Die ersten rechten Großdemos gab es in Ostdeutschland im Wendeherbst 1989
„Plötzlich weiß ich, wie Adolf-Hitler-Wähler aussehen. Es riecht förmlich nach Pogrom. Einer hält beschwörend sein Schild ‚keine Gewalt‘ hoch. Wir antworten mit ‚Nazis raus‘.“ Diese Beschreibung einer rechten Demonstration in Ostdeutschland ist fast 30 Jahre alt [1]. Verfasst wurde sie von Aktivisten der linken DDR-Opposition, veröffentlicht wurde sie am 29. November 1989 im telegraph [2], der auch im Jahr 2018 noch immer eine Publikation für linke Kritik ist.
Die Beschreibung der Demoszenen vor 29 Jahren weist auf einen blinden Fleck in der Debatte um die Frage hin, warum in Ostdeutschland die Rechten so stark sind. Da wird auf die Verantwortung der DDR hingewiesen, aber die Wendemonate im Herbst ’89 und Frühjahr 1990 oft völlig ausgeblendet.
Die Festnahme einer angeblichen rechten Terrorzelle in Chemnitz war nur das jüngste Beispiel. Nun soll nicht behauptet werden, das Erstarken der Rechten sei ein lediglich ostdeutsches oder auch nur deutsches Problem. Schließlich sind in mehreren EU-Ländern die Ultrarechten an der Regierung.
Rechte Ordnungszelle Sachsen
Was aber feststellbar ist: Vor allem Sachsen hat sich innerhalb Deutschlands zur rechten Ordnungszelle entwickelt so wie in der Weimarer Republik Bayern. Und so wie in Bayern hatten staatliche Institutionen eine wesentliche Mitverantwortung dafür. Da wird auf die Verantwortung der DDR hingewiesen, aber die Wendemonate im Herbst 1989 und Frühjahr 1990 werden oft völlig ausgeblendet.
Die Berichte im telegraph und in anderen zeitgenössischen Dokumenten zeigen jedoch: Die ersten rechten Massendemonstrationen nach der Niederlage des NS fanden im Wendeherbst 1989 statt. Organisiert wurden sie nicht von der SED und ihren nahestehenden Organisationen, sondern von einer sich nach Rechts radikalisierenden Bevölkerung, die aus der gegen den autoritären SED-Staat gerichteten Parole „Wir sind das Volk“ den nationalistischen Slogan „Wir sind ein Volk“ machten.
Im telegraph werden die Veränderungen sehr gut beschrieben und auch die Verantwortung der DDR-Verantwortlichen genannt [3]:
Aber es ist nicht mehr die gewohnte Leipziger Demo: überall Deutschlandfahnen, Transparente wie „Wiedervereinigung jetzt“, „Weizsäcker – Präsident aller Deutschen“, „Einigkeit und Recht und Freiheit“. Während der Ansprachen verdichtet sich das Gefühl, unter die REPs geraten zu sein. Auf die wenigen klaren Absagen an die Wiedervereinigung (SDP, Vereinigte Linke, ein Mensch aus Heidelberg) folgen Pfiffe und der Schlachtruf „Deutschland einig Vaterland“ in Fußballstadionmanier. Selbst als ein Redner notwendige gute Nachbarschaft mit unseren polnischen und tschechischen Freunden fordert, wird er ausgepfiffen – diese Ausländerfeindlichkeit bekam Nahrung durch staatliche Stimmungsmache in der DDR in den letzten Tagen.
Aus telegraph, November 1989
Ja, autoritäre Staatssozialsten nutzten häufig „volksdümmlich“ Nationalismus und auch Antisemitismus, wie sich in der Geschichte des Stalinismus und seiner Nachfolger zeigte. So wurde in der DDR von der SED Stimmung gegen Polen gemacht, als dort die Opposition erstarkte, die wiederum durchaus ebenfalls reaktionäre und klerikale Untertönte hatte.
Doch im Wendeherbst waren nicht die SED und ihre Unterorganisationen die Schrittmacher der Restentwicklung; sondern der BRD-Staat. Die Regierung unter Kohl wollte die „Wir sind ein-Volk-Stimmung“ nutzen für eine schnelle Einverleibung der DDR. Die Grünen waren damals ebenso dagegen wie die SPD mit dem Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine.
Diese Kritiker wurden von der Union in die Nähe des Vaterlandsverrats gerückt. Aber auch ein Großteil der DDR-Opposition war für den Erhalt einer demokratischen DDR und keinesfalls für die Wiedervereinigung. Gegen sie richteten sich die nationalistischen Aufmärsche im Herbst 1989.
Der Runde Tisch, an dem die unterschiedlichen Oppositionsgruppen eine wichtige Rolle spielten, untersagte einen Eingriff der BRD in die Wahlen zur Volkskammer der DDR im März 1990. Doch dieser Beschluss war Makulatur, weil er von sämtlichen Parteien Westdeutschlands ignoriert wurde.
Massenhaft wurden Deutschlandfahnen und Publikationen in die DDR geliefert, die mit nationalistischen Parolen die schnelle Wiedervereinigung propagierten. Linke Kritiker wurden schon im November 1989 als Rote und „Wandlitzkinder“ beschimpft und oft auch tätlich angegriffen.
Neue Rechtspartei mit Unterstützung der CSU
Aber nicht nur auf der Straße wurde die Rechte von der BRD aus unterstützt. Zu dem für die Volkskammerwahlen geschmiedeten Wahlbündnis der Unionsparteien gehört mit der Deutschen Sozialen Union [4] auch eine stramm rechte Partei. Sie wurde bis 1992 von der CSU unterstützt, die mit der DSU die Etablierung einer eigenen Rechtspartei außerhalb Bayerns doch noch umzusetzen hoffte.
Solche Pläne, die sogenannte Vierte Partei [5] rechts von der Union, scheiterten bereits in der Ära Franz Joseph Strauß. Danach war die DSU eine von vielen rechten Kleinparteien, die vor allem in Sachsen in den letzten zwei Jahrzehnten kamen und verschwanden.
Ab und an machten DSU-Mitglieder durch ultrarechte Aktionen beispielsweise gegen die Oder-Neiße-Grenze Schlagzeilen.
Es ist deutsch im Kaltland
Bereits im Herbst 1989 transportierte die rechte Partei „Die Republikaner“ Tonnen an Materialien von Frankfurt/Main in die DDR, wie ein daran beteiligter Kurier später enthüllte. Hier wurden die Grundlagen für die rechte Ordnungszelle Sachsen gelegt, in der antifaschistische Aktivitäten wie beispielsweise gegen die rechten Aufmärsche zum Jahrestag der Dresden-Bombardierung kriminalisiert wurden.
Im Wendeherbst 1989 wurden die Grundlagen für jene rechte Alltagskultur gelegt, die Manja Präkels [6] in Kaltland [7] gut beschreibt. Sie könnte ebenso wie die telegraph-Autoren als Zeitzeuge bei der Aufklärung zur Rolle der BRD bei der Genese einer Rechten in den Wendmonaten beitragen. Schließlich forderten SPD-Politiker kürzlich eine Wahrheits- bzw. eine Aufarbeitungskommission für die Wendezeit.
„Wir sollten aber die Gelegenheit nutzen, im Rahmen einer solchen Kommission nicht nur die Arbeit der Treuhand, sondern die gesamte Nachwendezeit umfassend aufzuarbeiten. 28 Jahre nach dem Sturz des SED-Regimes durch die Friedliche Revolution ist ein guter Zeitpunkt dazu: Die Menschen und Zeitzeugen, die den Übergang der Systeme und seine Auswirkungen miterlebt haben, können sich noch aktiv und lebendig an den Diskussionen beteiligen“, fordert [8] der Chemnitzer SPD-Bundestagsabgeordnete Detlef Müller.
Eine Arbeitsgruppe Rechtsentwicklung und Wendemonate sollte dabei mit an erster Stelle stehen. Wenn die Politik da nicht mitmacht, sollte eine außerparlamentarische Initiative aktiv werden. Das könnte die Fortsetzung der Tagung [9] über 30 Jahre Antifa in Ostdeutschland [10] im letzten Dezember in Potsdam sein.
Peter Nowak
URL dieses Artikels:
http://www.heise.de/-4180355
https://www.heise.de/tp/features/Der-blinde-Fleck-in-der-Debatte-4180355.html
Nun hat mit der AfD auch in Deutschland eine rechtspopulistische, in Teilen auch faschistische Partei im Parlament Einzug gehalten. Und nun wird auch hier verstärkt eine Diskussion geführt, die in vielen anderen europäischen Ländern schon länger diskutiert wird: Warum gelingt es den Rechten, in Teilen der Arbeiter_innenklasse Wähler_innen zu gewinnen? Dabei handelt es sich meistens um Regionen, in denen fordistische Industriezweige und damit auch eine ganze Arbeiterkultur verschwunden sind. So hat der Front National in Frankreich die bis in die 1970er Jahre in diesen Regionen dominierende Kommunistische Partei beerbt und wurde zur Partei des in seinem Stolz verletzten, zu „Proleten“ herabgesunkenen Proletariats. Mit „Rückkehr nach Reims“ hat der Soziologe Didier Eribon ein Buch geschrieben, dass in mehrfacher Hinsicht ein Tabubruch war. Er stellt sich nicht nur die Frage, welchen Anteil die politische Linke daran hat, dass das Band zur Arbeiter_innenklasse scheinbar durchtrennt worden ist. Er begnügt sich nicht damit, nur festzustellen, dass Teile der alten Arbeiter_innenklasse zur rechten Wählerbasis wurden. Er fragt auch nach den Gründen in der Politik der politischen Linken. Eribon spart den subjektiven Faktor nicht aus: Er beschreibt, wie er selbst als Kind einer Arbeiterfamilie das Milieu zunächst verlassen hat, um im intellektuellen Milieu von Paris Fuß zu fassen, bevor er nun als linker Akademiker in seine Heimatstadt zurückkehrt.
Rückkehr nach Kaiserslautern
Im letzten Jahr hat der Feuilletonredakteur der Tageszeitung „Neues Deutschland“ Christian Baron (www.christian-baron.com) auf Eribons Spuren seine Rückkehr nach Kaiserslautern vollzogen. Gleich das erste Kapitel seines im Verlag „Das Neue Berlin“ veröffentlichten Buches mit dem Titel „Proleten, Pöbel, Parasiten“ beginnt mit einer Szene, die eigentlich schon eine Antwort auf den Satz gibt, der im Untertitel des Buches einfach als Behauptung aufgestellt ist: „Warum die Linken die Arbeiter verachten“. Das erste Kapitel beschreibt, wie der achtjährige, asthmakranke Christian von seinem betrunkenen Vater geschlagen und gegen die Wand geschleudert wird. Die Szene hat sich Christian Baron eingeprägt, weil er erstmals Gegenwehr verspürte und sich mit einem Holzscheit vor seinem Vater aufbaute. Das scheint den Mann mit den Kräften eines Möbelpackers zumindest so beeindruckt zu haben, dass er von seinem Sohn für dieses Mal abließ. Baron stellte klar, dass es sich bei der Gewalttätigkeit aber um keine Ausnahme handelte. Er sieht darin auch eine Ursache für den frühen Krebstod seiner Mutter. Eigentlich wäre das Grund genug, als Linker diese Form der Gewalt zu hassen. Damit wäre er auch ganz nah bei Eribon, der als Schwuler den Kontakt zu seinem Vater wegen dessen Homophobie abgebrochen hat. Die Flucht aus Reims bzw. aus Kaiserslautern war also zunächst ein Akt der individuellen Befreiung, der so zur Voraussetzung für die Rückkehr in die jeweiligen Städte und Milieus wurde. Doch bei Baron wird die Szene des gewalttätigen Vaters überblendet durch das Beschreiben einer Prüfungssituation an der Universität: Es saß vor dem akademischen Gremium, das darüber entscheiden sollte, ob er nun den akademischen Titel tragen darf oder nicht. Baron gehörte zu den Glücklichen, die diesen akademischen Weg mit Erfolg absolvierten. Implizit wird in dem Buch deutlich, welche Mühen und Beschwernisse er dafür auf sich genommen hat und wie besonders hoch die Hürden für ein Arbeiterkind aus einem proletarischen Stadtteil von Kaiserslautern waren, für das eigentlich ein akademischer Bildungsweg nicht vorgesehen war. Er bedankt sich ausdrücklich bei den Lehrerinnen, die ihn auf diesem Weg unterstützt haben. Es sind sehr starke Kapitel, in denen Baron beschreibt, was es für ein Arbeiterkind, dass bisher immer im Dialekt gesprochen hat, bedeutet, in eine Atmosphäre gestoßen zu werden, in denen Dialekt als Kennzeichen von Unbildung gilt.
Der Kampf um die Bildung
Ebenso beeindruckend ist der Bericht über den ersten Theaterbesuch seiner Tante, bei der Baron als Jugendlicher aufgewachsen ist und die wohl auch einen wesentlichen Anteil daran hatte, dass der junge Christian das Abitur machen und dann studieren konnte. Dass diese Tante die Zeitungen für den einzigen Sohn besorgte, der die akademische Bildung anstrebte, dass sie später auch einen politischen Bewusstseinsprozess durchmachte und heute Migranten_innen unterstützt und die Linkspartei wählt, ist tatsächlich ein Beispiel dafür, wie falsch es ist, diese Arbeiter_innen rechts liegen zu lassen. In diesen Beschreibungen blitzen Momente auf, die an die Marxistischen Arbeiterschulen der Weimarer Zeit erinnerten, als sich politisch interessierte Arbeiter_innen mit Philosophie und der Relativitätstheorie befassten oder in den 1980er Jahren Lesekreise zum Studium des Romans „Die Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss besuchten. Auch hierbei ging es um Bildung als Mittel zum Erkennen und Verändern der Welt.
Belege für die Verachtung gegenüber den Arbeitern fehlen
Doch leider kann man ein Buch, das dieses Thema in den Mittelpunkt stellt, wohl kaum einem größeren Publikum verkaufen. Daher müssen im Untertitel „die Linken die Arbeiter verachten“ und diese Behauptung soll im Buch durch subjektive Erlebnisse auf dem Bildungsweg von Christian Baron untermauert werden. Das Problem besteht jedoch darin, dass eine Verachtung der Linken gegenüber den Arbeitern daraus keineswegs abgeleitet werden kann. Wenn Baron beispielsweise beschreibt, wie er sich bei einer befreundeten ökologisch angehauchten Wohngemeinschaft sein Pizza aufwärmt und eine vegane Stipendiatin der grünennahen Heinrich Böll Stiftung damit ärgert, dass er noch fälschlich behauptet, er habe sein Essen vorher mit Billigwurst belegt, dann offenbart er doch eher eine gewisse Ignoranz gegenüber der Veganerin. Es wäre eigentlich zu erwarten gewesen, dass sie ihm verbietet, Fleisch in ihrer Gegenwart, in ihrer Wohnung, in ihrem Ofen zuzubereiten. Doch sie belässt es bei vorwurfsvollen Blicken und Äußerungen. Dass Baron die Veganerin dann über mehrere Abschnitte als Biodiktatorin mit stalinistischen Anwandlungen klassifiziert, ist aus dem Beschriebenen nun wirklich nicht begründet. Solche schwachen Kapitel, die eher in Ressentiments als in Erkenntnisgewinn enden, gibt es in dem Buch leider einige. Baron reißt im Schnelldurchgang so ziemlich jedes Thema an, dass man den nervigen Mittelstandsökos schon immer mal unter die Nase reiben wollte. Backpacker werden ebenso abgefertigt, wie Genderstudies-Kommilitonen und andere Akademikerinnen und Akademiker, die nicht so schreiben, dass es von denen aus Kaiserslautern auch gleich verstanden wird. Dabei aber übersieht Baron, dass die theoretische Arbeit durchaus ein eigenes Feld ist und nicht immer und von allen gleich verstanden werden kann und muss. Sonst hätte auch Karl Marx sein Buch „Das Kapital“ kaum schreiben können. Es ist eine Sache, sich mit soziologischen und philosophischen Studien auch in einer elaborierten Sprache auseinanderzusetzen. Es wäre die Aufgabe linker Akademiker_innen, wie Baron, diese Erkenntnisse dann in eine Sprache zu übersetzen, die auch in Kaiserslautern oder in Reims verstanden wird. Das genau ist in den 1920er Jahren in den Schulen der Marxistischen Arbeiterbildung geschehen, wie in den 1980er Jahren in den Peter-Weiss-Lesekreisen. So könnten linke Akademiker_innen aus der Arbeiterklasse heute Texte aktueller wissenschaftlicher Forschung zu Klasse und Geschlecht, zu Antisemitismus und Nationalismus in eine Sprache übersetzen, die auch jenseits des akademischen Milieus verstanden wird.
Sollen die Arbeiter so bleiben wie sie sind?
Doch da stellt sich vorher die Frage, die auch Baron in seinem Buch nicht abschließend beantwortet: Soll mit solchen Interventionen ein Beitrag dazu geleistet werden, dass sich die Arbeiter_innen auch davon emanzipieren, dass sie den verachtenswerten Proleten abgeben, den der achtjährige Christian Baron ebenso kennengelernt hat, wie der junge Schwule Didier Eribon. Es gibt Stellen in Barons Buch, wo er diesen nötigen Emanzipationsprozess bejaht. Andere Abschnitte lesen sich so, als wenn der nach Kaiserslautern zurückgekehrte Baron die alte Hood vor allen Veränderungsbestrebungen bewahren wollte. Dann verteidigt er, völlig unnötigerweise, fahnenschwingende Fußballfans und polemisiert gegen Überlegungen von Adorno, die dieser in einem Radiobeitrag über den deutschen Fußballpatriotismus entwickelt hatte: „Für zwei Stunden schweißt der große Anlass die gesteuerte und kommerzialisierte Solidarität der Fußballinteressenten zur Volksgemeinschaft zusammen“. Dass ein jüdischer Emigrant wie Adorno nicht mit in das „Wir sind wieder wer“-Geschreie einstimmen wollte, dass besonders durch Fußballsiege bereits in den 1950er Jahren erzeugt wurde, scheint Baron gar nicht zu bedenken. Er sieht hier eine Arbeiterkultur angegriffen und geht in Verteidigungshaltung. Doch wer wirklich etwas zur Emanzipation der Arbeiter_innen beitragen will, sollte versuchen, Adornos Erkenntnisse in anderen Worten den Menschen nahezubringen, die sich für einige Wochen im Fußballrausch ergehen und ihren Bossen und Chefs auf der Arbeit oder im Jobcenter keinen Widerstand entgegensetzen. Schließlich „sind alle Deutschland“ und sollen mit einer „Mannschaft in Schwarz-Rot-Gold“ mitfiebern. Nicht diejenigen sind arbeiter_innenfeindlich, die diese Zurichtung der Menschen kritisieren, sondern die, die ihnen dabei noch auf die Schulter klopfen und sagen: Das habt ihr gut gemacht!
Kein Herz für Arbeiter
Sehr anschaulich wird das vermeintlich arbeiter_innenfreundliche, tatsächlich jedoch paternalistische Verhalten dann, wenn der Verlag Barons Buch mit dem unsäglichen Motto „Ein Herz für Arbeiter“ bewirbt. Das erinnert nicht von ungefähr an die BILD-Kampagne „Ein Herz für Kinder“ und die von Rechten initiierte Kampagne „Ein Herz für Deutsche“. Alle, denen es wirklich um die Emanzipation der Menschen geht, sollten sich klar positionieren. Nein, wir haben kein „Herz für Arbeiter“. Wir können sie aber unterstützen, wenn sie beginnen, sich gegen ihre beschissene Situation zu wehren und nicht Schwächere im System dafür verantwortlich machen.
Es ist auffallend, dass bei Baron Arbeiter_innen oder Erwerbslose, die sich wehren, auch sehr selten vorkommen. Nur der Bewusstwerdungsprozess seiner Tante und einiger Freunde aus dem Umfeld werden kurz skizziert. Selbst wenn ganz am Rande in einem Satz ganz kurz auf die Erwerbslosenproteste im Vorfeld von Hartz IV eingegangen wird, nennt Baron als Quelle nur eine wissenschaftliche Arbeit. Dabei müsste er die Bücher kennen, in denen Protagonist_innen dieser Erwerbslosenkämpfe, die durchaus nach Einführung von Hartz IV weitergingen, sich zu Wort meldeten. Einige sind schließlich im Verlag „edition assemblage“ erschienen, in dem Baron ebenfalls publizierte.
Insgesamt bleibt nach der Lektüre ein zwiespältiges Gefühl. Baron hat stellenweise sehr dicht den beschwerlichen Weg eines bildungsbewussten Menschen beschrieben, der aus der Arbeiter_innenklasse kam.
Muss die Linke hip und urban werden?
Baron hat mit seinem Buch eine gute Grundlage für eine Diskussion über die Frage geliefert, wie die Linke mit der real existierenden Arbeiter_innenklasse umgehen soll. Dabei stellt sich natürlich die Frage, wer damit gemeint ist. Es gehören dazu auch die Menschen, die aus den unterschiedlichsten Ländern und Kontinenten kommen und in Deutschland oft in prekären Jobs arbeiten. Selbstverständlich gehören die Menschen dazu, die Baron hier porträtiert. Es ist falsch und zeugt von einem elitären Mittelstandsbewusstsein, wenn diese Segmente der Arbeiter_innenklasse vergessen oder sogar ganz offen als überholt und vorvorgestrig beschrieben werden. Ein negatives Beispiel gab da in einem Taz-Artikel die Kandidatin der LINKEN in Neukölln Judith Benda. „Linke wird hip und urban“ lautete die Überschrift. Da wird schon ein Ressentiment gegen die nicht hippen, nicht so urbanen Menschen bedient, die vielleicht nicht in Neukölln, sondern in Marzahn oder Hellersdorf wohnen. Genau dieses Ressentiment bedient Benda, die in der Taz mit diesem Statement zitiert wird: „Alter ist eigentlich keine politische Kategorie. Aber es gibt schon einen Unterschied zwischen einem 60jährigen Typen und einer jungen Frau, die für eine andere politische Praxis steht“. Auffallend ist hier auch die Geschichtslosigkeit in einer Partei, die sich in die Tradition einer Bewegung stellt, in der die „roten Großeltern“ ihren Kindern und Enkeln über ihre Kämpfe an der Werkbank, im Arbeitsamt oder wo auch immer erzählten, um sie der jüngeren Generation weiterzugeben. Natürlich war sicher auch viel Mythos und Kitsch dabei. Aber sowohl in der kommunistischen als auch in der anarchosyndikalistischen Arbeiter_innenbewegung standen die roten oder rotschwarzen Großeltern auch für ein Bild von Gesellschaft und Geschichte. „Die Enkel fechten‘s besser aus“. Da war das Bild einer Gesellschaft, in der die Erfahrungen von Kämpfen, ihre Erfolge aber auch ihre Niederlagen weitergegeben werden. Da war auch die Hoffnung enthalten, dass es eben nicht nur einzelne Individuen, sondern eine kollektive Erfahrung gibt, die weitergegeben werden kann. Bendas Statement steht für eine Generation, die davon nichts mehr hören will. Für sie ist ein 60jähriger Arbeiter ein Typ, der möglichst schnell verschwinden, und der jungen, hippen, urbanen Frau Platz machen soll.
In Bendas Wortwahl wird schon die Verachtung deutlich, die die junge Politikerin gegen die Typen hat, wie sie die älteren Arbeiter bezeichnet. Eine solche Verachtung, die aus diesen Worten spricht, treibt vielleicht tatsächlich potentielle Wähler_innen der LINKEN dazu, dieser Partei die Stimme nicht mehr zu geben.
Wer AfD wählt, will den Standort Deutschland stärken
Eine Entschuldigung für die, die AfD gewählt haben, ist das noch lange nicht. Denn es gehört eine bestimmte Sicht auf die Welt dazu, eine rechtspopulistische Partei zu wählen. Sie stellen sich in der innerkapitalistischen Konkurrenz damit bewusst auf die Seite des „Standort Deutschland“ und positionieren sich gegen alle, die diesem Standort vermeintlich schaden und gegen alle, die darin eine sozialchauvinistische Sicht auf die Welt erkennen. Dass können Erwerbslose sein, die nicht alle Zumutungen der Jobcenter hinnehmen wollen, das können Lohnabhängige sein, die für mehr Lohn und weniger Arbeit kämpfen und nicht den Gürtel enger schnellen wollen. Das sind als Fremde markierte Menschen aus anderen Ländern, die dann zum Feind erklärt werden. Es können auch „die Griechen“ sein, wenn sie, wie 2015, mehrheitlich eine Regierung wählen, die aus dem Teufelskreis von Austerität und Verelendung ausbrechen will. Es war dann für sie eine Genugtuung, dass dieser Ausbruchsversuch vor allem an der harten Haltung der Bundesregierung scheiterte. Doch sie wollten die Disziplinierung noch verschärfen. Man darf nicht vergessen, dass die Gründung der AfD auch deshalb erfolgt ist, weil einige marktradikale Ökonom_innen beklagten, dass mit Griechenland noch zu wenig restriktiv umgegangen worden sei. Genauso restriktiv würde diese Klientel reagieren, wenn sich in Deutschland tatsächlich Lohnabhängige organisieren und für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen würden. Die AfD-Wähler_innen sind diejenigen, die in solchen Konflikten auf Seiten des Managements stehen und T-Shirts mit dem Slogan „Wir sind Amazon“ oder „Wir sind Lidl“ tragen, wenn Kolleg_innen in diesen Firmen für bessere Arbeitsbedingungen streiken. Es sind diejenigen, die in der internationalen kapitalistischen Konkurrenz mit den Bossen gegen andere Konkurrent_innen agieren.
Transnationale Solidarität der Lohnabhängigen
Sie sind damit völlig im Einklang mit den aktuellen Tendenzen des internationalen Konkurrenzkapitalismus. Nur wird dieser Zusammenhang in den Medien kaum dargestellt. Die konservativen und liberalen Medien haben generell nichts an der kapitalistischen Verfasstheit der Welt auszusetzen, daher ist es auch nicht verwunderlich, dass sie den Zusammenhang nicht herstellen. Unverständlicher ist es dann schon, wenn selbst linke Medien die liberale Zivilgesellschaft als Gegenmittel gegen den Aufstieg des Rechtspopulismus anpreisen und darüber diskutieren, ob ein Verhältnis- oder Mehrheitswahlrecht besser die AfD klein halten kann. Dabei sind Rechtspopulismus und liberale Zivilgesellschaft keine Gegensätze, sondern zwei Seiten derselben Medaille. „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch von der AfD schweigen“, müsste ein bekannter Satz von Max Horkheimer heute aktualisiert werden. Das Schweigen über die kapitalistische Verfasstheit der Welt als Bedingung für den Aufstieg des rechten Populismus hat praktische Konsequenzen. Es soll die Zivilgesellschaft als Hort der Liberalität affirmiert werden. Wer hingegen über den Kapitalismus nicht schweigt, hat auch andere Gegenmittel. Der Gewerkschaftler und Journalist Stefan Dietl hat in seinem, in diesem Jahr im Unrast-Verlag erschienenen Buch „Die AfD und die soziale Frage“ Antworten gegeben.
Es ist der Kampf der Menschen in Arbeitsverhältnissen, in den Jobcentern und in den Stadtteilen gegen die Zumutungen, die der Kapitalismus für die meisten Menschen bereit hält. Wichtig ist hier zu betonen, dass es sich um den Kampf aller Betroffenen handelt. Da fragt niemand, ob die Kollegin, die bei Amazon streikt, erst vor einigen Jahren nach Deutschland gekommen ist oder schon immer hier gelebt hat. Denn es geht um die gemeinsamen Verbesserungen der Arbeitsbedingungen und Löhne. Wenn Erwerbslose mit Aktionen wie „Zahltag“ im Jobcenter ihre Rechte einfordern, ist der 55jährige Mann mit anatolischem Hintergrund ebenso dabei, wie die 20jährige biodeutsche Frau. Gemeinsam streiten sie für ihre Rechte, gemeinsam machen sie hier auch gemeinsame Erfahrungen.
Her mit dem ganzen Leben
In solchen gemeinsamen Kampferfahrungen wird das Fundament einer Kooperation jenseits von imaginärer Nation und Rasse gelegt, die sich von den moralischen Appellen des gutsituierten Mittelstandes unterscheidet. Dieser in konkreten Kampfprozessen entstandene Antirassismus geht von der alten Devise der Arbeiter_innenbewegung aus, die in der Internationale so ausgedrückt wird: „Uns aus dem Elend zu erlösen können wir nur selber tun!“. Diese Kampfprozesse drücken sich auch in dem Lied „Brot und Rosen“ aus, das streikende Textilarbeiterinnen vor mehr als 100 Jahre in den USA gesungen haben.
„Wenn wir zusammen gehen, kommt mit uns ein bess‘rer Tag. Die Frauen, die sich wehren, wehren aller Menschen Plag. Zu Ende sei, dass kleine Leute schuften für die Großen. Her mit dem ganzen Leben: Brot und Rosen! Brot und Rosen!“
Wo immer in den letzten Jahrzehnten Menschen für ihre Rechte auf die Straße gegangen sind, wurden diese Lieder wieder gesungen, manche haben sie für ihre Verhältnisse umgetextet. Aber die Grundlage blieb erhalten. Es geht um den gemeinsamen Kampf der Unterdrückten und Ausgebeuteten, ohne zu verschweigen, dass es unterschiedliche Unterdrückungsformen gibt und Patriarchat, Rassismus und Antisemitismus nicht automatisch verschwinden, wenn die kapitalistische Ausbeutung Geschichte geworden ist. Doch alle Ausbeutungs- und Unterdrückungsformen müssen im gemeinsamen Kampf überwunden werden. Wie weit sind solche Spuren einer transnationalen Solidarität von der postmodernen Identitätspolitik, wo es statt um Ausbeutung und Unterdrückung um Repräsentanz und Privilegien geht. Wie weit weg ist dieses emanzipative Erbe der Arbeiter_innenbewegung von den Sprüchen einer Judith Benda, die in 60jährigen Arbeitern nur Typen sieht, die verschwinden sollen. Wie weit weg ist dieses Erbe auch von jeder „Herz für Arbeiter“-Ideologie, die bei Christian Baron zumindest mitschwingt.
Es ist ein Vorabdruck aus der Ausgabe 133-134, die kürzlich erschienen ist:
Der entstehende Kapitalismus brachte nicht nur massenhaftes Elend hervor, mit ihm bildeten sich in den unteren Klassen auch neue Formen der Dichtung und des Erzählens heraus, in denen die Misere der Gegenwart und Formen des Widerstands eindrücklich beschrieben werden. Nur wenige dieser Schriften sind heute noch bekannt.
Manche von ihnen wurden in den Schriften von Marx und Engels zitiert, beispielsweise der Arbeiterdichter Wilhelm Weitling. Marx würdigte ihn als einen der ersten, der sich für die Organisierung des Proletariats einsetzte. So heisst es auf der Homepage www.marxist.org über Weitling: «Trotz späteren Auseinandersetzungen achteten Marx und Engels den ‹genialen Schneider› (Rosa Luxemburg) sehr hoch und betrachteten ihn als ersten Theoretiker des deutschen Proletariats.» Allerdings wird gleich auch betont, dass Weitlings Ansätze an theoretische und praktische Grenzen stiessen. Inhaltlich gibt es für diese Kritik gute Gründe, doch hat der Umgang mit Weitling in der marxistischen ArbeiterInnenbewegung auch etwas Paternalistisches. Schliesslich blieb Weitling sein Leben lang Schneider, hatte nie eine Universität besucht und schon deshalb hatten seine Arbeiten es schwerer, wahrgenommen und gehört zu werden.
Träume und Sehnsüchte
Dabei gehört Weitling zu den wenigen Chronist-Innen der frühen ArbeiterInnenbewegung, deren Namen überhaupt einem grösseren Kreis bekannt ist. Der Kultur- und Literaturwissenschaftler Patrick Eiden-Offe hat in seinem Buch «Die Poesie der Klasse» viele der frühen Texte der ArbeiterInnenbewegung dem Vergessen entrissen. Er beklagt, dass sie lange Zeit nur durch die Brille des Marxismus gesehen und als romantischer Antikapitalismus beiseite gelegt wurden. Schon im Klappentext des Buches heisst es über die oft vergessenen AutorInnen: «Die buntscheckige Erscheinung, die Träume und Sehnsüchte dieser allen ständischen Sicherheiten entrissenen Gestalten fanden neue Formen des Erzählens in romantischen Novellen, Reportagen, sozialstatistischen Untersuchungen, Monatsbulletins. Doch schon bald wurden sie – ungeordnet, gewaltvoll, nostalgisch, irrlichternd und utopisch, wie sie waren – von den Vordenkern der Arbeiterbewegung als reaktionär und anarchisch verunglimpft, weil sie nicht in die grosse lineare Fortschrittsvision passen wollten.» So verdienstvoll es von Patrick Eiden-Offe ist, diese Texte wieder bekannt gemacht und mit grossem Engagement in einem Buch präsentiert zu haben, das auch für NichtakademikerInnen Freude und Erkenntnisgewinn bereitet, so muss man doch die Kritik des Autors an den MarxistInnen hinterfragen. Gerade nach der Lektüre der Texte zeigt sich, dass diese Kritik oft berechtigt war.
Widerstandsstrategien
Dabei ging und geht es gerade nicht darum, den VerfasserInnen der Texte zu unterstellen, sie wären reaktionär. Es geht vielmehr darum, zu analysieren, dass sie in ihren Texten ihre Vorstellungen von der Welt und dem hereinbrechenden Kapitalismus zum Ausdruck brachten. Sie nahmen dabei Gerechtigkeitsvorstellungen zum Massstab, die sie aus dem Feudalismus und der ständischen Gesellschaft übernommen hatten. Nur waren diese Vorstellungen mit dem Einzug des Kapitalismus verdampft und obsolet geworden. Es war gerade das grosse Verdienst von Marx und Engels, dass sie die Ausbeutung und nicht den Wucher als zentrales Unterdrückungsinstrument im Kapitalismus analysierten. Das hatte auch Folgen für die Widerstandsstrategien. An einem romantischen Kapitalismus festzuhalten, wäre dann nur anachronistisch und birgt noch die Gefahr einer reaktionären Lesart der Kapitalismuskritik, die die Schuldigen für die Misere nicht im kapitalistischen Konkurrenz- und Profitstreben, sondern in WuchererInnen sieht. Das war übrigens ein Schwungrad für den modernen Antisemitismus. Dem Autor sind solche Bestrebungen fern. Dass Eiden-Offe auf diese Gefahren eines romantischen Antikapitalismus nicht besonders eingeht, liegt wohl vor allem daran, dass er voraussetzt, dass seine LeserInnen mit der Problematik einer reaktionären Kapitalismuskritik vertraut sind.
Gegen den Klassenkompromiss
Ihm geht es um etwas anderes, wie er im letzten Kapitel des Buches, das unter dem Titel «Die Rückkehr des romantischen Antikapitalismus» steht, erläutert: Wenn es seit dem Vormärz eine Uniformierung und Normierung des Proletariats gegeben hat, dann wird diese Klassenfiguration vom Gespenst des «virtuellen Paupers» verfolgt, der durch keine sozialstaatliche Absicherung und durch keine Verbürgerlichung des sozialen Imaginären zu bannen ist. Parallel zur Einhegung des Klassenkampfs in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften und zur Integration der offiziellen ArbeiterInnenbewegung in die Gesellschaft gibt es eine andere Geschichte, die Geschichte einer anderen Arbeiter-Innenbewegung, die Geschichte all jener sozialen Gestalten, in denen das Gespenst des «virtuellen Paupers sich im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts verkörpert und die gehegte soziale Ordnung bespukt hat». Damit bezieht sich der Autor auf sozialrevolutionäre Debatten der 1970er Jahre, als der linke Historiker Karlheinz Roth ein Buch mit dem Titel «Die andere Arbeiterbewegung» veröffentlichte, in dem er die Pauperierten zum neuen revolutionären Subjekt erklärte. Er setzte sie von den Teilen der ArbeiterInnenklasse ab, die im Rahmen des nationalen Klassenkompromisses befriedet wurden. Man könnte auf sie den Begriff der ArbeiterInnenaristokratie anwenden.
Nationalismus als Sargnagel
Eiden-Offe zeigt, wie sich auch dies Einhegung eines Teils des Proletariats in den zeitgenössischen Schriften niederschlägt, beispielsweise in Ernst Willkomms fünfbändigem Roman «Weisse Sclaven oder die Leiden des Volkes» von 1845. Hier ging es zum Schluss um die nationale Einhegung der ArbeiterInnen. Eiden-Offe beschreibt die Konsequenzen sehr präzise: «Ab jetzt sollte es keine ‹vaterlandslosen Gesellen›, keine ‹heimatlose Klasse› mehr geben, sondern nur noch ‹deutsche Arbeiter›». Die «vaterlandslosen Gesellen», die es natürlich weiterhin gibt, werden marginalisiert und ausgeschlossen – ideologisch wie materiell, wenn sie aus der staatlichen Fürsorge rausfallen. Der Autor beschreibt präzise, dass diese nationale Einhegung zum «Sargnagel des buntscheckigen Proletariats des Vormärz» wurde, dessen Geschichte in dem Buch erzählt wird. In einer Fussnote merkt Eiden-Offe an, dass die Erosion des nationalstaatlichen Klassenkompromisses, den wir aktuell beobachten, nicht bedeutet, dass damit Nationalismus und Chauvinismus in Teilen der ArbeiterInnenklasse automatisch auf dem Rückzug sind. Allerdings zeigte sich in der letzten Zeit das veränderte Gesicht der heutigen ArbeiterInnenklasse, beispielsweise bei den zahlreichen Arbeitskämpfen im Pflege- und Gesundheitsbereich, aber auch bei Kurierdiensten.
Es sind dort sehr viele Frauen aktiv und nicht wenige der ProtagonistInnen dieser Kämpfe haben einen Migrationshintergrund. Vielleicht wird hier in Ansätzen diese bunte und gar nicht so homogene ArbeiterInnenklasse sichtbar, die in dem Buch so anschaulich beschrieben wird. «Es kommt darauf an, die Fäden neu zu verknüpfen – oder sie endlich beherzt zu kappen», schreibt der Autor im letzten Kapitel in Bezug auf die Geschichte der ArbeiterInnenbewegung. Nun wird auch der Linken der Abschied vom Proletariat seit mehr als dreissig Jahren vollzogen, mit dem Ergebnis, dass in vielen Ländern der Welt, die Linke nur noch isolierte Minderheiten und keine Klassen mehr kennen will. Die real existierenden Lohnabhängigen werden dann rechts liegen gelassen. «Die Poesie der Klasse» aber bietet die Chance, sich auf eine neue Art und Weise auf die Lohnabhängigen zu beziehen. Dadurch, dass in dem Buch aufgezeigt wird, dass das Proletariat historisch immer bunt war und sich nicht in auf die berühmt-berüchtigten Stahl- und Bergarbeiter beschränkte, könnten den Marginalisierten und Prekarisierten von heute die Möglichkeit geben, sich selber als Teil dieser Klasse zu erkennen.
Patrick Eiden-Offe: Die Poesie der Klasse, Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats. Matthes & Seitz, Berlin. 30,00 Euro
Westliche Politiker sind für die Etablierung der rechten Szene im Osten mitverantwortlich
Ungewohnte Töne sind im Vorfeld des 28. Jahrestags der Deutschen Einheit zu hören. Erstmals äußern auch führende SPD-Politiker*innen deutliche Kritik am Vereinigungsprozess und sparen dabei auch die Rolle westdeutscher Politiker*innen und Beamt*innen nicht aus. So fordert die sächsische Integrationsministerin Petra Köpping (SPD), unterstützt vom SPD-Ostbeauftragen Martin Dulig, eine Wahrheitskommission, die das Agieren der Treuhand bei den Privatisierungen der DDR-Industrie untersuchen soll. Der Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende der Chemnitzer SPD-Fraktion, Detlef Müller, schlägt statt einer Wahrheits- eine Aufarbeitungskommission mit erweitertem Aufgabenbereich vor.
»Wir sollten aber die Gelegenheit nutzen, im Rahmen einer solchen Kommission nicht nur die Arbeit der Treuhand, sondern die gesamte Nachwendezeit umfassend aufzuarbeiten. 28 Jahre nach dem Sturz des SED-Regimes durch die Friedliche Revolution ist ein guter Zeitpunkt dazu: Die Menschen und Zeitzeugen, die den Übergang der Systeme und seine Auswirkungen miterlebt haben, können sich noch aktiv und lebendig an den Diskussionen beteiligen«, erklärte Müller in einer Pressemitteilung.
Bei dieser Aufarbeitung sollte auch untersucht werden, welche Verantwortung auch westdeutsche Politiker*innen für die Etablierung einer rechten Szene in Teilen Ostdeutschlands und vor allem in Sachsen trägt. Viel wurde in den letzten Jahren über die Verantwortung der SED und ihrer Politik für diese Rechtsentwicklung diskutiert. Dabei wurden neben absurden Argumenten wie die frühkindliche Erziehung auch bedenkenswerte Argumente in die Debatte geworfen. Dazu gehörte die autoritäre SED-Politik, die Kritik und Widerspruch kaum zuließ oder die relativ homogene Gesellschaft in der DDR.
Merkwürdigerweise wurde aber bisher die Wendezeit ausgeklammert. Dabei fanden im Spätherbst in vielen Städten der DDR mit Schwerpunkt Sachsen und Thüringen große Demonstrationen mit einem schwarz-rot-goldenen Fahnenmeer und nationalistische Parolen statt. Sie richteten sich längst nicht mehr nur gegen die zu diesem Zeitpunkt schon stark geschwächte SED, sondern auch gegen die linke DDR-Opposition, die mit der Parole »Wir sind das Volk« gegen die SED und ihre Staatsorgane protestierte. Ihr Ziel war aber keine Wiedervereinigung, sondern eine eigenständige und demokratische DDR.
»Das Leipziger Demo-Publikum ist ein anderes geworden. Jetzt, wo das Demonstrieren nicht mehr gefährlich ist, kriechen die Deutsch-Nationalen aus ihren Löchern«, schrieb die DDR-Oppositionszeitschrift »telegraph« am 29. November 1989. Linke und Alternative wurden schon im November 1989 als »Rote« und »Wandlitzkinder« beschimpft und oft auch tätlich angegriffen. Wer darauf hinwies, dass sich auch Neonazis auf den Demos zeigten, wurde beschimpft.
Deren Demoutensilien kamen aus der BRD. Massenhaft wurden Deutschlandfahnen und Publikationen in die DDR geliefert, die mit nationalistischen Parolen die schnelle Wiedervereinigung propagierten.
Zu dem für die Volkskammerwahlen geschmiedeten Wahlbündnis »Allianz für Deutschland« gehörte neben den Unionsparteien und dem Demokratischen Aufbruch (DA) mit der Deutschen Sozialen Union (DSU) auch eine rechtskonservative Partei. Sie wurde bis 1992 von der CSU unterstützt, die mit der DSU die Etablierung einer Rechtspartei außerhalb Bayerns umsetzen wollte.
Solche Pläne waren bereits in der Ära Franz Josef Strauß gescheitert. Und auch die DSU wurde eine von vielen rechten Kleinparteien, die nach 1990 vor allem in Sachsen kamen und verschwanden. Bereits im Herbst 1989 transportierten die rechten Republikaner täglich rechte Materialien von Frankfurt am Main in die DDR, wie ein daran Beteiligter später enthüllte. Im Herbst 1989 wurden die Grundlagen für die rechte Ordnungszelle Sachsen gelegt, in der antifaschistische Aktivitäten wie beispielsweise gegen die rechten Aufmärsche zum Jahrestag der Bombardierung von Dresden von Politik und Polizei kriminalisiert wurden. Zudem saß hier die NPD zwei Legislaturperioden im Landtag. Die AfD könnte bald die stärkste Partei in Sachsen werden.
Die Zeitung war ein Meilenstein auf dem Weg, von allen revolutionären und gesellschaftstransformatorischen Zielen Abstand zu nehmen
„Kalaschnikow oder Yoga: Wirken Körper- und Mentaltechniken gesellschaftsverändernd?“, fragt sich Gudrun Kromrey. Und für Peter Grafe steht fest: „Yoga kann politisch sein“. Die beiden Autoren gehörten zu den Taz-Gründern der ersten Stunde und haben am 27. September 1978 die erste Nullnummer herausgebracht. 40 Jahre später hat ein Teil von ihnen noch einmal eine Taz produziert. Die Ausgabe vom 27. September hatten sie komplett zu verantworten. Im Editorial erinnert Vera Gaserow noch einmal an den Impetus der Gründerzeit:
1978 sind wir angetreten, die Welt aus den Angeln zu heben. Mithilfe einer täglich erscheinenden Zeitung wollten wir sie neu justieren. Gerechter, friedlicher, weiblicher, freier, schöner – rundum besser sollte sie werden, radikal! Alles schien möglich – wir waren jung, wir wussten, wo es langgeht, wir hatten kein Geld, keine Erfahrung, aber jede Menge Utopien.
Vera Gaserow
Was hat die Taz mit der 68er-Bewegung zu tun?
Nun könnte man diese Zeilen schnell als Mythos oder gar Kitsch abtun. Die, die Welt aus den Angeln heben wollten, sind später so angepasst geworden, wie die, gegen die sie vor 40 Jahren rebellierten. Doch diese Sicht wäre doch etwas zu oberflächlich. Es wird oft ausgeblendet, in welcher gesellschaftspolitischen Situation die Taz gegründet wurde.
Da stellt sich auch die Frage, in welchen Verhältnis die Taz zum Aufbruch von 1968 stand. Tatsächlich ist die Zeitungsgründung, ebenso wie der Aufbruch der grünalternativen Listen am Ende der 1970er Jahre, ein Meilenstein für das Ende des 1968er Aufbruches als Bewegung mit revolutionärem Anspruch.
Die gesellschaftsverändernden Utopien waren, wenn nicht aufgebraucht, so doch an ihre Grenzen gestoßen. Diese Utopien haben sich längst nicht nur im Aufbau von autoritären maoistischen Kaderparteien erschöpft. „Lasst tausend Blumen blühen“, diese Mao zugeschriebene Parole hat bestimmt keine der Parteien, die den großen Meister im Namen führten, umgesetzt, sehr aber die 68er Bewegung als Ganzes.
Eine Menge anarchistischer, dissidenter sozialistischer und kommunistischer Ideen wurden neu entdeckt und auf ihre Realitätstauglichkeit geprüft. Feministische Ansätze wurden wieder aufgegriffen und weiterentwickelt. Gegen all diese Ideen und alle Versuche ihrer Umsetzung machte der Staat mobil.
Die Stichworte „bleierne Zeit“ und „Deutscher Herbst“ wurden schon zu Metaphern und dienten bald auch der Geschichtsklitterung. Denn es setzte sich bald die Lesart durch, die auch in der Jubiläums-Taz vertreten wird, im Deutschen Herbst hätten die RAF und der Staat gegeneinander Krieg geführt und die übrige Linke mit in Haftung genommen.
Und am Strand von Tunix wartete Peter Glotz
Die hätte sich nun mit dem großen Tunix-Kongress [1] im Januar 1978 aus dieser Umklammerung befreit und so die Grundlage für neue Projekte geschaffen. Die Taz war eines dieser Projekte. Sie wurde nicht auf dem Tunix-Kongress gegründet. Es gab schon Monate vorher eine Vorbereitungsgruppe für die Gründung einer alternativen Tageszeitung. Tunix war nur das große Forum, auf dem die Ergebnisse vorgestellt wurden.
„Zwei Tage, die die Republik veränderten: Ende Januar 1978 versammelten sich in West-Berlin Tausende von Spontis zum ‚Tunix‘-Kongress“, schrieb Zeitzeuge Michael Sontheimer 2008 im Spiegel. Er gehörte als Taz-Mitbegründer auch zu den Autoren der Jubiläumsausgabe. Mit der Einschätzung hatte er Recht und da kommen wir zur Eingangsfrage, ob die Bewegung, in der die Taz nur ein Projekt war, die Welt aus den Angeln gehoben hat: Ja, aber die Vorbedingung war, von allen revolutionären und gesellschaftstransformatorischen Zielen Abstand zu nehmen.
Gegen diese und nicht nur gegen die RAF und ihr Umfeld richtete sich der Deutsche Herbst bzw. die bleierne Zeit. Die Linke verabschiedete sich von diesen Konzepten und landete am Strand von Tunix. Von dort führten alle Wege zurück in den Staat. Der war am Tunix-Kongress in der Gestalt des damaligen Wissenschaftssenators Peter Glotz vertreten. Seine Teilnahme dort wurde mit Erstaunen betrachtet.
Aussteigerprosa und der neue Einstieg in den Staat
Denn vordergründig passte der blitzgescheite Glotz, durch und durch ein Mann des Staates, nicht zu der hippiesken Aussteigerprosa selbsternannter Stadtindianer:
UNS LANGT’S JETZT HIER!
Der Winter hier ist uns zu trist, der Frühling zu verseucht, und im Sommer ersticken wir hier. Uns stinkt schon lange der Mief aus den Amtsstuben, den Reaktoren und Fabriken, von den Stadtautobahnen. Die Maulkörbe schmecken uns nicht mehr und auch nicht mehr die plastikverschnürte Wurst. Das Bier ist uns zu schal und auch die spießige Moral. Wir woll’n nicht mehr immer dieselbe Arbeit tun, immer die gleichen Gesichter zieh’n. Sie haben uns genug kommandiert, die Gedanken kontrolliert, die Ideen, die Wohnung, die Pässe, die Fresse poliert. Wir lassen uns nicht mehr einmachen und kleinmachen und gleichmachen.
WIR HAUEN ALLE AB! … zum Strand von Tunix.
Aufruf zum Tunix-Kongress
Heute wissen wir, dass am Strand von Tunix Peter Glotz wartete und den ernüchterten Bürgerkindern die Gewissheit mitgab, doch noch Staat machen zu können. Es gab natürlich beim Tunix-Kongress Gegenstimmen [2]. Sie erhofften sich neue Impulse für den linken Aufbruch. Doch die große Mehrheit wollte dort raus, das war der eigentliche Kern der Ausstiegsprosa.
Über den Wiedereinstieg gab es auch durchaus kontroverse Vorstellungen und nicht wenige werden damals ehrlich überzeugt gewesen sein, sie könnten auch noch auf neuen Wegen die Republik transformieren. Und irgendwie haben sie es auch geschafft. Nur haben sie den Kapitalismus nicht etwa zurückgedrängt oder wenigstens im sozialdemokratischen Sinne gezähmt.
Sie haben vielmehr aus dem 68er Aufbruch die Skills mitgebracht, mit dem sich der Kapitalismus erneuern konnte. Flexibilität, Diversität, Kreativität wurden bald getrennt von linken Konzepten zum Schwungrad einer neuen kapitalistischen Phase und in diesen Sinne auch zur Staatsraison.
Rebecca Harms, die am Maidan partout keine Rechten sehen wollte
Und auch von einer Welt ohne Krieg und Militarismus haben sich die Alternativen am Strand von Tunix verabschiedet. Es begann die Zeit, als die Alternativen den Wert der Regionen und Nationen schätzen lernten, besonders, wenn es darum ging, die Ordnung von Jalta zum Einsturz zu bringen. Damit war das Nachkriegseuropa der alliierten Sieger über Nazideutschland gemeint. Deswegen blieb der Kampf gegen Jalta lange alten und neuen Nazis überlassen, bis die Alternativen ihn entdeckten.
Wohin das führte wird in der Taz-Jubiläumsausgabe im Interview mit der langjährigen Grünen-Politikerin Rebecca Harms [3] besonders deutlich. Sie wurde zur Schutzheiligen der ukrainischen Nationalbewegung, in der sie bis heute keine Rechten entdecken kann.
Über ihr nationales Coming Out sagte Harms:
Der Besuch in Tschernobyl hat mich an das Land, das es damals noch gar nicht gab, gebunden. Der Osten Europas hat mich damals umarmt und mich nicht wieder losgelassen. Ich entschied mich 2004 für das Europaparlament, weil ich das Zusammenwachsen zwischen West und Ost in Europa mitgestalten wollte. Und 2013 musste ich mit meinen Freunden auf dem Maidan sein. Ich erlebte als eine der ersten Grünen, wie sich der russische Infokrieg anfühlt. Russische Trolle denunzierten mich als „Faschistenhure“ und „Faschistenflittchen“. Und ich beobachtete selbst unter Grünen oder im Wendland die Wirkung dieser Propaganda. Statt mich zu unterstützen, wurde mir empfohlen, im beginnenden Europawahlkampf das Thema zu wechseln. Bei den Bewertungen der Ereignisse in der Ukraine sowohl bei den Grünen als auch in Deutschland insgesamt hatte ich früh das Gefühl, dass etwas auseinandergeht.
Rebecca Harms, taz
Nun waren es keineswegs nur „russisch Trolle“, sondern viele Beobachter der ukrainischen Geschehnisse, die in der Nationalbewegung rechte und faschistische Tendenzen entdecken konnten. Harms Statement bestätigt die Kritik an grünem Regionalismus und Ethnokitsch, wie er in den 1970er und 1980er Jahren geäußert wurde.
Wer wie Harms die AKW-Havarie von Tschernobyl nationalistisch deutet, hat auch ein nationalistisches Grundkonzept. Von den Folgen waren Menschen der unterschiedlichen Teile der Sowjetunion betroffen, vor allem die Menschen in Belarus [4]. Wenn es um den Kampf gegen die AKW-Nutzung geht, hätte man nicht zur Schutzheiligen des ukrainischen oder eines anderen Nationalismus werden müssen.
Man hätte vielmehr eine Anti-AKW-Bewegung in der gesamten Sowjetunion unterstützen können. Harms und andere aus der Alternativbewegung haben den Kampf gegen das System von Jalta mit gewonnen.
Sie gehören zu den besonders aggressiven Teil der neuen herrschenden Klasse, die sich vom Strand von Tunix zum Marsch auf die Institutionen aufmachte. Dass haben sogar mittlerweile Ludger Volmer [5] und Anje Vollmer [6] gemerkt, die als Teil des grünen Personals in der Ära Schröder-Fischer keine Kritik an diesem Kurs übten.
Doch solche kritischen Rufe finden in der Taz-Jubiläumsausgabe keinen Platz. So konnte Daniel Cohn-Bendit im Gespräch [7] mit dem ehemaligen SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz sein Dogma wiederholen, dass die EU gerettet werden muss und dass könne nur der französische Präsident Macron machen. Sehr deutlich erklärt Cohn-Bendit, dass er keinesfalls für ein soziales Europa streitet:
Ich glaube, die Menschen interessiert das sogenannte soziale Europa …
Cohn-Bendit: Quatsch. Ich kann das nicht mehr hören. Wenn die in der Bundesrepublik wählen oder in Frankreich, wählen sie Personen. Das Problem aber ist, dass die Menschen mit Europa nichts verbinden, weil sie mit den Personen, die das vertreten, nichts verbinden. Macron hat doch nicht gewonnen, weil er gesagt hat, ich mache mehr Soziales. Er hat gewonnen, weil er seine Person mit einer Vision von Europa verbunden hat.
Taz-Interview [8]
Die schlaueste Kritik an den Konzepten derer, die sich einst am Strand von Tunix versammelt haben, kommt von Wolfgang Zügel, der heute bei der konservativen Welt arbeitet: Er nimmt prägnant die Theorien derer auseinander, die für ein Nullwachstum hier und jetzt plädieren und erinnert an einen linken Klassiker, den viele auf den Weg nach Tunix liegen gelassen haben.
Man muss sich bei diesen steilen Thesen Karl Marx in Erinnerung rufen: Jeder Kapitalist versucht, den Konkurrenten zu übertrumpfen, besser zu sein und so einen Extraprofit zu erwirtschaften. Die anderen versuchen dann, den Vorsprung einzuholen und auszugleichen, der Nächste findet durch Innovation wieder eine Möglichkeit des Extraprofits – und so dreht sich die Spirale unaufhaltsam weiter. Dies zu durchbrechen würde die Abkehr vom privaten zum gesellschaftlichen Eigentum und zur Planwirtschaft bedeuten.
Wolfgang Zügel, Taz
Hier erinnert der Autor einer konservativen Zeitung seine einstigen Mitstreiter an einige Grundlagen für eine vernünftige Gesellschaftskritik. Aber die, die einst aufbrachen zum Strand von Tunix, wollten die Gesellschaft nicht mehr kritisieren.
Peter Nowak
URL dieses Artikels:
http://www.heise.de/-4178956
https://www.heise.de/tp/features/40-Jahre-Taz-Hat-sie-die-Welt-aus-den-Angeln-gehoben-4178956.html
Links in diesem Artikel:
[1] http://www.spiegel.de/einestages/soziale-bewegungen-a-949068.html
[2] http://bewegung.nostate.net/mate_tunix.html
[3] http://www.taz.de/40-Jahre-taz/!5538251/
[4] https://www.heise.de/tp/features/Belarus-ist-komplett-verstrahlt-3191921.html
[5] http://www.ag-friedensforschung.de/themen/Pazifismus/Debatte/Welcome.html
[6] http://webarchiv.bundestag.de/archive/2007/0206/mdb/mdb15/bio/V/vollman0.html
[7] http://www.taz.de/!5536020/
[8] http://www.taz.de/!5536020/
Das „Syndikat“ gibt es seit 33 Jahren, Ende Dezember läuft der Mietvertrag aus. Juristisch sei wenig zu machen, sagt der Bezirk. Deswegen wird jetzt breit mobilisiert.
Es ist voll im „Syndikat“ in Nordneukölln. Dabei hat die Kneipe in der Weisestraße zu diesem Zeitpunkt eigentlich noch gar nicht offen. Doch der Grund für das Treffen am späten Freitagnachmittag ist dringlich: Das Kollektiv der Kiezkneipe will Gäste und NachbarInnen informieren, dass sie zum Jahresende die Räume verlassen muss, in denen sie seit 33 Jahren ihr Domizil hat.
Die Hauseigentümerin, eine Luxemburger Briefkastenfirma, hatte dem Kollektiv bereits Anfang Juli die Kündigung geschickt. Doch die Kneipiers hofften auf Neuverhandlungen. Am 11. September gab es überraschend von der Eigentümerin eine Absage – ohne Begründung. Nun will das Kneipenkollektiv weitere Verhandlungsmöglichkeiten ausloten, braucht dazu aber die Unterstützung von Gästen und NachbarInnen.
Schließlich hat sich das Syndikat immer als Teil der linken Kiezkultur rund um die Weisestraße verstanden. Es organisiert jährlich im August mit anderen Nachbarschaftsinitiativen ein Straßenfest, bei dem es neben dem Kampf gegen Gentrifizierung auch um Solidarität mit linken politischen Gefangenen in aller Welt geht.
Enge Kontakte unterhält das Syndikat mit dem benachbarten Stadtteilladen Lunte: Beide haben ihre Wurzeln in der autonomen Linken der 1980er Jahre, beide legen Wert auf gute Kontakte zu Menschen mit niedrigen Einkommen und ohne Hochschulabschluss. Wohl auch deswesen ist jetzt die Unterstützung aus der Nachbarschaft fürs Syndikat groß. Schon wenige Stunden nach Bekanntwerden der Kündigung tauchten erste Plakate unter dem Motto „Syndikat bleibt“ auf.
Ein Mitglied des Kneipenkollektivs betont, dass man den Kampf für den Erhalt des Syndikats in den Kontext des Widerstands gegen Verdrängung in ganz Berlin stellen möchte. So will man den Protest mit der linken Stadtteilkneipe Meuterei in Kreuzberg koordinieren, deren Mietvertrag im Mai 2019 ausläuft.
„Jetzt kann nur noch Druck der AnwohnerInnen verhindern, dass das Syndikat seine Räume verliert.“
Jochen Biedermann, Grüne
Unterstützung für das Syndikat kommt auch von der Neuköllner Bezirkspolitik: Der Bezirksrat für Stadtentwicklung, Jochen Biedermann (Grüne), der an dem Informationstreffen teilnahm, sieht zwar juristisch kaum Möglichkeiten, die Kündigung zu verhindern. Schließlich handelt es sich um einen Gewerbemietvertrag. Zudem sei bereits 2016 jede Wohnung und auch die Räumlichkeiten, in denen sich das Syndikat befindet, vom Eigentümer in einzelne Einheiten aufgeteilt worden. Biedermann zur taz: „Jetzt kann nur noch Druck der AnwohnerInnen verhindern, dass das Syndikat seine Räume verliert.“
Das sehen auch die TeilnehmerInnen der Veranstaltung so. „Mit dem Syndikat sollen auch wir aus dem Kiez verschwinden. Das wollen wir verhindern“, sagte ein älterer Nachbar. Die Mobilisierung läuft: Am 4. Oktober soll um 19 Uhr in den Räumen des Syndikats eine Kiezversammlung stattfinden. Es wird wieder eng werden.
Über Missverständnisse und Heuchelei im deutsch-türkischen Verhältnis
Vermeintliche Versprecher sagen oft mehr über die Realität aus als alle diplomatischen Floskeln. Das konnte man bei der Pressekonferenz von Merkel und Erdogan gut beobachten. Als Merkel von Missverständnissen zwischen der Türkei und Deutschland sprach, korrigierte sie sich schnell und sprach von fundamentalen Differenzen unter anderem in der Frage der Freiheits- und Menschenrechte. Genau das ist eines der Missverständnisse.
Wenn es um Beziehungen von Ländern geht, spielen politische Interessen die entscheidende Rolle, die dann gerne mit schönen Floskeln von Menschenrechten übertüncht werden. Parteien wie die Grünen sind Vertreter der Kapitalfraktionen, die ihre Interessen besonders gerne zu Menschenrechts- und Freiheitsfragen aufbauschen.
Weil sich dafür im Zweifel leichter Krieg führen lässt, gehören diese Kapitalfraktionen und ihr politisches Personal auch aktuell zu den gefährlichsten. Sie sind auch die Meister jener Symbolpolitik, die von Anfang an Kennzeichen der Grünen war. Das konnte man beim Erdogan-Besuch gut beobachten.
Da wollte Cem Özdemir am Bankett mit Erdogan teilnehmen, angeblich um Erdogan zu ärgern. Tatsächlich wollte er damit als potentieller Außenminister nur deutlich machen, dass er und seine Partei auch ihre Rolle in der deutschen Außenpolitik spielen.
Wo bleibt die Kampagne für Max Zirngast?
Die Heuchelei setzt sich bei der Diskussion um die deutschen Staatsbürger in türkischen Gefängnissen fort. Da sind eben nicht alle Gefangenen gleich. Während sich für den liberalen Deniz Yücel Politiker fast aller Parteien und der Bundespräsident persönlich eingesetzt haben, beschränkt sich die Unterstützung für den linken österreichischen Journalisten Max Zirngast bisher auf linke Medien [1].
Dabei ähneln sich die Vorwürfe gegen beide Journalisten. Doch Max Zirngast hätte als Publizist mit klaren Sympathien für die Sache der kurdischen Bewegung womöglich auch in Deutschland mit Verfolgung und Repression rechnen können. So schreibt [2] die Welt in klar distanzierenden Ton:
Zirngast lebt seit 2015 in der Türkei, spricht fließend Türkisch. Er studiert an der Middle East Technical University in Ankara, die als linksgerichtet gilt. Im Juli sollen Studenten festgenommen worden sein, nachdem sie ein Erdogan-kritisches Plakat gezeigt hatten. „Re:volt“ bezeichnet Zirngast nicht nur als Autor, sondern auch als Aktivisten. Es sei die Nähe zum Umfeld der türkischen kommunistischen Partei, die Zirngast vorgeworfen werde, heißt es aus gut informierten Kreisen. Die Welt [3]
Der Publizist und Medienaktivist Kerem Schamberger [4] bekommt seit Jahren auch in Deutschland zu spüren, dass solche Aktivitäten nicht erwünscht sind. Razzien [5], kurzzeitige Festnahmen und Internetsperren [6] zeugen davon. Schamberger schildert das deutsch-türkische Verhältnis präzise in einem Interview [7]:
Merkel und die EU unterstützen Erdoğan mit Milliarden, damit er Flüchtlinge davon abhält, nach Europa zu kommen. Um zu zeigen, wie absurd das ist: Die Politik Erdoğans sorgt dafür, dass in Afrin Anfang des Jahres Hunderttausende Menschen fliehen. Zur gleichen Zeit bekommt er zwei Milliarden Euro von der EU zur Abwehr von Flüchtlingen. Das ist ein zynisches Geschäftsmodell.
Kerem Schamberger
In der Türkei gefoltert – in Deutschland inhaftiert
Als zynisches Geschäftsmodell kann auch die Praxis der deutschen Justiz bezeichnet werden, linke Oppositionelle aus der Türkei und Kurdistan in Deutschland ebenfalls zu kriminalisieren.
Davon sind hunderte kurdische Aktivisten und vermeintliche oder tatsächliche Unterstützer linker türkischer Parteien, Gewerkschaften und Massenorganisationen betroffen. So sind Menschen, die in der Türkei im Gefängnis gefoltert wurden, in Deutschland erneut inhaftiert.
Die Kooperation zwischen der türkischen und deutschen Justiz läuft zum Leidwesen der Anwälte im Verfahren gegen türkische Linke in München [8] geräusch- und reibungslos [9]. Die Stadtplanerin und Gewerkschaftlern Gülaferit Ünsal kämpfte in den letzten Wochen mit einer Unterstützergruppe [10] dafür, dass ihr Asylantrag bearbeitet wird, nachdem sie in Deutschland kriminalisiert wurde.
Die linke türkische Band Grup Yorum wird in Deutschland sogar häufiger mit Auftrittsverboten bedroht [11], aktuell in Frankfurt/Main [12], als in der Türkei.
Die Repression gegen türkische und kurdische Linke findet den Beifall der türkischen Regierungen nicht erst seit Erdogan an der Macht ist. Bereits unter der Herrschaft der kemalistisch-nationalistischen Politiker und Militärs lief die deutsch-türkische Kooperation sehr gut.
Das Erdogan-Regime fordert nun, dass auch vermeintliche oder tatsächliche Anhänger der Gülen-Bewegung in Deutschland verfolgt oder ausgeliefert werden. Doch anders als bei dem türkischen und kurdistischen Linken ist die deutsche Justiz hier nicht so kooperativ. Schließlich könnte man die islamistischen Gegenspieler zu Erdogan gut gebrauchen, falls Erdogan und sein Regime stürzen.
Alte Waffenbrüderschaft
Die Zusammenarbeit beider Länder geht mehr als hundert Jahre zurück. „Als das Deutsche Reich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in seine imperialistische Phase eintrat, rückte das noch nicht unter den anderen Großmächten aufgeteilte Vielvölkerreich am Bosporus ins Blickfeld der Berliner Kolonialstrategen“, schreibt der Publizist Nick Brauns [13].
Diese Interessen des deutschen Kapitals überdauerten die unterschiedlichen Regime, wie Brauns nachweist [14]. Der aktuelle Besuch reiht sich diese Kooperation ein. Dabei gab es immer auch Störgeräusche, aber das gemeinsame Interesse überwog.
Das ist auch aktuell der Fall. Daher ist es politisch falsch, der Bundesregierung vorzuwerfen, sie unterwerfe sich Erdogan. Tatsächlich ist das deutsch-imperialistische Interesse, dass die Kooperation von Staaten bestimmt. Hier müsste eine linke Kritik ansetzen.
URL dieses Artikels:
http://www.heise.de/-4178485
https://www.heise.de/tp/features/Warum-redet-niemand-ueber-die-tuerkischen-Staatsbuerger-in-Deutschlands-Gefaengnissen-4178485.html
»Berthold Cahn – geboren im Mai 1871 in Langenlohnsheim bei Bad Kreuznach, ermordet 1942 im Konzentrationslager Sachsenhausen«. Diese dürren Angaben stehen auf einem kürzlich in der Waldzeckstraße 3 in der Nähe vom Berliner Alexanderplatz verlegten Stolperstein. Er gedenkt eines Mannes, der zu den bekanntesten Berliner Anarchisten gehörte und von den Nazis ermordet wurde. Die Berliner Gustav-Landauer-Initiative will ihn dem Vergessen entreißen.
»Beim Studium zeitgenössischer Dokumente sind wir immer wieder auf Berthold Cahn gestoßen«, erklärt der Politologe Erik Natter, der in der Initiative mitarbeitet. In der »Bibliothek der Freien in Berlin« gewährte er einem interessierten Publikum Einblicke in Cahns Leben. Dieser gehörte seit 1907 zu den bekanntesten Rednern in der Hauptstadt. Er referierte zu gewerkschaftlichen Fragen ebenso wie über politische Repression in Deutschland, Japan und in den USA. »Obwohl Cahn Deutschland nie verlassen hatte, konnte er sich gut in die Materie einarbeiten und das Publikum in seinem Bann ziehen«, sagt Natter. Dabei war Cahn Autodidakt, der seinen Lebensunterhalt mit ungelernten Arbeiten bestreiten musste und oft am Rande des Existenzminimums lebte. Das hielt ihn nicht von sozialem und politischem Engagement ab. So war er im Verband der »Hausdiener, Packer, Packerinnen und Geschäftskutscher Berlin« aktiv und versuchte, die besonders schlecht bezahlten Beschäftigten dieser Branche zu organisieren.
In Zeitungsartikeln wandte sich Cahn gegen in dieser Zeit (teils gar unter Linken) verbreitete Euthanasiekonzepte und verurteilte antisemitische Töne selbst bei einigen Anarchisten scharf. Früh wandte er sich gegen den aufkommenden Faschismus, von dem er als Linker und Jude doppelt bedroht war. Schon zwischen 1911 und 1915 mehrfach im Gefängnis, wurde er am 2. Dezember 1933 von den Nazis verhaftet. Lange Zeit wurde behauptet, er sei während der Reichspogromnacht am 9. November 1938 ermordet worden. Wie Natter recherchierte, gehörte Cahn zu den 250 Jüdinnen und Juden, die nach dem Anschlag der jüdisch-kommunistischen Gruppe um Herbert und Marianne Baum auf eine NS-Hetzausstellung gegen die Sowjetunion auf Befehl Himmlers im KZ Sachsenhausen erschossen wurden. Die Initiative hat eine 50-seitige Broschüre über Cahn herausgeben und hofft, dass zum 80. Jahrestag seiner Ermordung eine Straße in Berlin nach ihm benannt wird.
Das neu gegründete Zentrum für Emanzipatorische Technikforschung beschäftigt sich mit Fragen der technologischen Entwicklung. Zu den Adressaten des Think Tanks gehören auch die Beschäftigten, deren Arbeitsleben immer stärker von der Digitalisierung geprägt wird.
»Wir sind keine Technologiekritiker, sondern verstehen uns als Technologieforscher«, sagt Simon Schaupp. Er gehört zu den Gründern des Zentrums für Emanzipatorische Technikforschung (ZET) in München. Die Wissenschaftler, die sich Anfang September in diesem Think Tank zusammengeschlossen haben, kommen aus verschiedenen Fachrichtungen und wollen »in den gesellschaftlichen Diskurs um die technische Entwicklung intervenieren«, wie es in einer ersten Selbstdarstellung heißt.
Das Zentrum solle neue Akzente in der linken Technikdebatte setzen, sagt Schaupp im Gespräch mit der Jungle World. »Im linken Diskurs wird die Digitalisierung oft als Angriff auf das gute Leben interpretiert. Wir haben einen anderen Blick auf die Digitalisierung.
Wir sehen Technologie als Ergebnis von Machtkämpfen. Das bedeutet auch, dass unter den gegenwärtigen politischen Bedingungen einer marktradikalen Dominanz die Auswirkungen der Technologie nicht gerade positiv für die abhängig Beschäftigten sind. Der Grund dafür liegt aber nicht in der Technologie selbst, sondern in deren politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen.«
Das ZET soll künftig aber nicht nur Diskurse, sondern auch Arbeitsbedingungen verändern. Dementsprechend fand der Gründungskongress im Münchner DGB-Haus statt. In einer Diskussionsrunde sprachen Wissenschaftler und politisch engagierte Computerfachleute über die Möglichkeiten einer »Technikpolitik von unten« am Beispiel der Hacker-Bewegung. In einem zweiten Panel referierten die Geschäftsführerin des Karlsruher Instituts für Technikzukünfte, Alexandra Hausstein, und Andreas Boes vom Münchner Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung über die Digitalisierung der Arbeitswelt.
Dieses Themenfeld soll auch in Zukunft für die Arbeit des ZET zentral bleiben. »Die Debatte über eine drohende technologische Arbeitslosigkeit wird in der Wissenschaft wie auch in der breiteren Öffentlichkeit mit einigem Elan geführt. Einmal einen Schritt zurückzutreten und grundsätzlich zu werden, würde hier – wie auch in vielen anderen Technikdebatten – sicherlich nicht schaden«, sagte der ZET-Vorsitzende Philipp Frey. Die Automatisierung werde oft als Naturgewalt und Sachzwang dargestellt. »Wir treten für eine Gesellschaft ein, in der die emanzipatorischen Möglichkeiten der modernen Technologie im Interesse der Mehrheit der Menschen zur Geltung kommen. Beispielsweise macht die moderne Technologie eine radikale Arbeitszeitverkürzung nötig. Dass Menschen weniger Lohnarbeit verrichten müssen, ist eigentlich sehr positiv, wird aber zum Fluch, wenn – wie das heutzutage der Fall ist – für alle, die nicht von ihren Vermögen leben können, ein allgemeiner Arbeitszwang herrscht«, sagt Schaupp.
Der Soziologe nennt als Beispiel für konkrete negative Folgen technologischer Entwicklungen die digitalen Assistenzsysteme, die in den verschiedenen Branchen, vom Bau bis zum Einzelhandel, Einzug in die Arbeitswelt halten: »Die Arbeitsschritte werden den Beschäftigten dort bis ins Detail vorgegeben. Abweichungen, selbst Nachfragen sind nicht mehr möglich. Das sorgt für eine Dequalifizierung der Lohnarbeit. Dies wiederum trägt zu einer Prekarisierung bei, weil die Beschäftigten leichter austauschbar sind.«
Adressaten der Erkenntnisse sollen auch die Beschäftigten sein. Das ZET möchte Lohnabhängigen in Seminaren beispielsweise verdeutlichen, dass die den Betriebsalltag bestimmenden Algorithmen eine Folge politischer Entscheidungen sind. Eine realpolitische Forderung der Wissenschaftler ist, Algorithmen und deren Funktionsweise transparent zu machen. Zudem sollen die Beschäftigten auch im Bereich der technologischen Ausgestaltung Mitbestimmungsrechte erhalten.
Mit dieser Zielsetzung unterscheidet sich das ZET vom Capulcu-Redaktionskollektiv, das im vergangenen Jahr ein Buch mit dem programmatischen Titel »Disrupt – Widerstand gegen den technologischen Angriff« herausgegeben hat. Das Redaktionskollektiv sieht in der Digitalisierung vorwiegend ein Instrument zur Überwachung und Ausforschung, das die Autonomie des Menschen bedrohe. Es fordert einen »Gegenangriff auf die Praxis und die Ideologie der totalen Erfassung«. Diese Form der Technikkritik ist in der außerparlamentarischen Linken weit verbreitet. Mit dem ZET könnte sich künftig auch in Deutschland eine Strömung in der Linken herausbilden, die der technischen Entwicklung grundsätzlich positiv gegenübersteht.
In Kreuzberg regt sich Widerstand gegen die Pläne des Immobilienentwicklers Pandion rund um den Moritzplatz
Die Protestbewegung legt eine Nachtschicht ein. Am 28.9. soll es von 20 Uhr abends bis 1 Uhr vor der Prinzenstraße 34 eine Protestkundgebung geben. Das Gelände wurde an die Firma Pandion verkauft, die als sechst größter Immobilienentwickler Deutschlands gilt. In der Prinzenstraße soll eine 150 Millionen Euro teure Gewerbeimmobilie mit dem Namen “The Shelf“ entstehen. Verteilt ist das Projekt auf zwei Gebäude: The Shelf 1 soll in der Prinzenstraße/Ecke Ritterstraße entstehen und The Shelf 2 gegenüber in der Prinzenstraße 34. Auf dem ersten Areal befanden sich 40 Jahre lang die Robben & Wientjes-Hallen. „Die Robben gehen, die Haie kommen“, sagen die Kritiker/innen. Dazu gehört die Initiative KunstblockAndBeyond. Sie hat unter diesen Namen in den letzten Monaten an zahlreichen Mieter/innenprotesten teilgenommen. Am Freitagabend ist die Verleihung des Berlin Art Prize in den ehemaligen Robben Wientjes-Hallen der Anlass für die Proteste, die sich allerdings nicht gegen den Kunstevent richtet.
Auch Pandion ist kein guter Nachbar
Es soll mit den Besucher/innen und den Anwohner/innen über die Pandion-Pläne diskutiert werden. Schließlich gibt sich das Unternehmen ein liberales, weltoffenes Image als Kunstförderer. Auf der Firmenhomepage ist auf der Seite unter dem Stichwort „Der Zukunftsfort“ das geplante Nobelprojekt zu sehen und daneben unter dem „die Off-Location“, eine Fabrikhalle mit moderner Kunst. Bereits 2016 hatte Pandion in der Nürnberger Straße mit dem temporären Kunstprojekt The House sogar für internationales Aufsehen gesorgt. Im November 2019 soll dort dann ein Haus mit hochpreisigen Eigentumswohnungen fertig gestellt sein. „Der erhebliche Marketingaufwand, den Pandion für seine Imagepflege betreibt, kann niemanden darüber hinwegtäuschen, dass die Immobilie für die in der Nachbarschaft arbeitenden und lebenden Menschen keine bezahlbaren Räume schafft. Pandions sogenannter „Zukunftsort“ schafft keine Zukunft für uns“, heißt es im Aufruf zum Protest. Allerdings passen Projekte wie he Shelf gut zum Aufwertungsprozess rund um den Moritzpatz. Das Aufbauhaus und das Betahaus sind Symbole jener Startup-Ökonomie, die auf Uber, Airbnb und die schrankenlose Durchsetzung der Marktgesetze schwören. Die Prinzesssinnengärten gehören zu ihren Erholungszonen. Demgegenüber stellt die Initiative KunstblockAndBeyond einige Forderungen, die den Ohren dieser modernen Kapitalisten fast wie Sozialismus klingen. „Bezahlbare, dauerhaft abgesicherte Räume für Mieter/innen, Kleingewerbe und Handwerk. Eine nachhaltige Kulturpolitik, die soziale und stadtpolitische Fragen in den Blick nimmt und strategische Förderinstrumente entwickelt. Öffentlichen Gelder sollen nicht mehr für Kulturzwischennutzung in profitiorientierten Investorenprojekten verwendet werden. Geförderte Kulturprojekte sollen nicht mehr zur Verdrängung von Mieter/innen und Kleingewerbetreibenden beitragen. Bauanträge dieser Größenordnung sollten frühzeitig der Nachbarschaft transparent gemacht werden.
Geht es um den spanische Anarchismus, fällt stets der Name Buenaventura Durruti. Doch wer kennt Amparo Poch y Gascón? Martin Baxmeyer hat nun eine lesenwerte Biographie der 1968 in Frankreich verstorbenen Mitbegründerin der libertären Frauenorganisation Mujeres Libres verfasst, die auch deutlich macht, warum die Medizinerin und anarchistische Publizistin heute wenig bekannt ist. Baxmeyer schildert den Kampf, den selbstbewusste Frauen auszufechten hatten, um sich innerhalb der männerdominierten anarchistischen Bewegung zu behaupten, und beschreibt den Einfluss des militanten Antifeminismus des französischen Soziologen Pierre-Joseph Proudhon auf die Bewegung. Doch auch nach dem Zurückdrängen dieser Strömung mussten die Mujeres Libres um Anerkennung kämpfen. Die libertären Frauen lehnten den Feminismus als Bewegung wohlhabender Frauen aus dem Bürgertum ab.
Daher kritisiert Baxmeyer den Begriff Anarchofeminismus, mit dem die Mujeres Libres in den siebziger Jahren etikettiert wurden. »Keine der Aktivistinnen der dreißiger Jahre bezeichnete sich so«, betont der Autor. Kritisch geht er auch mit dem anarchistischen Mythos der bewaffnet kämpfenden Frau um. Auf den während der Spanischen Revolution verbreiteten Fotos seien Fotomodelle in Uniform abgebildet gewesen. Mit der Realität auch innerhalb der libertären Kolonnen, die gegen die Faschisten kämpften, habe das nur wenig zu tun gehabt.
Zu solchen Behauptungen hätte man sich mehr Belege gewünscht. Insgesamt aber gelingt Baxmeyer eine kritische Auseinandersetzung mit Mythos und Realität der libertären Bewegung. Poch y Gascón selbst sparte nicht mit Kritik. Davon zeugen einige im Buch dokumentierten Artikel der Publizistin. Dort spottete sie über die Bürokratie der Bewegung und die Gepflogenheit ihrer Genossen, Konflikte in ein eigens gegründetes Komitee abzuschieben.
Martin Baxmeyer: »Amparo Poch y Gascón. Biographie und Erzählungen aus der spanischen Revolution«
Marianne Grimmenstein will das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Japan stoppen
Die pensionierte Musiklehrerin Marianne Grimmenstein lebt in Lüdenscheid. 2016 reichte sie eine Klage gegen das Freihandelsabkommen der EU mit Kanada vor dem Bundesverfassungsgericht ein. Nun hat sie eine Petition gestartet, um das Abkommen zwischen Japan und der EU (JEFTA) zu stoppen. Über ihre Motivation und ihre Ziele sprach Peter Nowak mit der 76-Jährigen.
Das Freihandelsabkommen JEFTA zwischen Japan und der EU wurde bereits am 17. Juli dieses Jahres unterzeichnet. Sie sammeln Unterschriften für eine Petition. Kommen Sie damit nicht zu spät?
»Bild« und AfD hetzen gegen die »Graswurzelrevolution«, weil der Verfassungsschutz Thüringen aus einem Text zitiert, der dort erschienen ist
Die Monatszeitung »Graswurzelrevolution« (»gwr«) gibt es seit mehr als 40 Jahren. Der verantwortliche Redakteur Bernd Drücke hat in den vergangenen Jahren immer wieder versucht, die Publikation in der linken Öffentlichkeit bekannt zu machen. Doch auf die Aufmerksamkeit, die die »gwr« seit einigen Tagen bekommt, hätte er wohl gerne verzichtet. Die AfD hetzt auf Twitter gegen die »linksextreme Anarchopostille« und verlinkt einen Bericht der »Bild«, in dem es heißt: »Die Anarcho-Postille kämpft seit 1972 für die Abschaffung unseres Staates und wurde früher selbst vom Verfassungsschutz beobachtet und als ›linksextrem‹ eingestuft.« Auf die aus journalistischer Sicht naheliegende Idee, bei der so geschmähten Publikation eine Stellungnahme einzuholen, kam bei »Bild« niemand.
Der Grund für die plötzliche Aufmerksamkeit gegenüber der Zeitschrift ist ein Artikel, in dem der Sozialwissenschaftler Andreas Kemper ein jüngst erschienenes Buch des AfD-Politikers Björn Höcke analysiert hat. »Nie zweimal in dem selben Fluss« lautet der Titel. Dort präsentiert Höcke in Form eines Interviews seine Vision eines europäischen Großraums mit Deutschland als Kraftzentrum. »Das Lesen dieses Buches bestätigt den Gesamteindruck einer faschistischen Agenda«, so das Fazit von Kemper. Sein bereits Anfang September in »gwr« erschienener Text wurde erst zum Politikum, nachdem der Chef des Thüringer Verfassungsschutzes, Stephan Kramer, daraus zitierte, um zu begründen, warum Höcke und sein Flügel in der AfD von der Behörde beobachtet werden sollen. Zunächst nannte Kramer aber weder den Autor noch die Zeitung, die den Text veröffentlichte. Dafür hat er sich mittlerweile bei Kemper entschuldigt. Die AfD-Thüringen fordert jetzt Kramers Rücktritt, auch die Bundespartei hat sich dieser Forderung angeschlossen.
Für Kemper und die »gwr« hat die Kampagne Folgen. »Andreas Kemper hat dieser Tage zu Hause einen Anruf erhalten, die Person am anderen Ende der Leitung hat ›Heil Hitler, du Schwein‹ gerufen und wieder aufgelegt. Bei uns in der Redaktion sind auch einige Hassbotschaften eingegangen«, erklärt »gwr«-Redakteur Drücke gegenüber »nd«.
Kemper ist den Rechten schon lange verhasst. Er hatte bereits im vergangenen Jahr eine Analyse verfasst, in der er die These vertritt, dass Höcke unter dem Pseudonym Landolf Ladig in Neonazi-Postillen Texte veröffentlicht hatte. Höcke bestreitet das, ist aber nicht juristisch gegen Kemper vorgegangen. Der AfD-Bundesvorstand unter Frauke Petry hatte unter anderem mit Kempers Text seinen mittlerweile zurückgezogenen Ausschlussantrag begründet.
Dass nun auch der Verfassungsschutz sich ihres Materials bedient, nehmen Kemper und Drücke gelassen. »Ich fordere weiterhin die Auflösung aller Geheimdienste, aber ich sehe auch den Unterschied zwischen Maaßen und einem liberalen Sozialdemokraten wie Stephan Kramer«, so Drücke gegenüber »nd«. Zudem zeige die Angelegenheit, dass man keine Geheimdienste brauche, um etwas über die rechte Ideologie der AfD zu erfahren. Schließlich hat Kemper seine Analysen über Höcke lediglich auf allgemein zugängliche Quellen gestützt. Er war bislang auch der einzige Autor, der sich mit Höckes Buch auseinandergesetzt hat. Wenn Kramer aus diesen Arbeiten zitieren muss, um eine mögliche Beobachtung von Teilen der AfD zu begründen, mache er eigentlich schon deutlich, dass seine Behörde überflüssig ist.
Friedenspolitisches Bündnis ruft für 1. bis 4. November bundesweit zu dezentralen Protesten gegen Militarisierung auf
»Die Bundeswehr ist Pazifismus made in Germany. Eine historische Ausnahme«, behauptete jüngst der »taz«-Journalist Jürn Kruse in einem Kommentar. Mit dieser Auffassung ist der Autor nicht allein. Weit verbreitet ist die Ansicht, dass die Bundeswehr bei Übungen einen Moorbrand auslösen kann, aber mit Krieg und Militarismus eigentlich nichts mehr am Hut hat. Dabei will die Bundesregierung die Militärausgaben auf zwei Prozent der Wirtschaftsleistung in Deutschland verdoppeln. In der Öffentlichkeit wird kaum darüber gesprochen. Oft heißt es, die Bundesregierung folge nur den Vorgaben der NATO und der USA. Doch der Aufrüstungskurs hat auch antimilitaristische Gruppen aktiviert, die sich oft schon seit Jahren gegen die Aufrüstung wehren.
»Abrüsten statt aufrüsten«, lautet beispielsweise das einfache, aber klare Motto eines Aufrufs, den mittlerweile online und offline schon rund 100 000 Menschen unterschrieben haben. Argumentiert wird in dem Text vor allem mit Geld. Finanzen, die in Rüstung fließen, fehlen an anderer Stelle. »Zwei Prozent, das sind mindestens weitere 30 Milliarden Euro, die im zivilen Bereich fehlen, so bei Schulen und Kitas, sozialem Wohnungsbau, Krankenhäusern, öffentlichem Nahverkehr, kommunaler In-frastruktur, Alterssicherung, ökologischem Umbau, Klimagerechtigkeit und internationaler Hilfe zur Selbsthilfe«, heißt es in dem Aufruf.
Zu den Erstunterzeichner*innen gehören Politiker*innen der LINKEN sowie Abgeordnete vom linken Flügel der SPD wie Marco Bülow, Hilde Mattheis und Heidemarie Wieczorek- Zeul. Die Grünen sind nur mit der Bundestagsabgeordneten Katja Keul vertreten. Zahlreiche Mitglieder des DGB und seiner Einzelgewerkschaften unterstützen ebenfalls den Aufruf. Dazu gehören der Vorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, Frank Bsirske, und die Vorsitzende der Gewerkschaft NGG, Michaela Rosenberger. Ebenso haben DGB-Bundesvorstandsmitglied Annelie Buntenbach und der Erste Bevollmächtigte der IG-Metall in Frankfurt am Main, Michael Erhardt, unterzeichnet.
Kristian Golla vom Netzwerk Friedenskooperative, das ebenfalls den Aufruf unterstützt, zeigt sich im Gespräch mit »nd« erfreut über die starke Präsenz von Mitgliedern der DGB-Gewerkschaften unter den Unterzeichner*innen. »DGB, IG Metall und Friedensbewegung gehen wieder gemeinsame Wege«, sagt Golla. Bereits in der DGB-Erklärung zum Antikriegstag am 1. September 2017 wurde einer neuen Aufrüstung eine Absage erteilt. »Der richtige Ansatz dafür kann nicht sein, die Verteidigungsausgaben massiv zu erhöhen. Stattdessen brauchen wir eine gemeinsame Strategie der friedenssichernden Konfliktprävention«, heißt es dort.
Der Mitunterzeichner des Aufrufs und Bundesvorsitzende der Naturfreunde Deutschlands, Michael Müller, erklärte jüngst, dass neben der Erhöhung des Rüstungsetats die »schleichende Militarisierung der Außenpolitik« in Europa ein Grund für den Aufruf war. »Es gibt immer mehr Truppenübungen entlang der 1300 Kilometer langen Grenzen der EU zu Russland/Weißrussland, immer mehr sogenannte Alarmübungen, immer mehr Truppenverlagerungen, die Stationierung schwerer Waffen«, kritisierte Müller.
Der Aktivist beklagte auch, dass sich die Hoffnungen auf eine weltweite Abrüstung aus den frühen 1990er Jahren zerschlagen hätten. Seit den islamistischen Anschlägen von 2001 in den USA werde der Ruf nach neuen Waffen immer lauter.
Die Initiative »abrüsten statt aufrüsten« will sich diesem Trend entgegenstellen. Vom 1. bis 4. November sollen bundesweit dezentrale Proteste gegen weitere Aufrüstung stattfinden. Der Anlass ist die zu diesem Zeitpunkt stattfindende Lesung des Bundeshaushalts im Bundestag. Dort werden auch die Rüstungsausgaben beschlossen. Zurzeit bereitet man nach Angaben der friedenspolitischen Initiative in verschiedenen Städten unterschiedliche Protestaktionen vor.
Golla erhofft sich eine größere Teilnahme junger Menschen an den Protesten. Dass sie für das Thema Antimilitarismus prinzipiell erreichbar sind, zeigte sich erst jüngst wieder in Kassel. Dort hatten Aktivist*innen des Bündnisses »Block War« für zwei Stunden die Zugänge des Rüstungskonzerns »Rheinmetall Landsysteme und MAN Military Vehicles« im Industriepark Mittelfeld blockiert. »Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr weiter Waffen baut«, lautete das Motto. Ein Großteil der rund 50 Blockadeteilnehmer*innen: eher jung.
Wie die Angst vor der Rechten eine Merkel-Linke schafft. Eine Diskussion in Berlin zeigte viel Ratlosigkeit, aber auch ein paar Ansätze
Die Bundesregierung hat die Causa Maaßen vordergründig gelöst, doch der Streit geht unmittelbar weiter. Die SPD-Vorsitzende Nahles soll den jetzt getroffenen Vorschlag vor einigen Tagen noch abgelehnt haben, was Innenminister Seehofer behauptet und Nahles bestreitet. Doch auch die außerparlamentarische Linke ringt noch um eine Position.
Am vergangenen Samstag diskutierten Flüchtlingsaktivisten und Antifaschisten aus Chemnitz über die Frage der Solidarität [1]. Eingeladen hatte die Monatszeitschrift ak (analyse und kritik) [2], die vor mehr als vier Jahrzehnten gegründet wurde und die Veränderung der außerparlamentarischen Bewegungen seitdem kritisch begleitet.
Da hätte man sich doch eine gesellschaftliche Einordnung gewünscht. Schließlich können sich viele ak-Autoren an die Zeiten Anfang der 1990er Jahre erinnern, als Flüchtlingsunterkünfte wie in Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda oder Mannheim-Schönau von Neonazis angegriffen und in Brand gesetzt wurden, während „besorgte Bürger“ danebenstanden und applaudierten.
Die Angst vor der Rechten und die Merkel-Linke
Diese historischen Reminiszenzen sind schon deshalb wichtig, um vor einer Stimmung zu warnen, die „nach Chemnitz“ fast den Sieg des Faschismus an die Wand malt. Das ist nicht nur historisch falsch und lähmt die Gegenkräfte. So wird mit der Gefahr eines drohenden Faschismus der real existierende Kapitalismus beinahe schon als letzte Verteidigungslinie dargestellt.
Das ist der Grund für die wachsende Merkellinke, die es von SPD über Grüne bis zur Linkspartei und gelegentlich in der außerparlamentarischen Linken gibt. Selbst so schlaue Analytiker wie Rainer Trampert [3] sind davon nicht frei. Das Paradoxe dabei ist, dass das Erstarken der Merkel-Linke mit dazu führt, dass sich die Rechte als einzige Alternative zum Status Quo aufspielen kann.
So wird aus Angst vor der Rechten genau diese verstärkt. Eine weitere Paradoxie wurde auch auf der Berliner Veranstaltung nicht erwähnt, weil sie wenig bekannt ist. Die CDU/CSU unter Kohl hat einen großen Anteil daran, dass Sachsen zur rechten Ordnungszelle wurde. Ab Ende Oktober 1989 wurde die nationalistische Welle mit Deutschlandfahnen und entsprechenden Materialien aus dem Westen massiv angeheizt.
Es ging zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr um die schon geschlagene SED, sondern um die linke DDR-Opposition [4] die zu dem Zeitpunkt noch für eine eigenständige DDR agierte [5]. Im Kampf dagegen bedienten sich die Unionsparteien auch der Rechtspartei DSU, die durchaus als ein AfD-Vorläufer gelten kann. Seit Herbst 1989 war Sachsen eine rechte Ordnungszelle.
„Ich würde mein Bett nie an ein Fenster zur Straße stellen“
Wie sich auf das Alltagsleben für linksalternative Chemnitzer auswirkte, berichteten mehrere Aktive des Bündnisses Chemnitz Nazifrei [6]. So erzählten Bewohner von linken Chemnitzer Wohnprojekten, dass sie darauf achten, ihr Bett nicht an ein Fenster zur Straßenseite aufzustellen. Schließlich müsse immer damit gerechnet werden, dass es rechte Angriffe gebe.
Ein anderer Chemnitzer Linker sprach davon, dass es sich wie Urlaub anfühlt, wenn er mal nur die Stadt verlässt. Er muss nicht immer darauf achten, ob ihm Rechte auf der Straße entgegenkommen. Die jungen Chemnitzer betonen, dass diese Vorsichtsmaßnahmen bei ihnen seit Jahren Alltag gewesen seien.
Nur hatte lange eben niemand so genau hingeguckt. Mittlerweile guckt man auch wieder weg, obwohl erst vor wenigen Tagen wieder mehrere Tausend Menschen an einer Demonstration der rechten Partei Pro Chemnitz teilgenommen haben, wie die Chemnitzerin Ida Campe [7] informiert, die ausführlich über die rechte Szene in dieser Stadt berichtet, wenn die meisten auswärtigen Medienvertreter schon wieder abgereist sind.
Bild-Zeitung und AfD einig gegen „graswurzelrevolution“
Manche haben sie sich schon wieder auf die Linke eingeschossen, beispielsweise auf die Monatszeitung graswurzelrevolution [8], die sich als gewaltfrei-libertär versteht. Das hindert die Bild-Zeitung [9] aber nicht, gegen das „Anarchistenblatt“ zu hetzen.
Die Kampagne hatte die AfD-Thüringen [10] begonnen, die sich darüber echauffierte, dass der liberale Verfassungsschutzpräsident von Thüringen aus einem analytischen Artikel [11] des Sozialwissenschaftlers Andreas Kemper [12] über den AfD-Rechtsaußen Björn Höcke in der graswurzelrevolution zitierte.
Dass ein VS-Präsident aus einer linken Zeitung zitiert, geht gar nicht, da sind sich Bild und AfD einig. Pikant für die Rechtspartei: Der alte AfD-Bundesvorstand hatte mit Materialien von Andreas Kemper seinen mittlerweile gescheiterten Ausschlussantrag gegen Höcke begründet. Im Umgang mit der graswurzelrevolution wird der bürgerliche Normalfall deutlich, da sind sich Ultrarechte und Konservative einig im Kampf gegen links. Das wollen manche Merkellinke nicht wahrhaben.
Kampf für eine solidarische „Stadt für alle“ ist der beste Kampf gegen rechts
Bei der ak-Diskussion war diese Merkel-Linke nicht vertreten. Da hätte man sich mehr eigenständige linke Positionen gewünscht. Doch da gab es eher Ratlosigkeit und Vorschläge, die weniger durch eine Analyse als durch Endzeitstimmung geprägt sind. Da kamen Vorschläge für eine antifaschistische Belagerung von Städten mit rechten Aktivitäten. Ernster zu nehmen ist der Appell der Chemnitzer Linken, doch in ihre Stadt zu kommen.
„Da gibt es günstig Wohnungen und Häuser“, wollte einer von hohen Mieten geplagten Berlinern einen Umzug schmackhaft machen. Es ist aber nur sehr unwahrscheinlich, dass er damit viel Erfolg hat. Wünschenswert wäre ein solcher Zuzug durchaus, wenn es um die Stärkung von Alltagskämpfen und solidarischen Netzwerken für alle in der Stadt lebende Menschen ging.
Das könnten solidarische Begleitungen zum Jobcenter ebenso sein, wie Unterstützung bei Mietproblemen und Arbeitskämpfen. Wichtig ist, dass es dabei um die Kooperation von Menschen unterschiedlicher Herkunft geht. So könnte man ein solidarisches Klima in der Stadt erzeugen, das der AfD und ihrem Umfeld den Wind aus den Segeln nimmt.
Sie profitieren davon, dass Menschen Angst vor Migranten, vor Kriminalität etc. haben. Sie verlieren da, wo Menschen ihre Rechte als Mieter, Erwerbslose, Lohnabhängige wahrnehmen. Daher wäre ein Beitrag zum Kampf gegen Rechts nicht eine „Belagerung der Stadt“, sondern solidarische Aktionen an Jobcentern, gemeinsam mit Betroffenen, woher auch immer sie kommen, oder bei Unternehmen, die den Beschäftigten zu wenig Lohn zahlen.
Peter Nowak
URL dieses Artikels:
http://www.heise.de/-4171983
https://www.heise.de/tp/features/Was-soll-die-Linke-nach-Chemnitz-machen-4171983.html