Keine Schlacht

KIEZ Die lange Woche der Rigaer Straße geht recht ruhig zu Ende

„Wo finde ich das Treffen der Erstbesetzer der Liebigstraße?“, fragt ein Mittvierziger im Infoladen „Daneben“. Der Mann kam aus Stuttgart angereist, um ein Vierteljahrhundert später noch einmal mit den Menschen zusammenzutreffen, die 1990 Teil der Ostberliner BesetzerInnenbewegung waren. Das Wiedersehen fand im Rahmen der Langen Woche der Rigaer Straße statt, zu der zahlreiche der ehemals besetzten Häuser und alternativen Projekte rund um die Rigaer Straße eingeladen hatten  (taz berichtete). Am Samstag war zeitweise kein Durchkommen rund um die Straße. An Essensständen wurden Pizza und Veganes auf Spendenbasis angeboten. In vielen
Häusern sowie auf öffentlichen Plätzen wurden Workshops abgehalten. Dabei ging die Polizei immer wieder gegen das Aufstellen von Infoständen vor, weil diese – wie die gesamten Aktivitäten der Langen Woche – nicht angemeldet worden waren. Doch die in den Boulevardmedien seit Wochen prophezeiten Straßenschlachten blieben auch am Wochenende aus. Selbst die Demonstration gegen „Verdrängung und Polizeigewalt“, an der sich am Freitagabend rund 600 Menschen beteiligten, endete nur mit kleinen Geplänkeln –
und zahlreichen Festnahmen. Viele NachbarInnen ließen sich am Samstag nicht davon abschrecken, sich an der Aktionswoche zu beteiligen. Einige monierten den Lärm, der durch den Generator verursacht wurde, mit der die Polizei einen Lichtmast mit Strom speiste, der einen Teil der Rigaer Straße ausleuchtete. In einem auf der Homepage der Aktionswoche dokumentierten offenen Brief haben sich einige Mieter der Rigaer Straße mit den OrganisatorInnen der Langen Woche solidarisiert: „Wir wohnen teilweise mehrere Jahrzehnte in der Rigaer Straße. Wir sind Mieterinnen und Mieter und wir wollen hier wohnen bleiben. Wir gehen täglich mit offenen Augen durch
unseren Kiez und sehen täglich Erscheinungen, die uns Sorgen machen“, beginnt der Brief, in dem Beispiele für aktuelle Verdrängungen
auf der Straße beschrieben und für ein gemeinsames Vorgehen über die Aktionswoche hinaus geworben wird.
aus Taz:  13.7.2015  Printausgabe

Peter Nowak

Linke Aktionswoche beendet

Eine Reihe von Veranstaltungen gegen Verdrängung und zur Vernetzung von Kiezinitiativen ging fast friedlich zu Ende.

Am Samstagnachmittag war auf der Rigaer Straße im Ortsteil Friedrichshain kein Durchkommen mehr. An diesem Tag war der Höhepunkt der »Langen Woche der Rigaer Straße«, zu der ehemals besetzte Häuser und alternative Projekte aufgerufen hatten. Auf einem Kiezspaziergang beispielsweise konnten Besucher jene Gegend besser kennenlernen, die vor 25 Jahren eine der Zenten der Ostberliner Besetzerbewegung war.

Guido, der seinen vollen Namen nicht in der Zeitung lesen will, gehörte zu den Besetzern der ersten Stunde in der Liebigstraße. »Ich wohnte in Westberlin und suchte eine Wohnung. Dann habe ich erfahren, dass ich in Ostberlin einfach in ein leeres Haus ziehen kann«, erinnerte er sich. Nach drei Monaten zog er aus beruflichen Gründen aus Berlin weg. In Stuttgart, wo er heute wohnt, ist Guido in linksgewerkschaftlichen Kreisen aktiv. Zum Treffen der ehemaligen Besetzer ist er nach 25 Jahren nach Berlin gekommen.

Die Organisatoren der Aktionswoche hatten sich immer wieder mit Flugblättern an die Anwohner gewandt. »Wir wünschen uns, dass sich auch Menschen angesprochen fühlen, die ansonsten nichts mit der Szene zu tun haben und hoffen, dass das Straßenfest ein Ort des Kennenlernens und des Austausches zwischen Menschen aus diesem Kiez sein kann.« In einem Offenen Brief haben sich einige Nachbarn zu Wort gemeldet. Sie wünschen sich über die Aktionswoche hinaus ein gemeinsames Vorgehen aller Bewohner des Stadtteils gegen die Verdrängung einkommensschwacher Mieter. Nach einer Demonstration am Freitagabend sowie Samstagnacht kam es rund um die Rigaer Straße zu vereinzelten Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten, 16 Menschen wurden festgenommen.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/977605.links-regiert-skepsis-bleibt.html

Peter Nowak

Links regiert? Skepsis bleibt

Außerparlamentarische Gruppen und ihr zwiespältiges Verhältnis zu Parteien

Linke Parteien in Europa sorgen derzeit für Hoffnung auf Veränderung – auch in der außerparlamentarischen Bewegung? Eine Debatte in Berlin machte einen anhaltenden Zwiespalt deutlich.

Die Linke und der Staat, über diese sensible Frage sind viele Bücher geschrieben worden. Großes Interesse zeigte sich auch am Freitagabend, als das Museum des Kapitalismus nicht alle Interessierten fassen konnte, die an einer Diskussionsveranstaltung zu dieser Fragestellung teilnehmen wollten. Das Podium war international besetzt. Henning Obens von der Interventionistischen Linken und Chris vom »Ums Ganze«-Bündnis repräsentierten jenen Teil der außerparlamentarischen Linken, der eine Kooperation mit linken Parteien nicht grundsätzlich ablehnt.

Die Parteien brauchen eine starke außerparlamentarische Bewegung ebenso wie umgekehrt die außerparlamentarische Linke Parteien braucht, die ihre Themen in der Öffentlichkeit platzieren – so lassen sich die Statements beider Aktivisten zusammenfassen. Beide benannten zugleich die Gefahr von Vereinnahmungsversuchen durch politische Parteien. Juliane Wiedemann von der Linkspartei räumte ein, es sei ein großes Problem, dass politische Parteien in Bündnissen oft außerparlamentarische Initiativen dominieren wollten oder sich auch manchmal arrogant über deren Arbeitsweisen hinwegsetzen. Dabei bekannte Wiedemann mit Verweis auf Thüringen und Brandenburg, dass die LINKE zuweilen gar den Staat repräsentiert. Trotzdem wollte Wiedemann darin keinen Widerspruch zu außerparlamentarischen Aktivitäten ihrer Partei sehen.

Diesen Spagat müssen zurzeit auch die linken Parteien SYRIZA in Griechenland und Podemos in Spanien aushalten. Dionisis Granas, der in Berlin für SYRIZA arbeitet, betonte, dass die Situation seiner Partei aus zwei Gründen besonders kompliziert sei. Bei SYRIZA arbeiten sowohl Aktivisten der radikalen Linken als auch ehemalige Sozialdemokraten mit. Zudem sei der Druck der EU-Institutionen so stark, dass der Partei bisher wenig Zeit für linke Reformen in Griechenland geblieben sei. Die Frage, ob SYRIZA derzeit dabei ist, sich dem EU-Diktat zu beugen, das vor einer Woche noch mehr als 60 Prozent der griechischen Bevölkerung abgelehnt hatten, war wohl zu frisch. Sie spielte in der Debatte keine größere Rolle.

Die Erfahrung, dass eine linke Partei zuvor als »rechts« kritisierte Politik machen muss, könnte auch Podemos in Spanien bevorstehen. Miguel Sanz Alcantara, der in Berlin für die neue spanische Linkspartei warb, betonte, dass die Zeit kommen könnte, wo er und andere Podemos-Mitglieder gegen Maßnahmen der eigenen Regierung auf die Straße gehen. Er betonte, dass eine linke Partei diesen Spagat aushalten müsse. Erst wenn es Versuche geben sollte, solche Proteste unter Hinweis auf die Parteiräson zu unterbinden, wäre für Alcantara die Mitgliedschaft in Frage gestellt.

Die Erfolge von Podemos-Kandidatinnen bei den Bürgermeisterwahlen in Barcelona und Madrid inspirierten einen Zuhörer zum Wunsch, hierin ein Vorbild für Berlin zu sehen. Beide waren in außerparlamentarischen Bewegungen aktiv, beispielsweise im Kampf gegen Zwangsräumungen von Mietern. Noch ist die Amtszeit zu kurz, um zu analysieren, wie sich ihre neuen Aufgaben auf diese sozialen Bewegungen auswirken. Anders die Erfahrungen von Sehnaz Ildan von der linken Partei HDP. Sie berichtete, wie ihre Partei vom Staat nicht kooptiert, sondern bekämpft wird.

Das Museum des Kapitalismus in der Böhmischen Straße 11 in Berlin-Neukölln ist Di, Do und Freitag von 11 bis 21 Uhr und Sonntag von 11 bis 19 Uhr geöffnet. Der Eintritt ist frei.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/977605.links-regiert-skepsis-bleibt.html

Peter Nowak

„Tsipras wurde durch das Nein in den Verhandlungen in Brüssel geschwächt“

Sven Giegold, Sprecher der Eurogruppe Grüne, über das griechische Nein und die Frage einer neuen europäischen Linken

Nach dem Nein zur Troika-Politik haben Sie getwittert, dass die Wiederaufnahme der Verhandlungen ein Gebot der Stunde ist. Das fordert auch die griechische Regierung. Müsste nicht jetzt ein Schuldenschnitt auf der Tagesordnung stehen?

Sven Giegold: Nach dem „OXI“ drohte eine Eskalationsspirale, die Griechenland schnell aus dem Euro drängen kann. Ein Grexit ist und bleibt unvernünftig. Denn die preisliche Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands ist bereits weitgehend wiederhergestellt, unter enormen sozialen und wirtschaftlichen Kosten. Mit einem Grexit müssten die Menschen noch ein zweites Mal bezahlen: durch den Verlust einer stabilen Währung und mit einer schweren Währungsumstellungskrise.

Ökonomisch ist das auch für die Gläubiger unsinnig, denn je ärmer Griechenland wird, desto weniger kann es seine Schulden zurückbezahlen. Allerdings scheint es, dass etliche Entscheidungsträger in den Mitgliedsländern der EU nicht die Vernunft, sondern eine wirtschaftspolitische Ideologie durchsetzen wollen. Trotzdem sind die politischen Kosten einer drohenden Kosovoisierung Griechenlands für Europa und für das Ansehen in der Welt so hoch, dass ich immer noch Hoffnung habe, dass Merkel, Hollande und Renzi doch noch ihrer Verantwortung gerecht werden und nach einer fairen Einigung mit Tsipras suchen. Dazu muss sich Griechenland zu jenen Reformen verpflichten, auf die es wirklich ankommt: eine leistungsfähige öffentliche Verwaltung, Korruptionsbekämpfung, ein gerechtes und effizientes Steuerwesen.

Was der griechischen Wirtschaft dagegen schadet, sind neue pro-zyklische – also krisenverschärfende – Sparprogramme oder Steuererhöhungen. Das schreckt Investoren ab. Vertrauen für Investitionen kann nur geschaffen werden, wenn die Überschuldung gelöst wird. Das muss kein Schuldenschnitt sein. Auch eine Umschuldung mit einer Begrenzung der Zinszahlungen und Tilgungen gemäß der wirtschaftlichen Entwicklung, können helfen.

Sie hatten in einen Kommentar EU-Parlamentspräsident  Martin Schulz dafür kritisiert[1], dass er im Vorfeld des Referendums eine Ablösung von Ministerpräsident Tsipras forderte. Sie schreiben dort, dass eine solche Einmischung nur dem Nein-Lager in Griechenland nützt. Aber war das nicht ein ungewollter positiver Nebeneffekt gewesen. Schließlich hat die griechische Regierung betont, dass ein Nein keine Absage an die EU und den Euro  ist, sondern  die  Position derer stärkt, die  eine Alternative zur Austeritätspolitik im EU-Raum haben wollen. Wäre das nicht ein guter Grund für Sie gewesen, ein Nein beim Referendum mit zu unterstützten?

Sven Giegold: Die europäischen Grünen haben sich aus Respekt vor der Entscheidung der griechischen Bürger mit Empfehlungen zurückgehalten. Ich halte nichts davon, wenn man aus Deutschland den Bürgern in Griechenland schlaue Ratschläge gibt, wie sie bei einer so schwierigen Entscheidung abstimmen sollen. Zurückhaltung hätte auch der Rolle eines zur Neutralität verpflichteten Präsidenten des Europaparlaments gut gestanden. Es ist leider nicht das erste Mal, dass Martin Schulz demokratische Haltung vermissen lässt.

Aber zum vermeintlich glorreichen „Oxi“: Ich bin mir sehr unsicher, ob das Nein die Verhandlungsposition der Griechen wirklich gestärkt hat, weil es die Entscheidungsträger in Europa nur noch stärker zusammenschweißt. Zudem ist die Stimmungslage in der europäischen Bevölkerung bereits sehr kritisch gegenüber Tsipras. Die Absage an die weitere Sparpolitik kann in der europäischen Realpolitik als Absage zur weiteren Mitgliedschaft im Euro gewertet werden. Diese Interpretation ist aber nicht von der Mehrheit in Griechenland gewollt und könnte im Ergebnis zu einer Katastrophe führen. Wir müssen uns bewusst machen: Das „Oxi“ ist kein Nein zum Euro oder Europa.

„Eine wirtschaftlich-soziale Katastrophe in Griechenland würde allen wieder einmal demonstrieren: Linke Regierungen können es nicht“

Jakob Augstein schrieb[2] vor einigen  Tagen auf Spiegel Online: „Das griechische Scheitern ist Merkels Scheitern.“ Wäre das nicht ein weiterer  Grund gewesen für ein Nein gewesen?

Sven Giegold: Wenn man nüchtern analysiert, so sieht aber die Welt auch etwas anders aus: Die Situation ist für Angela Merkel mit dem Nein viel bequemer. Sie hat nun eine Ausrede, die eigene CDU/CSU-Fraktion nicht von einer fairen Vereinbarung überzeugen zu müssen. Mit einem Ja in Griechenland wäre das ungleich unbequemer gewesen. Diese Analyse ändert nichts daran, dass ich weiterhin hoffe und auch erwarte, dass sie sich letztlich trotzdem für einen fairen Kompromiss entscheidet. Den Griechen den Euro vor die Füße zu werfen, ist aber für sie jetzt einfacher geworden.

Gesine Schwan, bisher nicht als Linke bekannt, hat kürzlich in einem Interview[3] erklärt, die deutsche Regierung wolle Tsipras scheitern sehen, „damit es keine  Ansteckungsgefahr in Spanien und Portugal gibt“. Wäre es noch ein guter Grund für ein Nein gewesen, damit es endlich ernst zu nehmende Alternativen innerhalb  Europas zur Austeritätspolitik gibt? Schließlich betonen auch die Podemos-Politiker ihre proeuropäische Haltung.

Sven Giegold: Gesine Schwan ist im Verhältnis zum gesamten politischen Spektrum natürlich links der Mitte. Leider bin ich auch hier nicht so optimistisch wie sie. Wenn Merkel, Hollande und Co. sich gegen faire Verhandlungen entscheiden, wird das OXI zum Pyrrhus-Sieg. Denn eine wirtschaftlich-soziale Katastrophe in Griechenland würde allen wieder einmal demonstrieren: Linke Regierungen können es nicht. Dass das zu einem großen Teil das Verschulden der europäischen Institutionen ist: geschenkt. Denn bei den eigenen politischen Strategien muss man die gegebenen Kräfteverhältnisse und die Strategien des Gegenübers immer einbeziehen, sonst schießt man sich nur selbst ins Knie und verliert die Unterstützung.

Wäre es nicht jetzt an der Zeit auch in Spanien und anderen Ländern  der europäischen Peripherie Referenden zu fordern. Schließlich gab es auch dort einen starken Widerstand gegen die Austeritätspolitik, die von den dortigen Regierungen rücksichtslos durchgesetzt wurde?

Sven Giegold: Grundsätzlich bin ich immer für die Stärkung der direkten Demokratie, solange dabei die Grundrechte nicht zur Disposition gestellt werden. Allerdings sind Volksabstimmungen nur dann emanzipatorisch, wenn klar ist, worüber abgestimmt wird und eine faire und breite öffentliche Debatte stattgefunden hat.

In Griechenland jedoch war das nicht der Fall. Es wurde gleichzeitig über verschiedene Fragen abgestimmt: Über die Austeritätspolitik und die Demütigung der griechischen Regierung in der letzten Verhandlungswoche sowie über das Verhältnis zwischen Griechenland und Europa bzw. dem Euro. In Spanien wie auch in Portugal und Irland waren zwar die Troika-Programme genauso ungerecht wie in Griechenland, aber sie wurden in Wahlen mehrfach bestätigt. Die dortigen Wahlen waren im Grunde mehrfach Volksabstimmungen über den Kurs in der Finanzkrise. Der Kurs gefällt mir zwar nicht, aber es wäre arrogant, diese Wahlen nicht zu respektieren.

„Es kann keine pauschale Unterstützung für Tsipras geben

Ist es nicht überhaupt ein Versäumnis der Grünen in Europa, Kräfte wie Syriza nicht viel stärker zu unterstützen?  Schließlich handelt es sich um eine  Bewegungen, die mit den autoritären Konzepten der traditionalistischen Linken gebrochen haben, starke Elemente von Basisdemokratie  praktizieren und damit auch Themen aufgreifen, die am Anfang vieler grüner und ökologischer Bewegungen gestanden haben.

Sven Giegold: Syriza selbst ist ein breites Bündnis. Da gibt es Sozialdemokraten und moderne Marxisten. In Syriza gibt es auch Teile, die sich in Deutschland oder Frankreich bei den Grünen politisch zuhause fühlen würden. Die griechischen Grünen sind ein Teil, wenn auch ein sehr kleiner, der Syriza-Regierung.

Allerdings finde ich Basisdemokratie nicht die richtige Beschreibung für eine Regierung, die ausschließlich aus Männern besteht, deren wichtige Entscheidungen wiederum in einem sehr kleinen Kreis von Männern getroffen werden und die ihre Koalitionsmehrheit mit Rechtspopulisten und Rassisten findet. Es gibt zudem in Syriza einen starken altlinken Flügel, der derzeit in Braunkohle und Goldabbau unter Menschenrechtsverletzungen und Naturzerstörung die wirtschaftliche Zukunft sieht. Der macht derzeit unserem grünen Umweltminister das Leben zur Hölle. Hinzu kommt eine relevante Gruppe von Trotzkistinnen und Trotzkisten, mit denen – Ausnahmen bestätigen die Regel – nur schwer auszukommen ist.

In dieser Situation kann es keine pauschale Unterstützung für Tsipras geben. Es kann daher nur um kritische Solidarität gehen. Wir Grüne waren Syriza gerade am Anfang durchaus wohlgesonnen, weil wir ihren Einsatz gegen die Austeritätspolitik richtig finden und unterstützen. Wir waren auch mehrfach vor Ort zu Gesprächen, auch um dazu beizutragen, einer Isolierung der Regierung zu verhindern. Aber wir müssen auch sehen, dass Tsipras‘ Leute gerade aus linker Sicht vieles nicht erreicht haben. Wie die deutsche Linkspartei den Claqueur der Tsipras-Regierung in Deutschland macht, finde ich deshalb peinlich.

Könnte ein Erfolg von Syriza, Podemos und vielleicht bald ähnlichen  Bewegungen in  anderen Ländern nicht günstige Bedingungen für die Herausbildung einer modernen emanzipatorischen Linken unter Einschluss von Teilen der Grünen in Europa bieten?

Sven Giegold: Wir Grünen sind eine pro-europäische Partei, die in den Institutionen durch breite gesellschaftliche Bündnisse viele Veränderungen durchgesetzt hat und noch viele erstreiten wird. Mir gefällt der europapolitische Diskurs von Podemos und Syriza in der Mehrheit nicht. Von ihnen höre ich nie, dass sie in Europa weitere Macht teilen wollen und dazu die Europäische Demokratie stärken wollen. Zudem: Wer die demokratischen Institutionen wie Podemos als „Kaste“ verächtlich macht, vereinfacht populistisch und wird die demokratischen Institutionen irgendwann verlieren.

„Deutschland ist dabei, sich in Europa als selbstsüchtiger Hegemon aufzustellen“

Der Ökonom Thomas Piketty erklärte[4] kürzlich in einem Interview, dass Deutschland historisch gesehen seine Schulden sowohl im Ersten wie auch im Zweiten Weltkrieg nicht bezahlt hat. Warum  machen die  Grünen solche historischen Fakten nicht mehr bekannt?

Sven Giegold: Das haben wir im Bundestag gemacht. Allerdings bezweifle ich, dass man damit politisch weit kommt. Entscheidend bleibt vielmehr: Deutschland ist dabei, sich in Europa als selbstsüchtiger Hegemon aufzustellen. Durch die Folgen der Finanzkrise in Frankreich und die Selbstschwächung Großbritanniens ist Deutschland jetzt eindeutig das wirtschaftlich und politisch mächtigste Land in Europa.

Bislang ist daraus aber nicht das Verständnis gewachsen, diese Macht im Interesse aller in Europa zu nutzen. Vielmehr setzt Deutschland eine einseitige Wirtschaftspolitik durch, die die Anpassungslast in der Krise einseitig bei den anderen Ländern abwälzt. Symbolisch dafür sind das Festhalten an den hohen Exportüberschüssen, die letztlich Instabilität in der Eurozone und darüber hinaus schaffen, und die Verweigerung einer solidarisch finanzierten Investitionspolitik in Europa. Deutsche Hegemoniepolitik in Europa ist nicht nur egoistisch, sondern sie funktioniert auch nicht.

Die europäische Einigung bleibt die größte Chance, die wir haben, Demokratie, Menschenrechte und Ökologie auch unter den Bedingungen der wirtschaftlichen Globalisierung zu stärken. Trotz aller Widersprüche des realen Handelns der EU – durch eine Schwächung der europäischen Einigung wird nichts besser. Die Chancen, dem Kapitalismus und im Besonderen dem Finanzmarktkapitalismus mit demokratisch erstrittenen Regeln menschliche Grenzen zu setzen, werden durch die Schwächung Europas ungleich schlechter. Somit ist die europäische Einigung im Interesse der Mehrheit und praktisch aller progressiven Bewegungen in Europa.

Vertiefte Europäische Demokratie ist schwer zu erreichen und die Fehler Europas sind schwer zu korrigieren. Aber das europäische Projekt von links aufzugeben, wäre ein unverzeihlicherFehler, denn eine bessere Wette haben wir nicht. Der Nationalstaat wird sicher nicht die Ebene sein, auf der wir der ökonomischen Globalisierung demokratisch begegnen können.

„Mangel an Erfolgen“

Hätte nicht gerade ein Ja in Griechenland die Kräfte auch in der Linken, die die EU für nicht reformfähig halten und einen Austritt und damit eine Renationalisierung von links fordern, gestärkt?

Sven Giegold: Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Tsipras wurde durch das Nein in den Verhandlungen in Brüssel geschwächt. Damit ist es noch wahrscheinlicher geworden, dass er einen schlechten Deal nach Hause bringt oder das Land in das Chaos eines Grexit stürzt. Leider!

Sie haben die Politik der griechischen Regierung in letzter Zeit häufiger kritisiert. Wo sehen Sie deren Hauptfehler?

Sven Giegold: Bis heute sehe ich in der Syriza-Regierung eine Chance, Griechenland grundlegend zu verändern. Allerdings hat sich gezeigt, dass sie es auch nicht alleine schaffen. In den ersten fünf Monaten ist bei den zentralen Problemen – Leistungsfähigkeit der Verwaltung, Klientelismus und Steuerverwaltung – nichts vorangegangen. Anders als versprochen, wurde die Lagarde-Liste mit 1063 reichen griechischen Kontoinhabern in der Schweiz nicht abgearbeitet. Stattdessen wurden Steuerzahlern mit Millionenausständen gegenüber dem Fiskus, Rabatte gewährt, wenn sie ihre Steuern doch begleichen. Der Vorschlag, die Namen von Steuersäumigen mit mehr als z.B. 500.000 Euro Rückstand ins Internet zu stellen, wurde nicht umgesetzt. Bei der Kürzung der Militärausgaben ist es unter Syriza nicht weiter vorangegangen. Es ist eine wenig überzeugende Ausrede, dass die Erfolge nur wegen der Troika ausgeblieben sind. Im Gegenteil, es gibt viele negative Zeugnisse: Auch die Syriza-Regierung pflegt ihre mächtigen Klientelismen.

Dieser Mangel an Erfolgen ist leider fatal. Sie war ein Hauptgrund, warum es so leicht war, die griechische Regierung in der Eurogruppe zu isolieren. Bei sichtbaren Erfolgen hätten Tsipras und Varoufakis mit einer ganz anderen Glaubwürdigkeit auftreten können. Es ist einfach nur bitter, dass sie es Schäuble und anderen Scharfmachern gegenüber Griechenland so leicht gemacht haben.

Eine häufige Kritik an Syriza lautete, dass sie die Vermögen der Reichen in Griechenland bisher nicht angetastet hat. Aber ist diese Kritik bei den Grünen nicht verwunderlich, die darüber streiten, ob sie reiche Erben stärker besteuern soll?

Sven Giegold: In der Politik ist manches verwunderlich. Ich finde es auch nicht akzeptabel, dass manche Grünen und Sozialdemokraten bei der Reform der Erbschaftssteuer hinter Schäuble zurückfallen. Allerdings erleben die Verantwortlichen in den Landesregierungen jeden Tag, wie schwer es ist, sich gegen die Wirtschaftsverbände durchzusetzen. Aus dieser Erfahrung folgen Konsequenzen für die Rolle mächtiger Lobbys in der Demokratie.

Jenseits dessen ist es für emanzipatorische Realpolitik entscheidend, auch solche politischen Strategien zu formulieren, die die Wirtschaft inhaltlich spalten, statt gemeinsam gegen sich zu positionieren. So ist es gerade bei der Erbschaftssteuer doch so: Der Mangel an Besteuerung verfälscht den Wettbewerb. Reiche Erben haben einen unverdienten Vorteil gegenüber allen anderen. Für eine angemessene Vermögensbesteuerung spricht eben nicht nur die Verteilungsgerechtigkeit und der demokratische Zusammenhalt einer Gesellschaft, sondern auch die Leistungsgerechtigkeit. Solche Argumente glaubwürdig zu formulieren, ist nicht reaktionär, sondern notwendig für erfolgreiche Veränderung im Hier und Jetzt. Das ist letztlich auch der Kern unseres Green New Deals.

Sven Giegold[5] ist Mitglied des Europäischen Parlaments[6] und Sprecher der Eurogruppe Grüne[7]. Er hat im Streit der griechischen Regierung mit den EU-Institutionen beide Seiten kritisiert.

http://www.heise.de/tp/artikel/45/45412/1.html

Interview: Peter Nowak

Anhang

Links

[1]

http://www.sven-giegold.de/2015/griechisches-referendum-taktlose-einmischung-von-martin-schulz/

[2]

http://www.spiegel.de/politik/ausland/augstein-zu-griechenland-nein-zum-referendum-kolumne-a-1041705.html

[3]

http://www.freitag.de/autoren/jan-pfaff/politik-wird-durch-zwang-ersetzt

[4]

http://www.zeit.de/2015/26/thomas-piketty-schulden-griechenland

[5]

http://www.sven-giegold.de/

[6]

http://www.europarl.europa.eu/meps/de/96730/SVEN_GIEGOLD_home.html

[7]

http://www.gruene-europa.de/

»Der Mangel an Erfolgen ist fatal«

Auch die griechischen Grünen sind Teil der Bündnispartei Syriza. Dennoch betrachten die europäischen Schwesterparteien die Regierung unter Alexis Tsipras eher kritisch. Sven Giegold ist Mitglied der deutschen Grünen, Mitbegründer von Attac Deutschland und Abgeordneter im Europäischen Parlament. Jungle World sprach mit ihm über die Folgen des Referendums für Griechenland und die Rolle des Hegemons Deutschland.

Nach Bekanntgabe des Ergebnisses des griechischen Referendums haben Sie getwittert, dass die Wiederaufnahme der Verhandlungen ein Gebot der Stunde sei. Das fordert auch die griechische Regierung. Müsste jetzt nicht ein Schuldenschnitt auf der Tagesordnung stehen?

Nach dem Sieg des »Nein« droht eine Eskalationsspirale, die Griechenland schnell aus dem Euro drängen kann. Ein Grexit ist und bleibt unvernünftig. Denn die preisliche Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands ist bereits weitgehend wiederhergestellt, unter enormen sozialen und wirtschaftlichen Kosten. Mit einem Grexit müssten die Menschen noch ein zweites Mal bezahlen: Durch den Verlust einer stabilen Währung und mit einer schweren Währungsumstellungskrise. Ökonomisch ist das auch für die Gläubiger unsinnig, denn je ärmer Griechenland wird, desto weniger kann es seine Schulden zurückbezahlen. Allerdings scheint es, dass etliche Entscheidungsträger in den Mitgliedsländern der EU nicht die Vernunft, sondern eine wirtschaftspolitische Ideologie durchsetzen wollen. Trotzdem sind die politischen Kosten einer drohenden Kosovoisierung Griechenlands für Europa und für dessen Ansehen in der Welt so hoch, dass ich immer noch Hoffnung habe, dass Angela Merkel, François Hollande und Matteo Renzi doch noch ihrer Verantwortung gerecht werden und nach einer fairen Einigung mit Alexis Tsipras suchen. Dazu müsste sich Griechenland zu jenen Reformen verpflichten, auf die es wirklich ankommt: eine leistungsfähige öffentliche Verwaltung, Korruptionsbekämpfung, ein gerechtes und effizientes Steuerwesen. Was der griechischen Wirtschaft dagegen schadet, sind neue prozyklische – also krisenverschärfende – Sparprogramme oder Steuererhöhungen. Das schreckt Investoren ab. Vertrauen für Investitionen kann nur geschaffen werden, wenn das Problem der Überschuldung gelöst wird. Das muss kein Schuldenschnitt sein. Auch eine Umschuldung mit einer Begrenzung der Zinszahlungen und Tilgungen gemäß der wirtschaftlichen Entwicklung können helfen.

Sie haben in einen Kommentar den EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz (SPD) dafür kritisiert, dass er vor dem Referendum die Ablösung von Ministerpräsident Alexis Tsipras gefordert hatte. Schließlich hatte die griechische Regierung betont, dass ein »Nein« keine Absage an die EU und den Euro sei, sondern die Position derer stärke, die eine Alternative zur Austeritätspolitik wollen. Wäre das nicht ein guter Grund für Sie gewesen, ein »Nein« beim Referendum zu unterstützten?

Die Europäischen Grünen haben sich aus Respekt vor der Entscheidung der griechischen Bürger mit Empfehlungen zurückgehalten. Ich halte nichts davon, wenn man aus Deutschland den Bürgern in Griechenland schlaue Ratschläge gibt, wie sie bei einer so schwierigen Entscheidung abstimmen sollen. Zurückhaltung hätte auch der Rolle eines zur Neutralität verpflichteten Präsidenten des Europaparlaments gut gestanden. Es ist leider nicht das erste Mal, dass Martin Schulz eine demokratische Haltung vermissen lässt. Aber zum vermeintlich glorreichen »Nein«: Ich bin mir sehr unsicher, ob das die Verhandlungspo­sition der Griechen wirklich stärkt, weil es die Entscheidungsträger in Europa nur noch stärker zusammenschweißt. Zudem ist die Stimmung in der europäischen Bevölkerung bereits sehr kritisch gegenüber Tsipras. Die Absage an die weitere Sparpolitik kann in der europäischen Realpolitik als Absage an eine weitere Mitgliedschaft im Euro gewertet werden. Diese Interpretation ist aber von der Mehrheit in Griechenland nicht gewollt und könnte im Ergebnis zu einer Katastrophe führen. Wir müssen uns bewusst machen: Das »Oxi« ist kein Nein zum Euro oder Europa.

Ist es nicht überhaupt ein Versäumnis der Grünen in Europa, Kräfte wie Syriza nicht viel stärker zu unterstützen? Schließlich handelt es sich um Bewegungen, die mit den autoritären Konzepten der traditionalistischen Linken gebrochen haben, starke Elemente von Basisdemokratie praktizieren und damit auch Themen aufgreifen, die am Anfang vieler grüner und ökologischer Bewegungen gestanden ­haben.

Syriza selbst ist ein breites Bündnis. Da gibt es Sozialdemokraten und moderne Marxisten. In Sy­riza gibt es auch Teile, die sich in Deutschland oder Frankreich bei den Grünen politisch zu Hause fühlen würden. Die griechischen Grünen sind ein Teil, wenn auch ein sehr kleiner, der Syriza-Regierung. Allerdings finde ich Basisdemokratie nicht die richtige Beschreibung für eine Regierung, die ausschließlich aus Männern besteht, deren wichtige Entscheidungen wiederum in einem sehr kleinen Kreis von Männern getroffen werden und die ihre Koalitionsmehrheit mit Rechtspopulisten und Rassisten findet. Es gibt zudem in Syriza einen starken altlinken Flügel, der derzeit in Braunkohle und Goldabbau mit Menschenrechtsverletzungen und Naturzer­störung eine wirtschaftliche Zukunft sieht. Der macht derzeit unserem grünen Umweltminister das Leben zur Hölle. Hinzu kommt eine rele­vante Gruppe von Trotzkisten, mit denen – Ausnahmen bestätigen die Regel – nur schwer aus­zukommen ist. In dieser Situation kann es keine pauschale Unterstützung für Tsipras geben. Es kann daher nur um kritische Solidarität gehen. Wir Grüne waren Syriza gerade am Anfang äußerst wohlgesinnt, weil wir ihren Einsatz gegen die Austeritätspolitik richtig finden und unterstützen. Wir waren auch mehrfach vor Ort zu Gesprächen. Aber wir müssen auch sehen, dass Tsipras’ Leute gerade aus linker Sicht vieles nicht erreicht haben. Wie die deutsche Linkspartei den Claqueur der Tsipras-Regierung in Deutschland macht, finde ich deshalb peinlich.

Wäre es nicht jetzt an der Zeit, auch in Spanien und anderen Ländern Referenden zu fordern? Schließlich gab es auch dort einen starken Widerstand gegen die Austeritätspolitik, die von den Regierungen rücksichtslos durchgesetzt wurde.

Grundsätzlich bin ich immer für die Stärkung der direkten Demokratie, solange dabei die Grundrechte nicht zur Disposition gestellt werden. ­Allerdings sind Volksabstimmungen nur dann emanzipatorisch, wenn klar ist, worüber abgestimmt wird, und eine faire und breite öffentliche Debatte stattgefunden hat. In Griechenland war das jedoch nicht der Fall. Es wurde gleichzeitig über mehrere verschiedene Fragen abgestimmt: Über die Austeritätspolitik und die Demütigung der griechischen Regierung in der letzten Verhandlungswoche sowie über das Verhältnis zwischen Griechenland und Europa be­ziehungsweise dem Euro. In Spanien wie auch in Portugal und Irland waren zwar die Troika-Programme genauso ungerecht wie in Griechenland, aber sie wurden in Wahlen mehrfach bestätigt. Die dortigen Wahlen waren im Grunde mehrfach Volksabstimmungen über den Kurs in der Finanzkrise. Der Kurs gefällt mir zwar nicht, aber es wäre arrogant, diese Wahlen nicht zu respektieren.

Der Ökonom Thomas Piketty erklärte kürzlich in der Zeit, dass Deutschland, historisch gesehen, seine Schulden sowohl nach dem Ersten wie auch dem Zweiten Weltkrieg nicht bezahlt hat. Warum machen die Grünen solche historischen Fakten nicht bekannter?

Das haben wir im Bundestag gemacht. Allerdings bezweifle ich, dass man damit politisch weit kommt. Entscheidend bleibt vielmehr: Deutschland ist dabei, sich in Europa als selbstsüchtiger Hegemon aufzustellen. Durch die Folgen der Finanzkrise in Frankreich und die Selbstschwächung Großbritanniens ist Deutschland jetzt eindeutig das wirtschaftlich und politisch mächtigste Land in Europa. Bislang ist daraus aber nicht das Verständnis gewachsen, diese Macht im Interesse aller in Europa zu nutzen. Vielmehr setzt Deutschland eine Wirtschaftspolitik durch, die die Anpassungslast in der Krise einseitig auf die anderen Länder abwälzt. Symbolisch dafür ist das Festhalten an den hohen Exportüberschüssen, die letztlich Instabilität in der Eurozone und darüber hinaus schaffen, und die Verweigerung einer solidarisch finanzierten Investitionspolitik in Europa. Deutsche Hegemoniepolitik in Europa ist nicht nur egoistisch, sie funktioniert auch nicht. Die europäische Einigung bleibt die größte Chance, die wir haben, Demokratie, Menschenrechte und Ökologie auch unter den Bedingungen der wirtschaftlichen Globalisierung zu stärken. Trotz aller Widersprüche des realen Handelns der EU – durch eine Schwächung der europäischen ­Einigung wird nichts besser. Die Chancen, dem Kapitalismus und insbesondere dem Finanzmarktkapitalismus mit demokratisch erstrittenen Regeln menschliche Grenzen zu setzen, werden durch die Schwächung Europas ungleich schlechter. Somit ist die europäische Einigung im Interesse der Mehrheit und praktisch aller progressiven Bewegungen in Europa. Vertiefte europäische Demokratie ist schwer zu erreichen, und die Fehler Europas sind schwer zu korrigieren. Aber das europäische Projekt von links aufzugeben, wäre ein unverzeihlicher Fehler, denn eine bessere Wettoption haben wir nicht. Der Nationalstaat wird sicher nicht die Ebene sein, auf der wir der ökonomischen Globalisierung demokratisch begegnen können.

Sie haben die Politik der griechischen Regierung häufiger kritisiert. Wo sehen Sie deren Hauptfehler?

Bis heute sehe ich in der Syriza-Regierung eine Chance, Griechenland grundlegend zu verändern. Allerdings hat sich gezeigt, dass sie es nicht alleine schafft. In den ersten fünf Monaten ist bei den zentralen Problemen – Leistungsfähigkeit der Verwaltung, Klientelismus und Steuerverwaltung – nichts Relevantes vorangegangen. Anders als versprochen, wurde die Lagarde-Liste mit 1063 reichen griechischen Kontoinhabern in der Schweiz nicht abgearbeitet. Stattdessen wurden Steuerzahlern mit Millionenausständen gegenüber dem Fiskus Rabatte gewährt, wenn sie ihre Steuern doch begleichen. Der Vorschlag, die Namen von Steuersäumigen mit mehr als 500 000 Euro Rückstand ins Internet zu stellen, wurde nicht umgesetzt. Bei der Kürzung der ­Militärausgaben ist es unter Syriza nicht weiter vorangegangen. Es ist eine wenig überzeugende Ausrede, dass die Erfolge nur wegen der Troika ausgeblieben sind. Im Gegenteil, es gibt viele ­negative Zeugnisse, auch die Syriza-Regierung pflegt ihren mächtigen Klientelismus.

Dieser Mangel an Erfolgen ist leider fatal. Er war ein Hauptgrund, warum es so leicht war, die griechische Regierung in der Euro-Gruppe zu isolieren. Bei sichtbaren Erfolgen hätten Tsipras und Varoufakis mit einer ganz anderen Glaubwürdigkeit auftreten können. Es ist einfach bitter, dass sie es Schäuble und anderen Scharfmachern gegenüber Griechenland so leicht gemacht haben.

http://jungle-world.com/artikel/2015/28/52269.html

Interview: Peter Nowak

Die Degewo und der faire Moment

„Zeig uns deinen fairsten Moment und gewinne vom 25. Mai bis 19. Juli 2015 wöchentlich 1.000,– € für deinen Kiez“. Mit dieser Berlin-Fair-Kampagne wirbt die Wohnungsbaugesellschaft Degewo seit einigen Wochen auf ihrer Homepage http://www.fairesberlin.degewo.de/ .  Dort sind Menschen zu finden, die Musik in Friedhofskapellen  machen oder das Loveparade-Revival „Zug der Liebe“ vorbereiten. Doch in den letzten Tagen finden sich auf der Degewo-Homepage Termine, die zu Protesten über eine drohende Zwangsräumung aufrufen.

Es geht um Jenny N.,  die mit ihrer zehnjährigen Tochter  seit vielen Jahren in einem der Degewo gehörenden Haus im Neuköllner Ortsteil Britz wohnt. Der  Lehramtsstudentin wurde von dem Unternehmen wegen Mietrückständen gekündigt. Das Gericht gab dem Unternehmen recht. Bis zum 31. August soll N. die Wohnung verlassen. Sie wandte sich an das Berliner Bündnis gegen Zwangsräumung, das am vergangenen Donnerstag ein Go-In ins Foyer der Degewo-Verwaltung unternahm. Auch die Mieterin war bei der Aktion dabei. Dort erklärte sie, wegen gravierender Mängel die Miete gemindert zu haben “Dreimal habe ich schon einen Schimmelbefall gemeldet, der inzwischen meine  eigene Einbauküche zerstört und meiner Tochter gesundheitliche Probleme gebracht hat“. Das Unternehmen habe jede Kommunikation mit ihr verweigert und die Mängel nicht beseitigt, nachdem  sie  sich 2009 erfolgreich gegen eine Mieterhöhung gewehrt hat, moniert Jenny N.  Die Aktion wurde beendet, nachdem ein Gespräch zwischen Degewo-MitarbeiterInnen, der Mieterin und einer Delegation des Bündnisses „Zwangsräumung verhindern“ für den 7. Juli vereinbart war.  Auf dem Treffen wurde die Zwangsräumung nicht zurückgenommen. Doch  die Degewo erklärte sich bereit, eine geeignete Ersatzwohnung für die Mieterin in der Nähe ihres  bisherigen  Wohnumfeldes anzubieten.  Die Frage, ob der Fall Jenny N. noch mit einem fairen Moment endet, bleibt also offen.  „Die  Degewo hat jetzt zwei Wochen Zeit um eine Lösung zu finden und die  Zwangsräumung von Jenny zu verhindern“, erklärt Bündnismitarbeiterin Sarah Walter gegenüber MieterEcho-Online.

Rund  200  Zwangsräumungen  jährlich bei der Degewo

Degewo-Pressesprecher  Lutz Ackermann verweist  gegenüber  MieterEcho-Online auf eine  „lange nicht immer glücklichen Beziehung mit der Mieterin“. Es habe bereits Mietrückstände gegeben, bevor N. die Mängel gemeldet habe  „Eine Zwangsräumung ist für uns immer nur das letzte Mittel. Deshalb betreiben wir 25 Mietschuldenberatungsstellen, die Hilfestellung geben können“, betonte Ackermann. Doch dieses letzte Mittel wird im Jahr ca. 200 Mal angewandt.  „Im Jahr waren es 2013  exakt 198 Zwangsräumungen bei Degewo-Wohnungen, im Vorjahr waren es  225 und 2011 mussten 230 MieterInnen ihre Wohnung verlassen“, erklärt  Laura Berner gegenüber MieterEcho Online. Sie ist Mitautorin der im April 2015 vom Institut für Sozialwissenschaften der HU-Berlin  herausgegebenen Studie „Zwangsräumung und die Krise des Hilfesystems“. https://www.sowi.hu-berlin.de/de/lehrbereiche/stadtsoz/forschung/projekte/studie-zr-web.pdf.  In der Studie wird  auch  eine Mitarbeiterin  des Bezirksamt Mitte zitiert,  die zumindest Zweifel am fairen Selbstbild der Degewo aufkommen lässt:  „Es gibt eine Wohnungsbaugesellschaft, bei der ich zunehmend das Gefühl  habe, die wollen ihre komplette Mieterschaft austauschen, das ist die Degewo. […] Die haben keinen Willen mehr, Mietverträge fortzusetzen, auch nicht, wenn wir die Mietzahlung absichern […] und diese Anweisungen kommen von ganz oben“ (Bezirksamt Mitte;  S.81).  Auch Stimmen von Degewo-MitarbeiterInnent, die einer Zwangsräumung positive Seiten abgewinnen können, sind in der Studie zu finden. „Es gibt auch Leute, für die ist ’ne Zwangsräumung auch gut…  Na, wir finden da Wohnungen vor, von Messies oder sonstwas, wo man sagt ‚höchste Zeit, dass da mal jemand vorbeigekommen ist und gesagt hat ‚hier muss sich mal was ändern‘.“ (S. 87).

aus:  MieterEcho online 10.07.2015

http://www.bmgev.de/mieterecho/mieterecho-online/degewo-zwangsraeumungen.html
Peter Nowak

Flohmarkt ruft Ordnungshüter auf den Plan

GENTRIFIZIERUNG Die „Lange Nacht der Rigaer Straße“ will den Kiez fürs Thema Verdrängung sensibilisieren. Spontane Mitternachts-Demo nach Polizeieinsatz


BRD-Bullenstaat – wir haben dich zum Kotzen statt“. Diese Parole war am Mittwochabend am „Dorfplatz“ im Friedrichshain zu hören. So wird die Kreuzung Rigaer Straße/Liebigstraße von den BewohnerInnen und FreundInnen
der zahlreichen linken und alternativen Hausprojekte in der Umgebung genannt. Seit dem 6. Juli veranstalten diese die „Lange Woche der Rigaer Straße“ mit Konzerten, Ausstelllungen und politischen Veranstaltungen. In diesem Rahmen wurde am Mittwochnachmittag ein Umsonst-Flohmarkt auf dem Dorfplatz aufgebaut, auf Tischen lagen Bücher und Klamotten aus. Die friedliche Straßenfeststimmung endete abrupt, als ein Polizeitrupp in voller Montur die Flohmarktartikel beschlagnahmte. Den Versuch, den Flohmarkt vor den Häusern erneut aufzubauen, vereitelte die Polizei mit einem erneuten Einsatz. Es habe keine Genehmigung für den Umsonst-Flohmarkt vorgelegen, begründete Polizeieinsatzleiter Thomas Böttcher den Einsatz. „Wir warten erst mal ab, lassen aber keine rechtsfreien Räume zu“, beschrieb er die Einsatztaktik rund um das Straßenfest. Bereits am vergangenen Dienstag war ein großer Polizeipulk angerückt, um mit Kreide auf das Straßenpflaster gemalte Parolen mit einem Reinigungstrupp zu entfernen. „Der Flohmarkt war ein Versuch, mit den NachbarInnen in Kontakt zu kommen. Und das sollte mit dem Polizeieinsatz
verhindert werden,“ erklärte eine Mitorganisatorin der Aktionswoche. Vor allem gegen die  zunehmende Gentrifizierung im Kiez wolle man sich mit den Nachbarn gemeinsam wehren. In der letzten Zeit mussten mehrere
Läden in der Umgebung nach Ankündigungen von Mieterhöhungen schließen. Der Besitzer eines T-Shirt-Ladens verübte nach der Kündigung Selbstmord. „Das repressive Vorgehen gegen unser Straßenfest nehmen wir nicht hin“,  erklärte eine Frau kurz nach Mitternacht auf einer improvisierten Kundgebung am  Dorfplatz und kündigte für den
10. Juli um 21 Uhr eine Demonstration gegen „Polizeigewalt und Verdrängung“ an, die ebenfalls am Dorfplatz beginnen soll. Während vom Dach eines der exbesetzen Häuser noch einige Böller abgefeuert wurden, leerte sich der Platz. Dafür waren die zahlreichen Kneipen gut gefüllt,  die in der Rigaer Straße und der unmittelbaren Umgebung zu den MitveranstalterInnen der Langen Woche gehören. Manche AnwohnerInnen befürchten, dass bei der Demonstration
am Freitagabend doch noch die Bilder geliefert werden, die Boulevardmedien seit Wochen herbeizuschreiben versuchen. Besonders die BZ aus dem Hause Springer warnte schon vor Wochen vor einem bundesweiten „Chaotentreffen in Friedrichshain“. Dabei musste als Beweis ein Plakat zur Aktionswoche herhalten, das von Kindern
aus den Hausprojekten gestaltet wurde und vermummte Personen zeigte. Am 8. Juli war die Onlinepräsenz der BZ nicht zu erreichen. In dem Bekennerschreiben einer anonymen Hackergruppe heißt es: „Die BZ beteiligte sich, ähnlich wie die Schwesterzeitung Bild an vorhergehender Hetze rund um die Lange Woche der Rigaer Straße“.

Taz-Berlin,  10-7.2015

Peter Nowak

Polizei umstellt Protest

Der »Dorfplatz« in Friedrichshain ist Zentrum einer Aktionswoche

Linke Hausprojekte wollen in einer »Langen Woche der Rigaer Straße« Vernetzung von Anwohnern und Protest gegen Gentrifizierung vorantreiben.

In den letzten Tagen und Nächten glich die Rigaer Straße im Stadtteil Friedrichshain einer Polizeifestung. Die Gegend um den »Dorfplatz« (Kreuzung Rigaer Str./Liebigstr.) wurde von einem Lichtmast der Polizei komplett ausgeleuchtet. Der Dorfplatz ist das Zentrum der »Langen Woche der Rigaer Straße«, die von den ehemals besetzten Hausprojekten vorbereitet wurde. Sie begann am 6. Juli. »Viele Projekte des rebellischen Friedrichshainer Nordkiez haben sich zusammengetan, um gemeinsam ein Fest zum 25-jährigen Bestehen zu feiern, aber auch, um die ernsten Probleme, mit denen die Menschen in dieser Stadt zu kämpfen haben, solidarisch zu beantworten«, heißt es auf der Homepage. Am Mittwochabend sollte mit einem Umsonstflohmarkt die Nachbarschaft außerhalb der linken Hausprojekte angesprochen werden.

In die friedliche Atmosphäre platzte die Polizei, die den Flohmarkt beschlagnahmte und jeden Versuch eines Wiederaufbaus unterband. Es habe keine Anmeldung vorgelegen, begründete Polizeisprecher Thomas Böttcher den Polizeieinsatz, der auch bei vielen Anwohnern auf Unverständnis stieß. »Mich hat der Lärm vom Generator für den Lichtmast der Polizei gestört, der vor meinem Fenster aufgebaut war, aber nicht der Flohmarkt, schreibt ein Anwohner auf einen Internetblog. «Mit den Polizeimaßnahmen sollen die Krawalle herbeigeführt werden, die die Springerpresse bereits seit Wochen prophezeit», befürchtet eine Mieterin. Vor allem in der «BZ» wird seit Wochen vor einem bundesweiten «Chaotentreffen» in Friedrichshain gewarnt. Eine unbekannte Gruppe hatte am Mittwoch erklärt, sie habe wegen der Hetzartikel und der Polizeigewalt in der Rigaer Straße die BZ-Webseite gehackt.

Für diesen Freitagabend (21 Uhr) haben die Organisatoren der Langen Woche in der Rigaer Straße eine Demonstration gegen «Polizeigewalt und Verdrängung» angekündigt, die am Dorfplatz beginnen soll. Tatsächlich sind die steigenden Mieten ein Problem, das viele einkommensschwache Anwohner der Rigaer Straße betrifft. Immer mehr kleine Läden müssen schließen. Im Mai 2015 beging der Betreiber eines T-Shirt-Ladens in der Rigaer Straße Selbstmord, nachdem ihm gekündigt wurde. Wochenlang erinnerten Freunde und Bekannte mit Blumen und Karten vor dem Laden an ihn.

Die letzten Brachen verschwinden. So soll auf dem Gelände einer ehemaligen Möbelfabrik in der Rigaer Straße 71 ein Kulturhof entstehen, in den nach der aktuellen Planung Teile der historischen Anlage einer Möbelfabrik integriert werden sollen. In den Häusern in unmittelbarer Nähe wurde ein Dachgeschossausbau angekündigt. «Der Druck auf die Mieten in der Umgebung wächst. Daher wäre es wünschenswert, wenn eine Kooperation zwischen den Bewohnern in der Rigaer Straße zustande kommen würde. Schließlich sollte der Unterschied zwischen Hausbesetzern und Mietern schon seit Jahren keine Rolle mehr spielen», formuliert ein Anwohner eine Aufgabe, die auch nach dem Ende der Langen Woche noch aktuell sein wird.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/977377.polizei-umstellt-protest.html

Peter Nowak

Hartz IV und die Politik der Angst

Im Zweifel für den Zweifel

History is unwritten - AutorInnenkollektiv Loukanikos (Hg.)
AutorInnenkollektiv Loukanikos (Hg.)
History is unwritten
Linke Geschichtspolitik und kritische Wissenschaft

Ein Kreis linker Historiker_innen und politischer Aktivist_innen diskutiert über den Stellenwert von Geschichte.

Loukanikos hieß der Straßenhund, der während der Zeit der griechischen Massenproteste in den Jahren 2012 und 2013 auf vielen Fotos zu sehen war. Der Hund schrieb Geschichte, und sein Tod im letzten Jahr war der Süddeutschen Zeitung sogar einen eigenen Artikel wert. Doch das Tier schrieb auch auf eine ganz besondere Weise Geschichte. Nach ihm benannte sich eine Gruppe von fünf Historiker_innen, die in den letzten Jahren Diskussionen über den linken Umgang mit Geschichte vorangetrieben haben. Das AutorInnenkollektiv Loukanikos, bestehend aus Henning Fischer, Uwe Fuhrmann, Jana König, Elisabeth Steffen und Till Sträter, gab 2012 den Sammelband „Zwischen Ignoranz und Inszenierung. Die Bedeutung von Mythen und Geschichte für die Gegenwart der Nation“ heraus (siehe Rezension in kritisch-lesen.de #26). Daran schloss sich eine längere Diskussion über den Stellenwert der Geschichte für eine emanzipative Politik an, die 2012 und 2013 in der Monatszeitung analyse und kritik (ak) geführt wurde. Die ak-Redaktion hat eine Sonderbeilage mit den Debattenbeiträgen herausgegeben, die mittlerweile vergriffen ist.

Der Gegenstand der Debatte verschob sich mittlerweile. Über die Kritik an den Geschichtsmythen von Staat und herrschender Politik gibt es in den unterschiedlichen Fraktionen der Linken grundsätzliche Differenzen. Bei der Frage, ob nicht auch alle linken Geschichtsmythen dekonstruiert werden müssten, bietet sich entsprechend reichlich Zündstoff. „Was macht die Linke mit Geschichte?“ lautete denn auch die Fragestellung einer Konferenz, die das AK Loukanikos im Dezember 2013 in Berlin organisierte. Eingeladen waren neben Historiker_innen und Soziolog_innen auch politische Aktivist_innen.

Unter dem Titel „History is unwritten“ hat das AK Loukanikos kürzlich im Verlag edition assemblage ein Buch herausgegeben, das mehr ist als der erweiterte Konferenzbericht. Die 25 dort veröffentlichten Aufsätze geben einen guten Überblick über den Stand der linken Geschichtsdebatte in Deutschland.

Einige der Aufsätze befassen sich mit einem Teilbereich linker Geschichte. So widmet sich der Gewerkschaftshistoriker Wolfgang Uellenberg-van Dawen der Geschichte der Deutschen Gewerkschaften im Ersten Weltkrieg. Dabei zeigt er auf, wie die Politik des Burgfriedens die Sozialpartnerschaft zwischen Kapital und Arbeit einleitete, die auch nach 1918 fortgeführt wurde. Hierin liegt auch die massive Ablehnung der Rätestrukturen durch die Gewerkschaften begründet, die sich während der Novemberrevolution gebildet hatten. Unverständlich bleibt, warum „die harten Bedingungen und die wirtschaftlichen Folgen des Versailler Vertrags die Politik der Landesverteidigung im Nachhinein […] rechtfertigen“ (S. 87). Unabhängig von der unter Historiker_innen strittigen Frage, ob der Versailler Vertrag besonders harte Bedingungen enthielt, müssten hier entschiedene Kriegsgegner_innen argumentieren, dass es ohne den maßgeblich von Deutschland entfachten Weltkrieg keinen Versailler Vertrag gegeben hätte. Doch solche Detailfragen ließen sich im Kontext der Konferenz nicht klären.

Brauche ich die Vergangenheit, um eine linke Politik zu begründen?

Der Beitrag von Susanne Götze zur Bedeutung des marxistischen Philosophen Henri Lefebvre und Dominik Nagels Aufsatz über den britischen Historiker Edward P. Thompson widmen sich zwei linken Wissenschaftlern, die sich der Erneuerung der marxistischen Theorie verschrieben haben. Neben den Beiträgen, die sich einer Person oder einem bestimmten Teilbereich in der linken Geschichte widmen, stellen andere Artikel die Frage, ob die Linke eigene Mythen braucht. Dazu gehört auch die Maxime, „wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen“, die in linken Kreisen häufig verwendet wird. Der Publizist Bernd Engelmann gebrauchte den Satz gleich mehrmals in seinen in den 1970er Jahren populären Anti-Geschichts-Büchern. Vor allem an die Geschichte von Gewalt und Krieg sollte erinnert werden, um sie für die Zukunft auszuschließen.

Wenn irgendwo auf der Welt wieder massive Menschenrechtsverletzungen bekannt werden, lautet ein Vorwurf, man habe aus der Geschichte nichts gelernt. Die Historikerin Cornelia Siebeck unterzieht das gesamte Konzept vom Lernen aus der Geschichte in ihrem „Plädoyer für eine post-apodiktische Geschichtspolitik“ (S. 373) einer scharfen Kritik. Dabei beruft sie sich auf postmoderne Theoretiker_innen wie Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Für sie gibt es keine letzte Schlacht, die „wir“ gewinnen und auch keine „Enkel“, die es besser ausfechten, womit sich viele Linke nach einer politischen Niederlage trösten. Siebeck kritisiert ein linkes Geschichtsmodell, das die Vergangenheit heranzieht, um Lehren für die Zukunft zu ziehen. „Was emanzipatorische Zukunftspolitik ganz sicher nicht braucht, ist die eine historische Erzählung, um ihre Anliegen zu begründen“ (S. 370). Für Siebeck sind deshalb auch alle Denkmäler fragwürdig, mögen sie auch einem noch so guten Zweck dienen, beispielsweise der Beschwörung einer Welt ohne Krieg und Faschismus. Sinnbild eines in ihrem Sinne positiven Denkmals ist ein leerer Sockel.

Dieser totalen Geschichtsdekonstruktion widersprechen andere Autor_innen aus unterschiedlichen Gründen. So plädiert der Historiker Ralf Hoffrogge in seinen „Fünf Thesen zum Kampf um die Geschichte“ (S. 114) dafür, „die sozialistische Bewegung als Tradition künftig anzunehmen“ (S. 115) und auch in der Kritik an den gescheiterten linken Bewegungen bescheidener zu sein. „Auch wir werden im politischen Leben Fehler machen und unseren Ansprüchen nicht gerecht werden, das Richtige Leben im Falschen nicht erreichen, und die Abschaffung des ganzen Falschen wohl auch nicht“ (S. 119). Für Hoffrogge ist diese kritische Ergänzung allerdings kein Anlass für Resignation. Daher beendet er seinen Aufsatz auch mit der alten linken Parole „Vorwärts und nicht vergessen“.

Fragend schreitend im Kreise?

Die schärfste Kritik an Siebecks postmoderner Geschichtsdekonstruktion liefert der Historiker Max Lill. „Viele Intellektuelle der radikalen Linken laben sich − inzwischen buchstäblich seit Jahrzehnten – am Misstrauen gegenüber jedem Versuch, größere Zusammenhänge herzustellen. Fragend schreiten sie im Kreis“ (S. 327). Lill wendet sich mit Verweis auf die Geschichte der US-Bürgerrechtsbewegung gegen ein Mythenverbot in der linken Geschichtswissenschaft.

„Die vor neuen Impulsen vibrierenden Gegenkulturen waren auch, besonders zu Beginn, auf paradoxe Weise geprägt von einem tiefen Gefühl der Nostalgie und der Identifikation mit ihren sozial und historisch scheinbar fern liegenden Akteur_innen. Die eigenen, anfangs in noch romantisch gefärbter Innerlichkeit gärenden Entfremdungserfahrungen und Sehnsüchte wurden auf die alte Arbeiterbewegung oder die antifaschistischen und anti-kolonialen Kämpfe projiziert. Sie artikulieren sich mitunter sogar in einer Adaption der Sprache der christlichen Befreiungstheologie, wie sie für die Bürgerrechtsbewegung prägend war. Alle möglichen sozialen Randexistenzen rücken in den Mittelpunkt der herauf quellenden Phantasien einer durch Bildungsexpansion sozial aufsteigenden Jugend: eine Entgrenzung der Empathie- und Einbildungskraft“ (S. 330).

Was Lill hier anspricht, betrifft viele emanzipatorische Bewegungen überall auf der Welt. So bezogen sich feministische Kämpfe auf Frauen, die in ihrer Zeit als Hexen verfolgt wurden. Regionale ökologische Initiativen in Bayern benannten sich nach der Buntschuhbewegung des Spätmittelalters, um gegen eine Mercedes-Teststrecke zu protestieren. Natürlich ist der Hinweis richtig, dass bei solchen Bezugnahmen über die Jahrhunderte hinweg immer Projektionen und Konstruktionen im Spiel sind. Es gab in der Zeit der Buntschuhbewegung keine Autos, und daher ist es müßig, darüber nachzudenken, ob und wie sich die Bewegung zur Mercedes-Teststrecke positioniert hätte. Das ist aber auch den Aktivst_innen bewusst. Es ging den Aktivist_innen aber um ein widerständiges Verhalten gegenüber der jeweiligen Obrigkeit und Respekt vor Menschen, die in der Vergangenheit mit Verfolgung bis zum Tod konfrontiert waren. Daraus kann selbstverständlich auch eine problematische Überidentifikation werden. Das kann man an der Geschichte der jüngeren Frauenbewegung beobachten. Der Respekt vor den als Hexen verfolgten Frauen endete in manchen feministischen Kreisen damit, dass man einen Hexenkult etablierte, der durchaus religiöse Formen annehmen konnte. In dem Film „Die Ritterinnen“ schilderte die Regisseurin Barbara Teufel diese Entwicklung exemplarisch anhand der Entwicklung einer feministischen Wohngemeinschaft in Berlin-Kreuzberg der späten 1980er Jahre.

So werden im Buch „History is unwritten“ tatsächlich für eine emanzipative Theorie und Praxis wichtige Fragen gestellt. Es bleibt zu hoffen, dass die Debatte auch mit den politischen Aktivist_innen fortgesetzt wird, die trotz guter Vorsätze auf der Konferenz nur sehr begrenzt möglich war. Erfreulicherweise wird dieser Kritikpunkt im Buch an mehreren Stellen klar benannt. „Für einen Austausch, bei den alle einbezogen werden sollen, waren die Vorträge nicht geeignet“(S. 172), kritisiert Chris Rotmund von der Initiative für einen Gedenkort ehemaliges KZ Uckermark den akademischen Diskussionsstil auf der Konferenz. Mit dem Buch sind aber die Grundlagen für eine Debatte gelegt, die aus diesen Fehlern lernt. Dem dürften selbst die Autor_innen zustimmen, die die Geschichte nicht als Lernanstalt betrachten.

http://www.kritisch-lesen.de/rezension/im-zweifel-fur-den-zweifel-1

Peter Nowak

Wenn die Leinwand dunkel bleibt

STREIK Im Kino Babylon Mitte gibt es immer wieder Warnstreiks. Es geht um mehr Lohn und Personal

„Worst Case Scenario“ lautet der  Titel eines Film im aktuellen Programm des Kinos Babylon Mitte. Für den Geschäftsführer des Filmhauses am Rosa-Luxemburg Platz, Timothy Grossman, wäre es ein Worst-Case-Scenario, wenn
die Leinwand dunkel bliebe. Denn die Verdi-Betriebsgruppe im Kino ruft seit dem 22. Mai immer wieder zu Warnstreiks auf. Die Gewerkschaft hatte den vor zehn Jahren geschlossenen Tarifvertrag gekündigt und die Geschäftsführung zu Tarifverhandlungen aufgefordert. Sie will die Übernahme des Bundestarifvertrages des Hauptverbands Deutscher Filmtheater (HDF) für die Babylon-Beschäftigten und eine Erhöhung der Personalbesetzung erreichen. „Seit fünf Jahren gab es im Bereich der FilmvorführerInnen keine Entgelterhöhung. Lediglich der Einstiegslohn für PlatzanweiserInnen
wurde 2014 auf den jetzt geltenden gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro erhöht“, erklärt Andreas Köhn vom
Verdi-Landesbezirk Berlin-Brandenburg.  Bei zwei Verhandlungen habe Grossman erklärt, die z usätzlichen Gelder könne das Kino nicht aufbringen. „Die Eintrittspreise sind um teilweise 20 Prozent gestiegen“, kontert Köhn. „Auch die Anzahl der BesucherInnen hat sich deutlich erhöht.“ Zudem sind im Doppelhaushalt 2016/17 Subventionen
in Höhe von 361.500 Euro für das Filmhaus eingeplant. Bisher betrugen die Zuschüsse 358.000 Euro jährlich.
Zeitgleich mit dem aktuellen Verdi-Streik ist im Syndikat A die Broschüre „Babylohn“ von Hansi Oostinga erschienen, die an den Arbeitskampf der Basisgewerkschaft Freie Arbeiter Union (FAU) in den Jahren 2008 bis 2010 in dem Kino erinnert. Neben zahlreichen Solidaritätsaktionen linker Gruppen spielen dort auch die juristischen Auseinandersetzungen mit den GewerkschafterInnen eine Rolle. Diese sind bis heute nicht beendet. FAU-Mitglied und Betriebsrat Andreas H. wehrt sich juristisch gegen seinen Rauswurf. Mit der Beschuldigung, ein Plakat beschädigt
zu haben, wurde ihm fristlos gekündigt und seine Wohnung polizeilich durchsucht. Den aktuellen Arbeitskampf unterstützt der bis zur gerichtlichen Klärung Beurlaubte trotzdem. Babylon-Geschäftsführer Grosman war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.

aus: Taz, 9.7.2015

Peter Nowak

Hoffen auf einen fairen Moment

MIETE Das Bündnis „Zwangsräumung verhindern“ unterstützt eine alleinerziehende Mutter in Neukölln

Am heutigen Dienstag entscheidet sich, ob Jenny N. ihre Wohnung im Neuköllner Ortsteil Britz verlassenmuss. Um 9 Uhr hat sie mit AktivistInnen des Bündnisses „Zwangsräumung verhindern“ einen Termin in der Zentrale des Wohnungsunternehmens Degewo.  Für  David Schuster vom Zwangsräumungsbündnis wäre dieser Termin ein schöner Anlass für einen ehrlichen Moment. Schließlich wirbt die Degewo auf ihrer Homepage mit einer Kampagne: „Zeig uns deinen fairsten Moment und gewinne bis 19. Juli 2015 wöchentlich 1.000,– € für deinen Kiez“, heißt es dort. Jenny N., Lehramtsstudentin und alleinerziehende Mutter einer 10-jährigen Tochter, wurde von der Degewo wegen Mietrückständen gekündigt. Bis 31. August soll sie ihre Wohnung verlassen, sonst droht eine Zwangsräumung. Deshalb
hatten am Donnerstag rund 30 MietrebellInnen ein spontanes Protestpicknick in der Degewo-Zentrale abgehalten. Sie zogen erst ab, als der Verhandlungstermin vereinbart war. Mit dabei war auch die Mieterin, die erklärte, wegen gravierender Mängel die Miete gemindert zu haben. „Dreimal habe ich schon einen Schimmelbefall gemeldet, der inzwischen meine eigene Einbauküche zerstört und meiner Tochter gesundheitliche Probleme gebracht hat.“ Das Unternehmen habe jede Kommunikation mit ihr verweigert und die Mängel nicht beseitigt, nachdem sie sich 2009 erfolgreich gegen eine Mieterhöhung gewehrt habe, moniert Jenny N.
Degewo-Pressesprecher Lutz Ackermann erklärt, dass es eine „lange und nicht immer glückliche Beziehung mit der Mieterin“ gegeben habe. Die Mietrückstände seien bereits angefallen, bevor die Mängel gemeldet wurden. Dem Ergebnis der Verhandlungen wollte Ackermann nicht vorgreifen, doch die Degewo sei an einer gemeinsamen Lösung
interessiert: „Eine Zwangsräumung ist für uns immer nur das letzte Mittel. Deshalb betreiben wir 25 Mietschuldenberatungsstellen, die Hilfestellung geben können.“ Trotzdem „gab es 2013 exakt 198 Zwangsräumungen bei Degewo-Wohnungen, im Vorjahr mussten 225 und 2011 30 Degewo-MieterInnen ihre Wohnung zwangsweise verlassen“, so Laura Berner. Sie ist Mitautorin der im April 2015 vom Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-
Universität herausgegebenen Studie „Zwangsräumung und die Krise des Hilfesystems“.

aus Taz: 7.7.2015

Peter Nowak


Dieses Kino wird bestreikt

Beschäftigte am Babylon in Mitte demonstrieren für Anpassungen ihrer Verträge

Weil ihre Verträge in zwei beziehungsweise fünf Jahren nicht tarifrechtlich angepasst wurden, bestreiken Mitarbeiter das Kino Babylon.

»Dieses kommunale Kino wird heute bestreikt. Darum bitten wir Sie, heute von einem Kinobesuch Abstand zu nehmen und die berechtigen Forderungen der Beschäftigten nicht zu unterlaufen«, heißt es auf Plakaten, die in den vergangenen Tagen rund um das Kino Babylon am Rosa-Luxemburg Platz verteilt wurden. Verfasst wurden sie von der ver.di-Betriebsgruppe des Kinos Babylon. Sie fordert die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der 15 KinomitarbeiterInnen. »Fünf Jahre Verzicht sind genug. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit«, steht auf einem Schild, den ein Streikender am Montag in die Höhe hält, als er mit einem Kinobesucher über den Arbeitskampf diskutiert. »Im Dezember 2013 wurde mein Stundenlohn nach einer Forderung des Senats auf 8,50 Euro tarifvertraglich angehoben. Seitdem gab es keine weiteren Anpassungen«, erklärte der Mitarbeiter. Die Filmvorführer hätten sogar seit fünf Jahren keine Gehaltserhöhung bekommen.

Ver.di fordert die Übernahme des Bundestarifvertrages des Hauptverbands Deutscher Filmtheater (HDF) für die Babylon-Beschäftigten. Außerdem soll es eine verbindliche Mindestbesetzung während des laufenden Kino- und Veranstaltungsprogramms geben, die auf die Besucherzahlen abgestimmt wird. Andreas Köhn vom ver.di-Landesbezirk Berlin-Brandenburg betont, dass das Kino die Forderungen wirtschaftlich tragen kann. »Schließlich sind die Eintrittspreise und die Einmietung in den letzten Jahren um teilweise 20 Prozent gestiegen. Auch die Anzahl der Besucher hat sich deutlich erhöht.«

Zudem erhöhen sich auch die Subventionen, die das Land Berlin jährlich an das Kino überweist. Im Doppelhaushalt 2016/2017 sind 36 5000 Euro Zuschuss vorgesehen. Bisher betrug der jährliche Zuschuss an das Kino 35 8000  Euro. Ver.di fordert nun vom Senat, die Auszahlung der Zuwendungen an die Umsetzung des bundesweiten HDF-Tarifvertrages zu koppeln. Der Geschäftsführer der Neuen Babylon GmbH, Timothy Grossman, erklärte bei den zwei Verhandlungsterminen mit ver.di, aus eigenen Mitteln sei kein Spielraum für die Erfüllung der Forderungen. Gegenüber »nd« war Grossmann nicht zu einer Stellungnahme bereit.

Bereits 2009 und 2010 war das Kino Babylon durch einen Arbeitskampf über Berlin hinaus bekannt geworden. Damals wandten sich die Beschäftigten an die Basisgewerkschaft Freie Arbeiter Union (FAU). »Der Arbeitskampf machte damals deutlich, dass auch in prekären Verhältnissen engagierte Arbeitskämpfe möglich sind«, heißt es im Vorwort einer Broschüre über den Arbeitskampf, die kürzlich vom FAU-Aktivisten Hansi Oostinga beim Verlag Syndikat A herausgegeben wurde. »Die Broschüre erinnert an den von heute aus gesehen doch sehr organisierten und professionellen Arbeitskampf«, sagt FAU-Mitglied und Babylon-Betriebsrat Andreas Heinz dem »nd«. Auch den aktuellen Streik von ver.di unterstützt die FAU ausdrücklich. Dabei waren die Beziehungen zwischen beiden Gewerkschaften nicht immer die besten. Die FAU warf ver.di vor, mit Grossman einen Tarifvertrag abgeschlossen zu haben, nachdem der der Basisgewerkschaft ihre Tariffähigkeit aberkennen wollte. Damals hatten sich in einen bundesweiten Solidaritätskomitee allerdings auch Mitglieder von DGB-Gewerkschaften mit der FAU solidarisiert.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/977003.dieses-kino-wird-bestreikt.html

Peter Nowak

Für ein Nein in Griechenland aus unterschiedlichen Gründen

Manchmal hat man den Eindruck, nicht in Griechenland, sondern in Deutschland würde heute abgestimmt über die Austeritätspolitik

Einige der politischen Kräfte, die die Austeritätspolitik unterstützen, würden Griechenland gerne aus den Euro weisen. Da darüber nun Deutschland nicht abstimmen kann und ein Rausschmiss auch in den Statuten der Eurozone nicht vorgesehen ist, hoffen manche, dass ein „Nein“ zur Austeritätspolitik in Griechenland ein Ende der EU-Mitgliedschaft des Landes befördern würde.

Hoffen auf den Grexit

Zu den Anhängern dieser Lesart gehört der Publizist Jürgen Elsässer, einst Theoretiker einer antinationalen Linke, der seit einigen Jahren das Volk zu seiner Bezugsgruppe erklärt „Ich stimme mit Nein, ich stimme für Tsipras“, schrieb [1] Elsässer:

„Zum einen, weil endlich der einzig richtige Gedanke in die Praxis umgesetzt wird, dass das Volk entscheiden muss (ein Gedanke, den Wagenknecht für Deutschland aufgegriffen hat, aber – typisch für einen Volksfeind – von Augstein im obigen Kommentar verworfen wird…). Zum anderen, weil der Sieg des Nein genau das herbeiführen wird, was Tsipras eigentlich gar nicht will: den Grexit.

Ohne Annahme der Spardiktate werden die internationalen Kapitalgeber nämlich den Geldhahn für Griechenland nicht mehr aufdrehen. Es bleibt Tsipras in dieser Situation gar nichts anderes übrig, als – zunächst parallel zum Euro – eine eigene Währung einzuführen, um Gehälter, Renten, Sozialleistungen auszuzahlen. Durch den Sieg des Nein entsteht also eine Dynamik, die über die falsche Ideologie von Syriza hinaustreibt. Syriza wäre in dieser Situation auch dazu gezwungen, zur Bekämpfung der Armut im eigenen Land endlich die Vermögen der reichen Oligarchen anzutasten, also echten Sozialismus zu betreiben – anstatt den bequemen Weg zu gehen und sich das fehlende Kapital vom deutschen Steuerzahler zu besorgen.“

Ein Ende der alternativlosen Tina-Politik

Mit seinem Statement reagiere Elsässer auf eine Erklärung [2] von Jakob Augstein, der auf Spiegel-Online sein Plädoyer für ein Nein zu dem Austeritätsprogramm so begründete:

„Es geht nicht nur um die Zukunft Griechenlands. Sondern um die Frage, ob in Europa das Geld regiert. Das geht uns alle an.“

Augstein sieht in einer Mehrheit gegen die Austeritätspolitik auch ein Scheitern Merkels. Nur so würde in Europa eine relevante Strömung auch über Griechenland hinaus entstehen, die mit der scheinbar alternativlosen Politik der Austerität und des Diktates der Märkte bricht. Ein Nein in Athen würde auch kapitalismuskritischen Bewegungen in anderen europäischen Ländern wie Italien, Portugal und Spanien Auftrieb geben.

Dabei geht es nicht nur um Wahlergebnisse, sondern auch einen erneuten Aufbruch auf den Straßen und Plätzen. Schließlich soll nicht vergessen werden, dass der Wahlsieg von Syriza ohne die Bewegung der Empörten nicht möglich gewesen, die in den Jahren 2010 bis 2012 auf den großen Plätzen griechischer Straßen gegen die Politik der Austerität demonstrierten und von einem großen Polizeiaufgebot mit Tränengas und Wasserwerfern empfangen wurde. Damals gingen auch in Spanien und vielen andereneuropäischen Ländern Menschen mit ähnlichen Forderungen auf der Straße.

Dass die EU-Eliten vor einem Wideraufflammen einer solchen Bewegung große Angst haben und deswegen die Tsipras-Regierung als kurze Episode in EU-Geschichte gerne schnell verabschieden wollen, machte heute im Interview [3] mit dem Deutschlandfunk noch einmal der EU-Parlamentspräsident Martin Schulz deutlich. Dabei zeigte sich, dass der Schulterschluss zwischen Sozialdemokraten, Liberalen und Konservativen, wie wir ihn in den letzten Wochen in Deutschland beobachten konnten, auch im EU-Parlament funktioniert. Während Schulz die Korruption in Griechenland kritisiert, singt er ein Loblied auf EU-Kommissionspräsident Juncker, dem selbst die konservative Welt bescheinigt [4], dass er sich aus dem Luxemburger Korruptionssumpf nach Brüssel gerettet hat.

Mit der gleichen Chuzpe lobt sich Schulz in dem Interview selber dafür, dass er angeblich der Versuchung widerstanden habe, in Griechenland Wahlkampf zu machen. Dass er mehrmals erklärte, dass er sich einen schnellen Abgang von Tsipras wünsche, scheint für ihn kein Wahlkampf zu sein. Wenn Schulz nun erklärt: „Ich glaube, eine Reihe von Leuten in seiner Partei, die um jeden Preis einen anderen Weg gehen wollen. Sie setzen alle Dinge außer Kraft, die sie mit den europäischen Partnern vereinbart haben“, zeigt sich in wenigen Sätzen das Elend einer Sozialdemokratie, die nichts mehr hasst, als andere Wege. Damit ist Schulz nur das Abziehbild von Sigmar Gabriel, der in den letzten Wochen die Konservativen im politischen Kampf rechts überholen will.

„Politik wird durch Zwang ersetzt“

Schulz und Gabriel verweisen die Chimärevon der angeblichen Mehrheit links von der Union, die ein Bündnis mit Grünen, SPD und Linkspartei angeblich möglichwürde, auf den ihr zugehörenden Platz: als Hoffnungsprogramm für prekäre linke Akademiker, die sich einen Posten in einer der vielen Kommissionen, die angeblich das politische Feld für diese Kombination bereiten sollen, erhoffen.

Da ist in diesen Tagen sogar eine altgediente rechte SPD-Frontfrau wie Gesine Schwan schlauer. Die später vor allem als Universitätspräsidentin bekannt gewordene Schwan hatte Ende der 1980er Jahre die SPD einmal verlassen, weil sie ihre Partei für zu linkslastig hielt. Nun kritisiert sie in einem Interview [5] mit der Wochenzeitung Freitag eine EU, die die griechische Regierung auf die Einhaltung eines Austeritätsprogramms verpflichten will, das mit ihrer Wahl in Griechenland eindeutig abgewählt worden war.

„Die EU tut sich mit dem Interessenausgleich zurzeit extrem schwer. Das konnte man auch beim Flüchtlingsgipfel vergangenes Wochenende sehen, wo der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi entsetzt war über den Mangel an Solidarität unter den Mitgliedsstaaten. In der derzeitigen Situation verschweigt man da gern auch, dass Griechenland trotz seiner schwierigen Lage sehr viele Flüchtlinge aufnimmt und sich bemüht, sie menschlich unterzubringen“, moniert Schwan den Zustand des unsolidarischen Europa.

Um eine Stellungnahmezu den deutschnationalen Ausfällen von Sigmar Gabriel [6] gebeten, der über Bild verkündete, der deutsche Arbeiter werde sich nicht durch eine in Teilen kommunistische Regierung erpressen lassen, antwortete Schwan: „Ich habe ihn wissen lassen, dass ich nicht glauben kann, dass er das gesagt hat. Wenn er es aber wirklich gesagt haben sollte, schäme ich mich dafür.“

Dass hat auch schon der Wirtschaftsexperte Gustav Horn getan [7], der vor wenigen Tagen auch erklärte, erwürde aus ökonomischen Gründen heute in Griechenland mit Nein stimmen.

„Deutschland hat nie gezahlt“

Am Freitag waren in Berlin und einigen anderen Städten noch einmal außerparlamentarische Linke [8] auf die Straße gegangen, die von Gabriel nicht enttäuscht sind und sich auch nicht für ihn schämen, weil sie keine Erwartungen in ihn und seine Partei hatten und haben. Dort stand neben der Werbung für ein Oxi in Athen die Kritik an der Rolle Deutschlands nicht nur bei der Austeritätspolitik im Mittelpunkt.

Aktivisten der antinationalen Gruppen Top Berlin und Cosmonautilus [9] wurden von der Polizei eingekesselt und festgenommen, weil sie Deutschland mit „Scheiße“ in Verbindung gebracht haben. Mittlerweile wurde das inkriminierte Motto auch zu anderen Anlässen [10] verwendet. Es könnte sich eine jahrelange auch juristische Auseinandersetzung wiederholen, wie sie in den 90er Jahren beim Slime-Refrain „Deutschland muss sterben, damit wir leben können“ geführt wurde. Erst nach vielen Jahren wurde juristisch anerkannt [11], dass er unter die Kunstfreiheit fällt. Zuvor wurden immer wieder Flugblätter mit dem Slogan beschlagnahmt und Lautsprecherwägen durchsucht, wenn das Lied gespielt wurde.

Doch unabhängig vom Wortlautkönnte man auch einfach die Parole „Deutschland hat nie gezahlt“ [12] (), verwenden, mit dem der Ökonom Thomas Pickettyan einige historische Fakten, die hierzulande nicht gerne gehört werden, erinnerte. Dabei hat er noch einen für Griechenland wichtigen Fakt nicht erwähnt. Deutschland hat die im NS-Regime erpressen Darlehen [13] ebensowenig beglichen, wie Reparationen für die Verbrechenzwischen 1940 und 1944 bezahlt und noch in den 1950er Jahren die Freilassung der wenigen verurteilten Täter aus Wehrmacht und NS mit Erpressung an die griechische Regierung durchgesetzt.Im Zusammenhang mit dem griechischen Referendum wird zumindest zeitweise daran wieder erinnert.

http://www.heise.de/tp/news/Fuer-ein-Nein-in-Griechenland-aus-unterschiedlichen-Gruenden-2735302.html

Peter Nowak

Links:

[1]

https://juergenelsaesser.wordpress.com/2015/07/03/ich-stimme-mit-nein-ich-stimme-fur-tsipras/#more-7472)

[2]

http://www.spiegel.de/politik/ausland/augstein-zu-griechenland-nein-zum-referendum-kolumne-a-1041705.html

[3]

http://www.deutschlandfunk.de/griechenland-schulz-warnt-vor-nein-beim-referendum.868.de.html?dram%3Aarticle_id=324536

[4]

http://www.welt.de/debatte/kommentare/article134116041/Der-Luxemburg-Sumpf-des-jovialen-Herrn-Juncker.html

[5]

https://www.freitag.de/autoren/jan-pfaff/politik-wird-durch-zwang-ersetzt

[6]

http://www.bild.de/politik/ausland/alexis-tsipras/vize-kanzler-gabriel-macht-griechen-chefs-schwere-vorwuerfe-41350198.bild.html

[7]

http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/gustav-horn-ueber-sigmar-gabriel-es-gab-spd-chefs-die-sich-fuer-so-etwas-geschaemt-haetten/11917634.html

[8]

http://griechenlandsoli.com/2015/07/02/oxi-aktionen-in-mehr-als-einem-dutzend-deutschen-stadten/

[9]

http://cosmonautilus.blogsport.de/2015/07/03/deutschland-du-alte-scheisse/

[10]

http://www.watson.ch/!451641669

[11]

https://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rk20001103_1bvr058100.html

[12]

http://www.zeit.de/2015/26/thomas-piketty-schulden-griechenland

[13]

http://griechenlandsoli.com/2015/04/26/zuruckzahlen-deutschland-muss-endlich-seine-bestehenden-kreditschulden-an-griechenland-begleichen/

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