiker Karl-Heinz Roth in seinem Vortrag dargelegt, wie die Betonung des Individuums zum „Egotrip“ und zum „Selfismus“ geriet und auch die Funktion veränderte.
Anfangs stärkte die Betonung der Individualität den Widerstand gegen die Verhältnisse, die die Menschen auch persönlich nicht mehr aushalten wollten. Doch der heutige Selfismus verhindert jede Solidarität. Roth vermied wie die meisten anderen Referentinnen und Referenten allerdings moralische Kritik. Man verwies auf die massive Prekarisierung der Lebens- und Arbeitsbedingungen.
Karl-Heinz-Roth erklärte, dass er selber als „bekannte rote Socke“ mit dicker Verfassungsschutzakte immer sofort einen Job als Assistenzarzt bekommen hat. Mit der Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse hingegen sei die Angst wieder das beherrschende Gefühl vieler Menschen geworden; doch Angst mobilisiere in der Regel nicht, sondern lähme.
Kritik der repressiven Toleranz
Einen wichtigen Aspekt haben Julia Plato und Falk Sickmann in ihrer Beschäftigung mit Slavoj Žižeks Toleranzbegriff angesprochen: Teile der Restlinken haben sich zum Wurmfortsatz des Liberalismus gemacht.
In den USA hat dies zum Aufstieg und zur Wahl von Trump entscheidend beigetragen – und nicht die angeblichen russischen Hacker, die gerade von den liberalen Kreisen ins Feld geführt werden. Sie wollen natürlich vermeiden, dass ihre Rolle bei dem Wahlergebnis diskutiert wird.
Plato und Sickmann haben dann noch zu Illustration ihrer „Kritik der repressiven Toleranz“ ein Foto vom Eingang eines angesagten Cafés in einem Berliner Szenebezirk eingeblendet, wo eine Tafel verkündete, dass Rassismus, Antisemitismus und Homophobie nicht akzeptiert werden. Eine Zeile darüber wurden Zahlungsmittel und -arten aufgelistet, die akzeptiert werden. Eine wahrscheinlich alltägliche Hinweistafel.
Die meisten Menschen nehmen je nach Gesinnung mit Freude oder Wut zur Kenntnis, was in der Lokalität nicht akzeptiert wird. Dass die Grundlage erst einmal der Besitz von Bargeld oder Kreditkarten ist, wird gar nicht besonders wahrgenommen, weil das eben zum Wesen des Kapitalismus gehört. Dass die Referenten genau dieses Schild als Exempel für eine repressive Toleranz nahmen, war gut gewählt.
So leistete der Kongress Aufklärung über den Zustand unserer Gesellschaft und der von vor 50 Jahren. Nur hätte man bei dem Titel „Deutschland ohne Opposition“ ein Fragezeichen setzen sollen. Denn es gibt im gegenwärtig in Deutschland durchaus eine Opposition – die aber steht rechts.
Die Vorstellung, dass Opposition immer staats- und kapitalismuskritisch sein muss, stimmt schon längst nicht mehr Aber das wäre unter Umständen ein Thema für den nächsten Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie. Das in einem ideologiekritischen Brief befürchtete Abtriften des Kongresses in Antiamerikanismus und Verschwörungstheorien hat sich beim diesjährigen Programm zum Glück nicht feststellen lassen.
Die Unterzeichner kritisieren einige Interviewäußerungen eines federführend für den Kongress verantwortlichen Wissenschaftlers. Es wäre wünschenswert, wenn beim nächsten Kongress eine kritische Debatte über die Streitpunkte auf einer wissenschaftlichen Basis möglich wäre.
Das Gespräch zwischen Sahra Wagenknecht und Frauke Petry: Missverständnisse überwiegen
In der Weimarer Republik waren sich Kommunisten und Nazis nicht nur verfeindet. Immer wieder kam es zu körperlichen Auseinandersetzungen. Doch es gab eine Praxis, die heute kaum mehr vorstellbar ist. Kommunisten und Nazis stritten in Versammlungen gegeneinander, jede Seite hatte ihre auch schlagkräftigen Mitglieder und Sympathisanten dabei und nach der Schlacht der Argumente gab es dann oft die Saalschlacht.
Das muss man wissen, wenn heute darum gestritten wird, ob die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei, Sahra Wagenknecht, ein Streitgespräch mit der Vorsitzenden der AfD, Frauke Petry, führen darf. Es war in der letzten Ausgabe der FAS veröffentlicht und ist auf Wagenknechts Homepage[1] dokumentiert.
Die Bewertung ist denkbar unterschiedlich und hängt wohl vor allem davon ab, wie man Wagenknechts Versuche beurteilt, die AfD-Wähler, die mal die Linke oder die PDS gewählt haben, wieder auf ihre Seite zu ziehen. Das kann man für eine kluge Politik oder eine Anbiederung an die Rechten halten. Die Reaktionen könnten gegensätzlicher nicht sein.
Die Süddeutsche Zeitung holt die Totalitarismuskeule hervor
Für die Süddeutsche Zeitung ist das Gespräch ein Anlass, wieder einmal die Totalitarismuskeule aus der Schublade zu holen[2]:
Ein Doppelinterview mit Rechtspopulistin Petry und Linken-Fraktionschefin Wagenknecht zeigt, wie sehr sich linker und rechter Rand angenähert haben. Die Gemeinsamkeiten sind groß – und gefährlich.Constanze von Bullion
Constanze von Bullion
Dabei zieht die Journalistin den ganz großen Bogen über angebliche Schnittmengen zwischen Kommunisten und Nazis in der Weimarer Zeit bis zum angeblichen „ultralinken Labour-Chef“ Corbyn, der wegen seiner EU-Skepsis mit für den Brexit verantwortlich sein soll. Die Autorin schreibt, dass Petry und Wagenknecht wie ein altes Ehepaar in dem Streitgespräch aufgetreten seien.
Man mäkelt zwar aneinander herum, aber im Kern, na ja, man kann miteinander leben.
Da müsste die SZ eigentlich zufrieden sein, denn dass Politiker unterschiedlicher Parteien miteinander leben können sollen, gehört ja wohl zum Einmaleins bürgerlicher Politik. Auch die Taz-Wirtschaftsredakteurin Ulrike Hermann schreibt von Konsensgesprächen[3] zwischen Wagenknecht und Petry.
Die „Junge Welt“, die Wagenknecht politisch lange sehr nahe stand und die sie heute noch weitgehend unterstützt, rechtfertigt das Streitgespräch mit dem Argument: „Wahlkampf heißt auch, sich ins Gespräch zu bringen“[4] und sieht die Linksparteipolitikerin gar als Aufklärerin.
Dort gibt es keine Fraternisiererei; Wagenknecht entlarvt Petry als aalglatte Opportunistin. Gegen das beständige Einfordern sozialer Antworten kann die AfD-Frau nur die Unkenntnis ihres eigenen Parteiprogrammes setzen. Und da von Hetze gegen noch Ärmere auf Dauer auch niemand satt wird, muss die Rechte gelegentlich linken Positionen beipflichten. So ’seltsam nah beieinander‘, wie Frau Bullion das zusammenleimt, war es nicht.Junge Welt[5]
Wenn man das Interview liest, findet man genügend Stellen, wo Wagenknecht klar den Dissens zu Petry nicht nur in der Sozial- , sondern auch in der Wirtschaftspolitik benennt. So heißt es schon ziemlich am Anfang des Streitgesprächs:
Es gibt keine Überschneidungen, Frau Petry. Sie hätten im Gegensatz zu mir jeder Verschärfung des Asylrechts zugestimmt. Laut Programm will die AfD, dass Deutschland sich in der Einwanderungspolitik an Kanada und an den Vereinigten Staaten von Amerika orientiert. Sie wollen also gezielt Hochqualifizierte aus ärmeren Ländern abwerben. Das ist das genaue Gegenteil von Hilfe. Dass Sie den Menschen in ihren Herkunftsländern helfen wollen, habe ich bislang auch nicht als AfD-Position wahrgenommen. Ebenso wenig, dass Sie die Bedingungen in den Flüchtlingslagern verbessern wollen. Stattdessen lese ich, dass Ihr Parteifreund Alexander Gauland die „menschliche Überflutung“ bei uns eindämmen will. Solche Worte finde ich menschenverachtend.Sahra Wagenknecht
Sahra Wagenknecht
Allerdings verweist Wagenknecht die Forderung nach offenen Grenzen, die im Parteiprogramm der Linkspartei steht, in eine ferne Zukunft, hält sie also für nicht aktuell. Damit stellt sie sich in Widerspruch zu vielen Menschen, denen auch klar ist, dass die Forderung nicht hier und heute umgesetzt werden wird. Für sie ist diese Forderung aber Richtschnur für ihre Unterstützung und Solidarität mit Migranten.
Wagenknecht hat in dem Streitgespräch auch an mehreren Stellen die wirtschaftsliberale Grundorientierung der AfD deutlich benannt, sich dabei aber selber in Widersprüche verstrickt, wenn sie sich später einen wirtschaftsliberalen Vordenker beruft:
Das Hauptargument gegen die Konzerne können Sie bei Walter Eucken nachlesen, einem der Väter der Sozialen Marktwirtschaft: Es ist deren wirtschaftliche Macht.Sahra Wagenknecht
Sahra Wagenknecht
Das ist aber kein Versehen. Schließlich hat sich Wagenknecht schon länger auf Ludwig Erhard berufen und versucht damit, liberale und konservative Wähler für ihre Wirtschafskritik zu gewinnen. Dass sie damit aber den Anspruch einer grundsätzlichen Kritik an Staat und Kapital aufgibt, nimmt sie in Kauf.
Es geht schließlich um Wählerstimmen. Im Streitgespräch hat Petry die angeblichen Gemeinsamkeiten mit der Linken in ihrer EU-Kritik oder im Freihandel in den Mittelpunkt gerückt, um die Wähler, die von der Linken zur AfD gewechselt sind, zu halten bzw. weitere zu gewinnen. Daher auch Petrys Avancen an Wagenknecht zur Fortsetzung des Gesprächs.
Wir sollten mehr miteinander reden.
Das ist im Grunde eine Aufforderung, die an die Wähler der Linkspartei gerichtet ist. Dass Petry damit linken Positionen beipflichtet, wie die junge Welt mutmaßt, ist eine Taktik, die mittlerweile alle erfolgreichen Rechtsparteien in Europa verfolgen. Pionier war dabei der Front National, der manchmal eine sozialistisch klingende Rhetorik anwendet, um seine Stellung als neue Wahlpartei der französischen Arbeiter zu halten.
Nur hat ein solches soziales Bekenntnis von Rechts nichts mit dem Sozialismus der emanzipatorischen Teile der Arbeiterbewegung zu tun. Was hinter den nationalen Phrasen von Rechts steckt, ist ein nationalstaatlicher Protektionismus, der einer kleinen Gruppe besondere Vorrechte und Privilegien bringen soll. Es ist also eine zutiefst anti-egalitäre und ausgrenzende Sozialstaatsvorstellung, die hinter der rechten Sozialstaatsrhetorik steckt.
Daher greift es in der Tat zu kurz, wenn Wagenknecht Petry nur vorhält, sei würden die sozialen Phrasen gar nicht ernst nehmen. Die Position von Wagenknecht zeigt das Dilemma derer auf, die immer noch den keynsianistischen Wohlfahrtsstaat wieder beleben wollen. Das aber ist in der heutigen Phase des Kapitalismus nicht mehr möglich.
Wer es trotzdem versucht, landet schnell bei protektionistischen Vorstellungen, wie sie bei den skandinavischen Rechtsparteien besonders virulent sind. Ihre Utopie ist ein soziales Volksheim ohne die Zugewanderten. Dagegen gilt es Gleichheit, Solidarität und ein schönes Leben für alle Menschen stark zu machen, was Wagenknecht bei aller Kritik am Rassismus der AfD nicht getan hat.
Jenseits der Themenkomplexe Soziales und Flüchtlingspolitik bleiben wichtige Topics in dem Streitgespräch unerwähnt, die sich um Minderheitenrechte drehen. In der Programmatik sind da Linke und AfD denkbar weit entfernt. Doch an der Basis der Linken ist die Trennung oft nicht so scharf. Nicht nur am Beispiel des Streitgesprächs zwischen Wagenknecht und Petry wird über die Gefahr diskutiert, Minderheitenrechte gegen Arbeiterinteressen zu stellen.
Das wird dem slowenischen Soziologen rgeworfen, der in einem Newsweek-Beitrag[6] den Hillary-Konsens angriff, mit dem sich angeblich gesellschaftliche Minderheiten gegen die Reste der alten US-Arbeiterklasse positionieren würden.
Sie gestehen allen Minderheitenforderungen höchste Legitimität zu, sie unterstützen den Kampf um Frauen- und Homosexuellenrechte – aber um den Preis eines ungehinderten Funktionierens des Kapitalismus.Slavoj Žižek
Slavoj Žižek
Ihm wirft die Publizistin Isolde Charim vor, einem linken Konservatismus zu huldigen[7]. Damit übernimmt sie eine Klassifizierung des französischen Soziologen Dider Eribon, der mit seinen Bestseller Rückkehr nach Reims[8] auch in Deutschland bekannt wurde.
Das Buch setzt sich mit der Frage auseinander, warum das Band zwischen den Lohnabhängigen und der politischen Linken, das in Frankreich bis in die 1970er Jahre gehalten hat, gerissen ist und viele Arbeiter jetzt rechts wählen. Eribon formuliert zwei einfache Forderungen[9], um dieses Band wieder zu knüpfen.
Als Erstes muss die Linke aufhören, soziale Forderungen wie ordentliche Gehälter, gute Wohnungen, anständige Arbeitsbedingungen, Pensionen, Sozialversicherung und ein anständiges Gesundheitssystem zu ignorieren. Wir müssen gegen die Zerstörung des Wohlfahrtsstaates in Europa kämpfen. Also müssen wir soziale Bewegungen unterstützen und Teil davon sein.Dider Eribon
Dider Eribon
Zudem betont er, dass eine Linke für die Minderheitenrechte eintreten muss:
Na ja, ich denke, die Linke muss lernen, dass der Kampf gegen neoliberale Politik die individuellen Rechte von allen Menschen stärken muss. Das sind kollektive und internationale Rechte, kollektiv und international erkämpft. LGBT-Rechte sind ein wichtiger und legitimer Teil des Kampfes, eine bessere Welt aufzubauen.Dider Eribon
Dider Eribon
Es geht also nicht darum, die Rechte der Arbeiter gegen die LGBT-Rechte auszuspielen, wie es bei Žižek anklingt, sondern ein politisches Projekt zu entwerfen, das sie einschließt.
Gemeinsam streiken, statt mit Karl Popper die offene Gesellschaft hoch leben zu lassen
Das muss sich aber nicht immer um realpolitische Forderungen drehen, wie die Frage, ob Clinton als kleineres Übel gegen Trump oder die EU gegen den Nationalstaat unterstützt werden sollen. In den 1970er und 1980er Jahren unterstützten Schwule und Lesben aus London den britischen Bergarbeiterstreik, woran im letzten Jahr der Film Pride[10] erinnerte.
Das hatte eine Vorgeschichte. Zuvor beteiligten sich Bergarbeitergewerkschafter als Streikposten für einen Streik indischer Frauen in London beim [11]. Damals wurde nicht so abstrakt über Arbeiter- versus Minderheitenrechte diskutiert und es trafen sich keine Parteienvertreter zum Streitgespräch. Es kamen soziale Bewegungen miteinander in Kontakt und schrieben Geschichte.
Heute wird hingegen die gegen jede Veränderung abgeschottete offene Gesellschaft des Karl Popper als Antidot gegen die AfD aufgeboten[12], und man wundert sich, dass dabei nur die mitmachen, die in der Gesellschaft so privilegiert sind, dass sie diese so erhalten wollen, wie sie ist.
Mit dem griechischen Nein zur Austerität könnten sozialchauvinistische Hürden fallen, wenn die Prekarisierten in Europa merken, dass sie gemeinsame Interessen haben
Auch nach dem Nein der griechischen Bevölkerung gegen das Austeritätsprogramm der EU geht der Druck auf die griechische Regierung auf allen Ebenen weiter. Jetzt soll der griechische Regierungschef bis zum Sonntag Bedingungen erfüllen, die sich nur in Nuancen von den bisherigen von der griechischen Bevölkerung mit großer Mehrheit abgelehnten Programmen unterscheidet.
Schon fürchten nicht wenige in der griechischen Bevölkerung, dass Tsirpas mit der Bestätigung des Referendums im Hintergrund zu Zugeständnissen bereit ist, die der Bevölkerung weitere Opfer abverlangt. Sein betont staatstragendes Auftreten nach dem Referendum und seine sehr mit nationaler Rhetorik gespickten Reden könnten solche Vermutungen bestätigten.
Auch der Rücktritt des griechischen Finanzministers Varoufakis, der in seinen Reden und Schriften immer von einem Reformkapitalismus ausging, der aber die Politik von EU-Institutionen und IWF noch beim Namen nannte, war eine Vorleistung an die EU-Institutionen. Doch die reagierten nicht etwa so, dass die nun ihrerseits von ihren Maximalpositionen abrückten.
Dabei war das Dilemma von Anfang an, dass Tsipras und seine Strömung bei Syriza einen Austritt aus der Eurozone nie als Plan B in Erwägung zog. Das aber unterstellen ihm die konservativen Befürworter immer fälschlicherweise. Dabei wäre ein solcher Plan B die einzige Möglichkeit, um einen Prozess voranzutreiben, der den Widerstand gegen das Europa der Austerität vorantreibt.
Dafür mag der parlamentarische Raum eine Ebene sein. Doch kommt es dabei auch auf das selbstorganisierte Handeln einer Bevölkerung an, die nicht nur bei Abstimmungen ihr Oxi zu den okroyierten Verhältnissen artikuliert. In Athen gab es in den letzten Tagen, seit die Banken geschlossen sind, Nulltarif beim öffentlichen Nahverkehr.
Das war ein solches Beispiel, wo sich in Zeiten einer zugespitzten gesellschaftlichen Auseinandersetzung im Alltag Brüche und soziale und politische Veränderungen abbilden können. In denen Menschen auch Erfahrungen mit einer Organisation des Lebens machen können, die sich nicht mehr ausschließlich auf kapitalistischen Verwertungsinteressen beziehen. Die zahlreichen Solidaritätsorganisationen im Bereich von Bildung Gesundheit, Notversorung für Arme sind ein weiteres Beispiel.
Solche Selbstorganisierungsprozesse im Alltag werden oft unterschätzt, wenn vor allem auf Wahlergebnisse und Referenden geblickt wird. Dabei sind solche Prozesse eine wichtige Grundlage dafür, dass im Alltag erfahren wird, dass es ein Leben jenseits der Austeritätspolitik gibt.
Hat die Angst die Seiten gewechselt?
So wird am Beispiel Griechenlands wieder deutlich, dass auch Menschen, die in eine Notlage getrieben werden, widerständig handeln können, wenn sie Strukturen haben, wo sie sich organisieren und auch die Vereinzelung zumindest zeitweise überwinden. Denn die Austeritätspolitik ist auch eine Politik der Angst, gerade und vor allem gegenüber den einkommensschwachen Menschen. Diese Angst wird auch bewusst eingesetzt, um die von diesen Maßnahmen Betroffenen zu vereinzeln und sie am Widerstand zu hindern.
Nach dem Nein aus Griechenland am letzten Sonntag schrieb [1] der Chefredakteur des Neuen Deutschland Tom Strohschneider, dass die Angst die Seiten gewechselt hat:
Die Griechen haben »Oxi« gesagt, und in diesem Nein steckt die Botschaft, sich von der Angst, auf der die herrschenden Verhältnisse sich gründen, nicht mehr bange machen zu lassen. Das ist das Historische daran. Es wird nicht einfacher werden, nicht einmal ein bisschen. Jedoch: Die Angst hat an diesem Tag die Seiten gewechselt. Sie ist durch das Votum der Menschen in Griechenland zu jenen hinübergeworfen worden, die sich bisher sicher sein konnten, mit ihr den wirksamsten Hebel zu Niederhaltung der Interessen einer Mehrheit in der Hand zu halten. Haben sie diesen noch?
Die letzten Tage nach dem Referendum zeigen, dass sie den Hebel noch in der Hand halten. Aber ist nicht das starre Festhalten am Kurs der Austerität gegenüber jeden wirtschafts- und sozialpolitischen Sinn und Verstand auch ein Zeichen der Angst? Zeigen nicht gerade die rechtspopulistischen Ausfälle des SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel vor und nach dem Referendum, die Angst, dass sich Teile der Parteibasis von dem Nein aus Griechenland aus dem einfachen Grund anstecken lassen könnten, dass eine Mehrheit in Griechenland auch die Interessen der Menschen in anderen europäischen Staaten, darunter in Deutschland vertritt, die bereits Opfer für die Austeritätspolitik gebracht haben?
Griechenland, der freche Erwerbslose unter den Nationen
In Deutschland ist diese Politik der Angst gegen die Armen mit der Agenda 2010, besser bekannt als Hartz IV bekannt. Hier wurde ganz bewusst Erwerbslose in Angst gehalten, um den Preis der Ware Arbeitskraft zu senken und den Standort Deutschland wirtschaftsfähig zu machen. Produziert wurde ein Millionenheer an Niedriglöhnern, deren Einkommen teilweise so gering ist, dass sie selbst bei einem Vollzeitjob ihren Lebensunterhalt nicht mehr durch ihr Einkommen oder ihren Lohn bestreiten können.
So gibt es mittlerweile ein Millionenheer von Austockern, die mit Harz IV ihren Lohn aufbessern müssen. Insofern betrifft die Politik der Angst der Agenda 2010 eben nicht nur Erwerbslose, sondern alle Lohnabhängigen. An vielen Arbeitsstellen blieb eine Gegenwehr gegen Arbeitszeitverdichtung und Lohnsenkungen aus, weil die Betroffenen Angst hatten, unter Hartz IV zu fallen, wenn sie sich wehren.
Aktive Gewerkschafter berichteten in den letzten Jahren immer wieder, wie sich in vielen Betrieben die Bereitschaft zur kollektiven Gegenwehr verringerte, weil die Angst umging, in Hartz IV zu landen. Neben dem Druck trug der Sozialchauvinismus noch einen wichtigen Anteil dazu bei, dass es in Deutschland nur in wenigen Fällen zu einer kollektiven Gegenwehr gegen das Hartz-IV-Regime und die Niedriglohnpolitik kam. Die durch die Angst erpressen Opfer wurden als notwendig für den Standort Deutschland verklärt.
Die wenigen Menschen, die sich zu diesen Opfern nicht bereit erklärten und als freche Erwerbslose [2] auch öffentlich in Erscheinung traten, waren dann nicht selten besonderen Anfeindungen von Menschen ausgesetzt, die dadurch ihr Opfer entwertet gesehen haben. Ein ähnliches Phänomen können wir in der Griechenland-Debatte beobachten, wo Politiker von Staaten, die durch die Austeritätspolitik in eine ähnlich desaströse Lage gebracht werden, besonders wütend auf die griechische Regierung sind – sie könnten schließlich auch die eigene Bevölkerung zur Gegenwehr verführen.
Wenn sich die griechische Regierung mit ihren Nein zur Austerität durchsetzt, könnten die sozialchauvinistischen Hürden fallen und so tatsächlich deutlich werden, dass die Prekarisierten in Europa gemeinsame Interessen haben und dass Opfer für den Standort keine gute Idee sind. Daher besteht die größte Angst der Eliten in Europa auch darin, dass der Griechenland-Virus sich auf diese Weise tatsächlich verbreitet.
„Zeitgenössischer Kapitalismus begrenzt die Demokratie“
Es sind in letzter Zeit vor allem die Befürworter der Austeritätspolitik, die die Hartz-IV-Politik in Deutschland in den Kontext der europäischen Austeritätspolitik stellen. So war es der CSU-Politiker Markus Ferber, der als Diskussionsteilnehmer an der Sendung Kontrovers im Deutschlandfunk von letzten Montag betonte [3], dass Deutschland mit Hartz IV seine Wettbewerbsfähigkeit wiedergewonnen habe und dass Griechenland ein solcher Prozess noch bevorstehe.
Nur einen Tag später schlugen der rechtsliberale und wirtschaftsfreundliche holländische Politiker Hans van Balen und sein Stichworte liefernder Interviewer in die gleiche Kerbe [4]. Der Reporter stelle die Frage:
Herr van Baalen, Sie selber erinnern sich sicherlich noch sehr gut. In den 1980er-Jahren steckten die Niederlande selber in einer tiefen schweren Wirtschaftskrise und haben dann zu etlichen Reformen gegriffen. Was in Deutschland dann später geschehen ist mit den Hartz-Gesetzen, hatte viel auch mit diesem Vorbild zu tun. Prägt das die niederländische Debatte und auch Ihren Blick bis heute?
Die Antwort war eindeutig:
Was wir wollen und was wir getan haben war Austerität, und das hat uns am letzten Ende geholfen. Hartz hat auch Deutschland geholfen. Ich meine, Frau Merkel ist geholfen worden von Schröder. Schröder ist nicht belohnt worden, aber Bundeskanzlerin Merkel hat das Hartz-Paket und die Reformen geerbt und das ist natürlich sehr gut gewesen. Das kann man auch in Griechenland machen.
Diese Aussage zeugt schon von einen bemerkenswerten Demokratieverständnis, hat doch die griechische Bevölkerung mit den Wahlen und der Abstimmung deutlich gemacht, dass man es mit ihr nicht machen kann, weil bei ihr auch dank kollektiver Strukturen die Politik der Angst nicht so gut funktioniert wie in Deutschland bei der Einführung von Hartz IV.
Das ist ein schönes Beispiel für die These, die der slowenische Philosoph Slavoj Zizek aufstellt [5]: „Zeitgenössischer Kapitalismus begrenzt die Demokratie.“
Natürlich fragt der Interviewer nicht, wie van Baalen die griechische Bevölkerung trotzdem dazu bringen will, diese Politik dort einzuführen. Gibt es etwa Pläne, das Land unter ein Protektorat zu stellen? Da vor allem in Deutschland die Befürworter der Austerität mit der Hartz IV-Politik, also der systematischen staatlichen Verarmungspolitik, werben und die davon Betroffenen diesen Zusammenhang nicht als Mobilisierung für den Widerstand nutzen, hat die Angst noch nicht endgültig die Seiten gewechselt.
Dafür haben international bekannte sozialdemokratische Ökonomen in einem Offenen Brief an Merkel [6] ein Ende der Austeritätspolitik gefordert. Sie argumentieren aus der Position der wirtschaftlichen Vernunft. Die Interessen der anderen Seite müssen den Austeritätshardlinern auf europäischer Ebene entgegensetzt werden, damit sie sich durchsetzen.