Es sollten auch die Stimmen der Menschen aus dem globalen Süden und der europäischen Peripherie gehört werden, die sich kritisch zur Migration äußern und auf die Folgen für die Betroffenen und ihre Herkunftsländer hinweisen
„Es ist nicht Europa, das uns ein Leben in Würde schuldet, sondern mein Land.“ Dieser Satz steht über einem Essay von Saikou Suwareh Jabai. Dort bringt der gambische Journalist einige Argumente in die Debatte um Migration ein, die sich manche der „Refuge Welcome“-Bewegung doch einmal durch den Kopf gehen lassen sollten.
Er schildert dort die ganz individuellen Folgen der Migration am Beispiel seiner beiden Brüder:
Die Frage müsste lauten, warum werden nicht soziale Sicherheit, Bildung und Kultur zum Weltkulturerbe erklärt?
„Malischer Kulturschänder verurteilt“, titelte[1] die bürgerliche FAZ und die TAZ, das schon längst dem Teenageralter entwachsende Blatt der Bürgerkinder, hat fast den gleichlautenden Aufmacher „Haft für den Kulturschänder“[2]. Beide Autoren betonen gleichermaßen, dass der malische Tuarag-Aktivist Ahmad al Faqi al-Mahdi noch recht glimpflich davon gekommen ist, weil er für seinen Anteil an der Zerstörung von Mausoleen in Timbuktu (siehe Islamistischer Bilderstürmer vor Gericht[3]) nur neun Jahre Haft bekommen hat. Wäre er nicht voll geständig gewesen und hätte er sich für die Zerstörungen nicht entschuldigt, wäre die Strafe sicher härter ausgefallen.
Nun scheint mit dem Urteil niemand ein Problem zu haben. Schließlich gehört der Angeklagte zu den Tuareg-Aktivisten, die zeitweise mit den Islamisten verbündet waren und in den von ihnen eroberten Gebieten eine Terrorherrschaft errichteten[4]. Tatsächlich gäbe es viele Gründe, den Islamisten und ihren Verbündeten den Prozess zu machen.
Dazu zählt ihr Terror durch eine brutale Scharia-Auslegung, die Verfolgung von Frauen, die sich nicht von den Islamisten unterdrücken lassen wollten, Grausamkeiten gegen Andersdenkende. Doch statt den Angriff auf Würde und Rechte der Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, wird vom Internationalen Strafgerichtshof die Zerstörung alter Gemäuer als Kriegsverbrechen verurteilt.
Ein katholischer Heiliger als Kriegsverbrecher?
Dabei gehörte die Zerstörung von Kirchen und Gebäuden und Orten, die zu heiligen Städten erklärt worden waren, jahrtausendelang zur Praxis jeder Armee, die ein Gebiet besetzt hat. Es war in der Regel eine Machtdemonstration und sollte die Unterlegenen demoralisieren. Als sich in Europa das Christentum ausbreitete, war die Zerstörung von Heiligtümern der zu Heiden erklärten Indigenen ein wichtiger Bestandteil der Expansion.
Bonifatius soll einen für die Bewohner einer germanischen Provinz heiligen Baum gefällt haben, um ihnen zu demonstrieren, dass dort nicht der Donnergott wohnt, der Blitz und Verderben über die Menschen bringt. Bonifatius wird von Katholiken bis heute verehrt[5]. Teile seiner Reliquien werden noch immer im Dom zu Fulda von Gläubigen angebetet. Verehren sie damit einen Verbrecher, sogar einen Kriegsverbrecher?
Nach dem Urteil des Internationalen Strafgerichtshof könnte seine Tat so klassifiziert werden. Schließlich ließ Bonifatius den „heiligen Baum“ fällen, um die bisherige Kultur und Religion der Indigenen nachhaltig zu erschüttern. Das waren aber gängige Methoden aller Propheten, die eine neue Religion etablieren wollten. Dazu mussten erst die alten Glaubenssysteme und ihre heiligen Orte entweiht werden.
Daneben wurden solche Zerstörungen seit jeher in eroberten Gebieten durchgeführt. Das galt bei Kriegen in Europa, mehr noch aber in den von den Europäern eroberten Gebieten auf den afrikanischen, amerikanischen und asiatischen Kontinenten. Die noch heute heuchlerisch als Entdecker gefeierten Eroberer wären nach dem Urteil aus Den Haag alle Kriegsverbrecher.
Zerstörung von Kulturdenkmälern kann auch Befreiung zum Motiv haben
Doch gab es auch ein anderes Motiv der Zerstörung von alten Kulturdenkmälern. Bei Revolutionen kann damit der Sturz der alten, verhassten Ordnung symbolisiert werden. In der kurzen Zeit der Macht der Wiedertäufer in Münster, die in dem historischen Roman Q[6] des Künstlerkollektivs Luther Blissett als eine Mischung aus religiösem Wahn und Diktatur des frühbürgerlichen Proletariats beschrieben wird, war der Abriss des monumentalen Doms ein demonstratives Zeichen dafür, dass die alten Mächte verloren haben.
Es dauerte allerdings nur wenige Monate und die alten Herrscher eroberten die Stadt zurück und ließen den Dom noch monumentaler wieder aufbauen. Auch später zerstörten aufbegehrende Menschen Kulturstätten, Kirchen und Schlösser der alten Mächte, um damit deutlich zu machen, dass diese auch architektonisch ihren Einfluss verloren haben. Das war zum Beispiel während der spanischen Revolution der Fall, als vor allem die Landbevölkerung den verhassten Klerus und die Feudalgesellschaft damit bestrafen wollte, indem viele Klöster, Schlösser und Kirchen zerstört wurden.
Der Roman Ästhetik des Widerstands[7] von Peter Weiss beginnt mit einem langen Kapitel, in dem sich drei deutsche Antifaschisten vor dem in Berlin ausgestellten Pergamonaltar[8] über die Rolle von Kunst unterhalten.
Sie interpretieren die Motive des Altars als antike Klassenkämpfe und sehen in ihm ein Denkmal der Inspiration für ihre Kämpfe, das sie bewahren wollen. An einer Stelle kommt die alte Mutter eines der drei Antifaschisten kurz zu Wort, die einwirft, dass die Unterdrückten diese alten Steine weniger kulturphilosophisch betrachten würden. Für sie wären sie eher gute Barrikaden bei den Revolten. Auch für den Hausgebrauch könnten sie verwendet werden.
Weltkulturerbe ist eher ein Programm zur Förderung des Tourismus
So berichten immer wieder Archäologen, dass Dorfbewohner in Peru und Mexiko Steine für den Hausbau aus Stätten mitnehmen würden, die zum Weltkulturerbe erklärt worden sind. Kritiker sehen im Weltkulturstatus vor allem eine Förderung für zahlungskräftige Touristen, die sich an den alten Kulturen erfreuen wollen. Für die Bewohner der Umgebung habe das nicht immer positive Folgen.
Wenn nun der Internationale Gerichtshof sein Urteil damit begründet, dass die Denkmäler für die Bewohner von Timbuktu einen „hohen symbolischen und moralischen Wert“ haben, sind sicher die Ausrichter der Tourismusprogramme auch gemeint. Die meisten Menschen in dieser Umgebung aber profitieren davon nicht, dass alte Gemäuer zu Kulturdenkmälern erklärt werden. Was sie brauchen, ist eine soziale Versorgung, Bildung und Gesundheit.
Solche Forderungen wurden immer wieder von einer starken sozialen Bewegung in Mali gestellt, was in dem Film Bamako[9] von Abderrahmane Sissako[10] deutlich wird, der ein fiktives Sozialforum in Malis Hauptstadt zum Thema hat.
Dort werden viele drängende Probleme der malischen Bevölkerung angesprochen: Armut, Unterernährung, Perspektivlosigkeit und die Migration vieler junger Menschen. Der Schutz von alten Gemäuern gehört nicht dazu.
So sollte doch die Frage gestellt, warum nicht das Zur-Verfügung-Stellen sozialer Versorgungssysteme, von Bildung und Gesundheit zum Weltkulturerbe erklärt wird und alle die Kräfte in Politik und Wirtschaft, die dafür verantwortlich sind, dass dies nicht gewährleistet wird, juristisch zur Verantwortung gezogen werden?