Denunziantenschutz beim Jobcenter?

Anonyme Anzeigen gegen Hartz-IV-Bezieher werden in deren Akten aufgenommen, ohne sie davon in Kenntnis zu setzen. Die Datenschutzbestimmungen der Jobcenter garantieren die Anonymität der Informanten

Verdient sich der Hartz IV beziehende Nachbar etwa noch etwas dazu oder lebt er gar nicht in einer Zweck-Wohngemeinschaft? Es gibt Zeitgenossen, die sich solche Fragen über die in ihrer Umgebung wohnenden Mitmenschen stellen und dem Jobcenter entsprechende Hinweise geben. Für die Betroffenen kann das gravierende Folgen haben.

So wurde bereits 2010 durch die taz ein Fall in Göttingen bekannt, wo ein anonymer Anrufer das Jobcenter darüber informierte, dass eine Hartz IV-Bezieherin mehr bei ihrem Freund als in ihrer Wohnung leben würde. Mitarbeiter des Jobcenters leiteten weitere Erkundigungen in der Nachbarschaft der Denunzierten ein. Danach wurde der Frau die Hartz IV-Leistung gestrichen, ohne sie vorher auch nur angehört und mit den Vorwürfen konfrontiert zu haben. Dabei handelte es sich um einen alltäglichen Vorgang, der nur publik wurde, weil die Betroffene die Öffentlichkeit informierte.

Bis heute hat sie keine Ahnung, wer sie denunziert hat. So geht es vielen Betroffenen, bei denen plötzlich Sozialdetektive auftauchen, die feststellen wollen, wie viele Zahnbürsten im Badezimmer eines Erwerbslosen zu finden sind und ob die Butter im Kühlschrank einer Bedarfsgemeinschaft getrennt aufbewahrt wird. Diese Besuche empfinden die betroffenen Hartz IV-Bezieher besonders demütigend, weil es sich hier um einen massiven Eingriff in die Privatsphäre handelt. Jeder Hartz IV-Bezieher muss schon bei der Antragsstellung zustimmen, dass er den Behörden Einblick in sämtliche Konten gewährt. Nun ist selbst die eigene Wohnung nicht mehr vor Kontrolle sicher. Besonders belastend ist es für viele Betroffene, dass sie nicht wissen, von wem sie angezeigt worden sind. War es ein Nachbar, ein Bekannter oder womöglich sogar ein vermeintlicher Freund?

Dass soll auch in Zukunft so bleiben. Wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten der Linken Katja Kipping hervorgeht, garantieren die Datenschutzbestimmungen der Jobcenter die Anonymität der Denunzianten. In der Antwort der Bundesregierung auf ihre schriftliche Anfrage, bestätigt der Staatssekretär des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, Gerd Hoofe, dass anonyme Anzeigen gegen Hartz-IV-Bezieher in deren Akten aufgenommen, ihnen aber nicht zur Kenntnis gegeben werden. Vor einer möglichen Akteneinsicht durch die Betroffenen sollen anonyme Anzeigen aus der Akte entfernt werden.

Datenschutz für Informanten?

Auf Kippings Frage, welche Anweisungen bzw. Regelungen und welche konkreten Praktiken in den Jobcentern hinsichtlich der in die Leistungsakte eines Hartz IV-Beziehers aufzunehmenden anonymen Anzeigen bzw. Strafanzeigen bestehen, heißt es in der Antwort:

„Der Informant hat Anspruch auf Geheimhaltung seiner personenbezogenen Daten. … Daher sollen im Regelfall entsprechende (anonyme) Anzeigen in einem verschlossenen Umschlag in der Leistungsakte aufbewahrt werden. Bei der Gewährung von Akteneinsicht ist diese im Regelfall herauszunehmen.“

Auf die Frage, welche Möglichkeiten für einen Hartz IV-Bezieher bestehen, Kenntnis über anonyme Anzeigen bzw. Strafanzeigen gegen ihn zu erlangen und sich gegen diese rechtlich zur Wehr zu setzen, antwortet der Ministeriumsvertreter, dass die Betroffenen die Namen der Informanten in Erfahrung bringen könnten, wenn es sich bei den Anzeigen nachweislich um Falschaussagen handelt und sie sich dagegen juristisch wehren wollen. Das können die Betroffenen aber nicht, wenn sie gar nicht wissen, dass gegen sie Anzeigen vorliegen.

Informelle Mitarbeiter der DDR können neidisch werden

„Anonyme Anzeigen gegen die Betroffenen in den Leistungsakten der Jobcenter sind ein Skandal. Erst recht, wenn sie dem Angezeigten nicht mal zur Kenntnis gegeben werden, weil sie bei Akteneinsicht vorher entfernt werden. Die Anzeigen beeinflussen den Fallmanager und der Betroffene weiß von nichts“, so Kippings Einschätzung, die von Erwerbsloseninitiativen geteilt werden.

Schließlich ist es absurd, wenn ausgerechnet Informanten sich auf Datenschutz berufen können sollen, den die beschuldigten Hartz IV-Bezieher nicht haben. Mancher ehemalige Informelle Informant der DDR dürfte da neidisch werden. Die haben sich gerne auch auf den Datenschutz berufen, als die Bürgerbewegung ihre Daten offenlegte.

Dieser von der Politik gewollte Datenschutz für anonyme Informanten ist auch ein Symptom für die gewollte Entsolidarisierung einer Gesellschaft. Denn so wird das Denunziantentum gefördert. In Zeiten, in denen ein Sarrazin zum Bestseller-Autor wird und Bild oder Sendungen wie Hart aber Fair mit Hetze gegen Erwerbslose Geschäfte machen bzw. für Aufmerksamkeit sorgen, gibt es genügend Willige, die dazu bereit sind.

Peter Nowak

Aus für Opel – und nichts passiert

Opel Bochum zeigt, wie schwer sic hdie Belegschaften mit der Automobilkrise tun

„Hier hat sich die Belegschaft selbst organisiert. Von Donnerstag an stand fest, die Belegschaft handelt und entscheidet gemeinsam jeden Schritt und jede Aktion. Ohne großartige Abstimmungen wurden die Tore besetzt, um zu verhindern, dass LKWs mit Ladung das Werk verließen – leer konnten sie fahren.“ Dieser Lagebericht des oppositionellen Bochumer Opel-Betriebsrates Manfred Strobel ist vor acht Jahren in der Zeitschrift Express erschienen, die gewerkschaftlichen Kämpfen in und außerhalb des DGB ein Forum gibt.
Damals hatte ein durch angekündigte Massenentlassungen ausgelöster sechstägiger Streik der Opel-Belegschaft in Teilen der Linken für Begeisterung gesorgt. Denn die Aktion hatte erkennbar nicht die Handschrift der IG-Metall-Führung getragen. Der Berliner Verlag „Die Buchmacherei“ hat unter dem Titel „6 Tage der Selbstermächtigung“ ein Buch herausgegeben, in dem die damaligen Kämpfe anschaulich dokumentiert sind. Acht Jahre später wurde der Schließungsbeschluss des Opelwerkes verkündet und es gab keine Torbesetzungen und Streiks. Kurz nach Bekanntwerden des Beschlusses demonstrierten am 10. Dezember knapp 100 Beschäftigten durch das Werk. Am 14. Dezember hatte die IG-Metall zu einer Kundgebung vor dem Tor 4 aufgerufen. Der Tenor der meisten Reden war Zweckoptimismus. Es sei schon ein Erfolg, dass die Gespräche weitergehen. So soll über die Auszahlung der 4,3% Tariflohnerhöhung, die Opel wegen als Vorleistung der Belegschaft gestundet worden sind, weiterverhandelt und das Ergebnis dann den Kollegen zur Abstimmung vorgelegt werden. Zudem wurde von den Betriebsräten die Aufsichtsratsversammlung vom 12. Dezember als erfolgreich bezeichnet, weil dort kein Schließungsplan vorgelegt worden war.
„Das halte ich für eine Nebelkerze. Schließlich wissen alle, dass es den Schließungsbeschluss gibt“, kommentierte Wolfgang Schaumberg diesem Versuch, die Belegschaft ruhig zu stellen. Schaumberg war jahrzehntelang in der oppositionellen Gewerkschaftsgruppe Gegenwehr ohne Grenzen (GoG) aktiv. Sie und ihre Vorläufer haben in den vergangenen drei Jahrzehnten bei Opel eine wichtige Rolle gespielt und sicher auch mit zum 6tägigen Streik vor 8 Jahren beigetragen. Dass die Gruppe, die die Standortlogik und das gewerkschaftliche Comanagement immer bekämpft hat, bei der letzten Betriebsratswahl erstmals kein Mandat mehr bekommen hat, zeigt das veränderte Klima.

Viele wollen lieber die Abfindung kassieren

Heute liegt der Altersdurchschnitt im Werk bei über 47 Jahren. „Gerade die Älteren hoffen auf eine Abfindung und rechnen sich schon aus, wie sie mit Abfindungen und Arbeitslosengeld bis zum Rentenalter kommen“, beschreibt Schaumberg die Situation Weil die Komponentenfertigung für andere Werke aus Bochum abgezogen wurde, könnte ein Ausstand heute nicht mehr wie 2004 die Opel-Produktion in ganz Europa lahmlegen. Dieser durch die technologische Entwicklung begünstigte Verlust der Produzentenmacht hat auch dazu geführt, dass sich viele StreikaktivistInnen von 2004 mit Abfindungen aus dem Betrieb verabschiedet haben. Dazu gehört auch der Express-Autor Manfred Strobel. Die Figur des “Arbeitermilitanten“, der, wie der vor einigen Jahren verrentete Wolfgang Schaumberg, über Jahrzehnte im Betrieb arbeiteten und Kampferfahrungen an neue Generationen weitergaben, war auch bei Opel schon vor den Schließungsplänen ein Auslaufmodell. Schließlich haben die Bochumer OpelanerInnen den Machtverlust selber erfahren können. In den letzten zwei Jahrzehnten ist die Anzahl der Belegschaftsmitglieder kontinuierlich zurück gegangen.
Dieser Rückgang der ArbeiterInnenmacht, bedingt durch den technologischen Fortschritt und die Politik der Wirtschaftsverbände, machen Belegschaften in vielen europäischen Ländern zu schaffen. Diese Erfahrungen haben dazu geführt, dass Entscheidungsstreiks in einzelnen Fabriken in den letzen Jahren zurückgegangen sind und dafür die aus der Defensive geführten politischen Streiks zugenommen haben, lautet die These des von Alexander Gallas, Jörg Nowak und Florian Wilde kürzlich im VSA-Verlag erschienenen Buch „Politische Streiks im Europa der Krise“.
Der IG-Metall-Vorstand zumindest macht sich über neue Kampfformen kaum Gedanken. Auf ihrer Homepage wird der Opel-Konflikt zu einem Kampf zwischen den Standorten USA und Deutschland stilisiert. Dort ist von „einer Kampfansage von General Motors an Opel Bochum“ die Rede. Das Management habe die Marke Opel beschädigt, lautet die Klage der gewerkschaftlichen Komanager, die ein profitables Opel-Werk fordern. „Damit sind weitere Verzichtserklärungen der Beschäftigten schon vorprogrammiert“, kommentiert Schaumberg realistisch.
Allerdings gibt auch bei Opel noch verschiedene Formen von Widerspruch gegen diese IG-Metall Linie. So empfahl ein oppositioneller Betriebsrat auf der Kundgebung am 14. Dezember, sich an den belgischen Ford-Kollegen aus Genk ein Beispiel zu nehmen, die Anfang November nach der Ankündigung der Werkschließung vor dem Ford-Werk in Köln protestierten. Die Aktion sei in den Medien in Deutschland als Randale hingestellt worden, es habe sich aber um eine Protestaktion mit Vorbildcharakter, erklärte er unter Applaus.

Oppositonelle Gewerkschafter gespalten

Ebenfalls aus den Reihen oppositioneller Opel-Gewerkschafter wird mit dem Vorschlag, Gewerkschaften und Umweltorganisationen sollen sich gemeinsam für die Produktion umweltfreundlicher Autos einsetzen, an die Konversionspläne der 70er Jahre angeknüpft.
„Solche Forderungen können nicht in einem Werk umgesetzt werden, sondern setzen eine ganz andere Auseinandersetzung mit dem Kapital voraus“, betont Schaumberg. Bei der GoG wird daher die Forderung diskutiert, dem Management mit der Position gegenüber zu treten, die Arbeit könnt ihr behalten, aber ihr müsst uns weiter bezahlen. Schließlich hätten die Lohnabhängigen die Situation nicht verursacht, die zum Schließungsbeschluss führte. Damit knüpfen sie an die Parole „Wir zahlen nicht für Eure Krise“ an. Im Fall Opel ist die Parole sehr treffend. Denn es ist auch die durch die deutsche Krisenpolitik der europäischen Peripherie aufoktroyiertes Verarmungsprogramm, das den deutschen Export einbrechen ließ und Opel unrentabel macht. Wer jeden Cent zweimal umdrehten muss, kauft schließlich keine Autos.
Ein erstes Fazit, das sich aus den Reaktionen auf die Opel-Krise ziehen lässt, ist so also durchaus zwiespältig. Viele außerparlamentarische Linke hätten natürlich jeden direkten Widerstand im Werk als Zeichen für die weiterhin lebendige ArbeiterInnenbewegung interpretiert. Dass aber die KollegInnen eben nicht einfach die Brocken hinwerfen und stattdessen ihre Abfindungen ausrechnen, ist auch der Erkenntnis geschuldet, dass im heutigen Kapitalismus eine isolierte Lösung in einer einzelnen Fabrik nicht möglich ist.
Die von der Umweltgewerkschaft angefachte Debatte über die Produktion von umweltfreundlichen Fahrzeugen ist nur möglich, wenn die Eigentumsfrage und ProduzentInnenmacht und Konzepte einer gesamtgesellschaftlichen, demokratischen Planung der Produktion wieder gestellt wird. In Zeiten, in denen die Markt- und Kapitallogik scheinbar alternativlos erscheint , könnten damit linke Zielvorstellungen wieder in der Öffentlichkeit platziert werden. Für das erste März-Wochenende plant die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Stuttgart eine Konferenz zum Thema „Erneuerung durch Streik“. In dem detaillierten Programm, das auf der Homepage http://www.rosalux.de/event/46538/erneuerung-durch-streik.html veröffentlicht, ist bisher allerdings Opel-Bochum nicht erwähnt.

aus analyse und kritik 579
http://www.akweb.de/
Peter Nowak

Cam over: Geraten in Berlin nach den Autos jetzt die Kameras ins Visier?

Der Aufruf Cam Over beruht auf dem Konzept des autonomen Subjekts

Um die Autobrände in Berlin ist es in letzter Zeit ruhiger geworden. Dabei gibt es noch immer brennende Fahrzeuge, wobei die Frage, ob politische Motive der Hintergrund sind, oft nicht klar ist. Es gab immer wieder massive Kritik auch in linken Kreisen, ausgerechnet das Auto zum Symbol aller Übel in der Welt aufzubauen und zu meinen, ein brennendes Auto wäre nicht eher ein Problem des Besitzers und keine Schlacht gegen den Kapitalismus. Zumal die Autos, die am wenigsten bewacht und gesichert sind, bestimmt nicht den wohlhabendsten Zeitgenossen gehören. Nun scheinen sich einige Aktivisten der linken Szene ein anderes Objekt ausgesucht zu haben: die Kameras, die in den letzten Jahren im Alltag massiv zugenommen haben.

Unter dem Slogan „Cam Over 2013“ haben Unbekannte zur Zerstörung von Überwachungskameras aufgerufen. Das Motto erinnert nicht zufällig an das englische »Game over. Im Aktionsaufruf heißt es: „Ziel des Spiels ist es möglichst viele Überwachungskameras zu entwerten.“ Die Sicherheitsbehörden nahmen diese Aufrufe sehr ernst. Webseiten, die das Aktionskonzept dokumentierten oder per Video die Unbrauchbarmachung einer Kamera exemplarisch vorführten, wurden umgehend gesperrt (http://camover.blogsport.de/spielidee/), aber sind wenig später wieder online.

Sowohl auf der aktivistischen Plattform Indymedia als auch auf anderen Webseiten wurden Schreiben veröffentlicht, in denen sich Gruppen mit Fantasienamen zu vollzogenen Kameraentwertungen bekennen. Sie ziehen dort auch eine Parallel zum 16. Europäischen Polizeikongress, der vom 16. bis 20 Februar in Berlin tagt. Das zentrale Thema soll dort „Schutz und Sicherheit im digitalen Raum“ sein. Wie in den vergangenen Jahren hat sich auch 2013 ein Bündnis zusammen gefunden, das gegen diesen Polizeikongress aktiv wird.

Militante Liberale?
Der Wechsel vom Auto zur Kamera scheint für die anonymen Aktivisten zunächst nicht unlogisch. Anders als ein Auto ist eine Überwachungskamera auch gesellschaftlich viel umstrittener. Das Recht, nicht beobachtet zu werden, wird gerade in der bürgerlichen Öffentlichkeit mit Nachdruck vertreten. Anders als ein Auto kann auch kaum jemand behaupten, eine Kamera wäre eben ein persönliches Hobby. Allerdings fällt auf, dass sich die anonymen Cam-Overisten nicht einmal die Mühe gemacht zu haben, ihren Aktivismus mit einer linken Gesellschaftskritik erklären zu wollen. So heißt es in dem Cam-Over-Aufruf verbalradikal, aber ohne jegliche Argumente:

„Wir hassen Überwachungskameras. Sie waren schon seit ihrer Erfindung scheisse. In unseren Städten verfolgen sie uns mittlerweile auf Schritt und Tritt. Auf der Straße, in Läden, in Wohnhäusern und in Bus und Bahn. Permanent werden wir beäugt, überwacht, ausspioniert. Menschen und Institutionen, die es am besten überhaupt nicht geben sollte, speichern Bilder unseres Lebens und vermitteln uns den Eindruck, ständiger Kontrolle zu unterliegen. Weil wir dieser Vision schon viel zu nahe sind, jeder Moment aber der letzte sein könnte, sie zu zerstören, rufen wir zu einem Spiel auf. Ein freudiges Spiel mit einem ernsten Ziel.“

Hier wird deutlich, dass die anonymen Verfasser in der Ideologie eigentlich militante Liberale sind. So mögen ihre Aktionsformen radikal sein, die Begründung aber könnten Liberale jeglicher Couleur unterschreiben, die schließlich alle die Autonomie des bürgerlichen Subjekts hochhalten und die Überwachung als grobe Verletzung dieser Autonomie verstehen. Selten wird deutlich, dass viele, die sich als Autonome verstehen, tatsächlich die letzten Verfechter dieser bürgerlichen Autonomie sind. Dabei wird völlig ausgeblendet, dass es oft gerade Menschen mit wenig Geld sind, die an bestimmten Orten Überwachungskameras fordern. Der Grund liegt nicht darin, dass es sich hier um große Sicherheitsfanatiker halten.

Die Ängste der Subalternen werden ignoriertVielmehr haben sie einfach Angst, zu bestimmten Zeiten bestimmte Plätze aufzusuchen. Die Kameras suggerieren ihnen Sicherheit. Die Kritik, dass es dabei nur um ein Sicherheits-Placebo handelt, ist berechtigt. Aber auch in der Medizin sind Placebos nicht ganz wirkungslos. Daher ist der Kampf gegen die Kameras nicht falsch, wenn aber die konkreten Ängste von sich als schwach empfindenden Teilen der Bevölkerung ausgeblendet wird, ist es eine Angelegenheit des autonomen Bürgers, der nicht überwacht wenden und auf seine Autonomie wert legt.

Wenn dann Rentner, Frauen oder Menschen mit Handicaps nicht mehr aus dem Haus gehen, weil sie, ob begründet oder nicht, Angst vor Überfällen, Vergewaltigungen und anderen Angriffen haben, ist ein solcher Aktivismus sicher kein Beitrag dazu, dafür zu sorgen, dass die Straßen und Plätze wieder von allen genutzt werden können.

Peter Nowak

Wenn die Kündigung in die Rehaklinik geschickt wird

Stress am Arbeitsplatz und Kündigung: „Wie misst man eigentlich die Arbeitsleistung eines Produktentwicklers?“

Stress am Arbeitsplatz ist mittlerweile ein Dauerthema. Nachdem vor zwei Wochen der DGB eine Studie zu diesem Thema vorgelegt hat, treffen sich heute in Berlin Vertreter aus Politik, Gewerkschaften, und Wirtschaft, um über Maßnahmen zu beraten. Der Medizinsoziologe Johannes Siegrist bringt die Zunahme von Stress am Arbeitsplatz auch mit der Globalisierung in Verbindung.

„Die Intensität der Arbeit hat sich in den vergangenen 20 Jahren in vielen Berufen gesteigert. Das Tempo, die Arbeitsmenge, die zu erledigen ist, und die Anforderungen an die Arbeit haben sich erhöht.“

Ein wichtiger Grund sei die zunehmende Konkurrenz in Zeiten der Globalisierung. Wobei die Konkurrenzsituation längst in allen Bereichen des Arbeitslebens Einzug gehalten hat. Günther Demin (Name auf Wunsch des Betroffenen verändert) kennt das Thema Stress am Arbeitsplatz allerdings nicht nur aus den Medien. Dem 48-jährigen Softwareentwickler eines mittelständischen Betriebs wurde im Dezember gekündigt. Jetzt kämpft er um seinen Arbeitsplatz.

Demin würde zu geringe Arbeitsleistung erbringen, so Begründung der Firma. Für ihn ist der Vorwurf nicht nachvollziehbar. „Wie misst man eigentlich die Arbeitsleistung eines Produktentwicklers?“, fragt er sich. Vor allem die Umstände der Kündigung machen ihn wütend. So sei mit ihm vor der Kündigung nicht gesprochen worden. Außerdem war er krankgeschrieben, als er die Kündigung erhalten hat. Dass es kein großer Beitrag zur Genesung ist, wenn man kurz vor Weihnachten in einer Rehaklinik die Kündigung erhält, kann sich jeder denken.

Klinikaufenthalt als Arbeitsverweigerung?

Zumal der Firmenleitung seine gesundheitlichen Probleme bekannt gewesen sein müssen. Denn Demin hat sich eigentlich vorbildlich verhalten, wenn man die Tipps und Ratschläge der medizinischen Fachleute zum Maßstab nimmt. Schon im Frühjahr letzten Jahres stellte er nach gesundheitlichen Problemen bei seiner Rentenversicherung einen Antrag auf eine stationäre Behandlung in einer Rehaklinik. „Neben der Sicherung meiner Gesundheit hatte auch der Erhalt meines Arbeitsplatzes für mich hohe Priorität“, erklärt Demin.

Deshalb bat er seinen Arbeitgeber um eine Arbeitszeitverkürzung, damit er die Anforderungen am Arbeitsplatz und die Wiederherstellung seiner Gesundheit miteinander verbinden kann. Der Arbeitgeber habe die Bitte aber abgelehnt, so Demin. Stattdessen erhielt er eine Abmahnung wegen Arbeitsverweigerung.

Dabei habe es sich klar um ein Missverständnis gehandelt, betont der Betroffene. Er habe seinen Arbeitgeber auf seinen beantragten, aber auch noch nicht bewilligten Klinikaufenthalt hinweisen wollen und gesagt, dass er möglicherweise krankheitsbedingt für einige Wochen nicht am Arbeitsplatz erscheinen könne. Die Abmahnung sei später zurückgenommen worden.

Demin zeigt im Gespräch mit Telepolis sogar Verständnis für seinen Chef. Vielleicht sei die Ankündigung ja tatsächlich missverständlich formuliert gewesen. Allerdings kann auch eine besondere Stresssituation entstehen, wenn Beschäftigte erfahren müssen, dass ein angekündigter Klinikaufenthalt als Arbeitsverweigerung sanktioniert wird. Könnten solche Maßnahmen nicht gerade dazu führen, dass Beschäftigte, statt sich um ihre Gesundheit zu kümmern, alles unternehmen, um ihren Arbeitsplatz zu erhalten und dann lieber Pillen schlucken, als sich krankschreiben zu lassen?

Normalität, die viele nicht wahrhaben wollen

Im Sommer 2012 bat Demin seinen Chef um eine Arbeitszeitverkürzung. Zuvor hatte er einen Nervenzusammenbruch erlitten, der mit einem zweiwöchigen Klinikaufenthalt verbunden war. Dieses Mal hatte er zur Untermauerung ein ärztliches Attest vorweisen können. „Meine damaligen Ärzte bescheinigten mir, dass eine kürzere Arbeitszeit für mich gesundheitlich dringend anzuraten ist“, betont Demin. Darauf habe ihm sein Arbeitgeber eine bis Ende 2012 befristete Arbeitszeitverkürzung genehmigt. Ab September 2012 habe er 32 statt bisher 40 Stunden in der Woche gearbeitet. Ab 31. Oktober habe die beantragte Rehabilitationsmaßnahme in der Klinik begonnen, die Anfang Dezember noch einmal um drei Wochen verlängert worden sei. Während dieser Behandlung sei ihm die Kündigung zugeschickt worden.

Die Rehaklinik hat er Ende Dezember verlassen. Allerdings sei er noch bis zum 18.Februar 2013 arbeitsunfähig geschrieben, berichtet Demin gegenüber Telepolis. Für seinen Arbeitsplatz will er in dieser Zeit aber trotzdem kämpfen. Ein Gütetermin vor dem Stuttgarter Arbeitsgericht blieb am 29. Januar ohne Ergebnis. Jetzt will er sich auf den Arbeitsgerichtsprozess vorbereiten und dabei auch Gewerkschaften und soziale Initiativen informieren. Der Termin des Prozesses steht noch nicht fest. Von der Firma gab es bislang noch keine Stellungnahme zu den Vorwürfen.

Sie soll auf Wunsch des Betroffenen nicht namentlich genannt werden. Es ist auch nicht nötig, denn was Demin berichtet, ist gerade nicht ein besonders skandalöser Fall, sondern eher die Schilderung einer Normalität, die viele nicht wahrhaben wollen. Wenn sich jetzt auch Vertreter der Politik und Wirtschaft alarmiert zeigen, wird nicht selten auf die volkswirtschaftlichen Schäden verwiesen, die durch die gesundheitlichen Folgen von Stress am Arbeitsplatz entstehen. Der Fall Günther Demin macht aber deutlich, wie hoch die Kosten für den einzelnen Beschäftigten sind, über die auch in der aktuellen Debatte zu selten geredet wird.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153640
Peter Nowak

Konferenz der Unsichtbaren

Es gibt viele weibliche Flüchtlinge, doch bei Protesten sind sie kaum präsent – das soll sich ändern
Weibliche Asylbewerber leiden nicht nur unter der allgemeinen Diskriminierung von Flüchtlingen, sondern zudem unter sexistischer Behandlung – bei Ämtern, in Heimen und innerhalb der Flüchtlingsbewegung. Zum ersten Mal widmet sich nun eine Konferenz ausschließlich ihren spezifischen Problemen. Das soll Frauen ermutigen, sich stärker zu engagieren.

»Jede von uns trägt den Schmerz der Vergangenheit. Wir haben Armut, Elend, Krieg, politische Verfolgung, sexuelle Gewalt und Erniedrigung erlebt. Wir sind einen langen, beschwerlichen Weg gegangen und gemeinsam befinden wir uns hier in der Migration im Exil.« Mit diesen eindringlichen Worten beginnt der Aufruf für die erste Flüchtlingsfrauenkonferenz in Deutschland, die vom 19. bis 21. April in Hamburg stattfinden soll. Die Initiative steht im Kontext des wachsenden Widerstands von Flüchtlingen. 2012 gilt als Jahr ihres Aufbruchs, Höhepunkte waren ein Marsch von Würzburg nach Berlin, der Hungerstreik am Brandenburger Tor und die Errichtung eines Flüchtlingscamps im Bezirk Kreuzberg. Doch dieser Widerstand scheint männlich zu sein – Frauen sind dabei kaum sichtbar. Aus diesem Befund ist im vergangenen Jahr beim Flüchtlingssommercamp in Erfurt die Idee für die Konferenz entstanden.

»In den letzten Jahren ist uns aufgefallen, dass gerade in unserem selbstorganisierten Kampf die Beteiligung von Frauen sehr gering ist«, erklärt eine Aktivistin vom Vorbereitungskreis. Dabei sind Frauen nicht weniger von den Problemen betroffen. Die Residenzpflicht schränkt ihre Bewegungsfreiheit ein, sie müssen abgeschottet in Heimen leben, und immer wieder droht die Abschiebung. Im Gegensatz zu Männern sind sie aber zudem mit sexistischer Unterdrückung konfrontiert, nicht nur in ihrer Heimat, sondern auch hierzulande, auf Ämtern und in Heimen. »Frauen erfahren Ausgrenzung, Erniedrigung und Ausbeutung in ihrem Alltag besonders stark, deshalb haben sie kaum Kraft, sich am Widerstand zu beteiligen«, meint die Konferenzorganisatorin.

Der Erfahrungsaustausch soll deshalb auf der Konferenz viel Raum bekommen. Dabei werden Frauen nicht nur vom Kampf für ihre Rechte in ihren Herkunftsländern und von sexuellen Belästigungen bei Festnahmen berichten. Auch Übergriffe in deutschen Flüchtlingsunterkünften von männlichen Flüchtlingen und Mitarbeitern sollen zur Sprache kommen, genauso wie sexistische Einstellungen deutscher Behörden. Die Frauen wollen darüber hinaus beraten, wie sie mit sexistischem Verhalten innerhalb der Flüchtlingsstrukturen umgehen können. Zu Opfern wollen sie sich allerdings nicht stilisieren lassen, betont die Aktivistin des Vorbereitungskreises.

Sie hofft, dass die Konferenz Frauen ermutigt, sich in der Flüchtlingsbewegung stärker einzubringen. Deshalb wird im Rahmen der Veranstaltung auch das Internationale Flüchtlingstribunal vorbereitet, das im Juni in Berlin stattfinden soll. Dann wollen Flüchtlingsorganisationen Anklage gegen die deutsche Regierung erheben. Ihr wird zur Last gelegt, mitverantwortlich zu sein für die Fluchtursachen, die Toten an den europäischen Außengrenzen und »für das psychische und physische Leid, das Flüchtlinge und MigrantInnen hierzulande tagtäglich erleben«. Für die Flüchtlinge sind solche Aktivitäten ein finanzieller Kraftakt. Die Organisatorinnen der Frauenkonferenz haben daher ein Spendenkonto eingerichtet.

Spendenkonto: Förderverein Karawane, Kto-Nr. 40 30 780 800, GLS Gemeinschaftsbank, BLZ 430 609 67, Stichwort: Flüchtlingsfrauenkonferenz

http://www.neues-deutschland.de/artikel/811433.konferenz-der-unsichtbaren.html
Peter Nowak

Der unbekannte Reaktor am Rande Berlins

Berliner Oberverwaltungsgericht hält Flugrouten über Forschungsreaktor für zu gefährlich und bestätigt damit eine Initiative, die sich für dessen Schließung einsetzt

Schon wieder sorgt der zukünftige Berliner Flughafen für Schlagzeilen. Dieses Mal geht es aber nicht um Baumängel, sondern um die Flugrouten. Die müssen nach einem Urteil des Berliner Oberverwaltungsgericht geändert werden. Grund ist der Forschungsreaktor BER II auf dem Gelände des Helmholtz-Zentrums. Die Richter schreiben dazu:

„Der 11. Senat ist der Auffassung, dass die streitgegenständliche Festsetzung der Flugroute rechtswidrig ist und die Kläger in ihren abwägungserheblichen Belangen (Gesundheit, Planungshoheit) verletzt. … Das Risiko eines Flugunfalls und eines terroristischen Anschlags auf den Luftverkehr und der dadurch ausgelösten Freisetzung ionisierender Strahlung des Forschungsreaktors wurde nicht hinreichend in den Blick genommen. Eine solche fallspezifische Risikoermittlung wäre notwendige Grundlage einer Abwägung gewesen. Die Risikoermittlung war auch deshalb geboten, weil die Risikobetrachtungen für den Reaktor in Bezug auf den Flugverkehr veraltet waren und die Beklagte darauf durch die Atomaufsichtsbehörde hingewiesen wurde.“

Dieses Mal wurde allerdings nicht die Flughafengesellschaft, sondern das dem Bundesverkehrsministerium unterstehende Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung vom Gericht gerügt. In einer kurzen Mitteilung zum Urteil wird darauf hingewiesen, dass Revision gegen das Urteil zugelassen ist und das Amt die weiteren Schritte noch prüfe. Das Bundesamt könnte in Revision gehen, eine andere Flugroute wählen oder die vom Gericht angemahnte Risikoberechnung nachreichen. Sollte es dann aber bei der bisherigen Route bleiben, werden garantiert neue Klagen folgen.


Neustart beim Flughafen oder Schließung des Reaktors?

Das jüngste Urteil bestärkt Gegner des bisherigen Flughafen, die für eine komplette Neuplanung eintreten. So fordert eine Initiative „die Forcierung, Bekanntmachung und Durchsetzung eines sachgerechten Nachnutzungskonzepts für den BER und damit verbunden die Forderung zum unverzüglichen Beginn einer Neuplanung eines privat finanzierten und zu betreibenden Großflughafens an einem Standort, der raumverträglich ist, die gesellschaftliche Akzeptanz hat und gleichzeitig den Forderungen der Flugbetriebswirtschaft nach einem europäisch wettbewerbsfähigen Zukunftsflughafen ohne Flugbeschränkungen entspricht“.

Allerdings käme für die Frage der Flugrouten auch eine ganz andere Lösung in Betracht. Das Anti-Atomplenum Berlin-Brandenburg fordert seit Längerem die Schließung des Forschungsreaktors. Es bezeichnet ihn als Deutschlands gefährlichsten Reaktor.

Dabei stützt es sich auf eine auch Stresstest genannte Sicherheitsüberprüfung der Reaktorsicherheitskommission von 2012. Hauke Benner vom Bündnis für die Schließung des Reaktors sieht nach der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Handlungsbedarf. Gegenüber Telepolis erklärt sie:

„Täglich überfliegen schon jetzt bis zu 100 Flugzeuge den Reaktor, der auch nach dem Bericht der Reaktorsicherheitskommission vom Mai 2012 wegen seiner fehlenden Reaktorsicherheitshülle (Containment) hochgradig gefährlich ist. Für einen Weiterbetrieb ist nach Ansicht der RSK dieses Containment unbedingt erforderlich, denn das berühmt berüchtigte „Restrisiko“ ist im Falle eines Flugzeugabsturzes nicht kalkulierbar oder mit irgendwelchen Wahrscheinlichkeitsrechnungen bagatellisierbar. Deshalb ist die Forderung nach sofortiger Abschaltung im Interesse der Bevölkerung von Berlin und Potsdam überfällig.“

Mit dem Urteil ist der weitgehend unbekannte Forschungsreaktor am Rande Berlins in den Fokus der Diskussion gerückt. Selbst zu Hochzeiten der Anti-AKW-Bewegung setzte sich nur ein kleiner Kreis kritisch mit dem Betrieb des Reaktor auseinander.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153615
Peter Nowak

Kein Ende der Recherche

ENGAGEMENT Die Dokumentationsstelle der Antirassistischen Initiative Berlin kann doch weiterarbeiten: Ihr Hilferuf nach Unterstützung wurde gehört

Die Dokumentationsstelle der Antirassistischen Initiative Berlin (ARI) kann ihre Arbeit fortsetzen. Seit 20 Jahren gibt der Verein die Dokumentation „Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen“ heraus. Noch vor wenigen Wochen schien das Projekt in Gefahr, weil ehrenamtliche Mitwirkende fehlten.

„Wir sind jetzt wirklich sehr auf Unterstützung dieser wichtigen Arbeit angewiesen, sonst müssten wir aufhören“, hatte die ARI in einem offenen Brief formuliert. „In der letzten Zeit haben wir die Dokumentation ehrenamtlich zu zweit erstellt. Diese Arbeit können wir auf keinen Fall mehr mit so wenig Personal leisten“, erklärt Elke Schmidt von der ARI den Grund für den Hilferuf – der gehört wurde: Es habe viel Zuspruch gegeben und einige Menschen haben ihre Mitarbeit angeboten, sagte Schmidt gegenüber der taz.

Zurzeit berate man mit den InteressentInnen über die konkrete Ausgestaltung der Kooperation. Begonnen hat Schmidt mit einer Mitstreiterin das Dokumentationsprojekt im Jahr 1994, nachdem sich der Onkel eines verschwundenen tamilischen Flüchtlings an die ARI gewandt hatte. Bei der Recherche stellte sich heraus, dass der Mann mit acht weiteren Flüchtlingen beim Grenzübertritt in der Neiße ertrunken war. Zusammen mit einem Filmteam machte die ARI den Fall öffentlich.

Seitdem sammelt das kleine Dokuteam Nachrichten über Todesfälle, Misshandlungen und Gewalt im Zusammenhang mit der deutschen Flüchtlingspolitik. Über 370 tote Flüchtlinge allein durch staatliche Maßnahmen hat die ARI bisher gezählt. Zurzeit werden die aktuellen Fälle von Gewalt für die demnächst erscheinende Dokumentation recherchiert. Dass sich der Kreis verbreitert, beruhigt nicht nur Elke Schmidt. Die deutschlandweit einzigartige Arbeit erfährt seit Jahren Lob und Anerkennung von AntirassistInnen, Medien und Flüchtlingsorganisationen.
Wer die Arbeit unterstützen will, kann sich bei ari-berlin-dok@gmx.de melden.

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ba&dig=2013%2F01%2F25%2Fa0153&cHash=2c0dc081945dabe0e2d3b02f6cd1c731
Peter Nowak

Der Trend ist gegen die Linkspartei

Nach dem Debakel in der Niedersachsenwahl nimmt die Partei Kurs auf ein Bündnis mit SPD und Grünen – warum aber nicht mit den Piraten?

Ist es ein Erfolg oder eher Menetekel? Die Linkspartei wird nicht mehr insgesamt vom Verfassungsschutz beobachtet, lediglich einige von den Behörden als „extremistisch“ eingestufte Gruppierungen genießen dieses Privileg. Dass sich führende Spitzenpolitiker dagegen verwahren, ist nicht nur verständlich, sondern auch politisch klug. Ansonsten würden sie den Verdacht nicht los, dass sie eigentlich diese inkriminierten Gruppierungen gerne selber los werden wollten. Nein, so weit ist es zumindest in der Öffentlichkeit noch nicht.

Selbst als ein beim Parteivorstand der Linken beschäftigter Antifaschist in der letzten Woche wegen seinen Engagements gegen den Naziaufmarsch in Dresden zu einer Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt wurde, obwohl ihn niemand beschuldigte, auch nur einen Stein geworfen zu haben, sondern er nur mit dem Megaphon zum Widerstand gegen die Rechten aufgerufen hatte, gab es öffentlich keine Distanzierungen. Ob es dabei bleibt, muss sich zeigen. Denn der Trend steht gegen die Linkspartei.

Das zeigt sich bei der Niedersachsenwahl. Dort wurde die Partei so lange unter die Fünfprozenthürde geschrieben, dass das von der Mehrheit der Presse gewollte Ereignis auch eintrat. Denn die Botschaft ist klar. Einer Partei, der nicht mehr der Einzug ins Parlament zugetraut wird, verliert an Zustimmung, weil viele Wähler noch die Logik von den verlorenen Stimmen verinnerlicht haben. Deshalb gibt es selbst bei Journalisten, die nicht als Freunde der Linkspartei gelten, den Aufruf, die Fünfprozentklausel fallen zu lassen.

Doch die Probleme der Linken wären damit nicht gelöst. In Niedersachsen hat sie ebenso wie in NRW wenige gravierende Fehler gemacht. Sie hat in beiden Bundesländern als linkssozialdemokratische Partei agiert, die sich, wenn es die Mehrheitsverhältnisse erlauben, als Teil der ominösen rot-grünen Mehrheit versteht. Bemerkenswert war, dass auch Sarah Wagenknecht diese Linie nicht nur verbal unterstützte. Sie war von manchen schon als Wirtschaftsministerin in einem von der Linken unterstützten rotgrünen Kabinett gehandelt worden. Dabei galt die bundesweit bekannte Linkspolitikerin Wagenknecht lange als vehementer Kritikerin solcher rosa-grünen Mehrheitsbeschaffungsspiele. Ihr Positionswechsel, den sie selber natürlich nicht als solchen sehen will, ist kein persönliches Problem. Bei den Grünen konnten wir zwischen 1984 und 1990 sehen, wie ehemalige Gegner einer Koalition mit der SPD entweder ausgetreten sind oder die Position wechselten. Heute sind sie schon fast am linken Flügel gegenüber den Befürwortern eines Bündnisses mit der Union.

Um solche Mechanismen zu erklären, helfen keine individuellen Schuldzuweisungen, sondern die Lektüre von Johannes Agnolis wichtiger Schrift „Transformation der Demokratie“, die als Grundlage einer linken Parlamentskritik gelten kann. Dann wird aber auch deutlich, dass die Linke nicht unbedingt mehr Stimmen gewonnen hätte, wenn sie stärker ihren unbedingten Oppositionskurs herausgestellt hätte. Die meisten Wähler haben die Münteferingsche Logik, dass Opposition Mist ist, verinnerlicht, obwohl beispielsweise die meisten Atomkraftwerke in der BRD nicht von den Grünen an der Regierung, sondern von einer bunten außerparlamentarischen Anti-AKW-Bewegung verhindert worden sind.

Gysi und die 7 Zwerge – oder die Sehnsucht nach dem starken Mann?

Gerade das grünennahe Milieu, das der Linkspartei übel nimmt, sich neben den Grünen als eigene reformistische Partei behaupten zu wollen, hat jahrelang vor dem Fundamentalismus der Partei gewarnt. Dass man ihr das in Niedersachsen nun wirklich nicht vorwerfen kann, hat keinen der Kommentatoren dazu bewegt, über die eigene Kritik nachzudenken. Im Gegenteil wird die Linke jetzt noch mehr runter geschrieben.

Stein des Anstoßes ist nun die Präsentation des Spitzenteams für die kommenden Bundestagswahlen. Die gleichen Journalisten, die sich ereiferten, dass die Partei von alten Männern wie Lafontaine und Gysi geprägt war, machen sich jetzt darüber lustig, dass die Partei in einem achtköpfigen Team antritt. Was eigentlich als große Modernisierung einer Partei gilt, die noch vor einem Jahr stark von dem Streit zwischen Lafontaine und Gysi geprägt war, zumal das Team auch noch quotiert ist, wird nun ausgerechnet in der Taz in einer Weise desavouiert, die man einem Lafontaine mit Recht nicht hätte durchgehen lassen. Vom Wimmelbild ist da die Rede oder von Gysi und den sieben Zwergen? Um Inhalte geht es nicht und die Kommentare machen deutlich, dass die Kritik an der Macht eines Gysis oder Lafontaines nicht ernst gemeint war.

Auch jetzt fehlt eine inhaltliche Kritik an dem linken Motto „8 Köpfe für den Politikwechsel“. Natürlich wird hier aktiv Kurs auf ein Bündnis mit SPD und Grünen genommen. Dass deren Ablehnung eines solchen Bündnisses von den umworbenen Partnern nicht nur taktisch begründet ist, wird von der Linkspartei freilich ausgeblendet. Wieso linke Positionen ausgerechnet mit dem SPD-Rechten Steinbrück durchsetzbar sein sollen, bleibt ebenso unbeantwortet wie die Frage, wie die Ablehnung aller Kriegseinsätze mit einer grünen Partei durchgesetzt werden soll, die beim Libyen-Konflikt als Speerspitze des Menschenrechtsbellizismus auftrat?

Zudem hat die Linke mit dem Motto implizit auch den Anspruch aufgegeben, als konsequente Opposition aufzutreten, die dazu keine Mitregierungsoptionen brauchen. Je näher die Bundestagswahl rückt und je mehr ein Bündnis zwischen SPD und Grünen möglich erscheint, desto schwieriger wird es die Linke haben, sich als eigenständige Partei profilieren zu können.


Warum kein Wahlbündnis Piraten-Linkspartei?

In vielen Medien ist der Wunsch groß, die Linkspartei möglichst nahe an oder sogar unter die Fünfprozenthürde zu schreiben. Umso erstaunlicher ist, dass nicht über ein Wahlbündnis zwischen Piraten und der Linken diskutiert wird. Dabei hätten sie es in Niedersachsen gemeinsam knapp in den Landtag geschafft. Auch die Inhalte sind recht ähnlich. Beide sind Reformparteien, die den Kapitalismus etwas verbessern wollten. Dabei haben die Piraten ihren Schwerpunkt im Bereich Internet und Transparenz und die Linken im Sozialen. In beiden Bereichen gibt es kaum grundsätzliche Unterschiede.

Dass eine Piratenkandidatin für den niedersächsischen Landtag sogar den Linken einen Twitteraccount zur Verfügung stellte, zeigt, dass es hier auch personell keine unüberwindlichen Hindernisse für eine Kooperation gibt. Warum dann nicht beide, die vom Standpunkt beider Parteien einzig vernünftigen Konsequenzen ziehen und eine rechtlich nicht einfache, aber machbare Wahlallianz schmieden, bleibt erklärungsbedürftig.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153604
Peter Nowak

Wer ist verantwortlich?

Ulrich Müller ist Mitglied des Geschäftsführenden Vorstands der Organisation LobbyControl

nd: Der CDU-Abgeordnete Michael Fuchs sorgt seit einigen Tagen wegen seiner Nebentätigkeiten für Aufsehen. Ist er nur besonders ungeschickt vorgegangen oder ist es so, dass Nebentätigkeiten von Politikern generell kritischer gesehen in der Öffentlichkeit gesehen werden?
U.M.: Im Fall von Michael Fuchs sind es zwei Aspekte, die für eine gewisse Öffentlichkeit gesorgt haben. Zum einen hat er als Abgeordneter Reden bei der Firma Hakluyt & Company gehalten, die als Privatnachrichtendienst für Unternehmen strategische Informationen sammelt. Zum Anderen stand diese Tätigkeit vier Jahre unter einem falschen Firmennamen auf der Bundestagswebseite. Dort war die gemeinnützige Hakluyt Society aufgeführt.
2.) Ist dafür Fuchs oder die Bundestagsverwaltung verantwortlich?
U.M. :Beide Seiten haben Fehler gemacht. Der Ausgang der falschen Angaben liegt in einer unvollständigen Meldung von Fuchs 2008, der eine nichtexistierende Hakluyt London angab. Es lässt sich nicht mehr klären, wie daraus die Halkluyt Society auf der Bundestagshomepage wurde. 2009 gab Fuchs „Hakluyt & Co“ an, da hätte die Bundestagsverwaltung den Fehler bemerken und korrigieren müssen.

3.) Aber können mit beiden Firmennamen nicht nur Insider etwas anfangen?

U.M.: LobbyControl hatte schon länger den Verdacht, dass Fuchs seine Tätigkeiten bei dem Privatnachrichtendienst und nicht dem gemeinnützigen Verein hielt, konnte es aber nicht beweisen. Daher hat die falsche Zuordnung verhindert, dass schon früher kritische Fragen zu dieser Nebentätigkeit von Fuchs gestellt werden. Schließlich war Hakluyt & Company im Jahr 2000 auch in Deutschland in die Schlagzeilen geraten, nachdem bekannt geworden war, dass die Firma im Auftrag der Konzerne Shell und BP den deutschen Spitzel Manfred Schlickenrieder, der sich als linker Filmemacher ausgab, bei Umweltorganisationen einschleuste.

4.) Welchen Anteil hatte das Internet bei der Richtigstellung der Nebentätigkeiten von Fuchs?
U.M.: Die Kollegen von Abgeordnetenwatch hatten bei der Halkluyt Society angefragt und erfahren, dass Fuchs dort nie geredet hat. Dass Internet hatte dann bei der Verbreitung dieser Informationen eine wichtige Rolle gespielt.


5.) Wie bewerten Sie die Rolle der anderen Medien?

U.M.: Von den Medien im Printbereich hätten wir eine stärkere Thematisierung des Falls erwartet. Besonders ist aufgefallen, dass die Lokalmedien aus dem Wahlkreis von Fuchs sehr unkritisch berichtet haben.

5.) Wie war die Kooperation zwischen LobbyControl und Abgeordnetenwatch im Fall Fuchs
?
U.M.: Es gab schon vorher fallweise eine Zusammenarbeit. Wir haben ja unterschiedliche, aber überlappende Ziele. Während Abgeordnetenwatch sich der Transparenz im Bundestag widmet, geht es bei LobbyControl um die Recherche über Lobbyarbeit in allen Bereichen. Im Fall von Fuchs wurde die Kooperation mit Abgeordnetenwatch enger, nachdem der Abgeordnete mit juristischen Mitteln vorging.

6.) Sehen Sie als Konsequenz einen gesetzlichen Handlungsbedarf?
U.M.: Wir forderten schon im Fall von Peer Steinbrück, dass bei Vorträgen von Politikern die eigentlichen Auftraggeber mit genannt werden müssen. Darüber wird noch im Bundestag diskutiert. Außerdem brauchen wir eine bessere Kontrolle der Angaben von Abgeordneten.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/810804.wer-ist-verantwortlich.html
Interview: Peter Nowak

Konfessionslos in der Schule?

Der Internationale Bund der Konfessionslosen und Atheisten(IBKA) hat eine bundesweite Kampagne für eine Schule ohne Religionsunterricht angekündigt. Dazu soll das religionskritische Buch »Konfessionslos in der Schule« des IBKA-Vorsitzende Rainer Ponitka an Bildungspolitiker in den Landesparlamenten verschickt werden. Zudem sind Diskussionsveranstaltungen mit Lehrern und Schülern über den Einfluss der Religion auf die Schule geplant. Dort sollen sich die Schüler auch über Möglichkeiten informieren lassen können, wie sie sich vom Religionsunterricht befreien lassen können. Dieses Recht ist in den Bundesländern sehr unterschiedlich geregelt. So können sich in Nordrhein-Westfalen Schüler mit Erreichen des 14. Lebensjahrs auch ohne Einwilligung der Eltern vom Religionsunterricht befreien lassen. In Saarland und Bayern ist das erst mit dem Beginn der Volljährigkeit möglich. Ponitka plädiert für die Abschaffung des Religionsunterrichts. Als Ersatz soll es einen Ethikunterricht jenseits aller Konfessionen geben.

Für das IBKA-Konzept einer religionsfreien Schule gibt es viele Gründe. Aber ein Argument wird vom IBKA bisher zu wenig verwendet. In vielen Schulen in Deutschland geht die Zahl der Kinder mit christlichem Hintergrund zurück, während die Anzahl der Schüler mit islamischen Glauben steigt. Ein gemeinsamer Ethikunterricht könnte verhindern, dass an den Schulen jede Religion ihre eigene Domäne verteidigt. Das Konzept einer säkularen Schule muss aber nicht nur gegen die großen christlichen Kirchen, sondern auch islamische Organisationen verteidigt werden, die es als größte Errungenschaft sehen, wenn sie eigenen Religionsunterricht durchführen können.

http://www.heise.de/tp/blogs/6/153561
Peter Nowak

Angriff der christlichen Taliban?

Ein Buch konstatiert eine neue Radikalität der Abtreibungsgegner in Deutschland. Das Spektrum reicht von der extremen Rechten bis in fast alle Bundestagsparteien

Die Abweisung eines Vergewaltigungsopfers durch zwei katholische Klinken in Köln sorgt derzeit bundesweit für Schlagzeilen. Vor allem die Begründung verursachte Empörung. Danach ist es dem Personal seit Kurzem unter Androhung einer fristlosen Kündigung dienstlich verboten, Vergewaltigungsopfer zur Beweissicherung gynäkologisch zu untersuchen, weil damit eine Beratung über eine eventuell daraus drohende Schwangerschaft und eine Verordnung der von der katholischen Kirche abgelehnten „Pille danach“ einhergehen könnte.

Ist das nicht ein guter Beweis für den zunehmenden Einfluss von Abtreibungsgegnern in Deutschlands, der am Mittwochabend auf einer Podiumsdiskussion im Berliner Familienplanungszentrum Balance konstatiert wurde? Dort wurde ein neues Buch mit dem Titel „Die neue Radikalität der Abtreibungsgegner_innen im (inter-)nationalen Raum“ vorgestellt, das kürzlich im Verlag AG Spak veröffentlicht worden ist.

Es macht auf ein Thema aufmerksam, dass in Deutschland lange Zeit kaum mehr beachtet worden ist. Vorbei scheinen die großen Debatten um den Paragraphen 218, der mit dem Slogan „Mein Bauch gehört mir“ von der Frauenbewegung angegriffen worden ist. 1990 brachte das Thema noch mal Tausende auf die Straße, die forderten, dass im wiedervereinigten Deutschland das Abtreibungsgesetz der DDR Übernommen werden soll. Doch auch hier setzte sich die BRD durch. Nach dem Schwangerschafts- und Familienhilfeänderungsgesetz, das im Oktober 1995 in Kraft trat, bleiben Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich strafbar. Die eng begrenzten Ausnahme sind seitdem umkämpft, denn nicht mehr die Befürworter, sondern die Gegner jeglicher Abtreibung machen seitdem inner- und außerparlamentarisch mobil, wie verschiedene Autoren in dem Buch nachweisen. So hat die CDU/CSU 2008 einen Gesetzesentwurf zur Verhinderung von Spätabtreibungen vorgelegt. 2010 wurden die Bedingungen für die medizinische Indikation verschärft.

1000 Kreuze und Guerillajournalismus der Abtreibungsgegner

Doch auch auf außerparlamentarischer Ebene haben die Abtreibungsgegner in den letzten Jahren ihre Aktivitäten ausgeweitet. Seit einigen Jahren organisieren sie in verschiedenen europäischen Ländern Mitte September sogenannte „Märsche für das Leben“, auf denen weiße Kreuze getragen werden, die aus der Sicht der Abtreibungsgegner die getöteten Kinder symbolisieren sollen. Seit 2011 hat sich die Teilnehmerzahl erhöht und durch die Beteiligung jüngerer Gruppen und Einzelpersonen hat sich auch das Aktionsrepertoire erweitert.

Die Szene der jungen Lebensschützer trifft sich europaweit zu Tagungen und hat auch das Internet als Kampffeld entdeckt. Vorbild der Abtreibungsgegner ist dabei eindeutig die USA, wo sie im Windschatten der von Ronald Reagan ausgerufenen Konservativen Revolution Erfolge verzeichneten, wie die Historikern Dagmar Herzog aufzeigt. Zu den Aktionsfeldern gehört auch ein Guerilla-Journalismus. Danach geben sich Abtreibungsgegnerinnen als hilfesuchende Frauen aus, die dann die Ärzte und das Klinikpersonal dadurch zu kompromittieren versuchen, dass sie ihnen Gesetzesverstöße nachweisen wollen und Videos von Gesprächen ins Netz stellen.

Auch in Deutschland müssen sich Einrichtungen, die legale Abtreibungen durchführen oder die betroffenen Frauen unterstützen, wie Pro Familia oder Balance immer wieder mit Anzeigen der Gegner auseinandersetzen. Aufhänger ist dabei der Paragraph 219 a des Strafgesetzbuches, der Werbung für eine Abtreibung unter Strafe stellt. Damit kann schon die Information über eine Einrichtung, die Schwangerschaftsabbrüche durchführt, kriminalisiert werden, stellt die Gesundheitsberatung Sybill Schulz fest. Weiterhin versuchen Abtreibungsgegner, Frauen auch vor den Einrichtungen direkt anzusprechen und moralisch unter Druck zu setzen, was von dem österreichischen Arzt Christian Fiala als psychische Gewalt beschrieben wird, die als freie Meinungsäußerung getarnt wird.

Dass dieses unterschiedliche Repertoire der Abtreibungsgegner ihre Wirkung nicht verfehlt, wird an mehreren Stellen im Buch deutlich. So musste das Familienzentrum Balance ihre Webpräsenz verändern. Viele der von der Einrichtung angeschriebenen Ärzte und Pro-Choic- Einrichtungen, die ins Visier der Gegner geraten sind, wollen darüber in der Öffentlichkeit nicht sprechen. Die Befürchtung ist groß, dass heute eine offensive Propagierung des feministischen Grundsatzes „Mein Bauch gehört mir“ wieder mit Stigmatisierung und gesellschaftlicher Ausgrenzung verbunden ist.

Neue Perspektiven für die Abtreibungsgegner?

Es gibt aber auch andere Erfahrungen. So schreibt die Publizistin Jutta Ditfurth, die schon 1988 erklärte, dass sie zwei Mal abgetrieben habe und es nicht bereue, in ihrem Vorwort, dass von Männern in ihrem Wikipedia-Eintrag immer wieder heftige Diskussionen von Abtreibungsgegnern geführt werden. Noch im letzten Jahr sei sie vom Wirtschaftsredakteur der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in einem Gespräch über ein völlig anderes Thema unvermittelt gefragt worden, ob sie abgetrieben habe. „Wie oft haben Sie in Ihrem Leben onaniert und damit mögliches menschliches Leben vergeudet?, fragte ich zurück. Mit roten Ohren wechselte er das Thema“, beschreibt Ditfurth die für den Redakteur wohl eher peinliche Episode.

Aber auch jenseits von persönlicher Courage hat die Offensive der „christlichen Taliban“ zur Entstehung einer neuen politischen Bewegung geführt, die das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung propagiert. Als Beispiele werden in dem Buch oft sehr kreative Aktionen anlässlich der Märsche der Abtreibungsgegner genannt aufgeführt. Ein Höhepunkt waren eine Großdemonstration und zahlreiche Aktionen anlässlich des Papstbesuches 2011 in Berlin und auch in anderen Städten. Auch dass es nun nach mehr als zwei Jahrzehnten wieder ein Buch gibt, das die Szene der Abtreibungsgegner analysiert und kritisiert, kann als Zeichen für ein neues Selbstbewusstsein de Pro-Choice-Bewegung interpretiert werden.
http://www.heise.de/tp/blogs/6/153561
Peter Nowak
Peter Nowak

Wenn der Mitarbeiter als Sicherheitsrisiko behandelt wird

Entwurf zum „Beschäftigtendatenschutzgesetz“: Kritiker sehen eine Ausweitung der legal möglichen Überwachung

Ein Gesetzentwurf der Bundesregierung, der noch im Januar im Bundestag verabschiedet werden soll, will die heimliche Videoüberwachung am Arbeitsplatz verbieten, die legale Überwachung aber ausweiten. Kaum wurde das Vorhaben am Wochenende bekannt, gab es Kritik von Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden. Der IG-Metall-Justiziar Thomas Klebe bezeichnet den Entwurf als Katastrophe.

„Bei der offenen Videoüberwachung bedeuteten die Regelungen eine Verschlechterung gegenüber der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Während sie bisher nur vorübergehend und nur aus konkretem Anlass erlaubt worden sei, solle sie nun ohne zeitliche Beschränkungen und auch zur Qualitätskontrolle möglich sein: Das ist Vorratsdatenspeicherung.“

Auch der DGB und die Dienstleistungsgewerkschaft verdi haben Widerstand gegen den Gesetzentwurf angekündigt. Politiker aus den Koalitionsparteien sehen es als Erfolg, dass künftig Überwachungen im Sanitärbereich oder in Umkleidekabinen nicht mehr möglich sein sollen. Damit machen sie aber nur deutlich, wie weit verbreitet und ausufernd die bisherige Überwachungspraxis war.

Kritik am Gesetzesvorhaben der Bundesregierung kommt auch aus dem Unternehmerlager. Sie richtet sich vor allem gegen die geplanten Regelungen, wonach Facebook und andere soziale Netzwerke künftig für Arbeitgeber auch dann tabu sein sollen, wenn sie bereits mit Betriebsräten andere Regelungen vereinbart haben. Sollte das Gesetz wie geplant im Sommer in Kraft treten, müssten zahlreiche Konzerne solche betriebsinternen Vereinbarungen mit wesentlich geringeren Datenschutzregelungen verändern.

Deshalb hatten zahlreiche Wirtschaftsverbände gehofft, dass sich die Bundesregierung mit der gesetzlichen Regelung noch Zeit lässt, weil bis dahin die betriebsinternen Regelungen gelten. Tatsächlich schien es lange so, als würde auch der Beschäftigtendatenschutz zu den Gesetzesvorhaben gehören, die in die nächste Legislaturperiode verschoben werden.

Ständig neue Fälle von Mitarbeiterüberwachung

Dass die Regierungskoalition nun doch in dieser Legislaturperiode den Datenschutz am Arbeitsplatz regeln will, liegt an der nicht abreißenden Serie von bekannt gewordenen Mitarbeiterüberwachungen. Besonders im Dienstleistungsbereich scheint das Motto „Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser“ längst zur Richtschnur für viele Betriebe geworden sein.

Auch im neuen Jahr wurde wieder ein Fall von heimlicher Mitarbeiterüberwachung bekannt. Wie der Spiegel berichtete sollen Mitarbeiter beim Discounter Aldi-Süd mit versteckter Kamera beobachtet worden sein. Die Firma wies die Vorwürfe zurück und erklärte, wenn überwacht worden sei, dann hätten die Maßnahmen zur Aufdeckung von Straftaten gedient. Mit dieser Begründung werden bekannt gewordene Überwachungsfälle am Arbeitsplatz generell gerechtfertigt.

Der Detektiv plaudert gegenüber dem Spiegel recht detailliert aus dem Nähkästchen. „Ich hatte weiterhin den Auftrag, alle Auffälligkeiten zu melden. Also auch, wenn ein Mitarbeiter zu langsam arbeitete, ich von einem Verhältnis der Mitarbeiter untereinander erfahren habe oder ich andere Details aus dem Privatleben mitbekam, zum Beispiel im Hinblick auf die finanzielle Situation des Mitarbeiters“, berichtete der Detektiv. Dieses Vorgehen mag zwar dem offiziellen Firmen-Selbstverständnis widersprechen, ist aber mittlerweile Alltag im Arbeitsleben.

Ob bei Lidl oder bei der Steakhauskette Maredo, die heimliche Mitarbeiterbeobachtung ist anscheinend längst Alltag, aber nicht unbedingt legal. Die Bundesarbeitsgerichte haben der Videoüberwachung am Arbeitsplatz enge Grenzen gesetzt.

Kein Thema für die Datenschutzbewegung?

Bemerkenswert ist, dass die Überwachung am Arbeitsplatz bei der Datenschutzbewegung, die sich in den letzten Jahren in Deutschland entwickelt hat, nicht im Fokus steht. Sicher wird das Thema vor allem von den an den Bündnissen beteiligten Gewerkschaften angesprochen. Aber generell ist der Widerstand wesentlich stärker, wenn die Bundesregierung oder EU-Gremien Überwachungsmaßnahmen planen, als wenn sie in den Unternehmen praktiziert wird.
In der Vergangenheit monierten Erwerbslosenverbände bereits, dass auch die Pflicht von ALG II-Empfängern, ihre Konten offenzulegen, wenig Kritik bei der Datenschutzbewegung auslöste.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153531
Peter Nowak

Parlamentarische Rückendeckung für Wowereit

Misstrauensvotum wurde abgelehnt, eine Blamage für die Opposition

Heute mussten die Mitglieder des Berliner Abgeordnetenhauses eine Sonderschicht einlegen. Am Vormittag wurde über das von der parlamentarischen Opposition eingebrachte Misstrauensvotum gegen den Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit abgestimmt. Es wurde abgelehnt. Eine Überraschung war das nicht, nachdem sich beide Partner der großen Koalition, die eine große Mehrheit im Abgeordnetenhaus haben, hinter die durch die ständige Verzögerung des Hauptstadtflughafens unter Druck geratenen Bürgermeister stellten.

Blamage für die Opposition

Doch die Abstimmung wurde am Ende eine Blamage für die parlamentarische Opposition. Denn bei der Abstimmung erhielt Wowereit mindestens eine Stimme aus ihren Reihen. 62 Abgeordnete stimmten mit Ja, 85 votierten gegen den Antrag. SPD und CDU-Fraktion haben 85 Mandate, ein CDU-Abgeordneter aber fehlte. Demnach muss Wowereit eine Stimme bekommen haben, die nicht der SPD oder der CDU-Fraktion zuzurechnen ist, unter der Voraussetzung, dass sämtliche Mandatsträger des Regierungslagers die Vorlage ablehnten. Zuvor hatte die Opposition gehofft, dass zumindest einzelne Abweichler im Regierungslager für das Misstrauensvotum stimmen.

Das Ergebnis der Abstimmung wird nun eher für weiteren Zwist unter den Oppositionsfraktionen sorgten. Dort gibt es noch immer den Wettbewerb, wer die entschiedenste Oppositionspolitik betreibt. Deshalb preschten die Grünen, die Wowereit noch immer nicht verzeihen können, dass der Regierende Bürgermeister nicht sie, sondern die CDU als Koalitionspartner auswählte, mit dem Misstrauensvotum vor. Die Piraten, die bundesweit im Abwärtstrend sind und sich auch in Berlin gegenseitig mit Faschismusvorwürfen belegen, schlossen sich sofort an. Bei der Linkspartei, die ein Jahrzehnt mit Wowereit geräuschlos regierte, dauerte es länger, bis man sich dem Misstrauensvotum anschloss. Schließlich hätte sie ihre Rolle als Oppositionspartei sonst endgültig eingebüßt.

Vor allen im Umfeld der Linkspartei gab es von Anfang an die Kritik, dass ein von vornherein zum Scheitern verurteiltes Misstrauensvotum die Koalition eher zusammenschweißt. Das mag für den Moment auch stimmen. Doch die Diskussion um das Misstrauensvotum hat auch die Schwäche einer SPD offenbart, die in Berlin schlicht keinen Nachfolger für Wowereit hat, nachdem der als Nachfolger vorgesehene Michael Müller parteiintern ausgebremst wurde. Außerhalb der parlamentarischen Opposition hat das Flughafendesaster eher wirtschaftsliberalen Positionen wieder Auftrieb verschafft. So wurde diskutiert, ob der Airport schneller fertig geworden wäre, wenn er privaten Unternehmen gebaut worden wäre. Als hätte es nicht zahlreiche Bauskandale auch mit privaten Unternehmen gegeben.

Neuer Namen für den Flughafen?

Die meisten Bewohner Berlins beteiligen sich nicht an der großen medialen Aufregung um das Winterlochthema BER. Sie reagieren eher sarkastisch und erinnern daran, dass der Kölner Dombau Jahrhunderte dauerte. Derweil gibt es einen Wettbewerb um die Neubenennung des Airport. Satire oder nicht – mit Rückgriff auf preußische Tugenden fordert ein bisher unbekannter „Willy-Brandt-Freundes- und Freundinnenkreis“ eine Umbenennung mit der Begründung „Willy Brandt hat es nicht verdient, dass sein anerkannt guter Name im Zusammenhang mit einem derartigen Desaster bleibend in Verbindung gebracht wird!“ Der für Medien und Kultur beim Neuen Deutschland zuständige Redakteur Jürgen Amendt hat den bekannten Westberliner Kabarettisten Wolfgang Neuss als Alternative in die Diskussion gebracht. Als Begründung schreibt er: „Der Berliner Kabarettist war ein radikaler Pazifist (‚Auf deutschem Boden darf nie mehr ein Joint ausgehen‘). Statt Brandt könnte Neuss die Gäste des BER begrüßen. Man müsste natürlich Neuss die Ehre erweisen und über den Eingang ein großes Schild anbringen, auf dem geschrieben steht: ‚Vom Berliner Boden aus darf nie mehr ein Flugzeug starten.'“
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153523
Peter Nowak

Die vergessenen Toten

In Berlin soll ein Gedenk- und Informa­tionsort für die Opfer der »Aktion T4« eingerichtet werden. Es ist nicht der erste Versuch, sich der Thematik erinnerungspolitisch zu nähern, und wie schon in der Vergangenheit gibt es auch diesmal Anlass zu Kritik.

»Ich vergehe vor Not, muss ich Euch schreiben. Jetzt, wo meine Männer fort sind, muss ich hier sitzen und kann nichts tun«, schrieb ein Schuhmachermeister, der von den nationalsozialistischen Behörden als angeblich Geisteskranker verhaftet worden war, am 3. September 1939 aus der Psychiatrieanstalt Grafeneck an seine Angehörigen. Wie er sind nach vorsichtigen Schätzungen zwischen 1940 und 1941 mehr als 70 000 Psychiatriepatienten und Menschen mit Behinderungen durch Ärzte und Pflegekräfte ermordet worden. Für sie soll nach einem Beschluss des Deutschen Bundestages vom November 2011 ein Gedenk- und Erinnerungsort geschaffen werden. Um zu entscheiden, in welcher Form dies geschehen soll, wurde wenig später vom Land Berlin und dem Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien ein Wettbewerb für die Gestaltung ausgerichtet. Im Dezember vorigen Jahres schließlich, rund ein Jahr nach dem Beschluss des Bundestages, konnten die eingegangen Entwürfe für den geplanten »Gedenk- und Informationsort Tiergartenstraße 4« in einer Sonderausstellung in der Berliner Topographie des Terrors begutachtet werden.
Leicht zu übersehen. Ein neuer Gedenk- und Erinnerungsort soll die unscheinbare Gedenkplatte vor der Berliner Philharmonie ergänzen
Leicht zu übersehen. Ein neuer Gedenk- und Erinnerungsort soll die unscheinbare Gedenkplatte vor der Berliner Philharmonie ergänzen (Foto: PA/akg-images/Henning Langenheim)

Ein großer Teil der Entwürfe befasst sich mit der im Krieg zerstörten Villa in der Tiergartenstraße 4, in der die Mordaktion, die heute in Anspielung auf die Adresse des Hauses auch »Aktion T4« genannt wird, geplant wurde. Dass sich diese Bezeichnung langsam durchsetzt, ist auch ein Erfolg von Betroffenengruppen, die sich seit langem gegen den verharmlosenden Begriff »Euthanasiemorde« wehrten. Euthanasie heißt wörtlich übersetzt »schöner Tod«. Dagegen wurden die als geisteskrank stigmatisierten Menschen grausam ermordet, vergast, vergiftet oder erhängt. Dennoch findet der euphemistische, aus der Terminologie der Eugenik stammende Begriff bis heute Verwendung.

In den ausgestellten Entwürfen für den Gedenk­ort sollen neben dem Ort, an dem die Taten geplant wurden, auch die Opfer ein Gesicht bekommen. Bei dem als Siegerentwurf prämierten Modell, das von der Berliner Architektin Ursula Wilms gemeinsam mit dem Stuttgarter Konzeptkünstler Nikolaus Koliusis und dem Aachener Landschaftsarchitekten Heinz W. Hallmann eingereicht worden war, bildet eine blaue, halbdurchsichtige Spiegelwand den Mittelpunkt. Damit greifen die Preisträger Elemente des »Andernacher Spiegelcontainers« auf, der von dem Künstler Paul Patze gemeinsam mit Schülern 1996 entworfen wurde, um an die Opfer der Morde in der Villa zu erinnern, die nach einem Zwischenaufenthalt in Andernach im hessischen Hadamar vergast worden waren. Ferner soll eine 40 Meter lange Sitzbank die Tiergartenstraße mit dem Denkmal verbinden. Die nach Westen ausgerichtete, schräg gestellte Betonwand dient dabei auch als Grundkonstruktion für ein durchlaufendes, aus 13 Elementen bestehendes Informationspult, auf dem Biographien einzelner Opfer der »Aktion T4« präsentiert werden sollen. Eine Gedenkplatte, die bereits 1989 am Ort eingelassen worden ist, soll ebenfalls in das mit dem ersten Preis prämierte Modell integriert werden. Die Inschrift derselben ist schlicht aber präzise: »Die Zahl der Opfer ist groß, gering die Zahl der verurteilten Täter«.

Tatsächlich sind in beiden Teilen Deutschlands die meisten an den Morden beteiligten Ärzte sowie das Klinikpersonal nicht nur nicht bestraft worden, viele Täter haben ihre Karriere oft bruchlos fortsetzen können. Entwürfe, die solche Zusammenhänge deutlicher thematisierten und an die Diskriminierung von Psychiatriepatienten bis in die Gegenwart erinnerten, kamen bei dem Wettbewerb nicht in die engere Auswahl. So sollten etwa in einem der abgelehnten Entwürfe sechs Stelen aus dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas die sechs Orte symbolisieren, an denen die Morde in Deutschland verübt wurden, und damit gleichzeitig auch der von Historikern nachgewiesene Zusammenhang zwischen der Vernichtung der zu geisteskrank erklärten Menschen und der Shoa symbolisch zum Ausdruck gebracht werden.

Doch nicht nur die fehlende Kontextualisierung innerhalb der Gesamtheit der nationalsozialistischen Verbrechen sorgt für Unmut. So kritisieren etwa Verbände von Psychiatrieerfahrenen die aktuelle Denkmalauslobung als »Pro-forma-Gedenken zum Billigtarif« und beziehen sich damit auf die lediglich 500 000 Euro, die der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien für den Gedenkort zur Verfügung gestellt hat. Auch einige der in der Topgraphie des Terrors gezeigten Denkmalentwürfe äußerten in ihren Begleittexten eine ähnliche Kritik.

Nicht vertreten unter den präsentierten Entwürfen war ein Vorschlag für einen Gedenkort, den mehrere Betroffenenverbände bereits vor 15 Jahren gemacht hatten. Am 26. Januar 1998 hatte sich in Berlin ein »Freundeskreis des Museums ›Haus des Eigensinns‹« konstituiert, dessen Ziel es war, an der Gründung einer Stiftung sowie eines Museums mitzuwirken, das an der historischen Stätte Tiergartenstraße 4 in Berlin hätte errichtet werden sollen (Jungle World 2/1999). Die Diskussion um ein würdiges Erinnern an die Opfer der »Aktion-T4« ist also alles andere als neu.

Obwohl damals zum Freundeskreis des Haus des Eigensinns mit Dorothea Buck eine Überlebende der »Aktion-T4« zählte und mit dem Auschwitz-Überlebenden Henry Friedlander auch ein Histo­riker vertreten war, der in seinen Forschungen den Zusammenhang zwischen den Morden und der Shoa nachgezeichnet hat, wurde das Projekt von Politik und Öffentlichkeit von Anfang an ignoriert. An den möglichen Kosten kann es nicht gelegen haben. Ein privater Stifter, der unbekannt bleiben wollte, hätte für die Errichtung einen Beitrag von 1,75 Millionen DM zur Verfügung gestellt. Damit wäre das Projekt auch ohne öffent­liche Mittel finanziell wesentlich großzügiger ausgestattet gewesen als der jetzt ausgelobte Gedenkort.

Problematisch an der Idee war dagegen der Plan, im »Haus des Eigensinns« auch die sogenannte Prinzhornsammlung, eine Sammlung von Kunst sogenannter Geisteskranker, zu präsentieren. Der Arzt Hans Prinzhorn, dem die Sammlung ihren Namen verdankt, bewegte sich seinerzeit im völkischen Milieu der Weimarer Republik und unterstützte in den letzten Jahren vor seinem Tod im Jahre 1933 die Nationalsozialisten. Für ihn waren die Kunstwerke der Psychiatrie­patienten Teil der Krankenakte. Lange Zeit waren die Artefakte in Kellern der Heidelberger Universitätsklinik gelagert. Erst 2001 wurde auf dem Gelände der Klinik ein Museum eröffnet, in dem seither in regelmäßigen Abständen Teile der Prinzhornsammlung gezeigt werden. Der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrene sprach in diesem Kontext von einer zweifachen Enteignung der Patienten. Sie sind als Künstler in der Regel namentlich nicht genannt und auch nicht gefragt worden, ob sie ihre Arbeiten weggeben wollten. Zumindest mit dieser Debatte wird sich der nun prämierte Entwurf nicht auseinandersetzen.
http://jungle-world.com/artikel/2013/02/46913.html
Peter Nowak

Bafögantragstau – oder wie die Krise in Deutschland ankommt

Mit der Agenda 2020 soll der Sozialstaat auf allen Gebieten weiter abgebaut werden

Ende Dezember 2012 hat die Berliner GEW-Vorsitzende Sigrid Baumgardt in einer Pressemitteilung Alarm geschlagen. Weil die Bafög-Anträge von Tausenden Schülern und Studierenden trotz rechtzeitiger Abgabe noch nicht bearbeitet worden sind, sei die Situation der Betroffenen dramatisch. Viele wissen nicht, wie sie die nächste Miete bezahlen sollen. Zudem haben sich viele Betroffene verschuldet. Denn von den Abschlagszahlungen, die nur 80 Prozent des Bafög betragen, kann kaum jemand über die Runden kommen. Die Berliner GEW forderte, dass zumindest diese Abschläge unbürokratisch weiter gewährt werden muss, ohne dass die Betroffenen weitere Anträge steellen müssen.

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