Realismus in der Rigaer

In Berlin-Friedrichshain feierten ehemalige Hausbesetzer und Unterstützer ein einwöchiges Straßenfest. Doch mit welchen Mitteln derzeit für bezahlbaren Wohnraum gekämpft werden kann, ist umstritten.

Am vergangenen Sonntagabend sorgten zwei Mülleimer für große Aufregung bei den Bewohnern der Rigaer Straße 94 in Berlin-Friedrichshain. Ein großes Polizeiaufgebot war in den Hof des Hauses eingedrungen, um die beiden Behälter abtransportieren zu lassen. Es handelt sich bei dem Gebäude nicht nur um das letzte noch besetzte in der Rigaer Straße. Die meisten dort wohnenden Menschen betonen auch ihre anarchistische Gesinnung und sind auf die Polizei nicht besonders gut zu sprechen. Dass es am Sonntagabend nicht zu Straßenschlachten kam und keine Autos brannten, lag an der autonomen Szene. Als die Situation zwischen der Polizei und den aus der Umgebung eingetroffenen Unterstützern des Hauses zu eskalieren drohte, erklang plötzlich das schallende Gelächter einer jungen Frau. Bald stimmten auch viele Unterstützer ein und selbst einige Polizisten konnten nur mühsam ein Lachen unterdrücken.

Schon in den vorangegangenen Tagen hatte man sich in der Rigaer Straße eher an einer Clownsarmee als am Schwarzen Block orientiert. Viele der ehemals besetzten Häuser und alternativen Projekte in der Umgebung hatten unter dem etwas großspurigen Motto »Lange Woche der Rigaer Straße« zu einem Straßenfest der Superlative aufgerufen. »Damit hat Friedrichshain Neukölln überholt«, meinte ein Spötter. Neukölln feiert einmal im Jahr das vom Bezirksamt groß­zügig gesponserte Stadtteilfest »48 Stunden Neukölln«. Die »Lange Woche« der Rigaer Straße war nicht nur länger, sondern kam auch ohne staatliche Bezuschussung aus. Do it yourself war die Devise bei den zahlreichen Workshops und Veranstaltungen, die vergangene Woche rund um die Rigaer Straße angeboten wurden. Dazu gehörte auch ein Umsonst-Flohmarkt, mit dem besonders die Nachbarn angesprochen werden sollten, die nicht in ehemals besetzten Häusern zur Miete wohnen. Mit Flugblättern wurden die Anwohner informiert, dass man mit dieser Art des Flohmarktes auch den Einfluss des Geldes zurückdrängen wolle. Doch ob damit eine nichtkapitalistische Gesellschaft näher rückt, ist fraglich. Zumindest manche Hartz-IV-Empfänger werden sich bei dieser Einladung eher daran erinnert gefühlt haben, dass sie von den Jobcentern auf Flohmärkte und Lebensmitteltafeln verwiesen werden, wenn sie Anträge zum Kauf eines Haushaltsgeräts stellen.

Sympathie bei den Anwohnern erlangten die Organisatoren der »Langen Woche« eher wegen des Polizeieinsatzes, mit dem gegen den Flohmarkt vorgegangen wurde – mit der Begründung, dass er nicht angemeldet sei. »Mich hat der Lärm vom Generator für den Lichtmast der Polizei gestört, der vor meinem Fenster aufgebaut war, und nicht der Flohmarkt«, monierte beispielsweise ein Anwohner.

Über bloß diffuse Sympathie hinaus gingen einige Mieter der Rigaer Straße, die sich in einen Offenen Brief an die Organisatoren der Protestwoche wandten und zur Kooperation gegen die Gentrifizierung in Friedrichshain einluden. Das Schreiben begann allerdings mit einer impliziten Kritik an der Protestkultur der autonomen Szene: »Wir sind teilweise nicht mehr in dem Alter und der Lage, uns an einer Demonstration zu beteiligen, auf der nur gerannt wird.« Dann richteten die Mieter den Fokus auf den Teil der Rigaer Straße, in dem es keine besetzten Häuser gibt und der bei den Organisatoren der »Langen Woche« eher ausgeblendet wird. So wird beschrieben, wie ein Besitzer eines T-Shirt-Ladens sich das Leben nahm, nachdem ihm gekündigt worden war. Angekündigte Dachgeschossausbauten und der Bau eines neuen Kulturhofes auf dem Gelände einer ehemaligen Möbelfabrik werden in dem Schreiben als Zeichen einer neuen Gentrifizierungsdynamik gedeutet, gegen die sich alle Bewohner zusammen wehren sollten.

Die Kritik an einer Besetzernostalgie wird auch von einigen Organisatoren der »Langen Woche« geteilt. Sie deckt sich nicht mit einer Realität, in der bis auf eine Ausnahme in allen Häusern reguläre Mietverhältnisse bestehen. Ob ein gemeinsamer Widerstand aller Mieter in der Rigaer Straße zustande kommen wird, ist trotzdem offen. Immerhin zeigte der Brief einen großen Schwachpunkt der »Langen Woche« der Rigaer Straße auf. Die Nachbarn wurden zwar angesprochen, aber sie bekamen nur die Möglichkeit, sich an den ohnehin angebotenen Veranstaltungen und Workshops zu beteiligen.

Der Film »Mietrebellen« (Jungle World 47/2014) hingegen stellte eine alternative Mieterbewegung vor, an der sich Kleingartenbesitzer genauso beteiligen wie Senioren. Dass diese sich dabei Aktionsformen der Besetzerbewegung – ohne deren subkulturelle Elemente – bedienen, demonstrierten die Senioren der Stillen Straße in Berlin-Pankow. Sie besetzten mehrere Wochen einen von der Schließung bedrohten Seniorentreffpunkt. Auch die »Palisadenpanther« hatten keine Berührungsängste mit der außerparlamentarischen Mieterbewegung, als sie erfolgreich gegen angekündigte Mieterhöhungen in ihrer Seniorenwohnanlage protestierten. Der Komplex befindet sich in der Nähe der ehemaligen besetzten Häuser der Rigaer Straße.

Noch näher an der Rigaer Straße sind Bewohner, die Mieterräte gegründet haben, mit denen sie sich gegen ihre Verdrängung aus den als »Stalinbauten« bekannt gewordenen DDR-Repräsentationshäusern in der Frankfurter Allee wehren wollen. Ein Austausch über Räte damals und heute, über Entscheidungsprozesse und Aktionsformen wäre sicher interessant gewesen. Doch in dem umfangreichen Programm der »Langen Woche« war dafür kein Platz vorgesehen.

Auch Diskussionen mit der Treptower Stadtteilinitiative »Karla Pappel« suchte man im Programm vergeblich. Dabei hatte diese vor einigen Monaten unter dem Motto »Warum nicht wieder Häuser besetzen?« eine Debatte darüber angestoßen, welchen Stellenwert diese Aktionsform heute für die Mieterbewegung hat. Ausgangspunkt war die Vertreibung von Mietern in der Beermannstraße in Berlin-Treptow. Die Häuser sollen dem Ausbau der Stadtautobahn weichen (Jungle World 45/2014 ). Die verbliebenen Mieter waren mit einer Neubesetzung einverstanden. Doch mehrere Versuche, die autonome Szene dafür zu gewinnen, scheiterten. Am Ende mussten die Mieter die Häuser verlassen, bekamen aber großzügige Entschädigungen.

Die Erfahrungen von »Karla Pappel« wären auf der Friedrichshainer »Langen Woche« auch deshalb interessant gewesen, weil in beiden Gruppen Menschen mit libertären Ansichten engagiert sind. Für den Berliner SPD-Innenpolitiker Tom Schreiber, der in Berlin mit seinem Law-and-Order-Kurs die CDU und ihren Innensenator rechts überholen will, sind sowohl die Projekte der Rigaer Straße als auch »Karla Pappel« Fälle für Polizei und Justiz. »Wir werden alle rechtsstaatlichen Mittel nutzen, um extremistische Gruppierungen zu zerstören«, verkündete Schreiber bereits im Oktober 2011 im Anzeigenblatt Berliner Woche und rückte »Karla Pappel« in die Nähe des Linksterrorismus. Die Stadtteilinitiative hatte auf die Rolle der zahlreichen Baugruppen bei der ärmeren Bevölkerung in Treptow aufmerksam gemacht. Mittlerweile gibt es auch rund um die Rigaer Straße erste Baugruppen und die will Schreiber künftig vor Umsonst-Flohmärkten schützen. Im Tagesspiegel forderte er eine Sonderermittlungsgruppe Rigaer Straße und wies ihr gleich zwei Aufgaben zu: Der »Repressionsdruck muss erhöht werden«. Dabei müsse man sich besonders die »Szenelokale vornehmen«.

http://jungle-world.com/artikel/2015/29/52313.html

Peter Nowak

Flohmarkt ruft Ordnungshüter auf den Plan

GENTRIFIZIERUNG Die „Lange Nacht der Rigaer Straße“ will den Kiez fürs Thema Verdrängung sensibilisieren. Spontane Mitternachts-Demo nach Polizeieinsatz


BRD-Bullenstaat – wir haben dich zum Kotzen statt“. Diese Parole war am Mittwochabend am „Dorfplatz“ im Friedrichshain zu hören. So wird die Kreuzung Rigaer Straße/Liebigstraße von den BewohnerInnen und FreundInnen
der zahlreichen linken und alternativen Hausprojekte in der Umgebung genannt. Seit dem 6. Juli veranstalten diese die „Lange Woche der Rigaer Straße“ mit Konzerten, Ausstelllungen und politischen Veranstaltungen. In diesem Rahmen wurde am Mittwochnachmittag ein Umsonst-Flohmarkt auf dem Dorfplatz aufgebaut, auf Tischen lagen Bücher und Klamotten aus. Die friedliche Straßenfeststimmung endete abrupt, als ein Polizeitrupp in voller Montur die Flohmarktartikel beschlagnahmte. Den Versuch, den Flohmarkt vor den Häusern erneut aufzubauen, vereitelte die Polizei mit einem erneuten Einsatz. Es habe keine Genehmigung für den Umsonst-Flohmarkt vorgelegen, begründete Polizeieinsatzleiter Thomas Böttcher den Einsatz. „Wir warten erst mal ab, lassen aber keine rechtsfreien Räume zu“, beschrieb er die Einsatztaktik rund um das Straßenfest. Bereits am vergangenen Dienstag war ein großer Polizeipulk angerückt, um mit Kreide auf das Straßenpflaster gemalte Parolen mit einem Reinigungstrupp zu entfernen. „Der Flohmarkt war ein Versuch, mit den NachbarInnen in Kontakt zu kommen. Und das sollte mit dem Polizeieinsatz
verhindert werden,“ erklärte eine Mitorganisatorin der Aktionswoche. Vor allem gegen die  zunehmende Gentrifizierung im Kiez wolle man sich mit den Nachbarn gemeinsam wehren. In der letzten Zeit mussten mehrere
Läden in der Umgebung nach Ankündigungen von Mieterhöhungen schließen. Der Besitzer eines T-Shirt-Ladens verübte nach der Kündigung Selbstmord. „Das repressive Vorgehen gegen unser Straßenfest nehmen wir nicht hin“,  erklärte eine Frau kurz nach Mitternacht auf einer improvisierten Kundgebung am  Dorfplatz und kündigte für den
10. Juli um 21 Uhr eine Demonstration gegen „Polizeigewalt und Verdrängung“ an, die ebenfalls am Dorfplatz beginnen soll. Während vom Dach eines der exbesetzen Häuser noch einige Böller abgefeuert wurden, leerte sich der Platz. Dafür waren die zahlreichen Kneipen gut gefüllt,  die in der Rigaer Straße und der unmittelbaren Umgebung zu den MitveranstalterInnen der Langen Woche gehören. Manche AnwohnerInnen befürchten, dass bei der Demonstration
am Freitagabend doch noch die Bilder geliefert werden, die Boulevardmedien seit Wochen herbeizuschreiben versuchen. Besonders die BZ aus dem Hause Springer warnte schon vor Wochen vor einem bundesweiten „Chaotentreffen in Friedrichshain“. Dabei musste als Beweis ein Plakat zur Aktionswoche herhalten, das von Kindern
aus den Hausprojekten gestaltet wurde und vermummte Personen zeigte. Am 8. Juli war die Onlinepräsenz der BZ nicht zu erreichen. In dem Bekennerschreiben einer anonymen Hackergruppe heißt es: „Die BZ beteiligte sich, ähnlich wie die Schwesterzeitung Bild an vorhergehender Hetze rund um die Lange Woche der Rigaer Straße“.

Taz-Berlin,  10-7.2015

Peter Nowak