Nach rechten Gruppen und Teilen der Union positionieren sich auch Linke gegen Zuwanderung und wollen die Festung Europa verteidigen
Das politische Berlin versucht nach der Aufnahme der in Ungarn gestrandeten Geflüchteten vor allem den Eindruck zu vermeiden, dass sich dadurch eine Wende in der europäischen Flüchtlingspolitik ankündigt und die Menschen tatsächlich dort leben und arbeiten können, wo sie wollen.
Die Politiker wollen die Autonomie der Migration, die sich in den letzten Wochen immer wieder gezeigt hat und die dem Dublin-System schwere Schläge versetzt haben, möglichst wieder einhegen. Dabei haben die Menschen gerade in Ungarn gezeigt, dass sie sich auch von Polizeiknüppeln und Repression nicht einschüchtern lassen. Die Ausreise nach Deutschland kam schließlich erst zustande, nachdem sich Tausende zu Fußauf den Weg zur österreichischen Grenze gemacht haben.
Hätten sie sich wie geplant in die Lager sperren lassen, hätten sie nie die Chance gehabt, nach Deutschland zu kommen. Es war die Entschlossenheit der Menschen, sich eben nicht einsperren zu lassen und gemeinsam ihr Glück zu versuchen, die den Erfolg brachte.
Kein Willkommen für Flüchtlinge
Dieser Ausdruck des Flüchtlingswiderstands stößt auf wütende Reaktionen bei denen, die die Festung Europa mit allen Mitteln verteidigen wollen. Sie sind in den letzten Tagen allerdings in den Medien kaum aufgetaucht. Nach den Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte und den rassistischen Ausschreitungen in Heidenau schien plötzlich ganz Deutschland Flüchtlinge willkommen zu heißen. Sogar die Bild-Zeitung [1] hat die Parole gekapert.
Ganz Deutschland ein Land von Flüchtlingshelfern und nur irgendwo in der ostdeutschen Provinz das Dunkeldeutschland, das Bundespräsident Gauck geißelte?
Dieses Bild, das Deutschland einige Tage von sich zeichnete, war vor allem Show für das Ausland. Einige tausend Geflüchtete, die die Dublin-Regelungen außer Kraft setzen, zeigen ein anderes Bild. Die CSU kritisiert die Einreiseerlaubnis und der bayerische Innenminister Herrmann sieht bereits das Oktoberfest durch die Geflüchtete in Gefahr. Da muss sich die Rechte jenseits der CSU schon anstrengen, um sich als bessere Abendlandverteidiger darzustellen.
Michael Stürzenberger von der rechtspopulistischen Kleinstpartei „Die Freiheit“ phantasiert [2] denn auch durch die Einreise der Flüchtlinge eine Islam-Invasion herbei. Dabei jongliert er mit vielen Koransuren, doch einen Beweis, dass unter den Menschen Islamisten sind, konnte Stürzenberger natürlich nicht erbringen.
Festung Europa von links?
Solche und ähnliche Reaktionen von Rechtsaußen waren voraussehbar und sind nicht verwunderlich. Erstaunlich ist schon eher, wenn in der jungen Welt, die sich marxistische Tageszeitung nennt, unter der Überschrift „Instrumentalisierung von Flüchtlingen“ [3] Sätze zu finden sind, die klingen, als wollte man Argumente für die Festung Europa von links zusammentragen. „Für Gauck, Merkel und deren Gehilfen sind ‚Buntheit‘ oder ‚Willkommenskultur‘ allenfalls Marketinginstrumente. Sie haben die Interessen der Mächtigen durchzusetzen, nicht einen Karneval der Kulturen zu organisieren. Empathie ist das Verkaufsargument“, heißt es da.
„Die Heuchler sagen, Deutschland und Europa brauchen Fachkräfte. Nein, das Kapital braucht sie. Es verlangt nach ihnen, weil seine Institutionen – Unternehmen, Stiftungen und der von ihm gelenkte Staat – zu wenig heranbilden. Es ist billiger, Ingenieure und Ärzte aus aller Welt abzuwerben, Handlangerjobs von Menschen aus dem Kosovo erledigen zu lassen. Das eigene Prekariat braucht schließlich Konkurrenz.“
Hier wird mit vermeintlich linker Phraseologie gesagt, dass Migranten vom Kapital ins Land geholt werden, um die Arbeiterklasse zu spalten. Dass könnte man noch als Schwundstufe eines Schmalspurmarxismus bezeichnet. Doch das Ende des Beitrags lässt wenig Raum für solche
wohlwollenden Vermutungen:
„Meinungsinquisitoren wachen über eine politisch korrekte Verarbeitung des Themas. Diskussionen, womöglich solche, die nach den materiellen Hintergründen des ganzen Komplexes fragen, werden nicht geduldet, bestraft wird mit Shitstorm und medialem Mobbing.“
Da sind die Töne von der Lügenpresse, die auf Pegida-Demonstrationen zu hören sind, nicht weit.
Die nationale Linke für Ausgrenzung
Kein Wunder,dass der Compact-Herausgeber Jürgen Elsässer solche Töne in dem Blatt, für das er selbst einige Jahre geschrieben hat, positiv erwähnte [4]. Schließlich passt sie gut zu Elsässers Versuchen, Linksparteimitglieder zu finden, die über eine zu migrantenfreundliche Linie ihrer Partei klagen. Einen Solinger Kommunalpolitiker der Linken [5] hat er schon aufgetrieben.
Es dürfte noch mehr werden, die als nationale Sozialisten oder Nationalbolschewisten die Festung Europa von links verteidigen. Da könnte sich sogar eine ganz neue Querfront auftun. Auch die ehemalige DDR-Oppositionelle Vera Lengsfeld entdeckt [6], wenn es gegen Flüchtlinge geht, plötzlich die soziale Frage:
„Als rassistisch empfinde ich auch, dass von Stegner et tutti quanti immer wieder betont wird, „wir“ brauchten die Zuwanderer, um „unseren“ Wohlstand zu sichern. Das hört sich unangenehm nach Arbeitssklaverei an. Dazu passt, dass schon laut darüber nachgedacht wird, den Mindestlohn für Zuwanderer auszusetzen. Das wäre allerdings ein direkter Angriff auf die Sozialstandards, die von der SPD eingeführt wurden. Gelten all die Argumente, die Stegner, Nahles und Genossen für den Mindestlohn angeführt haben, für die etwa Neuankömmlinge nicht? Wie sollen die dann motiviert werden, ‚unsere Renten zu sichern ‚?“ Vera Lengsfeld
Wenn Lengsfeld dann die Abschottungspolitik des ungarischen Ministerpräsidenten Orban als Vorbild empfiehlt, wird klar, um was es Lengsfeld geht.
Wenn Geflüchtete Kollegen werden
Natürlich besteht die Gefahr, dass die Löhne und Sozialstandards gedrückt werden, wenn mehr Lohnabhängige auf dem Markt ihre Arbeitskraft anbieten. Schon sind in wirtschaftsnahen KreisenVorschläge zu hören, weitere Niedriglohnstufen einzurichten und dort Zuwanderer arbeitenzu lassen. Das hat weniger mit bösen Willen oder der Gier eines Kapitalisten. sondern mit der Kapitallogikund der Schwäche der Lohnabhängigen zu tun. Dagegen hat der nationale Flügel der Arbeiterbewegung mitSchranken und Ausgrenzung reagiert.
Ein anderer Weg wäre es, diese Menschen in gewerkschaftliche Organisierungsprozesse einzubeziehen und so zu verhindern, dass sie für Dumpinglöhne arbeiten müssen. Diesen Weg gehen Gewerkschafter, die fordern [7], dass die Mitgliedschaft in einer DGB-Gewerkschaft nicht von gültigen Dokumenten abhängig sein soll. Diesen Weg gehen auch Migranten, die sich gewerkschaftlich organisieren und gemeinsam mit ihren Kollegen für Lohnerhöhung kämpfen.
Es ist schon auffallend, dass bei all denen, die jetzt so vehement bestreiten, dass die deutsche Wirtschaft Zuwanderung braucht, dieser Aspekt fehlt. Dabei haben antirassistische Kritiker seit Jahren diese Nützlichkeitsargumente kritisiert, die Flüchtlinge als Bereicherung der deutschen Wirtschaft betrachten. Dabei ist klar, dass ein syrischer Arzt dann anders behandelt wird, als ein junger Afghane ohne Schulabschluss.Beim Kampf der Geflüchteten geht es um die Durchsetzung von Menschenrechten und nicht um die Stärkung des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Dieser Grundsatz muss gerade in einer Zeit hochgehalten werden, wenn tausende Menschen gerade dieses Menschenrecht in Anspruch nehmen.
Der Berliner Senat kommt Initiativen, die für bezahlbaren Wohnraum kämpfen, vorgeblich entgegen. Doch insbesondere das Vorgehen der SPD dürfte bloße Wahlkampftaktik sein.
Erfolg oder Mitmachfalle? Diese Frage stellen sich die Berliner, die mit einem Volksbegehren eine sozialere Wohnungspolitik erreichen wollten, seit dem 19. August. An diesem Tag nämlich hat die Verhandlungsgruppe des Bündnisses für ein Mietenvolksbegehren mit der Berliner SPD einen Kompromissvorschlag ausgehandelt. Demnach soll das Gesetz zur Neuausrichtung der sozialen Wohnraumversorgung in Berlin Ende September im Abgeordnetenhaus eingebracht und spätestens im November beschlossen werden. Anfang 2016 soll es in Kraft treten. Zu den Eckpunkten gehört eine Begrenzung der Mieten in Sozialwohnungen auf 30 Prozent der Nettoeinkommen der Bewohner. Bei hohen Betriebskosten kann die Miete sogar auf 25 Prozent gedeckelt werden. Für die Kosten von Neubau, Ankauf und Modernisierung von Wohnungen, die im Besitz städtischer Gesellschaften sind, soll ein Sonderfonds geschaffen werden. Der Neubau von bis zu 3 000 Sozialwohnungen mit Durchschnittsmieten von 6,50 Euro pro Quadratmeter soll ebenso gefördert werden wie die Modernisierung von 1 000 Sozialwohnungen. »Mit Beharrlichkeit und Sachverstand hat das Mietenvolksbegehren dem Senat weitgehende Zugeständnisse abgerungen«, kommentierte Uwe Rada in der Taz den Kompromissvorschlag.
Da sich etwa 70 Prozent der Berliner Mietwohnungen in Privatbesitz befinden, wird sich allerdings der wohnungspolitische Effekt in Grenzen halten. Mieterinitiativen sehen auch andere Schwachpunkte an dem vorgelegten Vorschlag. So soll die in dem geplanten Gesetz festgeschriebene Kappung der Mietkosten bei maximal 30 Prozent durch Subventionen vom Senat erreicht werden. Wohnungen bleiben weiter eine Ware und die Profite der Eigentümer werden nicht geschmälert. Doch den Initiatoren des Volksentscheids war klar, dass diese kapitalistischen Grundlagen nicht zur Abstimmung stehen. Die Mieterinitiative »Kotti & Co«, die mit der Besetzung des Gecekondu am Kottbuser Tor vor drei Jahren den Anstoß für die neue Berliner Mieterbewegung gegeben hat, sieht in dem Kompromissvorschlag einen großen Erfolg.
»Jetzt werden Zugeständnisse angeboten, die es seit 20 Jahren in Berlin nicht gegeben hat. Wir glauben aber nicht, dass damit die Verdrängung einkommensschwacher Teile der Bevölkerung aus den Stadtteilen und den Sozialwohnungen aufgehalten werden kann«, sagte ein Mitglied von »Kotti & Co« der Jungle World.
Hannah Schuster, die für die Mieten-AG der Interventionistischen Linken (IL) in dem Bündnis mitarbeitet, betont im Gespräch mit der Jungle World, dass es sich bei der ausgehandelten Vereinbarung lediglich um einen Vorschlag handle. »Wir werden alle Aspekte gründlich diskutieren und dann entscheiden, ob uns der Kompromiss ausreicht oder ob nachverhandelt werden muss.«
Schusters IL-Mitstreiter Ralf Neumann betont, dass das Volksbegehren nur ausgesetzt worden sei und jederzeit wieder vorangetrieben werden könne. In der ersten Phase hatten Mieteraktivisten innerhalb von sieben Wochen berlinweit fast 50 000 Unterschriften gesammelt und damit das notwendige Quorum weit übertroffen. Komme es zu keiner Einigung mit der SPD, könne das Bündnis das Volksbegehren fortsetzen und eine Abstimmung über die ursprünglichen Forderungen einleiten, kündigte Neumann an.
Die SPD, seit 20 Jahren als Regierungspartei mit unterschiedlichen Koalitionspartnern hauptverantwortlich für die Privatisierung des Berliner Wohnungsmarktes, will sich in den kommenden Wahlkämpfen offenbar als Mieterpartei inszenieren. Daher hat sie ein besonderes Interesse, den ausgehandelten Zwischenstand als fertiges Verhandlungsergebnis hinzustellen und so Fakten zu schaffen. Dass dabei fast alle Medien mitgespielt haben, ist kein gutes Zeichen für die Initiative, wenn sie sich dazu entschließen sollte, das Volksbegehren weiter voranzutreiben. Die SPD hat für diesen Fall schon mit einer juristischen Überprüfung des Gesetzentwurfes gedroht, was eine mehrmonatige Blockade bedeuten könnte.
Neumann sieht daher bei der SPD eine Taktik von Zuckerbrot und Peitsche am Werk. Dabei sei es vor allem das Ziel der Partei, die Teile des Volksbegehrens auszuklammern, die die kapitalistische Verwertungslogik in Frage stellen. »Bei dem Kompromissvorschlag der SPD handelt es sich um eine Kombination aus sozialem Zugeständnis bei voller staatlicher Kontrolle ohne echte Mitbestimmung der Mieterinnen und Mieter«, moniert Neumann. So werden die im Volksbegehren vorgesehenen Mieterräte im SPD-Vorschlag zu Organen der Mitverwaltung degradiert, die keinerlei Befugnisse haben. »Der Senat behält alles in der Hand, Mieterinnen und Mieter sowie soziale Bewegungen Berlins bleiben ganz bewusst außen vor«, fasst Neumann zusammen. Das Kalkül ist klar: Die Kooperation von Mieterinitiativen mit Gruppen der außerparlamentarischen Linken vor allem aus dem Umfeld der IL soll behindert werden, in dem auf einige Mieterforderungen eingegangen wird und alle antikapitalistischen Elemente gestrichen werden. Dieses Bündnis sorgte für einen Erfolg des Volksbegehrens, der selten benannt wird: Auch in armen Stadtteilen war der Rücklauf der Unterschriften groß. Das ist durchaus nicht selbstverständlich. Wie der Soziologe Thomas Wagner in seinem Buch »Die Mitmachfalle: Bürgerbeteiligung als Herrschaftsinstrument« ausführte, wird das Instrumentarium Volksbegehren eher von Angehörigen der Mittelschicht als von Armen genutzt, was die Durchsetzung sozialpolitischer Forderungen mittels Volksbegehren oft erschwert.
Debatte um Straßennamen in Friedrichshain, die an polnische Städte erinnern
Soll die Grünberger Straße in Friedrichshain künftig Zielona Góra Straße heißen? Dieser Frage widmete sich eine Diskussion am Donnerstagabend.
In der Alten Feuerwache in Friedrichshain-Kreuzberg ist noch bis zum 20. September ein Teil der Ausstellung »93 Straßenschilder« zu sehen. Die Schilder von neun Straßen, die die deutschen Namen von Städten tragen, die heute in Polen liegen, sind mit pinkfarbenen Klebefolien markiert, auf denen in deutsch und polnisch Kurzinformationen über die Stadt zu finden sind. Am Donnerstagabend widmete sich eine Diskussionsrunde der Frage, ob die Grünberger Straße umbenannt werden sollte nach Zielona Góra.
Zu Beginn der Diskussion berichtete die Historikerin Nancy Waldmann, dass die Straßen vor nun mehr 140 Jahren nach den Herkunftsorten der Arbeitsmigranten aus Schlesien und Ostpreußen benannt wurden, die sich damals in der Umgebung des Schlesischen Bahnhofs niederließen. Der wurde in der DDR zum Ostbahnhof. Auch ein Teil dieser Straßen wurde bis 1951 umbenannt. Die neun Namen blieben nach Meinung Waldmanns wohl deshalb erhalten, weil es sich um eher kleinere Städte handelte. Die polnische Historikern Marta Bakiewicz vom deutsch-polnischen Forschungsinstitut bescheinigt der jüngeren Generation Polens ein verstärktes Interesse an deutscher Geschichte. So führt eine junge Punkband aus Zielona Góra den Namen Grünberg in ihrem Namen. Marta Bakiewicz hatte die Frage, ob die Grünberger Straße den Namen Zielona Góra tragen soll, auf polnisch im Internet verbreitet, bekam aber kaum Reaktionen.
Die Wissenschaftlerin selbst bejaht die Frage. »Es wäre eine Anerkennung für die vielen Menschen aus Polen, die heute in Berlin wohnen«, so ihre Begründung. Sie schlug vor, nur einen Teilbereich der Straße umzubenennen. Martin Düspohl vom Friedrichhain-Kreuzberg Museum regte an, mit Schildern an die heutigen Namen der Städte zu erinnern. Zuhörer im Publikum waren sich einig darin, dass es weniger um die Umbenennung sondern um die Diskussion über die Straßennamen gehe. Anfang der 90er Jahre habe sich ein Stadtteilladen in der Grünberger Straße nach Zielona Góra benannt. »Es ist damals um eine Positionierung angesichts des nationalistischen Taumel gegangen«, meinte ein Teilnehmer. Weitere Termine finden sich hier: 93strassenschilder.de
Während aktuell andere Länder im Zentrum der europäischen Flüchtlingskrise stehen, ist Italien noch immer eines der zentralen Transitländer
Die vielen Berichte über die Situation von Geflüchteten in Ungarn, Griechenland und den Balkan-Ländern haben ein Land etwas in den Hintergrund geschoben, das in den letzten Jahren im Mittelpunkt der Flüchtlingskrise gestanden hat: Italien. Schließlich sind vielen noch die Bilder von den toten Menschen präsent, die an die Küsten Lampedusas geschwemmt wurden und den Appell von Giusi Nicolini, der Bürgermeisterin der Insel, die zur europäischen Solidarität aufrief [1].
Erst vor wenigen Tagen verurteilte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof die italienische Regierung zur Zahlung von Schadenersatz an einen Flüchtling, der auf Lampedusa menschenunwürdig behandelt und dann abgeschoben wurde. In den letzten Jahren hat Italien häufiger solche Urteile kassiert. Pro Asyl stellte daher bereits im letzten Jahr die Frage, ob Abschiebungen nach Italien menschenrechtswidrig [2] sind.
Auch das Bundesverfassungsgericht hat im letzten Jahr gleich in zwei [3]Entscheidungen [4] die Situation der Flüchtlinge in Italien problematisiert. Andererseits ist es vor allem der italienischen Küstenwache zu verdanken, dass im letzten Jahr viele Flüchtlinge im Mittelmeer gerettet [5] worden sind. Die Unterstützung aus den anderen europäischen Ländern blieb gering.
Grenzkontrollen aus freundschaftlicher Nachbarschaftshilfe
Dass Italien in den letzten Wochen nicht mehr zentral im Fokus der Flüchtlingsdebatte stand, lag teilweise an der Verlagerung der Flüchtlingsrouten Richtung Balkan und Osteuropa. Doch weiterhin ist auch Italien ein Transitland für Geflüchtete und Kerneuropa drängt darauf, dass es weiter den Torwächter spielt. So führte Italien auch am vergangenen Mittwoch auf Bitten Deutschlands vorübergehend die Grenzkontrollen zu Österreich wieder ein.
Szenen wie in Ungarn, wo die Polizei auf Flüchtlinge einprügelt [6], die sich dagegen wehren, in Lager gesperrt zu werden, werden in diesen Tagen in Italien nicht zu sehen sein. Die FAZ schreibt [7] über die Grenzwächtertätigkeit Italiens:
Allerdings scheint es an seiner Praxis, Flüchtlinge, die in Italien die EU betreten, nach Norden weiterreisen zu lassen, nichts ändern zu wollen. In „freundschaftlicher Nachbarschaftshilfe“ für Bayern wollen Italien und die Autonome Provinz Südtirol versuchen, Migranten auf dem Weg nach Deutschland dazu zu bringen, ihre Reise vor dem Brennerpass zu unterbrechen. Arno Kompatscher, Landeshauptmann der Provinz Südtirol, sagte der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dabei solle der Vertrag von Schengen – anders als während des G-7-Gipfels in Elmau – nicht außer Kraft gesetzt werden.
Die Regierung Renzi, die insgesamt als deutschfreundlich gilt, ob aus Überzeugung oder Opportunismus mag offen blieben, bleibt aktuell auch in der Flüchtlingspolitik von allzu großer Kritik verschont. Das war in der Endphase der Rechtskoalition ganz anders. Zu dieser Zeit spielte Berlusconi die Rolle, die jetzt der ungarische Ministerpräsident Orban spielt: Er ließ die ungeliebten Flüchtlinge durch Italien Richtung Deutschland und Frankreich ziehen.
Damals wurde deswegen das Schengenabkommen ausgesetzt und Berlusconi wurde als europäischer Vertragsbrecher gescholten. Wie jetzt Orban hatte damals Berlusconi nur eins im Sinn: Die Flüchtlinge sollen aus dem eigenen Land verschwinden Doch sie hatten dadurch die Möglichkeit, in die Länder zu kommen, in die sie wollen. Führende Unionspolitiker haben auch damals schon gesagt, was sie auch jetzt im Fall Ungarn sagen. Es zählt nicht wohin die Flüchtlinge wollen, sondern wo sie landen.
Umgruppierungen im rechten Lager
Innerhalb des rechten Lagers Italiens gab es nach Berlusconis Abgang Umgruppierungen. Während die Berlusconi- Partei an Einfluss verloren hat, ist die Lega Nord [8] zur stärksten Macht im rechten Lager aufgestiegen und hat einen Rollenwechsel vorgenommen.
Ursprünglich als wohlstandschauvinistische norditalienische Regionalpartei gegründet, die vor allem gegen die Süditaliener hetzt, versucht sie jetzt den französischen Front National nachzuahmen. Die Kampagne gegen Flüchtlinge ist dabei ein wichtiger Teil ihrer Propaganda.
Ungarn: Mit der Polizeiaktion gegen Geflüchtete exekutiert die rechtskonservative Regierung EU-Recht und übt Druck auf die EU und einzelne Länder aus
Die ungarische Regierung hat heute mehrere hundert Geflüchtete, die sich im Zug von Budapest nach Österreich befanden, mit einen großen Polizeiaufgebot gestoppt. Der Zug kam, knapp 40 Kilometer von Budapest entfernt, bei dem Städtchen Bicske zum Stehen. Dort befindet sich eines der größten Auffanglager, wie heute solche Einrichtungen genannt werden, in denen Menschen gegen ihren Willen festgehalten werden.
Die Menschen im Zug, die alle teuere Tickets nach Österreich oder gleich bis München gekauft hatten in der Hoffnung, dass ihnen nun der Weg Richtung Deutschland offenstehen würde, als sich der Zug in Bewegung gesetzt hatte, waren entsprechend wütend und verzweifelt, als sie mitbekamen, dass sie nach Tagen zwischen Hoffnung und Bangen weiterhin hin- und her geschoben werden sollen. Viele von ihnen haben bereits tagelang auf den Budapester Ostbahnhof ausgeharrt und immer wieder mit Demonstrationen dagegen protestiert [1], dass sie an der Ausreise gehindert wurden.
Mit Polizeigewalt gegen Flüchtlinge und Presse
Die Menschen wehrten sich und weigerten sich, aus dem Zug zu steigen. Reporter berichten, dass viele der Menschen gegen die Fenster schlugen und „Kein Lager, kein Lager“ skandierten. Andere legten sich auf die Gleise oder drohten mit Selbstmord [2]. Die Polizei ging brutal gegen die Menschen vor, Flüchtlinge wurden mit Schlagstöcken aus dem Bahnhof geprügelt. Viele der Menschen versuchten zu fliehen, um der Einweisung in das Lager zu entgehen.
Es ist noch unklar, wie vielen Menschen die Flucht gelungen ist und wie es ihnen nun in einem Land ergeht, das eine rechte Hegemonie hat und in dem die große Mehrheit der Bevölkerung hinter der rechtspopulistischen Fides-Partei und ihren noch rechteren Konkurrenten von der Jobbik steht. Die Polizei ging auch gegen Medienvertreter vor, weil sie verhindern wollte, dass an die Öffentlichkeit dringt, wie sie 40 Kilometer von der ungarischen Hauptstadt entfernt EU-Recht exekutiert.
„Die Flüchtlingskrise ist ein deutsches Problem“
Derweil hat der rechtskonservative ungarische Ministerpräsident Orban in Brüssel beim Treffen mit EU-Vertretern die Flüchtlingskrise ein „deutsches Problem“ genannt. Damit hat er sogar recht, aber wahrscheinlich auf andere Weise, als es Orban meinte. Der ungarische Ministerpräsident erhob den Vorwurf, die Geflüchteten wollten alle nach Deutschland und dafür sei der „gedeckte Tisch“, den Deutschland ihnen angeblich in Aussicht gestellt [3] hatte, die Einladung .
Orban wirft Deutschland und Teilen der EU also vor, sie würden eine zu laxe Haltung gegenüber den Geflüchteten haben und die Menschen daher einladen zu kommen. Ungarn sei dabei nur Transitland. Die Notstandsszenarien in Ungarn und Orbans Auftritt in Brüssel gehören zusammen. Sie sind eine Inszenierung, um die EU und vor allem Deutschland noch mehr gegen Flüchtlinge einzunehmen. Dafür wird Orban auch auf rechten und rechtspopulistischen Webseiten ebenso gelobt wie die australische Regierung, die mit allen Mitteln gegen Flüchtlinge vorgeht und sie über Jahre auf abgelegene Inseln deportiert.
Bundeskanzlerin Merkel, die zurzeit der Schweiz einen Kurzbesuch abstattet, hat sich in einer Pressekonferenz vehement gegen Orban gewandt [4]. „Deutschland tut das, was moralisch und was rechtlich geboten ist. Und nicht mehr und nicht weniger“, erklärte Merkel. Ob da nicht Heuchelei mitschwingt?
Während Orban seine rechtspopulistische Agenda nie verschwieg, gibt sich Merkel scheinbar offener gegenüber den Geflüchteten, betont deren Rechte und unternimmt nichts, um die Flüchtlinge, die in Ungarn festgehalten werden, aufzunehmen. Dabei könnte die Bundesregierung einen solchen Schritt ohne Probleme machen. Bei vielen der Flüchtlinge handelt es sich um Syrer, die doch angeblich in Deutschland willkommen sind.
Als Tausende Flüchtlinge aus Ungarn in Deutschland aufgenommen wurden
Zudem müsste ja vielen in Deutschland noch aus der Erinnerung präsent sein, dass Tausende Flüchtlinge aus Ungarn in der BRD aufgenommen wurden. Sie bekamen Begrüßungsgeld und wurden als Heldinnen und Helden gelobt: DDR-Bürger, die im August 1989 die ersten offenen Grenzen auf dem Territorium des Warschauer Vertrages zur Flucht nutzten.
In Feiertagsreden zum 3. Oktober werden sie sicher wieder gefeiert. 26 Jahre später hat Ungarn, das Land, das dafür gefeiert wurde, dass es „die Mauern zwischen Europa eingerissen hat“, wieder einen Grenzzaun errichtet und geht gegen Flüchtlinge mit Polizei vor, die nur durch das Land reisen wollen und dafür sogar gültige Tickets haben.
Die Bundesregierung, die mindestens einmal im Jahr den Beitrag Ungarns beim Kampf um ein vereinbartes Europa lobt, fordert Ungarn auf, die Menschen bloß nicht weiterreisen zu lassen, weil das Land dann ja vertragsbrüchig würde. Ob es in Deutschland noch Menschen gibt, die vielleicht vor 26 Jahren über Ungarn in die BRD gekommen sind oder die mit ihnen gebangt und gejubelt haben, die sich aufmachen und nach Bicske und in andere Orte, wo Flüchtlinge von der Polizei an ihrer Weiterreise gehindert wurden, fahren und die Flüchtlinge dabei unterstützen, dass sie an ihr Ziel kommen?
In Großbritannien macht zurzeit ein Foto [5] Politik. Es zeigt einen kleinen syrischen Jungen, der bei der Flucht aus Syrien mit seiner Mutter ertrunken ist und könnte die Abschottungspolitik der britischen Konservativen ins Wanken bringen. Warum sorgen die Fotos von Flüchtlingen, die in Ungarn darum kämpfen, nicht ins Lager gebracht zu werden, nicht ebenfalls hierzulande für eine solche Empörung, die eine Abschottungspolitik ins Wanken bringt?
Gegen das frühere Mitglied der Göttinger Antifa (M), Bernd Langer, hat ein Berliner Amtsgericht Strafbefehl erlassen. Er soll in einem Interview eine Straftat gebilligt und den »öffentlichen Frieden« gestört haben. Doch Langer will das nicht akzeptieren.
»Der vergessene Terror« lautete die Überschrift einer Kolumne in der extrem rechten Wochenzeitung Junge Freiheit (JF) am 4. Dezember 2014, in der Chefredakteur Dieter Stein natürlich nicht an Angriffe gegen Geflüchtete oder die Morde des »Nationalsozialistischen Untergrundes« erinnerte. Am 4. Dezember 1994 hatte ein Feuer in der damaligen JF-Druckerei in Weimar zahlreiche Maschinen zerstört und das Erscheinen des Blattes für einige Wochen verhindert. 20 Jahre später nutzte der langjährige JF-Geschäftsführer und Ex-Republikaner das Jubiläum, um sich als Opfer von Linken und Liberalen zu gerieren: »Der Brandanschlag auf die JF-Druckerei hätte damals zu einem Aufschrei führen, die Gefahren linksextremer Gewalt schlagartig im Fokus der Medien und Politik stehen müssen. Doch das Schweigen der Öffentlichkeit war entlarvend. Klammheimliche Freude spiegelte sich bei linken Medien wie der Taz, die großflächig das Bekennerschreiben der Linksterroristen publizierte«, echauffierte sich Stein in seiner Kolumne. Auch der AfD-Landesverband Sachsen nutzte das Jubiläum für eine Pressemitteilung »zum Brandanschlag auf die Pressefreiheit vor 20 Jahren«. In dem kurzen Text der sächsischen AfD-Fraktionsvorsitzenden Frauke Petry geht es vor allem um die Gegenwart: »Das geistige Klima, in dem Gewalt gegen politisch Andersdenkende oder deren Existenzgrundlagen in Deutschland wachsen konnte, herrscht noch immer vor.« Die inzwischen nach dem gewonnenen Flügelstreit mit Parteigründer Bernd Lucke zur Bundesvorsitzenden aufgestiegene Petry empörte sich besonders über die Äußerungen von zwei Zeitzeugen der Geschichte der Autonomen Antifa: »Nun veröffentlichte das Blatt Neues Deutschland ein Interview mit zwei ehemaligen ›autonomen Antifaschisten‹, die das Attentat im Nachhinein als ›Superaktion‹ feierten, die ›reingehauen‹ habe.«
Auch Alexander von Stahl ließ das Treiben der antifaschistischen Veteranen, die sich über eine längst verjährte Straftat äußerten, nicht ruhen. Der ehemalige Generalbundesanwalt bezeichnete sich in einem Interview der JF als einen jener Nationalliberalen, die »den klassischen Liberalismus à la Adam Smith und August von Hayek mit einem gesunden Schuss Patriotismus kombinieren, also nicht gleich fünf Zentimeter kleiner werden, wenn der Begriff Deutschland fällt oder die bei diesem Wort politisch korrekt nur an ewige Schuld und Sühne denken können«. Stahl nun alarmierte die Justiz. Am 18. Juni 2015 schließlich stellte das Amtsgericht Berlin-Tiergarten Bernd Langer einen Strafbefehl über 60 Tagessätze à 50 Euro zu. 3 000 Euro soll er zahlen, weil er öffentlich eine Straftat »in einer Weise« gebilligt habe, die geeignet sei, den »öffentlichen Frieden zu stören«.
In dem ND-Interview ging es um die Geschichte der Autonomen Antifa der letzten 40 Jahre. Dabei spielte das Verhältnis von Militanz und Bündnispolitik eine wichtige Rolle. Bernd Langer trat in dem Gespräch dem Eindruck entgegen, seit den neunziger Jahren hätten Autonome Antifaschisten nur noch Bündnisse gegen rechts geschmiedet. »Aber es gab auch später noch militante Aktionen, zum Beispiel ein koordinierter Anschlag gegen die Junge Freiheit 1994. Wenn man liest, wie das bei denen reingehauen hat – die konnten ihre Zeitung fast zumachen –, war das eine Superaktion gewesen«, erinnerte sich Langer. »Es gab auch weitere Interventionen. Nicht mehr so viele, klar, weil es diese Art Antifa-Organisierung und die Leute nicht mehr gab. Ich finde aber nicht, dass der Antifa-Kampf nach den 1980er Jahren nicht mehr militant geführt wurde. Da würde ich den Genossinnen und Genossen, die bis heute viel riskieren, doch Unrecht tun«, resümierte Langer in dem Interview. Dass ihm in dem Gespräch wichtig war, die Vielfalt der Aktionsformen der Autonomen Antifa zu betonen, hat Gründe, die vielen jüngeren Antifaschisten heute kaum noch bekannt sein dürften.
Langer, der bereits in den achtziger Jahren in der Norddeutschen Antifa-Koordination, der bundesweit ersten autonomen Antifastruktur, aktiv war, wurde das bekannteste Gesicht der Göttinger Autonomen Antifa (M). Die hatte für viele junge Antifaschisten wegen der von ihr organisierten autonomen schwarzen Blöcke in den frühen neunziger Jahren eine große Attraktivität. Jahrelang führten dunkelgekleidete, vermummte Menschen in Göttingen die Demonstrationen an. In den hinteren Reihen liefen auch örtliche Politiker der SPD und der Grünen mit. Was bundesweit viele jungen Antifaschisten mobilisierte, sorgte innerhalb der Autonomen Antifabewegung in den neunziger Jahren für Kritik. Unabhängige autonome Antifaschisten warfen damals der Antifa (M) vor, ihre Blöcke seien eher Theater als militante Politik. Langer wollte dagegen in dem inkriminierten ND-Interview klarstellen, dass für die Antifa (M) und die von ihr wesentlich mitinitiierte Antifaschistische Aktion/Bundesweite Organisation (AA/BO) eine Bündnispolitik bis weit ins linksliberale Milieu und eine militante Praxis gegen rechte Strukturen kein Widerspruch waren.
In den vergangenen Jahren hat Langer als Autor zahlreicher Bücher über die außerparlamentarische Linke und als Initiator des Projekt Kunst und Kampf (KuK) eine wichtige Rolle bei der Darstellung linker Geschichte gespielt. In dem Strafbefehl, den er nicht akzeptiert, sieht er auch eine Kriminalisierung dieser Arbeit. »Es geht mir nicht um die Höhe der Strafe, sondern ums Prinzip«, begründete er im Gespräch mit der Jungle World, warum er sich politisch wehren wird. Er erinnert an das Vorgehen der Justiz gegen den Verfasser und die Verbreiter des Mescalero-Aufrufs im Deutschen Herbst 1977. Damals wurden unter dem Vorwurf, »klammheimliche Freude« (wie es in dem Aufruf hieß) an dem Attentat der RAF auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback verspürt zu haben, bundesweit unabhängige linke Gruppen kriminalisiert, Buchläden und Druckereien durchsucht. »NS-Täter trafen sich noch nach Jahrzehnten in Traditionsverbänden, wo sie ihre Verbrechen feierten und von Politikern mit Grußadressen bedacht wurden. Die wurden nie wegen Billigung von Straftaten belangt«, betont Langer. So will er auch argumentieren, wenn am 22. September ab 10.30 Uhr vor dem Berliner Amtsgericht über seinen Strafbefehl verhandelt wird.
Die Debatten darüber wird von vielen gefordert. Die Flüchtlingsfrage könnte zur Scheidelinie zwischen einer emanzipatorischen und einer nationalistischen EU-Kritik werden
Um Griechenland ist es ruhig geworden in den deutschen Medien und in der Politik. Das ist ganz im Sinne von Merkel und den deutschen Politikern. Schließlich wollen sie schnell vergessen machen, dass es im Wesentlichen die deutsche Regierung war, die das Austeritätsdiktat gegen den Willen der griechischen Bevölkerung durchsetzte.
In den entscheidenden Tagen, als der griechische Ministerpräsident zur Zustimmung zum Diktat erpresst wurde, begannen in europäischen Ländern breitere Kreise zu ahnen [1], dass Deutschland wieder ein Machtblock ist, der seine Interessen mit allen Mitteln durchsetzen wird. Die deutsche Vergangenheit ist kein Hinderungsgrund mehr. Im Gegenteil dient diese Vergangenheit als besonderes Drohpotential.
Mag die deutsche Öffentlichkeit und Politik schnell zur Tagesordnung übergehen. In vielen Ländern Europas ist die Lektion der Julitage 2015 sehr präsent. Dabei wird auch gefragt, wie es dazu kommen konnte, dass die griechische Regierung der Erpressung von „Deutsch-Europa“ so wenig entgegen setzen konnte. Dabei wird neben der mangelnden Solidarität im EU-Raum vor allem der fehlende Plan B, der Tsipras-Regierung genannt.
Sie betonte immer, dass sie für einen Austritt aus dem Euro kein Mandat von den Wählern habe und stimmte dann einem Austeritätsprogramm zu, zu dem sie ganz bestimmt kein Mandat hatte. In den entscheidenden Tagen hätte die griechische Regierung angetrieben von einer linken Massenbewegung dann eben deutlich machen müssen, dass sie nicht um jeden Preis im Euro bleiben will. Das Ergebnis ist ein neuer Wahlkampf in Griechenland, wo es links von der Tsipras-Syriza gleich drei Parteien gibt, die diese EU-Kritik artikulieren.
Die Kommunistische Partei Griechenland bleibt bei ihrer grundsätzlichen Kritik an EU und Kapitalismus, ist allerdings weiterhin zu keiner Bündnispolitik in der Lage und bereit. So wird die Partei Volkseinheit erstmals kandidieren, die das ursprüngliche Syriza-Programm verteidigt, die dem Kampf gegen die Austerität den zentralen Stellenwert gibt und dafür einen Euro-Austritt in Kauf nimmt.
Daneben kandidiert weiterhin das ebenfalls EU-kritische Antarsya-Bündnis, das in den ersten Wochen die Syriza-Regierung mit kritischer Solidarität unterstützte, aber in Opposition ging, als sich abzeichnete, dass die Tsipras-Syriza den sozialdemokratischen Weg gehen wird. Die Zersplitterung bei den EU-Kritikern auf der linken Seite könnte allerdings auch rechten EU-Gegnern nutzen. Die nazistischen Goldenen Morgenröten werden natürlich versuchen, daraus Kapital zu schlagen.
Notfalls ohne EU und Euro
Für Gegner der Austeritätspolitik in vielen anderen Ländern hat das Beispiel Griechenland auch gezeigt, dass ein Vertrauen in die EU und den Euro illusionär ist. So hat die irische Anti-Austeritäts-Alliance [2] keinerlei Vertrauen in die EU. Dieses Bündnis hat in den letzten Monaten gegen die Zumutungen der Austeritätspolitik Zulauf bekommen. Vor allem die Proteste gegen die Erhöhung der Wassergebühren reißen in Irland nicht ab.
Von den Austeritätspolitikern wurde gerade Irland als das leuchtende Beispiel eines Landes vorgestellt, das bereit ist, Opfer zu bringen. Dass sie damit längst nicht für alle irischen Bewohner gesprochen haben, zeigen die wachsenden Proteste. Auch an Slowenien wird nicht sofort gedacht, wenn vom Widerstand gegen die europäische Austeritätspolitik gesprochen wird.
Doch auch dort haben eine soziale Bewegung und auch die Initiative für einen demokratischen Sozialismus [3] den Protest gegen die Austerität in den Mittelpunkt gestellt. Deren Mitbegründer, der Ökonom Luka Mesec erklärte bereits vor zwei Jahren in einem Interview [4] die Haltung zur EU so.
Auf die Frage „Sehen Sie eine Alternative innerhalb der EU?“ antwortete er:
Wir sind nicht für einen Austritt aus der EU, aber wir kämpfen für ein anderes Entwicklungsmodell. Wir diskutieren darüber, wie wir es schaffen, die Zwangsjacke der Maastricht-Kriterien wieder loszuwerden.
Die Frage, ob linke Bewegungen und Parteien dazu wirklich in der Lage, sind, beantwortete er so:
Im Moment sicher nicht. Die linken Parteien und Bewegungen sind noch immer nationalstaatlich organisiert. Wir haben noch keine starke europäische Linke. Das ist momentan unsere größte Herausforderung.
Mesic hat hier ein Dilemma benannt, das auch heute die europäische Bewegung gegen die Austeritätspolitik behindert und mit für die Kapitulation der griechischen Regierung verantwortlich war. Eine linke Bewegung, die auch bereit ist, ein besseres Leben jenseits von EU und Euro zu suchen, darf gerade nicht in nationalstaatlichen Bahnen denken und sich auf ein Land konzentrieren.
Sie muss eine transnationale Bewegung kreieren und den Nationalstaat überwinden. Nur so kann sie sich von rechten und nationalistischen Anti-EU-Bewegungen inhaltlich abgrenzen. Eine solche Bewegung würde die Konzepte und Vorstellungen von Antifaschisten aufgreifen, die die Idee eines Vereinten Europas im Widerstand gegen deutschen NS und italienischen Faschismus bereits in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelten.
Diese Vorstellungen werden auch linken Kritikern der aktuellen „Deutsch-EU“ gerne entgegen gehalten. Linke EU-Kritiker müssten nun genau dieses Erbe antreten und damit deutlich machen, dass die real existierende EU mit diesen Konzepten genau so wenig zu tun hatte wie der sowjetische Nominalsozialismus mit den Vorstellungen von Karl Marx und Friedrich Engels.
„Wir brauchen einen Plan B“
Eine emanzipatorische, EU-kritische Bewegung muss daher auch in der Flüchtlingsfrage gegen Abschottung und für offene Grenzen eintreten. Gerade hier wird der Widerspruch zwischen EU-Propaganda und Realität besonders deutlich. Einerseits wird die EU mit offenen Grenzen assoziiert während im Budapester Ostbahnhof in den letzten Tagen hunderte Menschen am Weiterreisen gehindert wurden, obwohl sie Tickets besitzen. Sie haben nur den falschen Pass.
Die Polizisten, die die Menschen am Weiterreisen hindern, begründen ihren Einsatz mit der Durchsetzung des EU-Rechts. Schon sehen Politiker wie der Ex-Außenminister Josef Fischer [5] in der Flüchtlingsfrage einen Sprengsatz für die EU. Tatsächlich versucht Deutschland auch hier mit Drohungen und Druck die anderem EU-Länder auf seine Linie zu bringen.
Wenn sich eine EU-kritische Bewegung hier auf Seiten der Geflüchteten positioniert, liefert sie auch praktisch den Beweis, dass sie nichts mit nationalistischen Abschottungsvorstellungen zu tun hat. Diese Vorwürfe werden die EU-kritische Bewegung immer begleiten und das hat auch Gründe.
Als vor einigen Wochen der Linkspartei-Politiker Oskar Lafontaine mit nachvollziehbaren Elementen nach den Erfahrungen der griechischen Linksregierung ebenfalls eine neue Diskussion über die EU anregte [6] werden sich viele erinnert haben, dass er auch schon mal gegen angebliche Fremdarbeiter wetterte und nationaler Abschottung das Wort geredet hat.
So wichtig es ist, hier auf eine klare Trennlinien zu achten, so gibt es aber keinen Grund, jeder EU-Kritik auch auf Seiten der Linkspartei gleich mit dem Nationalismusvorwurf zu begegnen. So ist es völlig plausibel, wenn Sarah Wagenknecht in einem Kommentar [7] in der Frankfurter Rundschau einen „Plan B“ fordert, wenn vielleicht in Spanien oder einem anderen Land eine linke Regierung abermals von Deutsch-Europa mit dem EU-Austritt erpresst wird.
Wo immer in Europa eine Regierung gewählt wird, die sich dem neoliberalen Mainstream verweigern will, stünde sie vor dem gleichen Dilemma. Wie die Erpressungspolitik der Europäischen Zentralbank ist auch die griechische Tragödie wiederholbar. Und wem diese Aussicht noch nicht genügt, um über einen Plan B zur Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit demokratisch gewählter Regierungen nachzudenken, dem sei das Papier der „Fünf Präsidenten“ Juncker, Draghi, Dijsselbloem, Tusk und Schulz zur „Vollendung“ der Währungsunion unbedingt zur Lektüre empfohlen.
Es wird sich zeigen, ob auch die außerparlamentarische Linke sich der Diskussion um emanzipatorische Wege jenseits von EU und Euro stellt. Beim bundesweiten Luka Mesec [8] am zweiten Sonntag in Berlin gäbe es in Berlin Gelegenheit [9] dazu. Dabei soll der Widerstand beim EU-Gipfel in Brüssel vom 15. bis 17. Oktober [10] eine wichtige Rolle spielen. Doch wichtiger als die Neuauflage von Gipfelprotesten wäre eine Diskussion über die Stellung einer emanzipatorischen Linken zu EU und Euro.
Loukanikos hieß der Straßenhund, der während der Massenproteste in Griechenland 2012 und 2013 auf unzähligen Fotos zu sehen war. Sein Tod im vergangenen Jahr war der »Süddeutschen Zeitung« sogar einen Artikel wert. Doch das Tier schrieb noch auf eine andere Weise Geschichte. Nach ihm benannten sich fünf Historikerinnen und Historiker, die Diskussionen über den Umgang der Linken mit Geschichte vorantreiben. Unter dem Titel »History is unwritten« hat der Arbeitskreis Loukanikos jetzt ein Buch herausgegeben, das auf einer Konferenz beruht, und doch weit über die damaligen Beiträge hinaus geht. Die 25 Aufsätze geben einen guten Überblick über den Stand der linken Geschichtsdebatte in Deutschland.
Die Suche nach einer neuen linken Perspektive in der geschichtspolitischen Auseinandersetzung und die Frage, welche Bedeutung linken Mythen hierbei zukommt, benennen die Herausgeber als roten Faden des Buches. Die Historikern Cornelia Siebeck erteilt jeglichen linken Geschichtsmythen eine Absage: »Was emanzipatorische Zukunftspolitik ganz sicher nicht braucht, ist die eine historische Erzählung, um ihre Anliegen zu begründen.« Ihr widerspricht der Historiker Max Lill. »Viele Intellektuelle der radikalen Linken laben sich am Misstrauen gegenüber jedem Versuch, größere Zusammenhänge herzustellen. Fragend schreiten sie im Kreis«, kritisiert er die Versuche einer postmodernen Geschichtsdekonstruktion.
Der Historiker Ralf Hoffrogge, der in den vergangenen Jahren vergessene Teile der Geschichte der Arbeiterbewegung in Deutschland erforschte, plädiert in seinen »Fünf Thesen zum Kampf um die Geschichte« dafür, die sozialistische Bewegung als Tradition anzunehmen und in der Kritik an den gescheiterten linken Bewegungen bescheidener zu sein. »Auch wir werden im politischen Leben Fehler machen und unseren Ansprüchen nicht gerecht werden, das richtige Leben im Falschen nicht erreichen, und die Abschaffung des ganzen Falschen wohl auch nicht.«
Ein eigenes Kapitel ist geschichtspolitischen Initiativen in Deutschland gewidmet. Die Gruppe audioscript stellt einen Stadtrundgang vor, der über die Verfolgung und Vernichtung der Jüdinnen und Juden zwischen 1933 und 1945 in Dresden informiert. Sie kritisiert damit auch den in der sächsischen Stadt herrschenden Erinnerungsdiskurs, der vor allem die deutschen Bombenopfer von 1945 in den Mittelpunkt stellt. Die Antifaschistische Initiative Moabit (AIM) aus Berlin betont in ihrem Beitrag die Aktualität antifaschistischer Geschichtspolitik in einer Zeit, in der die »deutsche Erinnerungslandschaft gepflastert ist mit Stolpersteinen und Orten der Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen«. Als Beispiel für gelungene Erinnerungsarbeit führt die AIM die »Fragt uns Broschüren« an, in denen junge Antifaschisten die letzten noch lebenden Widerstandskämpfer und NS-Verfolgten interviewen. Vorgestellt wird zudem die Initiative für einen Gedenkort an das ehemalige KZ Uckermark, wo zwischen 1942 und 1945 Mädchen und junge Frauen eingepfercht wurden, weil sie nicht in die NS-Volksgemeinschaftsideologie passten. Mit feministischen Bau- und Begegnungscamps hat die Initiative den Ort bekannt gemacht und erschlossen.
Autor_innenkollektiv Loukanikos (Hg.): History is unwritten. Linke Geschichtspolitik und kritische Wissenschaft, Edition Assemblage, 400 Seiten, 19,80 Euro.
Der Kampf um die Einhaltung des Tarifvertrags im Kino Babylon geht weiter
Im Jahr 2010 hat die Belegschaft des Kinos Babylon in Berlin-Mitte versucht, einen Haustarifvertrag zu erkämpfen (die SoZ berichtete). Die Gewerkschaft Ver.di konnte dann einen abschließen, doch die Geschäftsleitung hält sich nicht daran. Jetzt wird das Kino wieder bestreikt.
«Dieses kommunale Kino wird heute bestreikt. Darum bitten wir Sie, heute von einem Kinobesuch Abstand zu nehmen und damit die berechtigen Forderungen der Beschäftigten nicht zu unterlaufen», heißt es auf Plakaten, die in den letzten Wochen rund um das Kino Babylon in Berlin-Mitte zu finden sind. Verfasst wurden sie von der Ver.di-Betriebsgruppe des Kinos.
Es geht um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der 15 Kinobeschäftigten. «Fünf Jahre Verzicht sind genug», «Gleicher Lohn für gleiche Arbeit», steht auf weiteren Plakaten rund um das Kino. «Im Dezember 2013 wurde mein Stundenlohn nach einer Forderung des Senats auf 8,50 Euro tarifvertraglich angehoben. Seitdem gab es keine weiteren Anpassungen», erklärt ein Kino-Angestellter. Die Filmvorführer hätten sogar seit fünf Jahren keine Gehaltserhöhung bekommen.
Ver.di fordert die Übernahme des Bundestarifvertrags des Hauptverbands Deutscher Filmtheater (HDF) für die Babylon-Beschäftigten. Außerdem soll eine verbindliche Mindestbesetzung während des laufenden Kino- und Veranstaltungsprogramms vereinbart werden, die auf die Besucherzahlen abgestimmt ist. Immer wieder gibt es Klagen wegen Arbeitsüberlastung.
Andreas Köhn vom Verdi-Landesbezirk Berlin-Brandenburg betont, dass das Kino die Forderungen wirtschaftlich tragen kann. «Schließlich sind die Eintrittspreise und die Einmietung in den letzten Jahren um teilweise 20% gestiegen. Auch die Anzahl der Besucher hat sich deutlich erhöht.»
Zudem steigen auch die Subventionen, die das Land Berlin jährlich an das Kino überweist. Im Doppelhaushalt 2016/17 sind dafür 361.500 (vorher 358.000) Euro vorgesehen. Ver.di fordert nun vom Senat, die Auszahlung der Zuwendungen an die Umsetzung des bundesweiten HDF-Tarifvertrags zu koppeln.
Vorgeschichte
In den Jahren 2009 und 2010 war das Kino Babylon durch einen Arbeitskampf über Berlin hinaus bekannt geworden. Damals wandten sich die Beschäftigten an die Basisgewerkschaft Freie Arbeiter-Union (FAU). «Der Arbeitskampf machte damals deutlich, dass auch in prekären Verhältnissen engagierte Arbeitskämpfe möglich sind», heißt es im Vorwort einer Broschüre*, die vom FAU-Aktivisten Hansi Oostinga herausgegeben wurde. «Die Broschüre erinnert an den von heute aus gesehen doch sehr organisierten und professionellen Arbeitskampf», erklärt der mittlerweile beurlaubte, der FAU angehörende Babylon-Betriebsrat Andreas Heinz.
Den aktuellen Streik von Ver.di unterstützt die FAU ausdrücklich. Dabei waren die Beziehungen zwischen beiden Gewerkschaften nicht immer die besten. Die FAU warf Ver.di vor, mit dem Geschäftsführer Timothy Grossman einen Tarifvertrag abgeschlossen zu haben, nachdem dieser der Basisgewerkschaft ihre Tariffähigkeit aberkennen wollte. Damals hatten sich in einem Solidaritätskomitee allerdings auch Mitglieder von DGB-Gewerkschaften mit der FAU solidarisiert.
Für Ver.di ist der Arbeitskampf der FAU immer noch eine Leerstelle. So heißt es auf der Titelseite von Sprachrohr (Nr.2/2015), der Mitgliederzeitung des Fachbereichs Medien, Kunst und Industrie für Ver.di-Berlin-Brandenburg: «2010 wurde für die Neue Babylon Berlin GmbH der bis tariflose Zustand beendet. Vereinbart wurde die Übernahme des Bundestarifvertrags HDF-Kino von 2009, allerdings mit deutlich schlechteren Regeln.» Kein Wort davon, dass es der engagiert geführte Arbeitskampf der FAU war, der die Babylon-Geschäftsführung so unter Druck setzte, dass sie den Tarifvertrag mit Ver.di schloss. Die jetzt auch von Ver.di beklagten Verschlechterungen hat die FAU schon beim Abschluss heftig kritisiert.
Der Konflikt zwischen der FAU und Grossman geht jedoch weiter. So wurde Betriebsrat Andreas Heinz wegen angeblicher Zerstörung eines Filmplakats nicht nur fristlos entlassen. Sogar der Staatsschutz wurde eingeschaltet worden. Im Juni wurde die Wohnung von Stefan Heinz durchsucht. Auch die Ver.di-Betriebsräte will die Kinogeschäftsführung loswerden, musste dabei Mitte August jedoch eine juristische Niederlage einstecken. Die 1.Instanz des Berliner Landesarbeitsgericht hat nämlich entschieden, dass der dreiköpfige Babylon-Betriebsrat rechtmäßig gewählt wurde. Die Wahl war von der Geschäftsführung mit der Begründung angefochten worden, die zahlreichen selbständigen Beschäftigten, die mittlerweile im Kino als Dienstleister bei Technik, Getränkeverkauf und Ticketkontrolle eingesetzt werden, dürften bei der Betriebsratswahl nicht berücksichtigt werden.
*Hans Oostinga: Babylohn. Der Arbeitskampf im Berliner Kino Babylon. Moers: Syndikat A, 2015, 2,50 Euro.
Das voraussehbare Ende des Dublin-Regelsystems ist ein Erfolg der Flüchtlingsbewegung
Nun hat kann es auch der CSU-Bundestagsabgeordnete Markus Ferber nicht mehr verleugnen. Das Regelsystem Dublin II [1], das dafür sorgte, dass die meisten Flüchtlinge in Deutschland keine Chance hatten, eine Aufenthaltsbestimmung zu bekommen, funktioniert nicht mehr.
Das betonte die selbsternannte Stimme aus Bayern, die bisher die Devise [2]: „Unbequeme Regeln kann man nicht einfach abschaffen“ besonders dann hoch gehalten hat, wenn es dem deutschen Standort nutzte. Das war auch so, als Ferber darauf beharrte, dass die griechische Regierung sich aus dem Austeritätskorsett befreien wollte.
Unbequem vor allem für die Geflüchteten
Zu den unbequemen Regeln, die man nach Meinung von Politikern wie Ferber nicht einfach verlassen kann, gehörte auch das gesamte Dublin II-Regelsystem [3]. Unbequem war das Regelwerk in erster Linie für Geflüchtete, die ebenso wie Flüchtlings- und Antirassismusgruppen seit Jahren die Abschaffung fordern [4].
Die Dublin-Verordnungen regeln die Frage der Zuständigkeiten der EU-Länder für die Asylverfahren der Geflüchteten. Das Land innerhalb des EU-Raums, in dem die Menschen zuerst behördlich erfasst, also registriert werden, sollte für das Prozedere verantwortlich sein. Diese Regelung hatte zur Folge, dass die Geflüchteten oft über Jahre unter katastrophalen Bedingungen in den Ländern ausharren mussten, in denen sie zuerst EU-Boden betreten haben. Das betraf aus geografischen Gründen natürlich viel häufiger Länder wie Italien und Griechenland, aber kaum Deutschland.
Schon vor einigen Jahren setzte die italienische Rechtsregierung unter Berlusconi die Dublin-Verordnungen außer Kraft. Sie ging dazu über, die Geflüchteten ohne Kontrollen Richtung Deutschland weiterfahren zu lassen. Deutschland und Frankreich reagierten mit der Aussetzung des Schengen-Abkommens und führten an der Grenze zu Italien Kontrollen ein: Zudem beschuldigten sie Italien, vertragsbrüchig geworden zu sein.
Gegenüber Griechenland waren die Reaktionen aus Deutschland noch harscher, als die Linksregierung nur in Erwägung zog, die Flüchtlinge in die Länder reisen zu lassen, in die sie wollten. Doch deren Wille zählte bei den Dublin-Verordnungen nie. So waren die Menschen in den sogenannten Erstaufnahmeländern gezwungen, unter den schlimmsten hygienischen und sozialen Bedingungen zu leben, in denen sie nicht bleiben wollten.
Gerade heute wurde die italienische Regierung vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte [5] zu hohen Schadenersatzzahlungen an tunesische Geflüchtete verurteilt [6], weil diese unter unmenschlichen Umständen in Lampedusa leben mussten und dann ohne Prüfung ihrer Asylanträge nach Tunesien zurück geschickt wurden. Die Zustände in Italien hätten die Würde der Flüchtlinge verletzt, urteilten die Richter.
Die Autonomie der Migration bereitet Deutschland eine Niederlage
„Gegen Dublin III – Für Flüchtlingsschutz“ lautete auch das Motto einer der vielen Initiativen [7], die in den letzten Jahren gegen ein Regelwerk protestierten, das Deutschland nutzte und vielen tausend Menschen Nachteile brachte. Lange Zeit haben Politiker von CDU/CSU und SPD das Dublin-System verteidigt und weigerten sich, über Änderungen auch nur zu diskutieren.
Dass Geflüchtete nun in München oder Budapest den Ruf „Deutschland – Deutschland“ skandieren, ist ein Zeichen für die Niederlage der deutschen Politik. Sie drücken damit das Ziel ihrer Flucht aus und die Gewissheit, dass sie es erreichen werden, auch gegen den Willen der deutschen Politik. Mit Ferber hat auch Bayern diese Niederlage zumindest konstatiert, wenn sicher auch nicht akzeptiert.
Es waren die Geflüchteten, die mit ihrer Autonomie der Migration [8]das Regelwerk gekippt haben. So haben sie auch Residenzpflicht [9]weitgehend durchlöchert, die in Deutschland Geflüchteten ein Leben in dem Landkreis verordnen wollte, in dem die zuständige Ausländerbehörde ihren Sitz hat. Jedes unerlaubte Entfernen aus dem Landkreis wurde strafrechtlich geahndet. Doch diese Verordnung wurde ebenso tausendfach gebrochen wie das Dubliner-Regelwerk.
Jetzt wird die Politik natürlich neue Regulationsinstrumente suchen und sicher auch finden, die die Flüchtlingspolitik im Interesse des Standortes Deutschlands lenken sollen. Dabei sollen vor allem die Wirtschaftsinteressen bedient und gut ausgebildete Menschen gleich dem deutschen Arbeitsmarkt zu geführt werden. Doch es ist wichtig, gerade auch am Beispiel Dublin II, den Widerstand der Geflüchteten in den Mittelpunkt zu stellen. Schließlich hat die Bewegung der Refugees und Geflüchteten in den letzten zwei Jahren in Deutschland eine enorme Kraft entfaltet [10].
In den letzten Wochen schien dieses Bild in den Hintergrund zu treten und Geflüchtete wurden fast ausschließlich als hilfsbedürftige Menschen dargestellt, die von karitativen Einrichtungen versorgt werden müssen. Daher ist es umso wichtiger, deutlich zu machen, dass gerade diese Menschen und ihr Widerstand Dublin II außer Kraft gesetzt haben. Es ist ein hoffnungsvolles Zeichen, dass auch die Macht Deutschlands nicht grenzenlos ist.
Kann man mit einer Israelfahne Rechtsextreme so provozieren, dass sie ihre Maske fallen lassen? Angesichts einiger proisraelischer Äußerungen aus dem Pegida-Lager gibt es Zweifel.
Im Dezember 2014 schienen die Fronten noch klar. Eine kleine Gruppe von Menschen wollte mit einer Israelfahne auf einer Pegida-Demonstration in Dresden testen, ob es sich bei den selbsternannten Verteidigern des christlichen Abendlands tatsächlich vor allem um Neonazis und Rassisten handelt. »Doch wie überprüft man eine derartige These am besten? Indem man ein polarisierendes Symbol darstellt. In meinem Fall hieß das konkret, dass ich mir meine Israelflagge schnappte, die normalerweise vor meinem Fenster hängt, und mich mit ein paar Gefährten auf den Weg machte, selbst zu erfahren, wer denn eigentlich diese Menschen bei Pegida seien«, schrieb einer der an diesem Test Beteiligten in seinen Erfahrungsbericht. Schon die Polizei sah in der Fahne eine Provokation für die Abendlandschützer und behielt damit recht, wie aus der Versuchsbeschreibung hervorgeht: »Wir waren keine fünf Minuten vor Ort und uns schlug bereits eine Welle der Ablehnung und Verachtung entgegen.« Kommentare wie: »›Ihr seid hier auf der falschen Seite!‹, ›Verpisst euch!‹, ›Die Flagge sollte man anzünden!‹, ›Israel sind die größten Verbrecher!‹, ›Wir wollen euch hier nicht!‹«, hagelte es von allen Seiten. Demoordner beendeten dann das Experiment, erklärten die Gruppe für unerwünscht und forderten sie auf, den Pegida-Aufmarsch zu verlassen.
Nicht ganz vier Monate später, am 13. April 2015, konnte man auf Fotos wieder eine Israelfahne auf einer Dresdner Pegida-Demonstration sehen. An diesem Tag war als Hauptredner und Stargast der holländische Rechtspopulist Geert Wilders eingeladen worden, der sich seit Jahren als enger Freund Israels bezeichnet und den Staat als vorderste Frontlinie im Kampf gegen den Islamismus betrachtet. Nun könnte man einwenden, dass allein die Einladung von Wilders deutlich mache, dass sich innerhalb der Pegida-Bewegung die Strömung durchgesetzt habe, die sich nach Rechtsaußen abzugrenzen trachtet. Doch das eine schließt das andere bei Pegida eben nicht aus: Vielmehr wird bei den verschiedenen Pegida-Aufmärschen mittlerweile eine Art innerrechter Pluralismus praktiziert, der dazu führt, dass ein erklärter Neonazi schon mal in unmittelbarer Nähe einer Israelfahne marschieren kann und muss.
So konnte man am 7. Mai 2015 bei einem Aufmarsch des Berliner Pegida-Ablegers Bärgida beobachten, wie nur wenige Meter neben einer Israelfahne der Berliner NPD-Vorsitzende Sebastian Schmidtke ein Transparent mit einer Parole gegen »Asylbetrug« hielt. Zuvor hatten sich Funktionäre von NPD und Pro Deutschland, Anhänger der Identitären Bewegung und Neonazis von rechten Kameradschaften vor dem Berliner Hauptbahnhof zu einer mehrstündigen Kundgebung versammelt. Gut sichtbar waren von Anfang an die Flaggen mit Davidstern. Die beiden jungen Fahnenträger stellten sich als Mitglieder der Facebookgruppe Jewgida vor. Sie betrachtet die Pegida-Bewegung als Bündnispartner im Kampf gegen Islamismus. Seither fragen sich nicht nur internationale Medien, sondern auch Antifaschisten, wie es sein kann, dass Israelfahnen und Neonazis auf einer Demo gemeinsam gesehen werden können. Auch wenn erst nach dem 7. Mai die Israelfahnen auf den unterschiedlichen Pegida-Aufmärschen zum Thema wurden, gab es in Berlin eine Vorgeschichte. Am 26. Februar 2015 trat bei einer Bärgida-Kundgebung ein Mann namens Sam vor das Mikrophon, der sich als in den USA geborener und seit 26 Jahren in Deutschland lebender Jude vorstellte. Inhaltlich lag sein Beitrag ganz auf der Linie der Abendlandverteidiger: Nicht Nazis, sondern Islamisten seien schuld am Antisemitismus in Deutschland. Den »Kampf gegen rechts« bezeichnete er als eine »Gelddruckmaschine für Berufsbetroffene und Windmühlenkämpfer«. Den USA warf er vor, die Kulturen Europas zerstören zu wollen, und führte das derzeit vieldiskutierte TTIP-Abkommen an. Auch eine Tirade gegen bezahlte Gegendemonstranten durfte nicht fehlen. Mit Sams Auslassungen hat sich Jewgida wiederum in den Augen der Demoorganisatoren als glaubwürdiger Bündnispartner bei der Verteidigung des Abendlandes erwiesen.
Der Verweis auf die Israelfahnen dient aber wohl eher zur Ablenkung von der Nazi-Präsenz. So erklärte Bärgida auf Facebook, dass sie Jewgida bei ihren Protesten gegen eine Konferenz in Berlin unterstütze, die maßgeblich von der Hamas nahestehenden palästinensischen Gruppen organisiert wurde. Doch das Protestbündnis gegen die Tagung, in dem neben Politikern von SPD, Grünen und Piraten auch antifaschistische Gruppen vertreten waren, hatte kein Interesse an der Unterstützung von rechts. Auch an den Protesten gegen den al-Quds-Tag wollten sich Pegida-Gruppen beteiligen. Michael Stürzenberger, der Vorsitzende der rechten Kleinstpartei »Die Freiheit« und Organisator des Münchner Pegida-Ablegers, rief unter der Parole »Hass-Marsch gegen Israel trifft uns alle« zur Teilnahme an den Gegenaktionen auf. Stürzenberger ist ein typischer Vertreter dieses neuen rechten Pluralismus, für den sein auf PI-News gepostetes Bekenntnis »Wir stehen zu Israel« durchaus nicht im Widerspruch dazu steht, neben Mitgliedern von Nazi-Kameradschaften auf den Münchner Pegida-Aufmärschen aufzutreten.
Doch der seit Pegida zu beobachtende innerrechte Pluralismus in Sachen Israel stößt immer wieder an seine Grenzen. Nachdem die Bärgida-Organisatoren die beiden Jewgida-Aktivisten offiziell unterstützten, erinnerten auf Facebook wütende Neonazis daran, »dass Adolf die Juden nicht wegen ihrer Nasen, sondern wegen ihrer Weltherrschaftspläne« bekämpft habe. Auch in Frankfurt am Main sorgte die Israelfahne unter den Abendlandverteidigern für Streit (Jungle World 9/2015). Dass der hessische NPD-Vorsitzende Stefan Jagsch mehrmals nur wenige Meter neben einer Israelfahne gelaufen war, stieß manchen seiner Kameraden sauer auf. Als der langjährige Frankfurter Stadtverordnete Jörg Krebs die NPD Mitte Juni 2015 verließ, führte er als Grund die Beteiligung des derzeitigen NPD-Vorstands an den ersten Pegida-Kundgebungen in Frankfurt an, bei denen die Organisatorin Heidi Mund demonstrativ proisraelisch aufgetreten war.
Auch in linken Kreisen wird in der letzten Zeit verstärkt über die »falschen Freunde Israels« diskutiert. Mit einem Text unter dieser Überschrift will die Stuttgarter Gruppe »Emanzipation und Frieden« eine Debatte über Israelflaggen bei rechten Kundgebungen anregen. Auslöser war eine von einem Stuttgarter AfD-Stadtrat auf einer Pegida-Kundgebung getragene Fahne mit Davidstern. Anders als die Dresdner, die sich im Dezember 2015 mit einer Israelfahne auf einen Pegida-Aufmarsch wagten, sehen die Stuttgarter Autoren die weißblaue Fahne nicht mehr als absolutes Unterscheidungskriterium zwischen links und rechts an. »Es ist leider zu beobachten, dass sich Menschen in ihrem rassistischen und fremdenfeindlichen Wahn, den sie unter dem Label ›Islamkritik‹ ausleben, Israel als Verbündeten herbeiphantasieren«, heißt es bei den Stuttgartern. Auch ein Redner der linken israelsolidarischen Gruppe BAK Shalom wies rechte Vereinnahmungsversuche auf einer Kundgebung eines antifaschistischen Bündnisses gegen den al-Quds-Tag klar zurück: »Während konservative bis rechtspopulistische Kreise gegen Antisemitismus protestieren und dabei vom ›importierten Antisemitismus‹ sprechen und so antimuslimische Ressentiments aufwärmen, möchten wir noch einmal festhalten: Antisemitismus muss nicht nach Deutschland importiert werden, er erlebte hier im industriellen Massenmord an sechs Millionen Juden und Jüdinnen seinen Höhepunkt.«
Gepräche mit ehemaligen Besetzerinnen und Besetzern
Gigi
Gigi hat schon in den achtziger Jahren in Friedrichshain gewohnt. Im November 1989 gründete sie einen Mieterladen in der Bänschstraße, in dem sie heute noch ehrenamtlich arbeitet und Mieter berät.
Warum habt ihr den Mieterladen gegründet?
Wir haben nach dem Mauerfall einen leergeräumten Wohnbezirksausschuss (WBA) besetzt und uns war damals schon klar, dass Privatisierungen der kommunalen Wohnungen anstehen und die Mieter Beratung brauchen.
Wie hast du die Besetzungen in der Nachbarschaft erlebt?
Ich habe damals schräg gegenüber der Mainzer Straße gewohnt und bin gleich in Kontakt mit einigen Besetzern gekommen. Ich fand es toll, dass die Häuser besetzt wurden, die bereits in den achtziger Jahren gesprengt werden sollten. Zudem freute ich mich, dass neue Leute in den Stadtteil kamen und Leben reinbrachten.
Warst du eine Ausnahme oder gab es viel Unterstützung bei den Nachbarn?
Ich war nicht die einzige, aber ich hatte den kürzesten Weg zu den Besetzern. Zudem war ich in der DDR in der Punkbewegung und so fielen mir die Kontakte leichter. Als dann die Mainzer Straße geräumt wurde, waren auch viele andere Nachbarn auf der Straße. Selbst Rentner setzten sich dem Tränengas aus. Sie waren sicher nicht mit allem einverstanden, was die Besetzer machten, aber sie waren solidarisch gegen die Räumung.
Wie hast du die Räumung der Mainzer Straße erlebt?
Das war wie im Krieg. Es ist ein Glück, dass es nur Verletzte, aber keine Toten gab. Ich habe selber Wache in der Boxhagener Straße gestanden und das erste Mal einen Wasserwerfer unmittelbar vor mir gesehen. Das hat mir Angst gemacht. Ich habe auch mitbekommen, dass noch einige Politiker und DDR-Oppositionelle wie Bärbel Bohley in letzer Minute die Räumung verhindern wollten. Da hat die Polizei schon die ersten Häuser geräumt. Es stellte sich später heraus, dass ein Teil der Räumungen nach der »Berliner Linie«, auf die sich die Politik berief, rechtswidrig waren. Das hatte aber keine Konsequenzen.
Hast du noch Kontakt zu einigen damaligen Besetzern?
Ja, mit denen, die ich damals kennengelernt hatte, habe ich noch immer gute Beziehungen. Einige sind mittlerweile Hausbesitzer über die von ihnen gegründeten Genossenschaften. Es gibt auch immer wieder ehemalige Hausbesetzer, die zur Beratung in den Mieterladen kommen. Sie haben damals noch entweder privat oder über den Rahmenvertrag der Wohnungsbaugesellschaft Friedrichshain (WBF) Verträge bekommen. Ein Teil der Besetzer der Mainzer Straße ist nach der Räumung in andere Städte gezogen. Da ist der Kontakt abgebrochen.
Andreas K.
Andreas K. war im Sommer 1990 Student. Heute lebt er in Friedrichshain in einer Mietwohnung, arbeitet als Taxifahrer und ist weiterhin in gewerkschaftlichen und außerparlamentarischen Gruppen aktiv.
Wie bist du im Sommer 1990 in die Besetzerbewegung gekommen?
Ich bin in Westberlin aufgewachsen. Ein Genosse, den ich vom gemeinsamen Studium an der FU kannte, hat mich angesprochen, ob ich Lust habe, mit ihm und anderen zusammen ein Haus in Ostberlin zu besetzen. Nach einigem Zögern habe ich zugesagt. Über verschiedene Treffen bildete sich eine feste Gruppe heraus. Etwa ein Drittel hatte Ost-, zwei Drittel hatten Westhintergrund. Wir kamen aus verschiedenen Teilen der radikalen Linken. Unsere erste, nach wenigen Stunden geräumte Besetzung fand aber erst im Herbst statt. Im Sommer 1990 war ich eher Zaungast. Im Dezember gelang uns eine mehrtägige Besetzung in Friedrichshain. Nach der Räumung kamen wir gemeinsam in einem bereits besetzten Haus in der Niederbarnimstraße unter, wo ich bis 1994 lebte.
An welche politischen Aktionen im Sommer 1990 erinnerst du dich noch?
Für mich standen im Sommer keine großen Einzelaktionen im Vordergrund, sondern dass ich erst von Ferne mitbekam, dass Leute in Ostberlin die ungewisse Zeit des Systemwechsels nutzten, um leerstehende Häuser der drohenden kapitalistischen Vermarktung zu entziehen und selbstbestimmte Strukturen zu bilden. Linksradikale Gruppen aus Westberlin, wo ich mitwirkte, bekamen Anfragen für Veranstaltungen. So entstanden die ersten Kontakte.
Welche Bedeutung hatte für dich die Räumung der Mainzer Straße?
Bei der Räumung der Mainzer Straße war ich als Unterstützer auf der Straße aktiv und wurde wie viele andere festgenommen. Sie war eine militante Zuspitzung, die danach in Riot-Videos gefeiert wurde, aber zugleich ein Einschnitt, der ein Ende der Pattsituation in der Zeit des Systemumbruchs bedeutete und die Besetzerinnen und Besetzer in die strategische Defensive führte. Viele Menschen wurden durch die Polizeigewalt traumatisiert, auch bei mir blieb die Erfahrung dieser Konfrontation nicht ohne Auswirkungen.
Welche Bedeutung hatte der Streit zwischen Verhandlern und Nichtverhandlern?
Vor der Räumung hat der Besetzerrat, in dem nahezu alle Häuser vertreten waren, Einzelverhandlungen abgelehnt und eine politische vertragliche Gesamtlösung für alle Häuser gefordert. Nach der Räumung begannen mehr und mehr Häuser, Verhandlungen auf der Bezirksebene um Einzelmietverträge zu führen. Die »Berliner Linie«, die eine schnelle Räumung von Neubesetzungen beinhaltete, wurde aus dem Westteil Berlins übernommen. Politische Lösungen lehnte der Senat ab. Wer nicht über das Stöckchen der Einzelverhandlungen sprang, sondern die Rückgabe der geräumten Häuser forderte, wurde zum Nichtverhandler wider Willen, so auch die Gruppe, deren Teil ich war.
Siehst du längerfristige politische Konsequenzen aus dem Sommer 1990?
Der Sommer 1990 war nur aufgrund der besonderen historischen Situation möglich, in der die Exekutive des DDR-Staates zusammenbrach. Die Besetzer haben sich Strukturen geschaffen, die ein deutliches Gegengewicht zu reaktionären und faschistischen Tendenzen setzten. Viele Linke aus dem Westen fanden das anziehend, haben sich aber zum Teil unreflektiert in eine andere Gesellschaft begeben. Die stark subkulturelle Orientierung vieler Häuser erschwerte leider den Kontakt zu grundsätzlich aufgeschlossenen Teilen der Nachbarschaft. Viele Hausprojekte, die sich auf die Einzelverhandlungen einließen, bestehen noch bis heute. Ob sie noch politisch sind, hängt vom Engagement der Menschen ab, die dort wohnen. Sie sind jetzt oft durch Gentrifizierung nach mehrmaligem Eigentümerwechsel bedroht.
Hartmut S.
Hartmut S. hat 1990 die Köpenicker Straße 137 (Köpi) mitbesetzt und dort einige Jahre gewohnt. Heute lebt er im Oderbruch und arbeitet als Briefträger.
Wie bist du im Sommer 1990 Hausbesetzer geworden?
Vor der Wende haben wir ziemlich beengt in Westberlin gewohnt. Es gab nach dem Mauerfall Kontakte zu dem in Ostberlin tagenden Besetzerrat. Dort gab es ein starkes Interesse an Wohn- und Zusammenlebensprojekten. Während in Westberlin relative Wohnungsknappheit herrschte, standen in Ostberlin unzählige Wohnungen und auch ganze Häuser leer. So entstanden mit Leuten aus Ostberlin konkrete Pläne für eine Hausbesetzung. Die Zusammenarbeit mit Ostberlinern war uns von Anfang an sehr wichtig, da wir auf der einen Seite politisch aktive Leute aus der DDR-Oppositionsbewegung kennenlernen wollten, auf der anderen Seite wollten wir dem Eindruck entgegenwirken, Leute aus dem Westen kommen in den Osten und reißen sich dort alles unter den Nagel. In dem von uns besetzten Haus haben wir zumindest in den ersten Monaten großen Wert darauf gelegt, dass eine zahlenmäßige Ausgeglichenheit zwischen Ostlern und Westlern bestand.
Welche Bedeutung hatte damals die politische Arbeit in der Köpi? Oder war es hauptsächlich eine große Party?
In der Köpi wohnten irgendwann 40 Menschen, da gab es natürlich Leute, die gerne Partys oder Konzerte organisierten. Aber es gab auch immer Leute, die in verschiedenen politischen Bereichen aktiv waren. Gerade in der Anfangszeit im Frühjahr 1990 war die Situation angespannt.Es gab immer wieder Angriffe von rechten Jugendlichen auf die besetzten Häuser in der benachbarten Adalbertstraße und nachts musste man schon aufpassen, wer einem da in der Gegend entgegenkam.
Die Köpi nannte sich Internationales Haus. Welcher Stellenwert spielte die Arbeit mit Geflüchteten und Migranten damals?
Die Bezeichnung entstand als Kontrapunkt zum deutschnationalen Wiedervereinigungstaumel. Wir hatten viele Besucher und auch einige Bewohner aus dem meist europäischen Ausland. Den Begriff »Arbeit mit Migranten« würde ich nicht verwenden. Wir stellten Räume zur Verfügung zum Beispiel für eine türkische Antifa-Jugendgruppe, einige ihrer Mitglieder wohnten dort auch eine Zeitlang. Ein paar Wochen lebte bei uns ein Ägypter, der in Pirna zusammengeschlagen worden und aus dem Flüchtlingsheim dort nach Berlin geflohen war. Er ging jeden Tag arbeiten, um seiner Familie in Ägypten Geld zu schicken.
Siehst du längerfristige politische Konsequenzen aus dem Sommer 1990?
In einigen Stadtteilen wie Friedrichshain, Mitte und Prenzlauer Berg entstanden durch die besetzten Häuser politische und kulturelle Anlaufpunkte.
Dietmar Wolf
Dietmar Wolf war linker DDR-Oppositioneller und Mitbegründer der Antifa Ostberlin. Er ist seit der Gründung im Oktober 1989 Redakteur und Herausgeber der Zeitschrift Telegraph. Er wohnt in Berlin.
Wie hast du als linker DDR-Oppositioneller den Sommer 1990 erlebt?
Heute wird ja immer vom »Kurzen Sommer der Anarchie« geredet. Ich finde den Begriff Quatsch. Hier war nichts mit Anarchie. Die Macht lag im Oktober/November 1989 vielleicht kurz auf der Straße. Doch das Volk wollte sie nicht. Dann hat die SED sie schnell wieder aufgehoben und, wohlgeordnet und mit Zustimmung der DDR-Bevölkerung, an die BRD-CDU und das BRD-Kapital übergeben. Die Gruppen der DDR-Opposition haben sich, statt sofort und konsequent die Kontrolle über die DDR zu übernehmen und natürlich auch die SED-Regierung samt gleichgeschaltetem Parlament zum Teufel zu jagen, derweil an Runden Tischen ohne jeglichen Einfluss und ohne wirkliche Befugnisse abgearbeitet und sich sogar von der Regierung Modrow mit »Ministerposten ohne Geschäftsbereich« bestechen lassen. Viele in der linken DDR-Opposition hatten auf eine neue Gesellschaft mit einem wirklich freien und echten Sozialismus gehofft. Dass die Menschen aber so derart grundsätzlich auf diese dummen und offensichtlichen Wahlkampflügen hereinfielen und schon zur Volkskammerwahl im März 1990 mit so einer überwältigenden Mehrheit auf deutsche Einheit, D-Mark und Kapitalismus setzten, hat viele von uns doch sehr erschüttert.
Welche Rolle spielte der Kampf gegen die Neonazis in der damaligen Zeit?
Das war schon sehr dominant. Es gab ja andauernd Zwischenfälle, was die besetzten Häuser betraf. Zuerst hauptsächlich im Prenzlauer Berg, weil der BFC Dynamo im Jahn-Stadion gespielt hat. Der Anhang von Nazi-Hooligans hat da regelmäßig vor oder nach den Spielen bei den nahegelegenen besetzten Häusern vorbei gesehen. Im Prenzlauer Berg bildete sich damals leider auch eine stärkere Naziszene um die Nazipartei FAP. Mit denen hatten wir dann noch bis Mitte der neunziger Jahre richtig viel Stress. Dann gab es auch im Bezirk Friedrichshain Übergriffe auf besetzte Häuser. Das war schon eine ständige Bedrohung. Und in der Lichtenberger Weitlingstraße gab es ja auch ein besetztes Haus der Nazis. Das war ein bundesweites Anlaufziel und Treffpunkt vieler Nazikader und -führer.
Gab es Widerstand dagegen?
Die Antifa war nicht nur defensiv, sondern ging auch ganz bewusst in die Kieze der Nazis. Flugblätter verteilen, fotografieren, aufklären, antifaschistische Ansagen machen. Wir haben dann, ganz in der Nähe des Nazihauses, ein antifaschistisches Straßenfest und eine große Demonstration veranstaltet. Diese beiden Aktionen wurden von einem sehr breiten politischen Bündnis organisiert. Da haben alle möglichen Gruppen und Organisationen aus Berlin mitgemacht. Ich finde es noch heute sehr ärgerlich, dass die Besetzer der Mainzer Straße im Nachhinein behauptet haben, beispielsweise auch in ihrem Film »Sag niemals nie«, sie allein hätten diese Demonstration organisiert und die Antifa-Arbeit dort in Lichtenberg geleistet. Das ist natürlich absoluter Blödsinn und ein Etikettenschwindel, den sie so gar nicht nötig hatten.
Wie war der Umgang zwischen Ost- und Westbesetzern zu dieser Zeit?
Nach der Maueröffnung gab es schnell viele Kontakte zu Westberliner Autonomen. Und die Westler waren anfangs auch sehr interessiert an uns und an unseren Ideen und »Geschichten aus der DDR«. Doch letztlich lief das immer gleich ab. Egal in welchen politischen Zusammenhang man sich begab, es hieß irgendwann: Na ja, ihr könnt bei uns mitmachen, wenn ihr wollt, aber ausschließlich nach unseren Regeln und Prinzipien. Eure DDR-Anekdoten sind ja ganz schön, aber Vergangenheit. Was hier jetzt kommt, hat mit euren Erfahrungen nichts zu tun. Wir wissen, wie man als Linke im Kapitalismus handelt und kämpft, und ihr nicht. Also ordnet euch schön brav unter, dann ist alles gut. Und es gibt manche, die haben so etwas gemacht, und eine Menge andere eben nicht. Wir haben dann in Prenzlauer Berg lieber erst einmal eine eigene Antifa aufgebaut, die viele Jahre sehr gute und erfolgreiche Arbeit geleistet hat. Viele Gruppen im Osten haben dann auch ihre eigenen Strukturen und Vernetzungen entwickelt. Bis Mitte neunziger Jahre gab es da teilweise eine richtige politische Eiszeit zwischen großen Teilen der autonomen und radikalen Linken in der Ex-DDR und der BRD.
Welche Bedeutung hatte die Räumung der Mainzer Straße für dich?
Aber auch wenn ich Probleme mit der politischen Dominanz der Mainzer Straße hatte, war es wichtig und keine Frage, die Mainzer zu verteidigen. Denn das war ja nicht nur ein Angriff des Staates auf die Leute in der Mainzer, sondern auf die Struktur, auf unser Modell von Leben und Gesellschaft. Die haben uns und allen gezeigt, wo der Hammer hängt, und ihren Herrschafts- und Machtanspruch klar und deutlich unterstrichen. Gnadenlos. Skrupellos. Dieser Staat tut alles, um seine Macht zu sichern. Wenn es darauf ankommt, wird nicht gezögert und auch auf die eigene Bevölkerung geschossen. Übrigens im Gegensatz zu den Herrschenden in der DDR. Die haben sich das 1989 nicht getraut.
Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg entscheidet zugunsten betroffener Familie aus Rumänien
Eine Familie landete aus dem Skandalhaus »Grunewaldstraße 87« in Schöneberg zwangsweise auf der Straße. In solchen Fällen muss der Bezirk eine Unterbringung organisieren, entschied ein Gericht.
Rumänische Staatsbürger, die in Berlin leben, haben Anspruch auf eine Notunterkunft. Mit diesem vor wenigen Tagen getroffenen Beschluss verpflichtet der 1. Senat des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg den Bezirk Tempelhof-Schöneberg, eine rumänische Frau und ihre beiden Kleinkinder nach dem Allgemeinen Gesetz zum Schutz der Sicherheit und Ordnung (ASOG) in einer Notunterkunft unterzubringen.
Die junge Mutter hat vor Gericht eidesstaatlich versichert, mit ihren beiden Kindern seit Ende Juli 2015 obdachlos gewesen zu sein und in einem Park übernachtet zu haben. Da ihre Kinder bereits erkältet seien, sei sie um ihre Gesundheit besorgt, benannte die Frau den Grund für die Klage.
Zuvor hat die Mutter mit den beiden Kindern in der Grunewaldstraße 87 in Schöneberg gelebt. Das Haus war in die Schlagzeilen geraten, nachdem bekannt geworden war, dass der Eigentümer die Zimmer teuer vermietet und die Bewohner schikaniert und bedroht (»nd« berichtete). Vor Gericht gab die Klägerin an, dass der Vermieter die Eingangstür zugenagelt und ihr mit körperlicher Gewalt den Zugang verwehrt habe, so dass ihr ein weiterer Aufenthalt in dem Haus nicht möglich gewesen sei. Trotzdem hatte die Abteilung Gesundheit, Soziales und Stadtentwicklung des Bezirks Tempelhof-Schöneberg noch Ende Juli die Unterbringung der Frau mit ihren beiden Kindern in einer Notunterkunft abgelehnt. »Derzeit erhalten Sie keine ausreichenden Leistungen zur Sicherstellung des Lebensunterhaltes, mithin auch nicht zur Zahlung etwaiger Kosten einer Notunterbringung«, heißt es in dem »nd« vorliegenden Ablehnungsbescheid der Behörde.
Dort wurde der Frau die Übernahme der Rückreisekosten nach Rumänien in Aussicht gestellt. »Sie erhielten mithin die Möglichkeit, ihre Obdachlosigkeit zu beenden«, heißt es. Das Oberverwaltungsgericht wies diese Begründung zurück, weil sich die Antragstellerin mit ihren Kindern als Unionsbürger rumänischer Staatsangehörigkeit rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte. »Daher spricht derzeit nichts dafür, dass die Antragssteller als Unionsbürger trotz ihres rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet auf die Möglichkeit einer Rückkehr in das Heimatland verwiesen werden könnten, um die Gefahr der Obdachlosigkeit abzuwenden«, heißt es in der Begründung des Oberverwaltungsgerichts.
Die Romaselbsthilfeorganisation Amaro Foro begrüßt die Entscheidung. »Wir haben für die Familien mit schlechter SGB-II-Prognose die Unterbringung nach dem ASOG vom Bezirk gefordert«, erklärt die Amaro Foro-Mitarbeiterin Andrea Wierich. In einem offenen Brief an die Bezirksbürgermeisterin von Tempelhof-Schöneberg, Bürgermeisterin Angelika Schöttler (SPD) war diese Forderung unter anderem vom Berliner Bündnis gegen Zwangsräumungen und Antirassismusgruppen unterstützt worden. Der juristische Erfolg könnte weitere ehemalige Bewohner der Grunewaldstraße 87 nun ebenfalls zum Einklagen von Notunterkünften ermutigen.
Über das deutsche Dispositiv und die Symbolpolitik in der Flüchtlingsdebatte
Angesichts der toten Flüchtlinge in einem Transporter in Österreich [1] macht eine Berliner Boulevardzeitung mit der Schlagzeile „Weine Europa“ auf und ruft zum Handeln auf. Die Losung am Schluss zeigt die Stoßrichtung: „Schlepper bekämpfen“, heißt sie und somit wird nur aktualisiert, was der Mainstream in Politik und Medien seit Jahren predigt.
Nicht die gesetzlichen Regelungen, die Flüchtlinge zwingen, die Dienste der Schlepper in Anspruch zu nehmen, empört die Mehrheit, die nichts mit Pegida zu tun haben will. Für Aufregung sorgt, dass durch die Schlepper das durch die unvernünftige Wirtschaftsordnung hervorgehobene Elend der Welt ins Zentrum der EU gebracht wird.
Wären die Leichen der Geflüchteten nicht in einem Auto in Österreich gefunden worden, hätten sie auch kaum eine Notiz in den Medien gefunden. Aus den Augen, aus dem Sinn, heißt die Devise. Und wenn die Menschen nicht im EU-Raum sterben, braucht sich die Politik auch keine Gedanken über eine andere Flüchtlingspolitik zu machen.
Der Notstand von Heidenau
Auch das sächsische Heidenau ist in den letzten Tagen zum Zentrum einer Symbolpolitik geworden, in deren Zentrum Grundgesetz, Versammlungsfreiheit, Demokratie und das Ansehen Deutschlands verteidigt werden müssen. Nur: Die Geflüchteten, also die Menschen, die konkret von den Rechten bedroht wurden und werden, werden höchstens bei zivilgesellschaftlichen Gruppen [2] erwähnt. Da nahm Cem Özdemir von den Grünen schon mal seinen ganzen Gratismut zusammen und kündigte [3] zu einem Zeitpunkt an, am Wochenende nach Heidenau zu fahren, als dort noch alle Veranstaltungen vom Ordnungsamt verboten worden waren.
Als Begründung wurde ein Polizeinotstand genannt, der vor Monaten während der Hochzeit von Pegida auch schon zu Demonstrationsverboten in Leipzig führte. Özdemirs Ankündigung, nach Heidenau zu kommen, sorgte noch am Mittag für Kritik. Der Politiker hätte keinen Respekt vor dem Rechtsstaat, lautete der Vorwurf. Wenige Stunden später hob ein Gericht das Demonstrationsverbot auf, weil der polizeiliche Notstand nicht genügend begründet gewesen sei.
Noch wird über den genauen Ort des „Willkommensfests“ gestritten und weitere juristische Auseinandersetzungen sind nicht unwahrscheinlich. Doch wie immer der Streit ausgeht, am Ende wird schon der Rechtsstaat Deutschland gewonnen haben und die Forderung nach mehr Polizei wird dann die konkrete Folge sei .
Die Geflüchteten sind dabei nur Kulisse dieser Symbolpolitik. Wenn die Politiker und die eingebetteten Medien das Städtchen wieder verlassen haben, bleiben die Geflüchteten wieder mit den Rechten allein. Nur einige solidarische Initiativen aus der Umgebung werden versuchen, zumindest einige minimale Zivilstandards durchzusetzen. Dabei gibt es auch unter den solidarischen Menschen Streit darüber, ob man nicht vielmehr dafür sorgen sollte, dass die Geflüchteten nicht mehr in den Orten leben müssen, wo sie nicht erwünscht sind.
In der letzten Woche hatten in Leipzig linke Gruppen den Transport von weiteren Flüchtlingen nach Heidenau durch eine Blockade verhindert [4]. Die Menschen haben vorher deutlich gemacht, dass sie sich weigern, an den Ort umgesiedelt zu werden. Der Widerstand ist konsequent. Schließlich sollten antirassistische Gruppen nicht zum Vollstrecker der staatlichen Flüchtlingspolitik werden, zu der auch die zwangsweise Unterbringung von Menschen an Orten gehört, in die sie nicht wollen. „Nein zum Heim“ war schließlich ursprünglich eine antirassistische Parole, bevor sie von Pegida und Co. gekapert wurde.
Politisch korrekt abschieben
Ist es nun auch ein antirassistischer Erfolg, dass in Baden-Württemberg ein Busfahrer entlassen wurde, der bei seiner Fahrt ein T-Shirt mit Symbol der in rechten Kreisen beliebten Modemarkte Thor Steinar getragen hat? Das Busunternehmen begründete [5] die Entlassung damit, dass es wichtig sei, in dieser sensiblen Frage ein Zeichen zu setzen.
In dem Bus saßen abgelehnte Flüchtlinge, die von Karlsruhe zum Airport Baden/Baden transportiert wurden, wo sie abgeschoben wurden. Wo die Menschen leben werden, wenn sie Deutschland verlassen haben, ob ihnen wirtschaftliche Not oder vielleicht sogar Verfolgung drohen, weiß niemand und interessiert auch nicht. Aber dass politisch korrekt abgeschoben wird und der Busfahrer nicht ein T-Shirt mit einem Zeichen trägt, dessen Bedeutung wahrscheinlich ein Großteil der Businsassen gar nicht vertraut ist und das sie mangels anderer Probleme auch gar nicht beachtet haben, war ein Signal an die Öffentlichkeit.
„Der hässliche Deutsche ist zurück. Scharfmacherisch im Ton, unerbittlich gegenüber Griechenland, entwürdigend im Umgang mit Flüchtlingen“, schrieb der Publizist Georg Seeßlen in einem Taz-Kommentar [6] über das neue deutsche Dispositiv. Er vergaß noch hinzufügen, dass dabei aber alles politisch korrekt zugehen soll.
Denn Flüchtlinge zur Abschiebung mit einem Thor-Steinar-T-Shirt fahren, das geht gar nicht.
»Wenn irgendjemand den deutschen Fahnen einen durchschlagenden Erfolg über seine Feinde wünscht, so sind wir das. Grüßt unsere Mitglieder und wir fordern von ihnen treue Pflichterfüllung bis zum Äußersten (…) und dann immer feste druff.« Es war der Vorsitzende der Stuttgarter Ortsgruppe des Deutschen Metallarbeiterverbands Karl Vorhölzer, der Ende August 1914 seine Gewerkschaftskollegen mit nationalem Pathos darauf einstimmte, für Kaiser und Vaterland in den Krieg zu ziehen. Da konnte der Verfasser eines Artikels in der Gewerkschaftszeitung – Organ des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes – am 29. April 1933 mit historischer Berechtigung das NS-Regime an die nationale Aufgaben erinnern, die die Gewerkschaften geleistet hätten. »Darüber hinaus vollbrachten die Gewerkschaften ein nationales Erziehungswerk an der deutschen Arbeiterschaft, das so sehr aus deutscher Tradition herauswächst, dass es bisher weder in der Prägung noch im Ausmaß in keinem anderen Land der Welt dergleichen gefunden hat.« Es ist nur ein kleiner Ausschnitt aus der Fülle des Materials, das der Bremer Historiker Helge Döhring in dem Buch »Generalstreik! Streiktheorien und -diskussionen innerhalb der deutschen Sozialdemokratie vor 1914« zusammengetragen hat. Das Buch wäre ohne das »Institut für Syndikalismusforschung« (Syfo) nicht möglich gewesen, zu dessen Mitbegründern Döhring zählt.
Das Syfo wurde 2007 mit dem Ziel gegründet, eine Geschichte der Basisgewerkschaften zu schreiben. Die Forschungsarbeit des Syfo beweist, dass seit mehr als 100 Jahren Basisgewerkschaften existierten, die von den Großorganisationen immer bekämpft oder totgeschwiegen wurden. Bis heute wird selbst in der kritischen Gewerkschaftsforschung diese unabhängige syndikalistische Bewegung bestenfalls als Fußnote abgetan. Das Syfo ist mit der schwierigen Aufgabe konfrontiert, die historischen Spuren einer Basisgewerkschaftsarbeit auszugraben, die nicht auf gut gepflegte Archive der Großorganisationen zurückgreifen kann. Die bisherigen Veröffentlichungen zeigen, dass dennoch bereits eine Menge geleistet worden ist. Das Syfo liefert einen eigenständigen Beitrag zur Gewerkschaftsforschung.
Doch das Forscherteam will auch Antworten auf die Fragen heutiger gewerkschaftlicher Organisierung geben, schließlich wird seit einigen Jahren in einer größeren Öffentlichkeit Gewerkschaftsarbeit nicht mehr automatisch mit dem DGB gleichgesetzt. Gewerkschaftliche Organisationen wie die anarchosyndikalistische FAU oder die Lokführervertretung GDL haben bewiesen, dass sie oft sogar kampffähiger als der DGB sein können. Die Forschungsarbeit des Syfo, die die basisgewerkschaftliche Geschichte aufarbeitet, verdient daher Aufmerksamkeit von aktiven Gewerkschaftern, egal, wo sie organisiert sind.