Knasterfahrung

Alternative Bewegungen in Russland stehen zwischen Integration und Gefängnis

»Wer sich einer gesellschaftlichen Situation nähern will, tut gut daran, sich die Lage derer zu vergegenwärtigen, denen die Teilnahme an ihr untersagt oder beschränkt ist«, heißt es im Vorwort eines Buches, das sich unter dem Titel »Isolation und Ausgrenzung« mit der parteiunabhängigen Linken und alternativen Bewegungen in Russland und Belarus befasst. Die Beiträge in diesem Buch geben einen Überblick über eine politische und künstlerische gesellschaftlich marginalisierte Szene, deren Protagonisten in ständiger Gefahr leben, im Gefängnis zu verschwinden.

Drei ebenfalls in diesem Band abgedruckte Gefängnisbriefe sind daher wichtige Dokumente und Zeugnisse von Repression und Widerstand in Russland. Darunter der Brief von Alesej Gaskarow, der sich seit Jahren zur außerparlamentarischen Linken in Russland zählt. Bereits 2010 saß er für mehrere Monate in Untersuchungshaft, weil er sich an den Protesten gegen die Abholzung des Chimki-Waldes bei Moskau beteiligt hatte. Die Aktionen spielten für die außerparlamentarische Linke in Russland eine sehr wichtige Rolle. Im Oktober 2012 wurde Gaskarow in den Koordinationsrat der russischen Opposition gewählt. In dem 45-köpfigen Gremium koordinierten sich auf dem Höhepunkt der Proteste gegen Putins Wiederwahl die Gegner des Präsidenten. Das Spektrum im Koordinationsrat reichte von Nationalisten bis hin zu außerparlamentarischen Linken, die Gaskarow vertrat. Am 28. April 2013 wurde er wegen Störung der öffentlichen Ordnung zu einer Haftstrafe von dreieinhalb Jahren verurteilt. Ihm wurde vorgeworfen, eine wichtige Rolle bei der Organisierung von Demonstrationen gegen Putins Wiederwahl gespielt zu haben. Dabei hatten Aktivisten trotz verhängter Demonstrationsverbote Plätze in Moskau und anderen russischen Städten besetzt. Dass die Regierung neben der Kriminalisierung der radikalen Teile auch Integrationsangebote an die außerparlamentarische Bewegung macht, beziehungsweise einigen Massenprotesten bereits nachgegeben hat, beschreibt Galina Mihaleva in ihrem Aufsatz: So wurde ein als korrupt geltender Gouverneur von Kaliningrad nach Protesten Tausender Stadtbewohner abberufen. In Sankt Petersburg wurde der Bau des Hochhausturms »Gasprom City« nach anhaltenden Widerstand der Bevölkerung gestoppt.

Herausgegeben wurde das Buch von dem belorussischen Wissenschaftler Luca Bublik, dem Berliner Historiker Johannes Spohr und der russischen Publizistin Valerie Waldow. Das Trio ist seit Jahren in der Arbeitsgruppe Russland (AGRu) aktiv, die zum Jugendbildungsnetzwerk der Rosa-Luxemburg-Stiftung gehört. Seit mehreren Jahren hält die AGRu Kontakt zu unterschiedlichen künstlerischen, politischen und sozialen Projekten vor allem in Nordwestrussland. Dies kam jetzt der vorliegenden Veröffentlichung zu Gute. Der Band »Isolation und Ausgrenzung« liefert in knapper Form einen guten Einstieg in die Thematik der hierzulande noch weitgehend unbekannten russischen Protestbewegungen.

Isolation und Ausgrenzung als post/sowjetische Erfahrung. Trauerarbeit. Störung. Fluchtlinien. Hg.: Luca Bublik / Johannes Spohr / Valerie Waldow. Assamblage 2016, 128 Seiten, Broschur, 12,80 Euro.

Peter Nowak

Geht es wirklich nur um Menschenrechte, wenn Erdogan kritisiert wird?

Manche finden das gestiegene Interesse ein bisschen heuchlerisch – zur Sonderausgabe der deutsch-türkischen Taz

Wer schon immer die Türken vor Berlin stehen sieht, kann sich heute bestätigt fühlen. Die linksliberale Taz erscheint heute in deutsch-türkischer Version: Die taz.die günlük gazete[1] ist ein Beitrag der Taz-Redaktion in enger Kooperation mit linksliberalen und linken türkischen Medien zum Internationalen Tag der Pressefreiheit. Beim Durchblättern bekommt der Leser einen guten Überblick über den Stand der Pressefreiheit aktuell in der Türkei.

So sind bis 2015 unter der AKP-Regierung 2.211 Journalistinnen und Journalisten entlassen worden. 31 Journalisten waren 2015 in der Türkei inhaftiert. Mindestens 150 Beschlüsse zu Nachrichtensperren gab es zwischen 2010 und 2014 in dem Land.  110.464  Webseiten wurden in den letzten Jahren in der Türkei geblockt. Auf 16 Seiten versuchen linke und linksliberale Journalisten  in Deutsch und Türkisch darzulegen, wie der Alltag eines kritischen Medienarbeiters heute in der Türkei aussieht.

So beschreibt die Journalistin Pinar Ögünc von der liberalen türkischen Tageszeitung Cumhuyriyet, was sich zwischen dem Beginn und dem Schluss dieses Artikels, also wohl in einer relativ kurzen Zeit ereignet hat:

In den wenigen Stunden zwischen Anfang und Textes war viel geschehen: „Bilal Güldem, Reporter der Nachrichtenagentur Diha, wurde verhaftet. Die Diha-Reporter arbeiten in den kurdischen  Provinzen unter andauernden Gefechten. ….. Gleichzeitig wurde die türkisch-niederländische  Journalistin und Kolumnistin Ebru Umar in Kusadasi festgenommen. Der Vorwurf: Sie soll den Staatspräsidenten Erdogan in Tweets und in einem Artikel in der Zeitung Metro beleidigt haben“. Gleichzeitig wurde in griechischer Fotograf am Flughafen von Istanbul  an der Einreise in die Türkei gehindert worden.

So ist taz.die günlük gazete ein gutes Beispiel für eine transnationale zivilgesellschaftliche Aktion, um auf verfolgte Journalistinnen und Journalisten aufmerksam zu machen.

Die Rolle der Pool-Medien

Bereits am Vortag gab es im überfüllten Taz-Café die Vorstellung des deutsch-türkischen Zeitungsprojekts für einen Tag. Der deutsch-türkische Journalist Deniz Yüksel machte dort anschaulich klar, was gemeint ist, wenn in der Türkei von regierungsnahen Medien die Rede ist. Er sprach von den Pool-Medien, die nicht nur ideologisch der AKP-Regierung und der Erdogan-Präsidentschaft nahestehen.

Sie haben von der Regierung eingesetzte Verwalter und werden von Freunden, Geschäftspartnern und Verwandten des Präsidenten regelrecht aufgekauft.  Die Medien, die noch nicht davon betroffen sind, wagen gar nicht erst, kritische und oppositionelle Artikel zu veröffentlichen. Zu groß ist die Angst, sonst ebenfalls zu den Pool-Medien gehören.

Bei der Taz-Veranstaltung stand natürlich der deutsch-türkische Deal zur Abwehr von Migranten zur Diskussion und in der Kritik. Dass dabei auch parteipolitische Konflikte ausgetragen wurden, war schon durch die Anwesenheit der bekannten Grünen-Politikern Claudia Roth[2] garantiert. Sie wurde eingeladen, weil sie seit mehreren Jahrzehnten Kontakt zur Opposition in der Türkei hält.

Ihr erster Besuch aber galt, ganz stilecht „grün“, der Rettung einer bedrohten Schildkrötenart. Danach hätten türkische Oppositionelle sie gefragt, ob nicht die Rettung von verfolgten Linken, Gewerkschaftern und Intellektuellen eine höhere Priorität haben müsste.  Dass Roth noch vor wenigen Jahren die Wahl der AKP unter Erdogan begrüßt hat, sieht die Politikerin heute als Fehler.

Sie habe damals gehofft, dass die Erdogan-Regierung  gemeinsam mit der EU die Türkei demokratischer mache, so ihre Begründung. Damit war Roth nicht allein. Viele Medien und auch Politiker, die heute das Thema Menschenrechte in der Türkei entdecken, haben lange Zeit die AKP-Regierung verteidigt.

Tatsächlich hat sie sich im Kampf gegen die alte kemalistische Elite auch mit einer Menschenrechtsrhetorik geschmückt und in gewissen Bereichen Lockerungen der autoritären Herrschaft veranlasst. Was bei dieser Debatte allerdings nicht verschwiegen werden sollte: Die besonders wirtschaftsliberale AKP-Regierung war genau deshalb auch vielen politischen Kräften ein willkommener Partner beim Schleifen der Restbestände von staatlicher Sozialgesetzgebung aus der kemalistischen Zeit.

Zudem gab und gibt es eine Repression gegen politische Oppositionelle in der Türkei, die von der EU nicht nur nicht kritisiert, sondern aktiv unterstützt wird. Gemeint ist die Verfolgung von türkischen und kurdischen Linken. Mehrere dieser Gruppierungen sind wie die PKK oder DHKP/C in der Türkei und in Deutschland verboten. Vermeintliche oder tatsächliche Mitglieder dieser Gruppierungen sitzen in beiden Ländern im Gefängnis und die Justiz unterstützt sich gegenseitig.

Deutsches Exportprodukt Isolationshaft

Ein prägnantes Beispiel für die deutsch-türkische Kooperation  ist der „Export der Isolationshaft“[3], die in den 1970er Jahren in Deutschland und anderen EU-Staaten eingeführt wurde – gegen heftigen Widerstand der Gefangenen, die darauf mit Hungerstreiks reagierte.   Kürzlich  hat die Schweizer Journalistin Sabine Hunziker[4] im Unrast-Verlag unter dem Titel Protestrecht des Körpers[5] ein Buch herausgeben, das einen Überblick über diese Kampfform gibt. Als Ende der 1990er Jahre die Isolationshaft auch in den türkischen Gefängnissen eingeführt werden sollte, begann der wohl längste Hungerstreik von  Gefangenen dagegen, der 130 Menschen das Leben kostete (Der Kampf gegen den stillen Tod[6]).

Die Hungerstreiks begannen noch unter der Ägide der autoritären kemalistisch-nationalistischen Regierungen der Türkei, die innenpolitisch in einen erbitterten Machtkampf mit der aufstrebenden AKP standen. So zerstritten sie auch sonst waren, in der Praxis der Verfolgung oppositioneller Bewegungen waren sie sich einig. Als der Hungerstreik im Jahr 2006 beendet wurde, war die AKP schon an der Regierung. Für die Hungerstreikenden und ihre Unterstützer hatte sich, was die Verfolgung und Repression anbelangt, nichts verändert.

Von der EU gab es für sie keine Unterstützung, weil die schließlich die neuen Haftbedingungen als durchaus EU-konform ansah. Daher  fragen sich manche türkische Oppositionelle aktuell auch, warum die Kritik an der aktuellen Repression in  ihrem Land jetzt so besonders laut wird. Ist es wirklich die Sorge um die weitere Einschränkung der Menschenrechte oder spielen dabei auch wirtschaftliche und politische Gründe eine Rolle?

Der türkische Satiriker Gözde Kazaz beantwortet  in der aktuellen taz die günlük gazete die Frage so:

Um ehrlich zu sein, finde ich das gestiegene Interesse ein bisschen heuchlerisch. … Erdogan ist ja nicht erst seit gestern an der Macht. Er steht seit vierzehn Jahren an der Spitze des Landes.

Davor aber   war die Politik der Unterdrückung und Repression um keinen Deut besser, hätte er noch hinzufügen können.

Streit um das erste Genozid im 20. Jahrhundert

Für konservative  Kräfte wie die CSU zumindest ist die Kritik an der Menschenrechtssituation in der Türkei ein Vehikel, um das Land aus der EU herauszuhalten. Sie waren schon immer der Meinung, dass das Land nicht zu Europa gehört. Ein weiterer Konflikt mit der türkischen Regierung steht demnächst an.

Es geht um eine geplante Resolution im Bundestag, in der das Massaker an der armenischen Bevölkerung zwischen 1915 und 1918 als Genozid bezeichnet werden soll. Die türkische  Regierung reagiert bereits im Vorfeld mit Protesten[7].  Bereits in den vergangenen Jahren hatten ähnliche Initiativen in  Frankreich und anderen Ländern  zu Verstimmungen zwischen der Türkei und den jeweiligen Ländern geführt.

Auch hier spielen politische Erwägungen mit hinein, die wenig mit den Menschenrechten zu tun haben. Zunächst wäre es ja gerade für den deutschen Bundestag interessant, die Rolle der damaligen deutschen Führung und ihrer Dependance in der Türkei  in den Mittelpunkt zu stellen. Schließlich wäre das Massaker an den Armeniern ohne deren Unterstützung[8] kaum möglich gewesen.

Es gab bereits damals zeitgenössische Stimmen, die davor warnten. Aber sie wurden übergangen oder sogar zum Schweigen gebracht. Wen zudem in der Resolution suggeriert werden soll, dass das Massaker an den Armeniern das erste Genozid des 20.Jahrhunderts gewesen ist, dann wird außer Acht gelassen, dass das Massaker an den Herrero und Nama im Jahr 1904 zeitlich ebenfalls im 20.Jahrhundert liegt. Es wurde von deutschen Kolonialtruppen verübt[9].

Es gibt viele Zeugnisse, die beweisen, dass die verantwortlichen Militärs ein Großteil der aufständischen Bevölkerung bewusst in eine wasserlose Wüste getrieben und der Vernichtung preisgegeben haben.

Seit Jahren gibt es Initiativen, die eine Entschädigung für die Nachkommen der Opfer fordern[10] und die das Massaker als Genozid bezeichnen. Stünde es nicht dem Bundestag gut an, diese Vernichtung als ersten Genozid im 20.Jahrhundert zu bezeichnen, sich dafür offiziell zu entschuldigen[11] und die Nachkommen zu entschädigen?

http://www.heise.de/tp/artikel/48/48147/2.html

Peter Nowak

Anhang

Links

[1]

http://www.taz.de/!p5010/

[2]

http://claudia-roth.de/

[3]

https://www.nadir.org/nadir/initiativ/kombo/k_45/k_45trlib.htm

[4]

http://www.septime-verlag.at/autoren/hunziker.html

[5]

http://www.unrast-verlag.de/neuerscheinungen/protestrecht-des-koerpers-detail

[6]

http://www.heise.de/tp/artikel/11/11433/

[7]

http://www.welt.de/politik/deutschland/article154940380/Tuerkei-warnt-Bundestag-vor-Armenien-Resolution.html

[8]

http://www.deutschlandfunk.de/deutsche-beteiligung-am-voelkermord-an-den-armeniern.730.de.html?dram:article_id=102524

[9]

http://www.spiegel.de/politik/ausland/deutschlands-erster-voelkermord-das-roecheln-der-sterbenden-verhallte-in-der-erhabenen-stille-a-313043.html

[10]

http://www.az.com.na/politik/entschdigung-war-kein-thema.139056.php

[11]

http://genocide-namibia.net/alliance/appellpetition

Die Linkspartei muss sich nach dem Aufstieg der AfD neue Strategien überlegen

Lager der Solidarität statt Bündnisse mit SPD und Grünen?

Wenn die beiden Vorsitzenden der Linkspartei Katja Kipping und Bernd Riexinger das Wort Revolution in die Debatte werfen, müsste das eigentlich die mediale Aufregung groß sein. Es ist schließlich erst einige Jahre her, dass die damalige Parteivorsitzende Gesine Lötzsch große Empörung auslöste, als sie über die Perspektive Kommunismus[1] auf einer öffentlichen Veranstaltung diskutierte (Der Weg zum Kommunismus wird weiter beschritten[2]).

Als Riexinger und Kipping unter dem Motto „Revolution für soziale Gerechtigkeit und Demokratie“[3] Vorschläge für die innerparteiliche Debatte vorlegten, dürften sie vielleicht sogar auf etwas Pressewirbel gehofft haben. Doch der hielt sich in engen Grenzen. Schließlich wird heute ja in Wirtschaft, Werbung und Kultur jedes Lüftchen zu einer Revolution hochgejazzt. Und auch Kipping und Riexinger wollten nun weder die Pariser Kommune noch den Roten Oktober 1917 wiederholen.

Allerdings wurde in der Erklärung deutlich hervorgehoben, dass die Linkspartei auf den Aufstieg der AfD nicht mit Anpassung an deren Programm reagieren darf, aber auch nicht deren Wähler pauschal als Rassisten abschreiben darf. In dem Text wird der sächsische Linksparteivorsitzende Rico Gebhardt[4] mit den Worten zitiert:

Den größten Beitrag, den wir als Linke gegenwärtig gegen den Rechtstrend leisten können, ist, wenn wir die Arbeiterschaft und die Arbeitslosen zurückgewinnen. Das ist eine soziale Herausforderung mit hohem antifaschistischem Effekt!Rico Gebhardt

Rico Gebhardt

Nun bestünde ja eigentlich die größte Frage darin, wie es der Linkspartei gelingen kann, Gewerkschaftsmitglieder, prekär Beschäftigte und Erwerbslose, die bei den letzten Wahlen für die AfD gestimmt haben, zurückzuholen, ohne deren Diskurse und Programmpunkte auch nur ansatzweise zu übernehmen. Zudem hat gerade Gebhardt in Sachsen bisher einen besonders ausgeprägten Mittekurs gefahren und seine letzte Wahlkampagne auf ein Bündnis mit SPD und Grünen ausgerichtet.

Dass diese Pläne an dem Wahlergebnis gescheitert sind, ist das eine. Damit ist kein Politikwechsel verbunden, wenn man nur die Tatsachen zur Kenntnis nimmt, dass es schlicht in noch mehr Bundesländern keine Grundlage mehr für ein sogenanntes rot-rot-grünes Bündnis, also die Koalition mit Linkspartei, SPD und Grünen, gibt.

Privatsphäre für Höcke oder auch für die Roma-Flüchtlinge?

Diese Tatsache zu benennen, ist für die Linkspartei sicher schmerzlich, weil sie ja erst im letzten Jahr ihren ersten Ministerpräsidenten Ramelow als Pilotprojekt ausgerufen hat. Wie die Grünen ihren Winfried Kretschmann zum politischen Rollenmodell aufbauen, wollten auch die Linken mit Bodo Ramelow ihren Kurs Richtung Mitte fortsetzen.

Dass Ramelow erst vor wenigen Tagen persönlich[5] eine geplante Demonstration[6] von Thüringer Antifaschisten vor dem Haus des AFD-Rechtsaußen Björn Höcke in die Nähe von Naziaktionen rückte[7], macht nur einmal mehr deutlich, dass Linken an der Regierung immer eine besondere Vorleistung an Anpassung abverlangt wird.

Wenn Ramelow sich um die Privatsphäre von Höcke mehr sorgt, als um die der Roma, die jahrelang in Thüringen lebten und abgeschoben[8] wurden, zeigt bei aller antirassistischen Rhetorik, dass auch der erste Ministerpräsident der Linkspartei die Rechte von Menschen, die in Deutschland leben, unterschiedlich gewichtet. Die durchaus diskutable Kritik, Proteste auch an die Privatadresse von Funktionsträgern aus Wirtschaft und Politik zu tragen, hätte nur dann Glaubwürdigkeit, wenn man den Menschen ohne deutschen Pass diese Privatsphäre auch ausdrücklich und explizit zubilligt. An solchen Fragen wird sich aber erweisen, ob die Bildung eines Lagers der Solidarität, das Kipping und Riexinger einfordern, mehr als ein Lippenbekenntnis ist.

Ein anderer zentraler Punkt ist der Umgang mit Grünen und SPD. Dazu werden in dem Papier Fakten benannt, die seit Jahren bekannt sind:

SPD und Grüne sind von sozialer Gerechtigkeit derzeit weiter entfernt als je zuvor, es gibt kein linkes Lager der Parteien mehr. Mehr noch: SPD und Grünen haben sich offenbar mit ihrer Rolle als Mehrheitsbeschaffer in einer „marktkonformen Demokratie“ (Merkel) abgefunden.Kipping/Riexinger

Kipping/Riexinger

Nur müsste dann die Frage kommen, hatte Rico Gebhardt in Sachsen und Wulff Gallert in Sachsen-Anhalt diese Rolle von SPD und Grünen vergessen, als sie unbedingt mit diesen Parteien die neue Regierung bilden wollten? Und wer sagt eigentlich dem Berliner Landesverband der Linkspartei, dass es kein linkes Lager gibt? Die will bei entsprechenden Mehrheitsverhältnissen nach den Wahlen in Berlin gerne wieder mitregieren, obwohl sie sich gerade erst von den Blessuren zu erholen beginnt, die sich die Partei beim Mitverwalten der kapitalistischen Krise in Berlin geholt hat. In der Erklärung aber, darüber darf das Gerede von einer Revolution nicht hinwegtäuschen, werden neue Regierungsbündnisse mit SPD und Grünen explizit nicht ausgeschlossen.

Von Sanders, Corbyn und Podemos lernen und Tsipras schon vergessen?

Dieser Kurs wird im letzten Abschnitt noch bekräftigt, wenn nun empfohlen wird, von Sanders und Corbyn zu lernen, die beide regieren wollen.

Podemos in Spanien hat zumindest zunächst eine totale Kapitulation abgelehnt, den die spanischen Sozialdemokraten ihr als Preis für eine Tolerierung abverlangen wollten. Nun muss sich zunächst zeigen, ob sie bei den Neuwahlen in Spanien gestärkt werden und so gegenüber den Sozialdemokraten legitimieren können. Werden diese doch wieder stärker oder gehen gar die spanischen Konservativen erfolgreich aus den Wahlen hervor, könnte der Druck auf Podemos wachsen, ihre Prinzipien über Bord zu werfen.

Hier kommen eben die Mechanismen einer Orientierung auf Wahlen zum Tragen, denen nur monolithische Parteien wie die Kommunistische Partei Griechenlands trotzen können. Die ist allerdings trotzdem nicht in der Lage, eine zeitgemäße linke Programmatik zu entwickeln und hat auch keine Strategie für einen außerparlamentarischen Kampf über Parteigrenzen hinweg. Podemos zumindest hat sich mit ihren Zugehen auf die alte Linke, der sie bei den letzten Wahlen noch die kalte Schulter gezeigt hat, als in bündnispolitischen Fragen flexibel erwiesen. Auffällig ist, dass Syriza und deren Vorsitzender nicht explizit als Vorbild die Linkspartei erwähnt wurden.

Schließlich waren er und seine Partei nach den Wahlen vom Januar 2015 für einige Monate der große Held. Hier greift eine Kritik des Publizisten Linkspartei-Politikers Dominik Heilig[9], der in einer Kolumne im Neuen Deutschland moniert[10];

Es ist ein wiederkehrendes Schauspiel, das die Linke in Europa von einer Euphorie zur nächsten Niederlage treibt. Mit großer Aufmerksamkeit werden emanzipatorische und progressive Phänomene wie die Indignados, Nuit debout oder die Regierungsübernahmen in Athen und Lissabon zur Kenntnis genommen und sogleich zu Vorbildern erklärt. „Man müsste“, „man sollte“, „so funktioniert es“, hallt es dann in vielen Papieren und auf Parteitagen. Selten aber gelingt die Übersetzungsleistung auf die eigenen gesellschaftlichen Problemstellungen.Dominik Heilig

Dominik Heilig

Wie organisiert man sich mit den Prekären?

Die zentrale Frage aber beantwortet auch er nicht. Wie kann sich eine Linkspartie mit Menschen organisieren, die in prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen die AFD wählen? Schließlich ist nicht nur die Klassenlage und ihre soziale Situation entscheidend, sondern auch die Frage, wie die Menschen sich diese Lage erklären. Wer nun die AfD wählt, muss nicht zwangsläufig Rassist sein, aber doch zumindest Erklärungsansätze für akzeptabel halten, die auf Ausgrenzung und Hierarchisierung beruhen.

Wie aber passt das zu einer Linkspartei, die ihren Anspruch Ernst nimmt, soziale und politische Rechte nicht an Hautfarbe, Pass und Herkunft festzumachen? Das ist im Kern auch der Auseinandersetzung mit Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine, wenn man sie vom innerparteilichen Flügelstreit löst. Der drückt sich schon darin aus, dass Wagenknechts Äußerungen zur Obergrenze für Geflüchtete von Realpolitikern der Linkspartei heftig kritisiert werden, die sich nicht äußern, wenn in Thüringen Roma abgeschoben werden. Diese innerparteiliche Gemengelage hat der Publizist Raul Zelik im Neuen Deutschland so beschrieben[11]:

Parteilinke, die bisher v.a. für ihren Widerstand gegen falsche Kompromisse bekannt waren, pochen auf Realpolitik. Offene Grenzen seien unrealistisch, so sagen sie, wenn man nicht gleichzeitig den Kollaps des Sozialstaats in Kauf nehmen wolle. Ohne Umverteilung auf Kosten der Reichen werde die Zuwanderung nämlich die öffentlichen Haushalte überlasten und die Lebensverhältnisse der Unterschicht noch weiter verschlechtern. … Parteilinke, die bisher v.a. für ihren Widerstand gegen falsche Kompromisse bekannt waren, pochen auf Realpolitik. Offene Grenzen seien unrealistisch, so sagen sie, wenn man nicht gleichzeitig den Kollaps des Sozialstaats in Kauf nehmen wolle. Ohne Umverteilung auf Kosten der Reichen werde die Zuwanderung nämlich die öffentlichen Haushalte überlasten und die Lebensverhältnisse der Unterschicht noch weiter verschlechtern.Raul Zelik

Raul Zelik

Zuwanderung auch eine Klassenfrage

Zelik geht dann sowohl auf die Argumente derer ein, dass die Zuwanderung für unterschiedliche Menschen unterschiedliche Auswirkungen hat.

Für die Putzkraft oder den ungelernten Arbeiter auf dem Bau erhöht Zuwanderung den Druck auf das Lohnniveau – weswegen man in diesen Tagen auch so manche türkische Migrantin über die Einwanderung stöhnen hören kann. Für den urbanen Akademiker, der trotz seiner Projekt-Prekarität eigentlich ganz gut über die Runden kommt (falls der Hedonismus nicht zu teuer wird), stellt Migration hingegen sicher, dass die frisch zubereitete Kokos-Tofu-Suppe im Schnellrestaurant auch in Zukunft für fünf Euro zu haben ist. Im Segment der Medienkreativen wird die Konkurrenz durch ZuwandererInnen erst einmal überschaubar bleiben.Raul Zelik

Raul Zelik

Zudem warnt er auch vor manchen linken Romantisierungen, die in den Migranten das neue revolutionäre Subjekt erkennen wollen. Aber gerade daraus zieht Zelik nicht die Schlussfolgerung, dass nun auch Linke für Abgrenzung und Obergrenzen eintreten müssen.

Trotzdem bleibt richtig, dass die Vielen, die als „Schwarm“ der Migration ein besseres Leben suchen, Proletariat im Marxschen Sinne sind. Ihre Situation ist zu flüchtig und unsicher, als dass ein handlungsfähiges politisches Subjekt aus ihnen werden könnte, aber das ändert nichts dran, dass diese Vielen ein grundlegendes soziales Recht einfordern: die Teilhabe am längst global produzierten gesellschaftlichen Reichtum. Die einzige mögliche Antwort von links kann hier lauten: „Wir alle haben ein Recht auf ein gutes Leben und das können wir nur gemeinsam und organisiert erkämpfen.“Raul Zelik

Raul Zelik

Daraus zieht er aber auch sehr konkrete und praktische Schlussfolgerungen. Es gehe darum, sich mit den Migranten zu organisieren und mit ihnen für gleiche soziale und politische Rechte zu kämpfen. Das kann in einen Mietenbündnis ebenso passieren wie in Erwerbslosengruppen oder in einer Gewerkschaft. Am Ende bringt er ein sehr anschauliches Beispiel von einem Ortsverband der Linken: „Ein Ortsverband in einer kleinen, rechts dominierten Stadt wie Suhl (Thüringen) zum Beispiel: Die meisten hier sind ältere Frauen. Mit großen Zweifeln an sich selbst und ihrer Arbeit organisieren sie Erwerbslosenfrühstück, Ämterbegleitung, Flüchtlingssolidarität, Anti-Pegida-Proteste.“ Was Zelik hier andeutet, könnte die Leerstellen in den Parteierklärungen und Dokumenten füllen. Dort wird immer betont, die Partei müsse die Menschen im Alltag erreichen, müsse ihnen zeigen, dass die AfD keine Alternative ist. Das geht aber nur in konkreten Alltagskämpfen gegen Vertreibung und Zwangsräumung, gegen Dumpinglöhne, gegen Sanktionen in Jobcentern. In diesen Auseinandersetzungen agieren Betroffene unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Alter, ihrer Religion. Dort könnte auch ein AfD-Wähler erkennen, dass es solidarische Alternativen gibt, mit den Zumutungen des kapitalistischen Alltags umzugehen.

http://www.heise.de/tp/artikel/48/48122/2.html

Peter Nowak

Anhang

Links

[1]

http://www.jungewelt.de/loginFailed.php?ref=/2011/01-03/001.php

[2]

http://www.heise.de/tp/artikel/33/33986/

[3]

http://www.die-linke.de/nc/die-linke/nachrichten/detail/zurueck/nachrichten/artikel/revolution-fuer-soziale-gerechtigkeit-und-demokratie/

[4]

http://www.rico-gebhardt.de/

[5]

http://www.youtube.com/watch?v=ZEUPBjBVlJY

[6]

http://straighttohellbornhagen.wordpress.com/aufruf/

[7]

http://www.mdr.de/thueringen/ramelow-beschimpft-antifa-100.html

[8]

http://breakdeportation.blogsport.de/2016/01/17/pressemitteilung-von-roma-thueringen-zu-der-sammelabschiebung-vom-16-12-2015/

[9]

http://dominic.linkeblogs.de/

[10]

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1010099.man-muesste-reicht-nicht.html

[11] https://www.neues

»Alle sollen aufstehen«

Willi Hayek über die Dynamik der »Nuit debout«-Versammlungen.Willi Hayek ist Autor und in der basisgewerkschaftlichen Bildungsarbeit in Deutschland und Frankreich tätig. Er lebt und arbeitet in Marseille und Berlin.

Wieso gab und gibt es »Nuit debout«-Versammlungen in den vergangenen Wochen in so vielen Städten Frankreichs?

Diese Versammlungen gibt es seit dem 9. März, seit der ersten landesweiten Demonstration gegen das neue Arbeitsgesetz. Initiiert wurden sie von einer kleinen Gruppe von Filmemachern, Theaterleuten, Jugendlichen und Basisgewerkschaftern. Inzwischen haben sich die Besetzungen von öffentlichen Plätzen auf eine Reihe von Städten ausgeweitet. In den Regionen und Orten kommen die Initiatoren aus sehr unterschiedlichen Zusammenhängen. In den etablierten Medien wird zumeist nur von Paris und dem Platz der Republik gesprochen, wenn von der »Nuit debout«-Bewegung die Rede ist. Die Zusammensetzung der Versammlungen wie auch deren Themen sind aber sehr unterschiedlich. Gemeinsam ist die Debatte über das neue Arbeitsgesetz und eine Welt der immer weiter entregelten Lohnarbeit in allen Bereichen, wobei sich das Kräfteverhältnis immer mehr zugunsten des Kapitals verschiebt. Deshalb wird dieses Gesetz auch oft als loi du capital, als das Gesetz des Kapitals, bezeichnet. Aber bei »Nuit debout« treffen Akteure aus lokalen Kämpfen mit Akteuren aus der Region und landesweiten Bewegungen zusammen. Man lernt sich kennen und berichtet über die unterschiedlichen Kämpfe. Es gibt auch Inititativen wie »Psychiatrie debout« und »Hôpital debout«. Das ist ein Aufruf an alle, die in der Psychiatrie und in Krankenhäusern leben oder ihre Lohnarbeit dort verrichten.

Gibt es nach mehr als einen Monat nicht Ermüdungserscheinungen bei der Bewegung?

Alle diese Versammlungen sind Teil einer gemeinsamen politischen Bewegung, die das Ziel hat, die Regierung zur Rücknahme des geplanten neuen Arbeitsgesetzes zu zwingen. Daher können sich die Dynamik und das Potential von »Nuit debout« noch verstärken und ausweiten. Ob das geschieht, hängt von der Entschlossenheit der nächsten großen Streik- und Straßenaktionen am 28. April und in den folgenden Tagen ab. Ziel ist natürlich tous debout partout – alle sollen aufstehen, überall – und nicht nur nachts.

Welche Rolle spielt Militanz in der Bewegung?

Debatten über die Militanz des Widerstands und die unterschiedlichsten Aktionsformen finden auf den Versammlungen statt, aber die von den Medien und der Regierungen erwünschte Spaltung der Bewegungen sind für mich nicht sichtbar. Die Debatten haben eher dazu geführt, dass die Brutalität und die Gewalt der Polizeieinsätze gegen die Bewegung bekannt werden. Hier sind es gerade auch die militanten und kämpferischen Teile der Gewerkschaften, Sud-Solidaires, GGT sowie unabhängige bekannte Persönlichkeiten, die mit Aufrufen und Plakaten die Gewalt der CRS (ein kasernierter Verband der französischen Polizei, Anm. d. Red.) und anderer Teile der polizeilichen Einsatztruppen anprangern und kritisieren.

Nach der Räumung des Flüchtlingscamps in Calais spielte auch das Thema Rassismus eine größere Rolle. Ist es bei »Nuit debout« Thema?

Sans papiers, Aktive aus der Flüchtlingsbewegung und dem Camp in Calais berichten auf den Versammlungen über die Zustände. Hinzu kommt aber eine wichtige Debatte über den Generalstreik in Mayotte, dem 101. französichen Überseedepartement. Er hat bisher zwei Wochen gedauert, ist seit Freitag vorübergehend ausgesetzt und hat als Streikforderung die reale Gleichheit der Inselbewohner mit den Bewohnern im europäischen Frankreich. Der Streik wurde sehr militant mit Straßen- und Hafenblockaden auf der ganzen Insel geführt. In den etablierten Medien wird dieser Arbeitskampf kaum beachtet, obwohl er in seiner Entschlossenheit sehr stark an den 44tägigen Generalstreik auf Guadeloupe vor einigen Jahren erinnert.

Wie reagierten die Gewerkschaften auf die neue Bewegung?

CGT und Sud versuchen natürlich, in ihren betrieblichen Zusammenhängen und zu agieren, vor allem die geplanten Streikaktionen vorzubereiten und zu stärken. Aber auch Treffen und Versammlungen vor Ort wie bei Renault in Billancourt werden zusammen mit Studenten und Jugendlichen initiiert. Eine wichtige Aufgabe haben die Eisenbahner, die in Vorbereitung des nächsten Streiktags am 28. April schon am Dienstag mit einem Streik beginnen. Eine weitere agile Gruppe in der Bewegung sind die prekären Kulturarbeiter, die intermittents, die durch Besetzungen von Theatern wie in Montpellier und Bordeaux ein sehr dynamisches und mutiges Element in dieser sozialen Bewegung verkörpern.

Haben die Proteste überhaupt einen emanzipatorischen Charakter oder ist es eher ein Ritual, wie es in einigen Erklärungen libertärer Gruppen heißt?

Seit Beginn der Aktionen im März durchzieht das Land ein rebellischer Geist, genau der wird auch spürbar auf all den Versammlungen, Aktionen und Debatten, die ich in den letzten Wochen an unterschiedlichen Orten und in sehr verschiedenen Zusammenhängen erlebt habe. Bei diesen Debatten kommt es natürlich auch zu Konflikten, aber das gehört zu einer lebendigen, demokratischen Kultur dazu.

Sind diese Proteste ein Neuaufguss der »Occupy«-Bewegung in Frankreich?

Gemeinsam ist das Aneignen der öffentlichen Räume, der Ausbruch aus der alltäglichen Ordnung, die vielfältigen Initiativen, das Erleben einer solidarischen Gesellschaft. Eine übergreifende, gemeinsame gesellschaftliche Bewegung gegen ein Arbeitsgesetz, die die unterschiedlichsten Teile der Lohnarbeit, der Erwerbslosen, der Migranten, der rebellischen Gesellschaft zusammenbringt, unterscheidet die Proteste in Frankreich von der Occupy-Bewegung.

Es gibt Versuche, »Nuit debout« auf verschiedene europäische Länder auszuweiten. Warum zündet der Funke nicht?

Die jetzige Bewegung in Frankreich hat eine Vorgeschichte. Es haben in den vergangenen Monaten an vielen Orten in den unterschiedlichsten Bereichen lokale Streiks und Aktionen stattgefunden, so bei der Post-Telekom, Air France und der französischen Bahn. Aber zu einer landesweiten Bewegung war es nicht gekommen. Alle warteten auf den auslösenden Funken. Jetzt ist er da. Das verändert das gesellschaftliche Klima und das ist nicht nur in den großen Städten spürbar. Eine solche Bewegung lässt sich nicht einfach in andere Länder übertragen, aber das Lernen voneinander ist wichtig.

So wurde mit großen Interesse verfolgt, wie die linke Stadtregierung in Barcelona mit einem Streik der Busfahrer in der Stadt umgegangen ist. Auch die Berichte über die internen Widersprüche und Machtkämpfe innerhalb der Podemos-Bewegung in Spanien stoßen auf großes Interesse.

Könnte aus der aktuellen Bewegung eine Art französische Podemos entstehen?

In der Bewegung gibt es eine starke Abneigung gegen Vereinnahmungsversuche durch politische Parteien, Gewerkschaften und repräsentative Persönlichkeiten, die diese Bewegung für ihre politischen Projekte nutzen wollen. Es gibt ein starkes Bedürfnis, sich vor Ort gesellschaftlich zu verankern, handlungsfähig zu werden, das soziale Klima und das Kräfteverhältnis zu verändern. Man will sich nicht repräsentieren lassen.

In dieser Situation haben Aktive aus dem Umfeld der Gewerkschaften Sud und CGT die Initiative zur Gründung einer neuen Tageszeitung ergriffen, die Le progrès social heißt.

http://jungle-world.com/artikel/2016/17/53904.html

Interview: Peter Nowak

Facebook zensiert im Interesse der türkischen Regierung

An den konkreten Anlässen für die Sperren zeigt sich, dass sie in Deutschland oder Großbritannien keine strafrechtliche Relevanz haben

„Wir haben etwas entfernt, was Du gepostet hast“ oder „Konto gesperrt“ – solche Meldungen hat der Referent für Gewerkschaftsfragen bei der Rosa Luxemburg Stiftung[1],  Florian Wilde[2] immer wieder über seinem  Facebook-Account erhalten. Die Gründe sind beliebig. Allerdings ist auffällig, dass die Anträge von der türkischen Justiz kommen und die von ihr inkriminierten Texte und Bilder in Deutschland  nicht strafrechtlich relevant sind.

So kassierte Wilde eine siebentägige Sperre bei Facebook, weil er Fotos aus einer Dokumentation über eine türkeikritische Demonstration in Hamburg gepostet hat. Dabei habe er nach vorherigen Sperren schon darauf geachtet, dass Symbole der kurdischen Arbeiterpartei PKK oder Forderungen nach der Freilassung von deren Vorsitzenden Öcalan nicht unter dem geposteten Material waren. Das waren schließlich die Gründe für die vorigen Sperren.

Das macht auch deutlich, wie disziplinierend sie wirken. Doch übersehen hatte er, dass für die türkische Justiz neben der kurdischen Nationalbewegung auch diverse linke Parteien und Gruppierungen relevant sind und sie verfolgt werden. Obwohl die im Unterschied zur PKK in Deutschland nicht verboten sind, führt Facebook auf Zuruf von türkischen  Behörden die Internetsperre durch. Für die Nutzer gibt es kaum Möglichkeiten, sich davor zu schützen, betont Wilde.

Türkeikritische Dokumentationen auf Facebook sind kaum möglich

„Da es von Facebook keine Listen gibt, aus denen hervorgeht, was genau verboten ist und was nicht, sind Fotodokumentationen zu türkeikritischen Demonstrationen in Deutschland auf Facebook unmöglich geworden,“ resümiert er. Das ist schließlich auch das Ziel der türkischen Justiz und der Regierung.

So viel freiwillige Kooperation von Facebook ist natürlich besonders vorteilhaft für die türkische Regierung. Damit kann sie auch außerhalb der Türkei bestimmen, welche Inhalte die Facebook-Nutzer zu sehen bekommen. Nun ist Wilde kein Einzelfall.

Viele Menschen, die sich mit der kurdischen Sache oder mit der türkischen Demokratiebewegung  befassen, sind ebenfalls mit solchen Facebook-Sperren konfrontiert. Dazu gehört der in München lebende Student Kerem Schamberger[3] , der seine Facebook-Sperren dokumentierte[4].

Von den Sperren sind nicht nur Facebook-Nutzer in Deutschland betroffen. Eine britische Journalistin hat sich ausführlich[5] mit dem Thema befasst.

Kann die Internetgemeinde Facebook nicht unter Druck setzen?

„Wir reagieren auf berechtigte Ansprüche im Zusammenhang mit strafrechtlichen Fällen. Jede einzelne Anfrage, die wir erhalten, wird auf ihre rechtliche Relevanz geprüft“, schreibt[6] Facebook zur Praxis des Sperrens. Nun zeigt sich an den konkreten Anlässen für die Sperren, dass sie in Deutschland oder Großbritannien keine strafrechtliche Relevanz haben.

Es werden also die restriktiven Bestimmungen der Türkei zur Grundlage für die Sperren gemacht. Allerdings ist es keineswegs überraschend, dass Weltkonzerne, genauso wie viele Regierungen sehr gut mit unterschiedlichen diktatorischen Regimen, kooperieren. Sie verkaufen Abhörtechnik an solche Länder und kooperieren mit den Repressionsorganen. Nun stellt sich trotzdem die Frage, ob eine große weltweit agierende Internetgemeinde Facebook nicht mit einer konkreten Forderung unter Druck setzen kann.

Der Konzern müsste aufgefordert werden, einsehbare überprüfbare und an den Menschenrechten orientierte Kriterien für die Sperren zu entwickeln und auch einzuhalten. Es wäre auch eine Probe aufs Exempel, ob die vielzitierte Internet-Gemeinde sich in einer menschenrechtlichen Frage koordinieren und entsprechend handeln kann. Gerade in einem Land, wo wochenlang über den Fall Böhmermann  diskutiert wird, müsste es doch einfacher sein, einen solchen Druck aufzubauen.

Es ist allerdings bemerkenswert, dass kaum Medien über die Facebook-Sperren im Interesse des Erdogan-Regimes berichten. Hier geht es schließlich tatsächlich um den politischen Kampf, um Menschenrechte, und nicht um ein unpolitisches Gedicht und einen sich damit profilierenden Journalisten.

http://www.heise.de/tp/druck/mb/artikel/48/48105/1.html

Peter Nowak

Anhang

Links

[1]

https://www.rosalux.de/gesellschaft/thema/arbeitgewerkschaften/2611/400.html

[2]

https://www.facebook.com/florian.wilde

[3]

http://www.kerem-schamberger.de/

[4]

http://www.kerem-schamberger.de/2016/01/07/warum-facebook-tuerkei-kritik-sperrt/

[5]

https://www.buzzfeed.com/saraspary/facebook-in-dispute-with-pro-kurdish-activists-over-deleted?utm_term=.atKX7QmNj#.lsRaZlKvm

Der lange Kampf der Tessiner Bahnarbeiter

In Bellinzona könnte es wieder zu Streiks kommen

Vor acht Jahren hatten Bahnarbeiter die Schließung des Ausbesserungswerkes in der Schweizer Stadt Bellinzona verhindert. Nun steht es erneut vor dem Aus.

Das Städtchen Bellinzona im Schweizer Kanton Tessin steht für den erfolgreichen Kampf gegen eine Werkschließung. 2008 hatten 400 Beschäftigte der Schweizer Bundesbahn (SBB) das von der Schließung bedrohte Ausbesserungswerk besetzt. Die große Unterstützung in der Region und die Entschlossenheit der Beschäftigten führten nach Jahren zum Erfolg: Die SBB nahm die Pläne zurück. In einer 2013 abgeschlossenen Vereinbarung verpflichtete sie sich, für ein mit den Vorjahren vergleichbares Auftragsvolumen zu sorgen. Zudem sollte dem Werk eine größere Autonomie eingeräumt werden.

Nur eingehalten hat die SBB die Abmachung nicht, moniert Gianni Frizzo. Der UNIA-Gewerkschafter war 2008 als Stimme des Widerstands über die Schweiz hinaus bekannt geworden. Ein neuer Arbeitskampf scheint wahrscheinlich, nachdem die SBB ein Ultimatum der Belegschaft ignoriert hatte. Bis zum 15. April sollte das Unternehmen mit konkreten Maßnahmen beweisen, dass sie die Vereinbarungen künftig umsetzen wird.

In der vergangenen Woche diskutierten die Beschäftigten auf einer Vollversammlung die weiteren Schritte. Die Belegschaftsvertreter sind aus dem 2013 geschaffenen Kompetenzzentrum ausgetreten, in dem strittige Fragen einvernehmlich geklärt werden sollten. Außerdem wurde die Tessiner Regierung aufgefordert, die SBB zur Einhaltung ihrer vertraglich vereinbarten Verpflichtungen aufzufordern. Die Versammlung endete mit einer lautstarken Demonstration.

Acht Jahre nach dem letzten Streit gibt sich Frizzo kämpferisch: »Der Ball liegt bei der SBB. Auf unserer Seite gibt es eine große Entschlossenheit«, beantwortete der Gewerkschafter die Frage eines Fernsehreporters, ob die Beschäftigten von Bellinzona auch Kampfmaßnahmen außerhalb ihres Betriebs vorbereiten. Konkret wollte der Journalist wissen, ob während der Einweihungsfeier des neuen Gotthard-Tunnels am 1. Juni Proteste geplant sind. Frizzo ließ das offen. Deutlicher wurde Ivan Cozzaglio, der 2008 Mitglied des Streikkomitees war. Der Metallkeil, mit dem damals die Zufahrtsgleise zugeschweißt worden waren, passe perfekt auf die Schienen des Alpen-Transit, erklärte er.

»Die Unterstützung in der Region für die Forderungen der Beschäftigten ist unverändert groß«, erklärt Uwe Krug gegenüber »nd«. Der in der GDL organisierte Bahnbeschäftigte aus Berlin hatte im März eine Versammlung in Bellinzona besucht. Krug bezweifelt aber, dass ein Arbeitskampf wie 2008 heute in Bellinzona möglich ist. Die Basis der kämpferischen Beschäftigten habe sich kaum erweitert. Zudem sei die Solidarität in der Schweizer Bevölkerung bisher sehr gering. Es gebe einen Konkurrenzkampf unter den Ausbesserungswerken, so Krug.

Gewerkschafter im europäischen Ausland hingegen verfolgen die Entwicklung um Bellinzona mit großem Interesse – in mehreren Ländern gibt es Informationsveranstaltungen.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1009928.der-lange-kampf-der-tessiner-bahnarbeiter.html

Peter Nowak

Werden auch TTIP-Gegner Obama nachtrauern?

Vom Dilemma der Freihandelsgegner angesichts der Präsidentenwahlen in den USA und des VW-Skandals

Der US-Präsident ist auf Abschiedstour in Europa und der deutsche Außenminister  Steinmeier erklärt[1] in den Medien: „Es kann sehr schnell kommen, dass wir Obama nachtrauern.“ Doch wer ist dieses Wir?

Zumindest die Kräfte innerhalb der Regierungskoalition, die sich den deutschen Aufstieg an der Seite oder zumindest in Kooperation mit den USA vorstellen, sind damit gemeint. Denn Obama hat immer deutlich gemacht, dass er  Deutschland als Führungsmacht in der EU anerkennt. Allein Obamas Agenda für seine Abschiedstour als Präsident in Europa macht das deutlich. Denn in Hannover ist nicht nur ein Ort für eine kurze Stippvisite. Es soll gleich einen kleinen Gipfel von Regierungsvertretern geben, die Deutschlands Machtanspruch verdeutlichen sollen.

Leere Drohungen Obamas in London

Es ist auch ein Affront gegen Großbritannien, wo Obama vor allem als der Staatsmann auftrat, der Ratschläge in Sachen EU-Mitgliedschaft erteilte und dabei Ankündigungen machte, die er nicht einlösen kann. Wenn er beispielsweise erklärt, dass es für Großbritannien nach einen EU-Austritt keine privilegierten Beziehungen mit den USA geben wird und sich das Land bei Verhandlungen hinten anstellen muss, können Brexit-Befürworter darauf verweisen, dass Obama genau hier unglaubwürdig ist.

Schließlich hätte er zumindest darauf hinweisen müssen, dass das für seine Amtszeit gilt und die läuft in wenigen Monaten aus. Seine möglichen Nachfolger aber haben sich darauf nicht festgelegt. Und so könnte sich die Drohung sogar als Pluspunkt für die Brexit-Gegner erweisen. Die können darauf verweisen, dass es eine leere Drohung aus Gefälligkeit gegenüber dem britischen Premierminister Cameron ist.

Sie stellt aber gleichzeitig Obamas Glaubwürdigkeit an diesem Punkt in Frage. Käme das Statement am Anfang von Obamas  Amtszeit, wäre es tatsächlich eine ernstzunehmende Drohung für die Brexit-Befürworter gewesen, aber nicht bei einem Präsidenten auf Abschiedstour. Die Brexit-Befürworter in Großbritannien und in anderen europäischen Ländern werden also nicht zu denen gehören, die Obama nachtrauen. Doch wie steht es mit den zahlreichen TTIP-Kritikern in Deutschland und Europa?

Trump – Hoffnung für TTIP-Gegner?

Erst am vergangenen Samstag sind in Hannover in Hannover in Vorfeld des Obama-Besuchs wieder mehrere Zehntausende[2] auf die Straße gegangen. Doch sie sind in einen Dilemma. Denn eigentlich müssen sie das Ende der Obama-Administration  begrüßen. Denn es scheint zurzeit fast so, als wäre er noch der letzte Garant, dass das TTIP-Abkommen überhaupt ratifiziert wird. Angesichts der ökonomischen Entwicklung ist die Stimmung in der Bevölkerung der USA längst nicht mehr freihandelsfreundlich, was sich auch in den Statements der Präsidentenanwärter widerspiegelt.

Ein konservativer TTIP-Gegner war seit jeher der US-Bewerber Trump, der  auch seinen Wahlkampf ganz stark auf den Widerstand gegen das Abkommen aufbaut. Seine Präsidentschaft  würde ziemlich sicher das Aus für TTIP bedeuten. Die rechten TTIP-Gegner, die es in allen Ländern gibt, machen ihre Sympathie mit Trump auch deutlich. Doch die Mehrheit der organisierten TTIP-Kritiker in Deutschland kommt eher aus der linken und gewerkschaftlichen Ecke. Sie haben in zentralen Fragen keine Sympathie mit den Positionen von Trump.

Sie würden sich sicher eher eine Präsidentschaft von Bernie Sanders wünschen, jenes US-Sozialdemokraten, der innerhalb der Demokratischen Partei  noch  immer der lange Zeit als gesetzt geltenden Hillary Clinton die Kandidatur streitig macht. Doch dass sich Sanders am Ende durchsetzt, ist ziemlich unwahrscheinlich. Es ist dagegen sehr wahrscheinlich, dass Clinton am Ende Präsidentschaftskandidaten der Demokraten wird. Ihre Haltung zu TTIP  ist widersprüchlich.

Lange Zeit gehörte sie wie Obama zu den Befürwortern des Abkommens. Erst als die Stimmung in der Bevölkerung der USA dem Freihandel gegenüber kritischer wurde und ihr innerparteilicher Konkurrent Sanders auch wegen seiner TTIP-Ablehnung punktete, distanzierte  sich auch Clinton halbherzig davon – ein Exempel jenes Opportunismus, der Clinton immer wieder vorgeworfen wird.  Es ist daher  ziemlich wahrscheinlich, dass die Präsidentin Clinton den Freihandelsvertrag nicht scheitern lassen wird und den neuerlichen Schwenk dann damit begründet, dass er nun schon ausverhandelt ist.

Nun ist eine Konstellation Trump versus Clinton bei den Präsidentschaftswahlen nicht unwahrscheinlich. Für die Mehrheit der organisierten TTIP-Gegner auch in Deutschland entsteht so eine paradoxe Situation. Sie müssten eigentlich auf einen Erfolg von Trump hoffen, der am ehesten den TTIP-Vertrag beerdigt, obwohl sie in vielen anderen Punkten mit ihm nichts zu tun haben wollen. Gestärkt würden auf jeden die rechten und rechtspopulistischen Freihandelsgegner, die dann realpolitisch argumentieren können, dass eine Präsidentschaft Trumps garantiert TTIP beerdigt.

Volkswagen-Affäre: Die Rechte der Verbraucher in den USA

In einer Zeit, in der in vielen Protestbewegungen solidarische, auf Egalität aller Menschen ausgerichtete Positionen, umkämpft oder auch ganz in der Minderheit sind, sind solche Positionen natürlich auch heute schon in der Bewegung  gegen den Freihandel, die historisch immer auch reaktionäre Züge trug, vertreten. Mit einer Kandidatur von Trump aber hätte sie eine realpolitische Komponente, so wie sich Gegner einer liberalen Flüchtlingspolitik auf einen Erfolg der FPÖ bei den Präsidentschaftswahlen in Österreich berufen können.

Wir haben ja gerade erlebt, dass in den USA die Rechte der Verbraucher und übrigens die Umwelt besser, effizienter geschützt wird als in Deutschland

Neben diesem strategischen Dilemma sind die der TTIP-Gegner auch durch den VW-Skandal argumentativ in die Defensive geraten. Denn ein Großteil der TTIP-Gegner warnt recht undifferenziert vor Verschlechterungen für Verbraucher,  Lohnabhängige etc.,  wenn die Verträge in Kraft treten. Dabei wurde gern übersehen, dass es beispielsweise beim Verbraucherschutz in den USA teilweise gesetzliche Rechte gibt, die auch für die EU ein Fortschritt wären. Das hat sich jetzt beim VW-Skandal gezeigt.

Selbst wirtschaftsnahen FDP-Politiker fällt auf, dass VW-Kunden in den USA rechtlich besser gestellt sind. Der niedersächsische Wirtschaftsminister Jürgen Bode wurde von einem Journalisten des Deutschlandfunk gefragt[3]: „Warum ist es eigentlich unmöglich, dass auch die deutschen Kunden so wie in den USA mit etwa 4.500 Euro entschädigt werden?“

Bode antwortet:

Das ist nicht unmöglich. Es ist scheinbar eine bewusste Entscheidung von Volkswagen, in Deutschland und Europa Kunden zweiter Klasse haben zu wollen, und ich bin schon überrascht, dass die Vertreter der Landesregierung im Aufsichtsrat auch auf Nachfrage erklärt haben, dass sie diese Position stützen.

Dass es sich dabei um unterschiedliche Verbraucherrechte in den USA und Deutschland handelt, erwähnt Bode natürlich nicht. Der ehemalige grüne Bundesumweltminister Jürgen Trittin erwähnt diese Unterschiede zumindest in seinem Deutschlandfunk-Interview[4].

Wir haben ja gerade erlebt, dass in den USA die Rechte der Verbraucher und übrigens die Umwelt besser, effizienter geschützt wird als in Deutschland. In Deutschland haben wir eine Kommission eingesetzt durch Herrn Dobrindt, von der man lange nicht wusste, wer da drinsitzt und nun feststellt, die gibt es zwar, aber was die rausbekommen haben, das ist bis heute der Öffentlichkeit vorenthalten worden.

Müsste das nicht ein Umdenken bei dem Teil der TTIP-Kritiker bewirken, die keine Option in einer Präsidentschaft Trumps oder eines anderen konservativen Freihandelsgegners sehen? Wieso wird nicht die Forderung erhoben, dass dort, wo die Verbraucher- und Umweltrechte in den USA fortschrittlicher als an der EU sind, sich die Unterhändler an diesen orientieren sollen?

Darüber hinaus machen die Dilemmata der TTIP-Kritiker deutlich, was schon Karl Marx beschäftigte[5]: eine Kritik am Freihandel, die den Kapitalismus nicht mit einbezieht, ist in der Regel eher konservativ als fortschrittlich. Zudem ist der Streit um den Freihandel immer eine Auseinandersetzung unterschiedlicher Kapitalfraktionen in den jeweiligen Ländern gewesen, die natürlich für ihre Argumentation immer das Wohlergehen der Subalternen heranzog

http://www.heise.de/tp/artikel/48/48062/1.html

Peter Nowak

Anhang

Links

[1]

https://www.tagesschau.de/inland/bericht-aus-berlin-steinmeier-101.html

[2]

http://ttip-demo.de/home/

[3]

http://www.deutschlandfunk.de/vw-skandal-der-verbraucher-hat-in-deutschland-zu-wenig-macht.694.de.html?dram:article_id=352118

[4]

http://www.deutschlandfunk.de/vw-deal-in-den-usa-neurotische-dieselfixierung-beenden.694.de.html?dram:article_id=352067

[5]

http://www.mlwerke.de/me/me04/me04_444.htm

Arbeit – Bewegung – Geschichte

Die Schweiz spielte keine unwichtige Rolle in der Geschichte der linken ArbeiterInnenbewegung. Die Zimmerwalder-Konferenz von 1915, zu der die sozialistischen GegnerInnen des 1. Weltkriegs zusammen kamen, ist ein bekanntes Beispiel. Kaum bekannt ist hingegen, dass die Schweiz vor über 40 Jahren auch eine wichtige Rolle in der europäischen Vernetzung der linken Betriebsintervention gespielt hat.

Anfang der 1970er Jahre wurde in Zürich ein internationales Koordinationsbüro für die länderübergreifende Unterstützung von Streiks und Arbeitskämpfe aufgebaut. Getragen wurde es von Gruppen der radikalen Linken, die durch den Aufbruch nach 1968 entstanden sind und sich weder der sozialdemokratischen noch der traditionskommunistischen Richtung zuordneten. Neben dem Pariser Mai 1968 war auch der italienische Herbst 1969 für diese Linke ein wichtiger Bezugspunkt. Denn in Italien beteiligten sich viele ArbeiterInnen im ganzen Land an Betriebsbesetzungen, Streiks und militanten Demonstrationen. Dort war der Funke des revolutionären Aufbruchs tatsächlich übergesprungen, von den Hochschulen auf die Fabriken. Linke AktivistInnen sowie kämpferische ArbeiterInnen aus vielen europäischen Ländern verfolgten die Entwicklung mit grossem Interesse. «In der historischen Forschung zu den Streikbewegungen und Arbeitskämpfen der 1960er und 1970er ist die internationale Zusammenarbeit von Strömungen und Gruppen, die sich an diesen Auseinandersetzungen in der Fabrik orientieren, noch wenig beachtet worden», schreibt der Berliner Historiker Dietmar Lange in der aktuellen Ausgabe von Arbeit – Bewegung – Geschichte, Zeitschrift für historische Studien.

Die Prophezeiung des heraufziehen den Postfordismus

Das Schwerpunktthema lautet «Linke Betriebsintervention, wilde Streiks und operaistische Politik 1968 bis 1988». Dietmar Lange, der gemeinsam mit Fabian Bennewitz, Ralf Hoffrogge und Axel Weipert die Zeitschrift herausgibt, forscht seit längerem zur Geschichte der linken Betriebsinterventionen der 1960er und 1970er Jahre. Dabei hat er auch einen Bericht über eine Internationale ArbeiterInnenkonferenz im April 1973 ausgegraben, die in Paris stattgefunden hat. Sie wurde wesentlich von dem Zürcher Koordinationsbüro vorbereitet und widmete sich den Klassenauseinandersetzungen in der Automobilindustrie. Anwesend ArbeiterInnen aus den wichtigsten Automobilkonzernen wie BMW, VW, Fiat, Opel, Alfa Romeo, Renault und Citroen. Aus der Schweiz waren Beschäftigte von Saurier vertreten. Auch verschiedene Linke aus Deutschland, Frankreich, Italien und Grossbritannien nahmen an der Konferenz teil. Aus der Schweiz waren AktivistInnen der Gruppe Klassenkampf nach Paris gekommen, die sich aus einer maoistisch orientierten Jugendbewegung in der italienischen Schweiz entwickelt hatte und Anfang der 70er Jahre ihren Einfluss auf die deutschsprachige Schweiz ausdehnte. Mitte der 70er Jahre löste sich die Gruppe auf. In dieser Zeit war die linke Betriebsintervention in eine Krise geraten geraten
und auch das Zürcher Koordinierungsbüro stellte die Arbeit ein. Die Vorbereitung der Pariser Konferenz war ihre wichtigste Arbeit. «Nur kurze Zeit nach der Konferenz in Paris vollzog ein Grossteil der beteiligten Gruppen einen Richtungswechsel oder löste sich auf», schreibt Dietmar Lange. In einem Interview mit dem Arzt und Historiker Karl Heinz Roth, der damals an der linken Betriebsintervention beteiligt war, spürt Lange den Gründen für den schnellen Zusammenbruch der transnationalen Solidaritätsarbeit nach, der zu einem langen Abschied der linken Bewegung vom Proletariat führen sollte. Roth erinnert sich an warnende Stimmen auf der Konferenz, die berichteten, wie durch Konzernstrategien das Konzept des kämpferischen Massenarbeiters untergraben wurde. «Diese Prophezeiung des heraufziehenden Postfordismus stand als Menetekel an der Wand des Kongresses», so Roth. Er begründet auch, warum das Koordinierungsbüro, dass neben der Gruppe Klassenkampf auch von der Berner und St. Gallener Ortsgruppen der Proletarischen
Front getragen wurden, in der Schweiz errichtet wurde: «Die Standortwahl lag nicht nur aus geographischen Gründen nahe, sondern hatte mit der damals leider noch sehr seltenen Mehrsprachigkeit der schweizerischen Genossinnen und Genossen zu tun».
Parallelen zu heutigen Auseinandersetzungen
Das Koordinierungsbüro habe sich zum Ziel gesetzt, die Selbstorganisation der am meisten marginalisierten Sektoren der europäischen ArbeiterInnenklasse zu fördern. Das ist eine sehr aktuelle Zielsetzung. Schliesslich gibt es zurzeit eine linke Betriebsintervention bei Amazon. Es gab bereits mehrere Treffen von Beschäftigten von Amazon-Werken in Deutschland und Polen. Deshalb weckt das Schwerpunktthema der Zeitschrift Arbeit – Bewegung – Geschichte nicht nur historisches Interesse. Die HerausgeberInnen weisen darauf hin, dass sich «in den hier publizierten Texten zahlreiche Aspekte finden, die Parallelen zu heutigen Auseinandersetzungen aufweisen». Nelly Tügel untersucht in ihren Beitrag, wie der Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) auf gewerkschaftliche
Aktivitäten von ArbeitsmigrantInnen in Westdeutschland reagierte, die oft noch Klassenkampftraditionen einbrachten, die in Deutschland durch den Nationalsozialismus ausgelöscht worden waren. «Zum einen erging die Aufforderung an die Einzelgewerkschaften, jeweils einen Kollegen zu benennen, der in einen der Abteilung Organisation unterstellten Unterausschuss für die Betreuung ausländischer Kollegen entsandt werden sollte. Zum anderen wurde beschlossen, Materialen über die kommunistische und faschistische Unterwanderung durch ausländische Arbeitnehmer zusammenzustellen und allen Bundestagsabgeordneten zuzustellen». Sehr empfehlenswert sind auch die Beiträge in der Zeitschrift, die sich nicht mit dem Schwerpunktthema befassen. Auch dabei wird deutlich,
dass die Schweiz in der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung eine wichtige Rolle spielte. So berichtet die Historikerin Miriam Sachse von einem Symposium, das sich mit der internationalen sozialistischen Frauenkonferenz 1915 in Bern befasste. Dabei betonte die Präsidentin der Schweizer Robert Grimm Gesellschaft, Monika Wick aus Zürich, dass die Konferenz, die in klarer Opposition zum sozialdemokratischen Kurs des Burgfriedens stand, auch männliche Unterstützer hatte. Dazu gehörte in der Schweiz Robert Grimm.

Arbeit – Bewegung – Geschichte.
Zeitschrift für historische Studien, Heft
1/2016, 230 Seiten, Bezug: www.metropolverlag.de

aus: vorwärts – 26. April 2016

http://www.schattenblick.de/infopool/medien/altern/vorw1185.html

Peter Nowak

Wer Erdogan als Diktator kritisiert, kann den Putschisten Al-Sisi trotzdem loben

Sigmar Gabriel in Ägypten: „Ich finde, Sie haben einen beeindruckenden Präsidenten“

„Ich finde, Sie haben einen beeindruckenden Präsidenten“. Diesen Satz wird Bundeskanzlerin Merkel bei ihrer Türkei-Visite wohl kaum auf dessen Präsidenten Erdogan gemünzt äußern. Doch Vizekanzler und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel, der  mit einer großen Wirtschaftsdelegation  in Ägypten weilte[1] , ließ sich die Phrase vom beeindruckenden ägyptischen Präsidenten entlocken.

Dass al-Sisi gegen eine demokratisch gewählte Regierung putschte, hat Gabriel wie ein großer Teil der sogenannten westlichen Welt dem Präsidenten nie übelgenommen. Schließlich war es eine Regierung der Moslembrüder, und da werden schon mal beide Augen zugedrückt, wenn dann demokratische Grundrechte beseitigt werden. Dass im Anschluss ein Massaker an größtenteils gewaltfrei demonstrierenden Gegnern des Putsches verübt wurde, ist ebenso vergessen wie die Massenfestnahmen von Oppositionellen jeglicher Couleur.

Unter al-Sisi ist Ägypten wesentlich repressiver als zu Zeiten von Sadat und Mubarak. Doch tote ägyptische Oppositionelle sind in der europäischen Öffentlichkeit kein Thema. Erst als ein italienischer Doktorand, der zur Geschichte der ägyptischen Gewerkschaftsbewegung arbeitete, vor einigen Wochen ermordet wurde, wurde in manchen Medien der ägyptische Staatsterror zum Thema. Gabriel blieb bei seinen Lob für al-Sisi ganz in der Tradition der deutschen Außenpolitik. Staatsterror und Diktatur waren nie ein Hinderungsgrund für ein gutes Verhältnis zu Deutschland.

Wichtig war, ob es ein Diktator ist, der die gemeinsamen Werte verteidigt oder nicht. Der Schah von Persien  gehörte lange Zeit zweifelsfrei zu den Diktatoren, die gemeinsame Werte  gemeinsam mit der Bonner Politik verteidigten. Daher war das Verhältnis zwischen deutschen und iranischen Politikern sehr innig.

So war es nur konsequent, dass auch satirische Kritik an den großen Freund von Westdeutschland unterbunden wurde. Ein Künstler wurde für eine  Karikatur  des iranischen Diktators Reza Pahlavi nach jahrelangem Prozess zu einer Geldstrafe verurteilt[2] Grundlage war übrigens der gleiche Paragraph 103, der nun beim Böhmermann-Erdogan-Konflikt plötzlich in die Schlagzeilen geraten ist.

Auch die argentinische Militärjunta stand in den 1970er Jahren auf Seiten des Westens und so sorgte auch der damalige Bundesaußenminister Genscher dafür, dass die Kritik an den verschwundenen Oppositionellen möglichst klein gehalten wird, selbst wenn sie wie im Fall von Elisabeth Käsmann[3] und Klaus Zieschank[4] deutsche Staatsbürger[5] waren.

„Er mag ein Schweinehund sein, aber er ist unser Schweinehund“

Für Politik und Justiz war damals klar, der Schah oder die lateinamerikanische  Generale  mögen keine großen  Freunde der Menschenrechte sein, aber sie standen  bedingungslos auf Seite des Wesens.  Da galt die in den USA gültige Devise. „Er ist ein Schweinehund sein, aber er  ist unser Schweinehund.“ Nach dieser Devise werden auch heute noch die Regenten in den verschiedenen Teilen der Welt sortiert. Deswegen ist das  Lob von Gabriel für den ägyptischen Diktator eigentlich Regierungsalltag.

Ungewöhnlich ist, dass er sich nun dafür rechtfertigen muss, weil die Erdogan-Debatte doch zeitlich so dicht dran liegt. Da fragen sich manche Journalisten, warum die SPD in der Erdogan-Debatte Merkel den Kotau vor einen Diktator vorgeworfen hat. Da wird dann schon mal angemerkt, dass im Vergleich zum ägyptischen Amtskollegen Erdogan noch als autoritärer Demokrat durchgehen kann.

Nur sagt niemand, warum hier scheinbar unterschiedlich gewichtet wird. Während der ägyptische Präsident,  wie einst der Schah[6],  sich nur mit Unterstützung aus dem Ausland an der Macht halten kann und die Unterstützung im Inland nur schwach ist, kann sich Erdogan auf eine eigene Machtbasis, die islamisch geprägte neue Bourgeoisie, in der Türkei stützen. Diese Machtbasis gibt ihm auch die Möglichkeit wesentlich unabhängiger gegenüber den  unterschiedlichen Akteuren im Ausland zu agieren.

So ist eben Erdogan kein Erfüllungsgehilfe von Deutschland oder anderer Staaten. Er und die hinter ihm stehenden Kräfte haben eine eigene politische Agenda, die sich in wesentlichen Punkten von den Interessen der EU und Deutschlands unterscheiden. Also kann er nicht als „unser Schweinehund“ gelten. Erdogan wurde vielmehr von verschiedenen europäischen Politikern bedeutet,  er solle die Migranten von der Festung Europas fernhalten und sich sonst gefälligst nicht in die Politik der EU-Staaten einmischen. Dass Erdogan sich in diese Rolle nicht fügen will, ist ein zentraler Grund für den Streit der letzten Tage.

Diktator oder Vorbild eines illiberalen Herrschers

Nun sind es nicht nur Politiker wie Gabriel, die hier in öffentliche Widersprüche geraten, wenn sie einmal lautstark die Meinungsfreiheit für Böhmermann verteidigen und im nächsten Moment den ägyptischen Diktator loben. Auch in rechten Kreisen weiß man nicht so recht, ob man Erdogan als islamistischen Diktator verdammen soll, der jetzt sogar noch in Deutschland mitbestimmen will, was erlaubt ist, oder ob man ihn nicht als Vorbild eines illiberalen Herrschers eigentlich loben müsste.

Wäre Erdogan kein Moslem, würde er sicher auch bei der AfD und Pegida als großes Vorbild hingestellt wie Putin und der ungarischen Ministerpräsidenten  Orban. Denn auch in Erdogans Herrschaftsbereich gilt, was man an Russland und Ungarn in rechten Kreisen so lobt.  Dort gilt noch die traditionelle Geschlechterordnung, Kinder und Jugendliche haben zu gehorchen und vor den Obrigkeiten hat man Respekt zu zeigen. Dass auch auf religiöse Zucht und Ordnung geachtet wird, ist den Rechten auch sehr angenehm.

Nur  vertritt Erdogan eben eine Religion, die die Rechten zum Feindbild erkoren haben und so müssen sie ihn nach außen zumindest verdammen. Doch der von Taz lancierte Aprilscherz, dass die AfD Erdogan nach Berlin  zur Wahlkampfunterstützung  einlädt[7], wurde zunächst in rechten  Kreisen durchaus ernst genommen und stieß auch nicht gleich auf Ablehnung.

Zudem  müssen die Rechten nun mit einem  Böhmermann fremdeln, der für sie als liberaler Kunst für vieles steht, was sie hassen.  Der neurechte Publizist Jürgen Elsässer hat das rechte Dilemma  im Streit Böhmermann/Erdogan benannt:

Politisch gesehen sind mir Böhmermann und Erdogan fast gleich unsympathisch. Der eine ist Arsch, der andere ist ärscher. Aber ich werde den Teufel tun, mich über ihr Gemächt oder ihre sexuellen Vorlieben auszulassen, und würde Genderboy Böhmermann dringend empfehlen, nicht aus dem Glashaus heraus mit Steinen zu werfen.

Dass Elsässer und Erdogan den gleichen Anwalt haben und der auch den Holocaustleugner David Irving[8] verteidigt hat, hat seinen Grund eben nicht einfach darin, dass es ein bekannter Anwalt ist. Es gibt linke und rechte Szeneanwälte.

So kann auch an einem Detail wie der Anwaltswahl manchmal besser als in der  Polemik im  politischen Alltagsgeschäft deutlich werden,  welche politischen Kräfte eigentlich mehr miteinander zu tun haben, als es auf den ersten Blick scheint.

http://www.heise.de/tp/artikel/48/48016/1.html

Anhang

Links

[1]

http://www.bmwi.de/DE/Presse/pressemitteilungen,did=763414.html

[2]

http://www.taz.de/!5295982/

[3]

http://www.welt.de/politik/deutschland/article128745445/Warum-rettete-Genscher-deutsche-Studentin-nicht.html

[4]

https://www.jungewelt.de/2016/03-24/050.php

[5]

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/die-bravouroese-ard-dokumentation-das-maedchen-12972669.html

[6]

http://www.heise.de/tp/news/Ist-Al-Sisi-der-Schah-2015-2678765.html

[7]

http://www.taz.de/fileadmin/static/pdf/Rada_VonStorchhofftaufKalifen.pdf

[8]

http://www.spiegel.de/thema/david_irving/(http://www.spiegel.de/thema/david_irving/

Breiten sich die französischen Sozialproteste auch in Deutschland aus?

Der Eventjournalismus und seine bedrohten Spielplätze

Beim aktuellen Böhmermann-Hype sollte auch ein Journalismus kritisiert werden, dem es in erster Linie um Krawall und weniger um Inhalte geht

Vor 40 Jahren fühlten sich manche kritischen Menschen besonders mutig und verfolgt, wenn sie aus der SPD ausgeschlossen werden sollten. Das war in den 1960er und 1970er Jahren nicht schwer.

Ein Ausschlussverfahren bekam man schon, wenn man sich an den Ostermärschen oder anderen politischen Aktivitäten beteiligte, die dem SPD-Vorstand nicht behagten. Auch die Unterzeichnung des Aufrufs des Komitees für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit konnte einen SPD-Ausschluss nach sich ziehen. Denn dort waren ja auch Kommunisten vertreten und mit denen durfte das gemeine SPD-Mitglied auf keinen Fall kooperieren, zumindest wenn sie politisch so marginal waren, wie in Westdeutschland.

Die vielen Meldungen mehr oder weniger bekannter linker Publizisten, Gewerkschafter und Aktivisten zogen bald Spott nach sich. Die wollen wohl ein SPD-Ausschlussverfahren ehrenhalber, wurde manch einem nachgesagt, die sich besonders bemühten, beim SPD-Vorstand für Aufmerksamkeit zu sorgen. Wenn heute jemand einen SPD-Ausschluss vermelden wollte, würden viele mit einem Gähnen reagieren. Andere würden den Betreffenden beglückwünschen und ihn fragen, was ihn überhaupt in die Partei getrieben hat. In einer Zeit, wo ein Parteibuch, ein sozialdemokratisches zumal, eher auf Misstrauen stößt, muss man sich heute schon mehr einfallen lassen, um Gegenstand einer Solidaritätskampagne zu wehren.

„Ich habe keine ihrer Sendungen gesehen, aber ich finde Sie gut“

Jan Böhmermann ist da schon auf den richtigen Weg. Als typischer Vertreter des postmodernen Eventjournalismus weiß er sich in Szene zu setzen. Da muss ein mit rassistischen Stereotypen durchsetztes Gedicht herhalten und schon bekommt er Solidaritätsbriefe von Menschen, die seine Arbeit bisher als Gossenjournalismus bezeichnet hätten und selber vor Gericht klagen würden, wenn sie Gegenstand einer solchen Form von Schmähung würden.

Der Aufsichtsratsvorsitzende der Springer AG Matthias Döpfner ist dafür ein gutes Beispiel. Die Welt veröffentlichte seinen Offenen Brief[1], der so beginnt:

Lieber Herr Böhmermann, wir kennen uns nicht, und ich habe leider auch bisher Ihre Sendungen nicht sehen können. Dennoch wende ich mich in einem offenen Brief an Sie, denn es ist aufschlussreich, welche Reaktionen Ihre Satire ausgelöst hat. Ein Kristallisations- und Wendepunkt.

Deutlich könnte man nicht zum Ausdruck bringen, um was es bei dem ganzen Hype um diesen Eventjournalismus geht. Man will politisch auf der richtigen Seite sein, wenn man sich jetzt mit Böhmermann solidarisiert, obwohl man mit ihm und seiner Arbeit bisher nichts zu tun haben wollte und sie auch politisch abgelehnt hat.

Die Raabisierung des Journalismus

Die Gründe für diese Distanz sind vielfältig. Sicher spielen auch politische Gründe eine Rolle. Aber es gibt auch gute Gründe, unabhängig vom Inhalt, Journalismus a la Böhmermann kritisch zu sehen. Er mag, wie bei der Satire um den Stinkefinger des griechischen Ministers Varofakis, manchmal auch kritische Inhalte damit verbinden.

Doch letztlich geht es um einen Event, der mit mehr oder weniger Krawall verbunden ist. Die Inhalte sind austauschbar, mal lacht der Linke, mal die Rechte und immer steht die Person im Mittelpunkt. Schon Stefan Raab stand an der Schnittstelle zwischen Eventmarketing und Journalismus und Böhmermann und andere sind da nur die Fortsetzung.

Allerdings will die Selbstvermarktung auch gekonnt sein und da ist Böhmermann ein Meister. Deswegen war es auch nur noch peinlich, dass selbst ein Didi Hallervorden vom Böhmermann-Hype profitieren und ebenfalls Erdogan beleidigen wollte (Hallervorden: „Erdogan, zeig mich an!“[2]). Am Ende war er selber der Blamierte. Diese Art von Journalismus lebt von Event und Krawall.

Die Kehrseite ist jener Wohlfühljournalismus, der im Zeitalter vom Label Corporate Publishing um sich greift. Journalismus soll gute Nachrichten verbreiten und den Wohlfühlfaktor der Lesenden erhöhen. In manchen Artikeln wird gleich in jeden zweiten Satz das Wort toll eingearbeitet, wenn es auch nur um den Bericht über einen Kongress geht. Die Ausbreitung solcher Journalismusformen, die die Leser nicht mehr mit den Zuständen auf der Welt überfordern wollen, ist die Krise der Medienwirtschaft.

Da die alten Bezahlmodelle nicht mehr funktionieren, werden neue Formen erprobt. Vom Stiftungs- und Spendenjournalismus über Mitglieder-bzw. Leserfinanzierung bis hin zum Internetbezahlmodellen reichen die Modelle. Wie kritisch ein solcher Journalismus noch ist, war auch Thema auf der Linken Medienakademie[3] Anfang April in Berlin.

Tatsächlich zeigt sich aber, dass Wohlfühl- und Eventjournalismus ein Ergebnis dieses Umbruchs in der Medienlandschaft sind. Damit werden bestimmte Leserinteressen befriedigt. Gemeinsam ist ihnen, dass es nicht um kritische Reflexion mit der Welt geht, sondern um die eigene kleine Welt der jeweiligen Zielgruppen der Medien. Da platze dann auf einmal die Realität in der Welt rein und daraus wurde dann der Böhmermann-Hype.

Die Debatte gehört in die Gesellschaft, nicht ins Feuilleton

Von den Verfassern einer Solidaritätserklärung an Böhmermann, die gestern in der Zeit veröffentlicht[4] und von zahlreichen Künstlern unterzeichnet wurde, ist anzunehmen, dass zumindest einige schon mal seine Sendung gesehen haben.

Zunächst ist die Überschrift „Liebe Regierung, jetzt mal ruhig bleiben“ sympathisch. Tatsächlich wäre es ein gutes Ergebnis des Böhmermann-Hypes, wenn die Sonderregelungen abgeschafft werden, die Staatchefs einen besonderen Schutz vor Beleidigungen bieten sollen und das in der Vergangenheit oft getan haben.

Allerdings muss das dann für alle gelten, auch für Joachim Gauck. Dass die sich beleidigt Fühlenden dann immer noch als Privatpersonen Anzeige erstatten können, was Erdogan auch schon gemacht hat, ist ihnen unbenommen und gehört auch zu ihren Recht. Daher ist es irreführend, wenn es in dem Aufruf heißt, die Debatte gehöre nicht in den Gerichtssaal. Zudem ist es verwunderlich, dass sie ins Feuilleton verbannt und damit entpolitisiert werden soll. Schließlich ist in vielen Feuilletons zu lesen, was in den Innenpolitik- und Wirtschaftsteilen der Zeitungen nie veröffentlicht würde.

Mit der Forderung, die Debatte soll wieder ins Feuilleton gesperrt werden, bekennt man sich dazu, nicht gesellschaftlich wirken zu wollen. Wir machen nur Kunst und keine Politik, lasst uns gefälligst diese Spielwiese, ist die Aussage. Dagegen müsste die Forderung stehen, dass die Debatte in die Gesellschaft gehört und dass es dabei nicht nur um Kritik in Richtung der türkischen Regierung gehen muss. Es sollte auch über die Funktion eines krawalligen Eventjournalismus à la Böhmermann diskutiert werden, der sich, wenn es Ernst wird, auf seinen Spielplatz Feuilleton zurückziehen will. Diese Gelegenheit haben kritische Journalisten in der Türkei und Kurdistan und vielen anderen Ländern in der Regel nicht. Sie werden verhaftet, angeklagt und verschwinden über Jahre in Gefängnissen. Die meisten derjenigen, die jetzt mit Offenen Briefen an Böhmermann wieder eine Gelegenheit finden, ihren Namen in der Öffentlichkeit zu lesen, findet man in der Regel nicht, wenn es um Solidarität für die wirklich vom türkischen Regime Verfolgen geht

Liebe Böhmermann-Freunde, jetzt mal ruhig bleiben

Beim ganzen Hype um Böhmermann wird das gerne vergessen. Dabei könnte doch die Causa Böhmermann sogar als Experiment gesehen werden, wie Erdogan sich um die vielzitieren westlichen Werte bemüht. Schließlich ist nicht bekannt, dass er zu einer Fatwah gegen ihn aufgerufen hat, sondern er beschreitet den Rechtsweg und unterscheidet sich damit nicht von vielen anderen, die in ähnlicher Situation ebenso reagieren würden.

Die Aufregung der letzten Tage ist also schwer zu verstehen. Man könnte daher einen Satz aus dem in der Zeit abgedruckten Brief der Böhmermann-Freunde auch auf sie selbst und ihr Umfeld münzen: „Jetzt mal ruhig bleiben.“ Vor allem sollte auch mal reflektiert werden, welche politischen Kräfte den Böhmermann-Hype nutzen, um ihre politischen Zwecke voranzutreiben. Dazu gehören all jene, für die Türkei sowieso in Europa nichts zu suchen hat und die wieder nach einen Prinz Eugen rufen, der „die Türken“ vertreibt.

Wenn der rechtsliberale belgische Politiker Guy Vorhofstadt mit dem Satz zitiert[5] wird: „Wir haben Sultan Erdogan schon den Schlüssel zu Europas Toren gegeben, nun laufen wir Gefahr, ihn auch unsere Redaktionen und Medien kontrollieren zu lassen“, dann verwendet er Kernelemente dieses rechtspopulistischen Diskurses.

Tatsächlich haben die europäischen Instanzen die Türkei bekniet, dass sie ihnen die Migranten fernhält. Wenn der Torwächter dann aber noch Rechte beansprucht, die nur der Herrschaft gebühren, dann greifen manche wieder zu einer Rhetorik, als stünden die Türken vor Wien.

Anhang

Links

[0]

https://de.wikipedia.org/wiki/Testbild#/media/File:SW_Testbild_auf_Philips_TD1410U.jpg

[1]

http://www.welt.de/debatte/kommentare/article154171281/Solidaritaet-mit-Jan-Boehmermann.html

[2]

http://www.heise.de/tp/artikel/47/47919/

[3]

http://www.linkemedienakademie.de/highlights/31-donnerstag/wie-kritisch-ist-unabhaengiger-journalismus-wie-unabhaengig-ist-kritischer-journalismus/

[4]

http://www.zeit.de/kultur/film/2016-04/jan-boehmermann-satire-solidaritaet-prominente-offener-brief

[5]

http://deredactie.be/cm/vrtnieuws.deutsch/EU/1.2595324

[6]

http://www.heise.de/tp/ebook/ebook_27.html

Griechenland und Ukraine: Kommt die EU-Krise zurück?

Die AfD rückt auf parlamentarischem Gebiet ein Stück weiter nach rechts

Bijî Rojava, bijî Kobanê

Kampf um Kobanê - Ismail Küpeli (Hg.)
Das Buch ermöglicht vielseitige Einblicke in kurdische Kämpfe rund um Rojava – auf allen Ebenen.

Der Kampf um die kleine Grenzstadt Kobanê in der Provinz Rojava hat vor einigen Monaten auch hierzulande der schon tot geglaubten internationalen Solidarität neue Impulse gegeben. Allein in Berlin sammelten nicht nur zwei Bündnisse Geld „Waffen für Rojava“: Zahlreiche Clubs und Veranstaltungslokalitäten schlossen sich zum Bündnis „Nachtleben für Rojava“ zusammen, um zivile Projekte in der syrischen Provinz zu unterstützen.

Der Kampf der YPG-Einheiten brachte nicht nur dem sogenannten Islamischen Staat (IS) die erste wichtige Niederlage. Er zeigte einer Linken, die sich von dem Ende des Nominalsozialismus noch immer nicht erholt hat, dass die viel beschworene andere Welt nicht nur eine Floskel ist. Mittlerweile hat das Interesse an Rojava zumindest in Deutschland wieder nachgelassen. Es ist eine gute Zeit, um ein erstes Resümee zu ziehen. Der Politwissenschaftler Ismail Küpeli hat im Verlag Edition Assemblage kürzlich unter dem Titel „Kampf um Kobanê“ ein Buch herausgegeben, das diesen Anspruch einlöst. 16 Autorinnen und Autoren schreiben über sehr unterschiedliche politische und soziale Aspekte, die mit dem Kampf um Kobanê im Zusammenhang stehen.

Leider gehört gleich der erste Aufsatz des Sozialökonomen Sebahattin Topçuoğlu nicht zu den stärksten Beiträgen des Buchs. Schließlich konzentriert er sich in seinem kurzen Einblick in die kurdische Geschichte auf die Historie der „großen Männer“, statt die Kämpfe der unteren Klassen in den Blick zu nehmen.

Auch was der Autor zur aktuellen Situation schreibt, ist höchst zweifelhaft. So schreibt er über Abdullah Öcalans Vorstellungen von Selbstverwaltung und Feminismus:

„Die Ideen Öcalans werden unter anderem auch deshalb international in linksgerichteten Kreisen diskutiert, weil sie sich klar gegen Kapitalismus und Nationalstaat positionieren. In Bezug auf Staatlichkeit nehmen seine Ideen zum Teil unrealistische bzw. utopische und anarchistische Züge an“ (S. 22).

So bleib Topçuoğlu am Ende der nun wahrlich nicht besonders analytische Gedanke: „Kurd_innen waren die Verlierer des 20. Jahrhunderts in der Region. Das 21. Jahrhundert bietet ihnen nun die Möglichkeit, bei der Neugestaltung der Region als Gewinner_innen hervorzugehen“ (S.23). Informativer ist der Beitrag von Ulf Petersen, der die auch in linken Kreisen häufig verbreitete Behauptung wiederlegt, dass die PYD (die kurdische „Partei der Demokratischen Union“) sich nicht an der Opposition gegen das Assad-Regime beteiligt habe. Dabei habe diese sich nur geweigert, das Regime auch um den Preis einer islamistischen Herrschaft zur stürzen. „Seit dem Kampf um Kobanê 2014/15 ist allerdings deutlich geworden, dass die PYD und die Selbstverwaltung wirklich einen eigenen Weg gehen“, (S.28) schreibt Petersen.

Der Kampf der Frauen geht nicht um westliche Werte

Eine Stärke des Buches besteht darin, dass die große Mehrheit der AutorInnen aus Türkei und Kurdistan kommen und daher sehr wichtige Detailinformationen vermitteln, die in der Diskussion hierzulande kaum bekannt sind. Das gilt beispielsweise für den Aufsatz der Soziologin Dinar Direkt, die sich mit der Rolle der Frauen in Rojava befasst und dabei eine scharfe Kritik an einer romantisierenden Berichterstattung vieler Medien äußert:

„Indem die Frauen als mysteriöse Amazonen erotisiert werden, werden sie dem kapitalistischen Wertesystem entsprechend politisch sterilisiert und vermarktet. Doch in Anbetracht der radikal-demokratischen politischen Ziele der in Rojava kämpfenden Frauen, ist es fraglich, ob der Mainstream und seine Modezeitschriften, die den Kampf kurdischen Frauen nun für ihre eigenen Zwecke aneignen, auch die Gedanken dieser mutigen Kämpferinnen zu unterstützen bereit sind. Immerhin steht die Ideologie, die diese Frauen antreibt, auf der Terrorliste der Türkei, USA und EU“ ( S. 38).

Direkt erinnert auch daran, dass der Kampf der Frauen in Kobanê in einer längeren Tradition steht.

„Erst wenn man sich mit der Position und den organisatorischen Praktiken der PKK befasst, ist es möglich, die Massenmobilisierung der Frauen in Kobanê zu verstehen. Sie ist nicht aus dem Nichts entstanden, sondern beruht auf bestimmten Prinzipien und betrachtet sich als die Weiterführung der Tradition, die die Frauen der PKK angefangen haben“ (S. 47).

Direk kritisiert auch eine Position, wie sie in feministischen Kreisen zu hören ist. Demnach kämpfen die Frauen in Rojava, um einer patriarchalen Gesellschaft zu entkommen. Für die Soziologin wird damit oft vergessen, dass die Frauen klare politische Positionen haben, die sie zu ihren Kampf motivieren. Allerdings kann eine Frau sich eine feministische Perspektive in der Auseinandersetzung mit der patriarchalen Gesellschaft, in der sie lebt, erarbeitet haben. Scharf zurückweist Direk auch die These, mit den feministischen Bezügen würden die Frauen in Rojava um westliche Werte kämpfen. Die Autorin erinnert daran, dass die kurdischen TheoretikerInnen der Frauenbefreiung sich explizit gegen den westlichen Feminismus wenden, den sie als ungenügend und unvollständig bezeichnen.

Der Wissenschaftler Lokman Turgut geht in seinem kurzen Abriss über die Geschichte der PKK bis in die späten 1960er Jahre zurück, als Versammlungen des Osten, in verschiedenen Städten stattfanden. Diese Versammlungen, die 1967 in verschiedenen kurdischen Städten organisiert wurden. Einberufen wurden sie von linken kurdischen Gruppen. Thematisiert wurde die Unterentwicklung der Osttürkei. Gefordert wurde die politische und ökonomische Gleichheit mit den anderen Teilen des Landes.
Damals wurde erstmals in größerem Umfang thematisiert, dass Kurdistan eine türkische Kolonie ist. Diese Ansätze spielten in verschiedenen linken Gruppen, die es in den 1970er Jahren in der Türkei und Kurdistan gab, und später dann auch in der PKK, eine wichtige Rolle. Die kurz zusammengefasste Übersicht über die Vorgeschichte der PKK könnte LeserInnen dazu ermutigen, hier weiter zu forschen. Bisher gab es auch in PKK-nahen Kreisen oft nur eine etwas mythologische Geschichtsschreibung, die mit dem Beginn des bewaffneten Kampfes 1984 begann, als ein Großteil der türkischen Linken von der Militärdiktatur ermordet, verfolgt, ins Gefängnis geworfen oder ins Exil getrieben worden war.

PKK eine stalinistische Organisation?

In seiner Zusammenfassung geht Turgut mit einer auch in Teilen der hiesigen Linken häufig bemühten PKK-Rezeption hart ins Gericht. „Die Bewertung der PKK als stalinistische oder marxistisch-leninistische Organisation, oder Versuche sie durch ihre jeweiligen einzelnen Ziele zu beschreiben, würde es verfehlen, die PKK umfassend und treffend einzuordnen“ (S. 64). Einige Seiten später vertritt der Journalist Christian Jakob in seinem Aufsatz über die PKK in den ersten zwei Jahrzehnten nach ihrer Gründung folgende Klassifizierung: „eine kurdisch-nationalistische, autoritäre, zentralistische Kaderpartei“. Allerdings betont Jakob, wie zahlreiche andere AutorInnen, dass die PKK später einen Bruch mit autoritären Politikvorstellungen vollzogen hat, die wesentlich von Öcalan vorangetrieben wurden, der wiederum von den Ideen des Anarchisten Muray Bookchyn beeinflusst ist. Die Lesart von der autoritären, ja stalinistischen PKK hatte sich bereits vor mehr als 30 Jahren in großen Teilen der außerparlamentarischen Linken in der BRD durchgesetzt. So stehen sich in dem Buch zwei Positionen gegenüber. Kurdische und türkische Linke, sehen schon in der Politik der frühen PKK viele Elemente enthalten, die die Politik bis heute bestimmen. Deutschsprachige Linke betonen den Bruch zwischen der stalinistischen und der libertären Phase. Hier spielt sicher die notwendige Kritik an autoritären oder stalinistischen Politikmodellen eine Rolle. Aber ein anderer Aspekt darf dabei nicht vernachlässigt werden. Die außerparlamentarische Linke der BRD kann sich über die sicher notwendige Zerstörung von Diskursen kaum andere Aktionsfelder vorstellen. Wie aber mehrere AutorInnen in dem Buch gut darstellen, war das Ziel der PKK ein Bruch mit dem Kolonialstatus in Kurdistan, aber auch eine innerkurdische Revolution, die sich gegen die eigene Bourgeoisie richtete. Ein solches Ziel setzt auch eine gewisse politische Organisierung voraus, die schnell als autoritär kritisiert werden kann. Es sollte aber nicht vergessen werden, dass auch bewaffnet kämpfende anarchistische Verbände wie die FAI in der spanischen Revolution keine basisdemokratischen Strukturen hatten.

Auch die Journalistin Hanna Wettig begründet in ihrem ansonsten informativen Aufsatz über die syrische Opposition in einer Fußnote, warum sie den Begriff Rojava in ihren Text nicht verwendet.

„Die Eigenbezeichnung ‚Rojava‘ wird hier nicht benutzt, da es sich nach Ermessen der Autorin nicht um eine Eigenbezeichnung der kurdischen Bevölkerung handelt, sondern um einen von der PYD in die politische Debatte eingeführten Begriff. Kurdinnen und Kurden, die sich jenseits der PYD politisch engagieren, benutzen diesen Begriff nicht oder nur spöttisch, einige lehnen ihn vehement ab“ (S. 126).

Nun hat Wettig aber nicht ausgeführt, wie hoch der Teil der Bevölkerung ist, die diesen Terminus ablehnt. Allerdings ist es auch ein Pluspunkt des Buches, das es eben auch solch kritische Beiträge neben Aufsätzen stehen lässt, die sehr eindeutig für den politischen Prozess in Rojava Partei ergreifen. Die LeserInnen haben so die Möglichkeit, sich selber ein Bild zu machen. Zudem hat die Geschichte von gesellschaftlichen Umbrüchen und Revolutionsversuchen gezeigt, dass eine kritiklose Betrachtungsweise schnell zu Enttäuschungen und oft zum Rückzug aus dem politischen Engagement führt. Eine Solidarität, die um diese Probleme weiß, die schon von Beginn an auch den kritischen Blick auf die eigene Seite wirft, ist heute notwendig. Das von Küpeli herausgegebene Buch kann einen Beitrag dazu leisten. Allerdings hätte man sich noch ein Kapitel gewünscht, dass die fortdauernde Repression gegen linke kurdische Strukturen in Deutschland noch einmal thematisiert. Neben der Türkei ist Deutschland mit dem PKK-Verbot das Land, das bis heute die kurdische AktivistInnen heftig bekämpft und kriminalisiert.

Zum Buch

Ismail Küpeli (Hg.) 2015:
Kampf um Kobanê. Kampf um die Zukunft des Nahen Ostens.
Edition Assemblage, Münster.
ISBN: 978-3-942885-89-8.
168 Seiten. 16,80 Euro.

http://kritisch-lesen.de/rezension/biji-rojava-biji-kobane

Peter Nowak

Transnationaler Streiktag

Über den Aktionstag am 1. März

Zum transnationalen Streiktag am 1.März gab es Aktionen in mehreren europäischen Ländern.

«Take a Walk on the Workerside» lautete das Motto eines Spaziergangs durch die prekäre Arbeitswelt in Berlin am 1.März. Organisiert wurde er von den «Migrant Strikers», einer Gruppe von italienischen Arbeitsmigranten in Berlin, den «Oficina Precaria», in der sich Kolleginnen und Kollegen aus Spanien koordinieren, und der Berliner Blockupy-Plattform, die in den letzten Jahren die Proteste gegen die Europäische Zentralbank (EZB) und die Eurokrise koordinierte.

Der Aktionstag am 1.März wurde von europäischen Basisgewerkschaften und linken Gruppen bei einem Treffen Mitte Oktober 2015 in Poznan beschlossen, bei dem über transnationale Kooperation im Arbeitskampf beraten wurde (siehe SoZ 12/2015).

Der Schwerpunkt der Aktionen lag in Spanien, Italien und Polen. Die polnische anarchosyndikalistische Arbeiterinitiative IP organisierte in mehreren Städten Kundgebungen gegen Zeitarbeitsfirmen, auf denen die dort praktizierten prekären Arbeitsbedingungen angeprangert wurden. «Wir fordern die gleichen Löhne, die gleichen Rechte und die gleichen Verträge für alle. Ob wir das durchsetzen können, hängt nicht nur von den Managern ab. Wenn wir zusammen agieren, können wir ein Wort bei der Organisation unserer Arbeit mitreden», hieß es im Aufruf der IP. Dort wurde auch auf den Kampf bei Amazon Bezug genommen und eine transnationale Perspektive gefordert. Die IP hat im Amazon-Werk in Poznan zahlreiche Beschäftigte organisiert.

In Deutschland gab es am 1.März nur in wenigen Städten Aktionen. In Dresden organisierte die FAU eine Diskussionsrunde zum Thema «Verteidigung des politischen Streiks» auf einem öffentlichen Platz. In Berlin war der Spaziergang durch die prekäre Arbeitswelt die zentrale Aktion. Startpunkt war die Mall of Berlin, die zum Symbol von Ausbeutung migrantischer Arbeit, aber auch des Widerstands dagegen wurde. Seit 15 Monaten kämpfen acht rumänische Bauarbeiter um den ihnen vorenthaltenen Lohn für ihre Arbeit auf der Baustelle (siehe SoZ 2/2015). Eine weitere Station war ein Gebäude der Berliner Humboldt-Universität. Dort sprach ein Mitglied einer studentischen Initiative, die sich für einen neuen Tarifvertrag für studentische Hilfskräfte einsetzt, über die prekären Arbeitsbedingungen im Wissenschaftsbetrieb.

An dem Spaziergang beteiligten sich auch Beschäftigte des Botanischen Gartens der FU Berlin mit einem eigenen Transparent mit Verdi-Logo. Sie sorgten in den letzten Wochen für Aufmerksamkeit, weil sie gegen die Outsourcingpläne der Unileitung kämpfen. Dazu hat sich ein Solikreis gebildet, an dem Studierende verschiedener Berliner Hochschulen beteiligt sind. In den letzten Wochen organisierte Ver.di zwei Warnstreiks im Botanischen Garten.

Es wurden am 1.März also Beschäftigte mit unterschiedlicher Gewerkschaftsorganisation angesprochen, die sich gerade in Auseinandersetzungen um Arbeitsbedingungen oder Löhne befinden. In Berlin will das kleine Vorbereitungsteam weiterarbeiten. Die nächste Aktion ist am 1.Mai geplant.

Transnationaler Streiktag

Peter Nowak