"Konspirationistisches Manifest": Nach der Schrift vom "kommenden Aufstand" gibt sich erneut eine akademisch geprägte Gruppe in einem Essay rebellisch.
Es wimmelt an Zitaten von Wissenschaftlern, Philosophen und Schriftstellern Auch wenig bekannte Quellen werden herangezogen. Besonders frappierend ist, dass die Autoren auch in den verschiedenen Wissensfakultäten bewandert sind. Seien es die verschiedenen Literaturepochen, theologische Abhandlungen, aber auch viele Quellen aus der Vorgeschichte von Internet und Smartphone. Zu all diesen Themen und noch viel mehr haben die Buchautoren geforscht. Wie schon beim Komitee-Text bleibt auch hier die Perspektive bescheiden. Letztlich läuft es hier auf ein widerständiges Leben heraus, das nicht näher spezifiziert, aber mit dem Begriff "sich verschwören" schon wieder mystifiziert wird.
„Wir sind Konspirationisten, wie von nun an alle vernünftigen Menschen“. Mit diesem Satz, der in Deutschland auch bei vielen Linken die Alarmglocken klingeln lässt, beginnt ein knapp 200-seitiger Essay, der den schlichten Titel „Konspirationistisches Manifest“ trägt. Das Buch ist ganz in Schwarz gehalten und auf der Rückseite prangt der etwas kryptische Satz: „Wer werden siegen, weil wir tiefgründiger sind“.Der Text wird dem Umfeld des „Unsichtbaren Komitees“ zugerechnet, jener Gruppe von Intellektuellen, die sich mit ihrer 2007 zuerst in französischer Sprache erschienenen Schrift „Der kommende Aufstand“ anonym als Staats- und mehr noch als Zivilisationskritiker hervorgetan haben. Die Texte des „Unsichtbare Komitees“ wurden von Teilen der außerparlamentarischen Linken in Deutschland verschlungen, bekamen aber auch durchweg gute Kritiken im bürgerlichen und linksliberalen Feuilleton. Das ist auch nicht so verwunderlich, weil das Manifest …
Nach den Warnungen vor rechter Gefahr gibt es differenziere Sichtweisen zu der französischen Protestbewegung aus der außerparlamentarischen Linken
Auch am dritten Samstag im Dezember sind in vielen französischen Städten wieder Tausende auf die Straße gegangen. Es gab zahlreiche Festnahmen. Wenn auch die Zahl der Protestierenden wohl kleiner geworden ist, zeigte der 15. Dezember, dass die Bewegung trotz einiger Zugeständnisse des Präsidenten und dem verstärkten Druck nach dem islamistischen Anschlag von Straßburg, die Proteste einzustellen, handlungsfähig geblieben ist.
Zwischen Weihnachten und Neujahr dürften die Aktivitäten zurückgehen. Es wird sich zeigen, ob es im neuen Jahr eine Fortsetzung geben wird. Selbst wenn ihr das nicht gelingt, können die Gelben Westen für sich reklamieren, dass sie erstmals den selbstsicher auftretenden Macron zu Zugeständnissen gezwungen haben.
Die Anhebung des Mindestlohns und das Einfrieren von Steuern, die die Allgemeinheit betreffen, sind Reformen, die noch dem entsprechen, was bis in die 1970er Jahre unter dem Begriff verstanden wurde: Verbesserungen und nicht weitere Verschlechterungen der Lebensbedingungen der Mehrheit der Bevölkerung.
Dass Frankreich damit den EU-Stabilitätspakt verletzt, zeigt nebenbei, wie die Politiker die EU zu einem neoliberalen Käfig ausgebaut haben, der nur durch Massenaktionen außerhalb der Parlamente aufgebrochen werden kann. Macron, der mit dem Vorsatz angetreten ist, sein wirtschaftsliberales Programm ohne Abstriche durchzusetzen, der die gewerkschaftlichen Proteste ebenso ignorierte wie die Aktivitäten der Schüler und Studierenden, musste vor der Wut der Gelben Westen einen Rückzieher machen.
Riot – wie aus dem Bilderbuch
Inzwischen haben sich auch Theoretiker der parteiunabhängigen Linken zu Wort gemeldet und die Bewegung der Gelben Westen verteidigt. Dazu gehört auch der US-Soziologe Joshua Clover, der bekannt wurde, als er die Riots zur Protestform der Zukunft [1] erklärte [2], die nach dem von ihm diagnostizierte Ende der fordistischen Produktionsweise, die Streiks ablösen.
Durch die Gelben Westen sieht sich Clover bestätigt [3]: Die Bewegung der Gilets Jaunes habe sich ihrer Gestalt nach geradezu idealtypisch herausgebildet. Sie sei ein Riot, wie wir ihn aus dem Lehrbuch kennen. Auch die anfängliche Konzentration der Gelben Westen auf die Benzinsteuer findet Clover plausibel:
Immer dann, wenn der Zugang zu Verkehrsmitteln unerlässlich für das Überleben wird, wird ihr Preis Teil des Subsistenzpakets und damit zum Schauplatz für Auseinandersetzungen. Das Hauptaugenmerk lag bisher unmissverständlich auf den „Verkehrskreiselprotesten“ [4], wie sie einer der an diesen Straßenblockaden Beteiligten außerhalb von Toulouse bezeichnete. Die Protestierenden versammeln sich dort, um den Verkehr zu blockieren. Anderswo attackieren sie Mautstationen oder Autohersteller – all die physischen Verkörperungen der Zirkulation also.
Joshua Clover
Er betont aber, dass die Proteste nicht auf einen Kampf um die Verkehrsmittel reduziert werden können.
Jedoch verschleiert der alleinige Fokus auf die Verkehrsmittel, dass es sich bei einem Riot um einen „Zirkulationskampf“ in einem weitaus tiefergehenden Sinn handelt. Im Zuge des Endes des Wachstums des produzierendem Gewerbes im überentwickelten Westen offenbart das Aufkommen des Riots als vorherrschender Zirkulationskampf, die Schwäche der traditionellen ArbeiterInnenbewegung, sowie die Restrukturierung der Klassenverhältnisse und des Kapitals auf nationaler und internationaler Ebene.
Joshua Clover
Dem würden auch viele französische Gewerkschafter zustimmen. Anders als unter Hollande oder seinen Vorgängerpräsidenten ist es ihnen unter Macron nicht gelungen, erfolgreiche Abwehrkämpfe zu führen. Ein Grund liegt in der Vereinzelung im Arbeitsleben und der Schwierigkeiten, sich dort zu organisieren. Die Gelben Westen haben nun von Macron die Zugeständnisse erzwungen, die den gewerkschaftlichen Kämpfen nicht gelungen sind.
Aufruf zu täglichen Vollversammlungen
Auch in Frankreich haben antagonistische Linke schon längst Impulse in die Bewegung getragen. Genannt sei hier der Aufruf der Gelben Westen von Commercy zur Bildung von Volksversammlungen [5]. Dort heißt es:
Hier in Commercy an der Maas organisierten wir uns von Anfang an mit täglichen Volksversammlungen, in denen jeder und jede gleichberechtigt teilnimmt. Wir haben Blockaden in der Stadt, vor Tankstellen und auf Landstraßen organisiert. Inmitten einer Menschenmenge haben wir eine Hütte auf dem zentralen Platz errichtet. Wir finden uns hier tagtäglich ein, um uns zu organisieren, über kommende Aktionen zu entscheiden, mit Leuten zu diskutieren und diejenigen aufzunehmen, die sich der Bewegung anschließen. Wir organisieren auch „Soli-Küchen“, um schöne Momente zusammen zu erleben und damit zu beginnen, uns kennen zu lernen. Und das alles auf der Grundlage von Gleichheit.
Aus dem Aufruf der Gelben Westen von Commercy
Als größte Gefahr für die Bewegung wird dort gesehen, wenn sich die Gelben Westen darauf einlassen, Sprecher zu benennen, die für die Regierung dann Ansprechpartner werden sollen. Erfahrungsgemäß beginnt so eine Kooptierung von Bewegungen. Davor warnen die Gelben Westen von Commercy:
Aber nun schlagen uns die Regierung und gewisse Fraktionen der Bewegung vor, Repräsentant*innen für jede Region zu ernennen! Soll heißen, Leute, die dann die einzigen „Ansprechpartner*innen“ der Behörden wären und die unsere Diversität verschwinden lassen würden.
Aber wir wollen keine „Repräsentant*innen“, die zwangsläufig damit enden, an unserer Stelle zu sprechen!
Aus dem Aufruf der Gelben Westen von Commercy
Der gekommene Aufstand?
Damit bewegen sich diese Gelben Westen theoretisch auf der Ebene des Unsichtbaren Komitees, das sich mit seinem Text „Der kommende Aufstand“ [6] kurzzeitig in die Herzen des bürgerlichen Feuilletons geschrieben hat. Sie lehnten eine Repräsentanz strikt ab und sahen es als eine Stärke der Bewegung, wenn sie keine konstruktiven Forderungen stellt.
Auch weigerte sich das Unsichtbare Komitee als Referenzrahmen zur Beurteilung von Bewegungen das Links-Rechts-Schema zu nehmen, das schließlich mit seinem Entstehungsort, dem bürgerlichen Parlament, untrennbar verbunden ist. Obwohl sicherlich kaum jemand von den Initiatoren der Gelben Westen die Texte des Unsichtbaren Komitees genauer studiert haben dürfte, kann doch deren Bewegung auch als Bestätigung der Thesen dieser anarchistischen Tendenz dienen. Auch wenn die Bewegung ihren Zenit überschritten haben sollte, wird sich dieser Erfolg einprägen und könnte Schule machen. Da Macron von einer losen Koalition aus Grünen, Liberalen, Rechtssozialdemokraten und Konservativen zum europäischen Erfolgsmodell gegen die Ultrarechte aufgebaut werden sollte, ist der Protest auch eine Niederlage dieser Kapitalfraktion.
Sie und ihr nahestehende Medien haben natürlich ein Interesse daran, die Bewegung der Gelben Westen als von rechts gesteuert oder zumindest als Querfront darzustellen. Auch unter Reformisten gab es da viel Streit, beispielsweise in der Linkspartei [7].
Doch mittlerweile scheint der Dissens durch eine Erklärung des Parteivorstands zumindest nach Außen beigelegt und die Linke unterstützt den Protest in Frankreich [8]. Auch der Co-Vorsitzende Bernd Riexinger sieht ihn als Ermunterung für Proteste auch in Deutschland [9]. Dabei sieht er keinen Widerspruch zu seiner anfangs kritischen Haltung:
Zunächst hatten Sie sich skeptisch gezeigt?
Ich habe von Anfang an gesagt, dass ich volles Verständnis habe für den Protest. Zu Beginn versuchten die Rechten den Protest zu vereinnahmen. Das ist ihnen aber nicht gelungen, weil Schüler, Studenten, linke Parteien und Gewerkschaften reingegangen sind – so konnte die Bewegung nicht von rechts übernommen werden.
Bernd Riexinger, Süddeutsche Zeitung
Mit Weißer Weste in die Niederlage?
Starke Kritik übt ein Redakteur des außerparlamentarischen Lower Class Magazin [10] an den linken Bedenkenträgern gegenüber der Bewegung der Gelben Westen [11].
Eigentlich – so könnte man meinen – ein fixer Bezugspunkt für innereuropäische, linke Solidarität. Und vor wenigen Jahren hätten wir, wie bei den Krisenprotesten in Griechenland oder Spanien, sicher noch linke Soli-Demos in Berlin gesehen – wie klein und wirkungslos auch immer. Doch das Koordinatensystem vor allem der liberalen Linken in Deutschland hat sich verschoben.
Aus dem Gefühl der eigenen Ohnmacht folgt die Angst vor Veränderung. Man traut sich nichts zu, also hängt man an der Illusion, der bürgerliche Staat möge wenigstens die dünne zivilisatorische Eisdecke nicht brechen lassen, die einem veganes Essen in der Uni-Mensa oder den Job als Redenschreiber im Bundestag ermöglicht. Und weil man ohnehin gewohnt ist, Bewegungen in anderen Ländern als Projektionsfläche für die eigene Lage zu nutzen, wird die Rebellion des französischen Volkes eilig zur Bedrohung von rechts umgeschrieben.
„Furchtbare Szenen der Gewalt“, kommentiert ein selbsternannter „Antifa“-Account auf Twitter Auseinandersetzungen zwischen Demonstrant*innen und Polizei, und fügt die Hashtags „Nazis, Patrioten, AfD“ hinzu. „Wer sich solche Zustände für Deutschland wünscht, ist einfach nur krank“, schimpfen die um Deutschlands Sicherheit bemühten „Antifas“. Massenhaft ist von einer angeblichen „Querfront“ die Rede. Linkspartei-Chef Bernd Riexinger schlägt in dieselbe Kerbe: „Bedenklich“, sei das ganze. Und: „In Deutschland wäre eine solche Verbrüderung linker und rechter Gesinnung nicht denkbar.“
Peter Schaber, Lower Class Magazine
Diese Kritik lässt aber die durchaus differenzierte Betrachtungsweisen der Ereignisse in Frankreich außer Acht, wie sie beispielsweise der Frankreich-Korrespondent Bernard Schmid in verschiedenen linken Medien [12] wie auch bei Telepolis [13], regelmäßig liefert.
Er verschweigt die rechte Präsenz bei den Gelben Westen nicht, stellt aber auch die anderen Spektren und ihren Einfluss auf die Bewegung ausführlich dar. Zudem zeigt das Beispiel Brasilien, dass eine Bewegung um Verkehrsmittel, die Clover auch anführt, später zur Schwungmasse für eine Rechtsentwicklung in der Gesellschaft werden kann und mit zum Wahlsieg des faschistischen Präsidenten beitrug. Dass ein Teil der Gelben Westen eine Machtübernahme eines von Macron entlassenen rechten Militärs favorisiert, zeigt, dass auch in Frankreich diese Bewegung eine weitere Rechtsverschiebung [14] auslösen könnte.
Fehlende linke Theorie und Organisation
Da müsste sich einer Linken, die sich positiv auf die Gelben Westen bezieht, Probleme der Theorie und der Organisation stellen. Theorie als eine eigenständige Praxis war ein zentraler Bestandteil des französischen marxistischen Philosophen Louis Althusser [15], dessen 100ter Geburtstag [16] in diesem Jahr fast unbemerkt [17] vorüberging.
Das zweite Problem ist eine Organisation, in der Menschen, die durch Bewegungen wie die Gelbwesten politisiert wurden, aktiv werden können, wenn die Flaute eingesetzt hat. Vor mehr als 100 Jahren konnten die Bolschewiki als linker Flügel der Arbeiterbewegung in Russland Erfolg haben, weil sie damals eine Theorie hatten, die Massen verstanden haben, und eine Organisation, die Erfolg versprach. Unter der Parole „Land und Frieden“ sprachen sie die Bauern an, die das Land der Großgrundbesitzer schon längst besetzt hatten, und die Millionen Soldaten, die sich fragten, wofür sie im 1. Weltkrieg gekämpft haben und gestorben sind.
Eine Theorie und eine Organisation werden der Linken nicht in den Schoss fallen. Doch sie müsste sich auf die intensive Suche danach machen. Nur dann kann sie mit dazu beitragen, dass Bewegungen wie die Gelben Westen nicht zur Schwungmasse der Rechten werden.
Peter Nowak
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Gleich mit dem ersten Satz machen die unbekannten AutorInnen vom Unsichtbaren Komitee (UK) deutlich, was ihr neuester Text „An unsere Freunde“ von dem 2008 verfassten Text „Kommender Aufstand“ trennt. „Die Aufstände sind also gekommen. In so schneller Abfolge, seit 2008, und in so vielen Ländern, dass das ganze Gefüge dieser Welt auseinanderzusprechen scheint“. Damit stellen die AutorInnen gleich zu beginn klar, dass die kommenden Aufstände bereits der Vergangenheit angehören, aber nur zu Elitenwechsel und in manchen Ländern wie in Ägypten zu einer noch repressiveren Herrschaft geführt haben. “Die Aufstände sind gekommen, nicht die Revolution“, beschreiben die AutorInnen das Offensichtliche. Dich, den Versuch einer Analyse, wieso die Aufstände in verschiedenen Ländern nicht zu einem grundlegenden gesellschaftlichen Umbruch führten, sucht man in dem Buch vergeblich. Das beginnt schon damit, dass beim UK“ die Begriffe Aufstand und Revolution nicht klar definiert und abgegrenzt werden. So bleibt offen, ob die AutorInnen Aufstand und Revolution gleich setzen. Wenn nicht, wäre es interessant zu erfahren, wie sie sich das Verhältnis von Aufstand und Revolution vorstellen. Vor allem wird auch nicht erklärt, wer die Träger der Aufstände in den letzten Jahren waren und welche Rolle darin ProletarierInnen spielten. Eine Auseinandersetzung mit dieser Frage wäre schon deshalb sehr sinnvoll gewesen, weil in der Regel eine englischsprechende via Facebook, Handy und Internet kommunizierende Mittelklasse zu den ProtogonistInnen der Aufstände erklärt wird. Die Rolle der ArbeiterInnen wird ignoriert oder als unbedeutend abgetan. Dabei wird unterschlagen, dass es sowohl in Ägypten als auch in Tunesien, und den Jemen ArbeiterInnen zumindest beim Beginn der Aufstände eine wichtige Rolle spielten. In Ägypten gehörten große Streiks in der Textilindustrie zur Vorgeschichte des Aufstands. Doch in diesen Ländern gab keine eigenstände Organisierung der ArbeiterInnen, was dazu führte, dass die Mittelklasse während das Gesicht des Aufstands bildete, der dann nur ein Elitentausch wurde. Dass die AutorInnen sich diese Fragen nicht stellen, verweist auf den blinden Fleck des UK, ihre Ignoranz gegenüber proletarischen Kämpfen aller Art.
Dafür lesen wir bei ihnen als Antwort auf die Frage, warum aus den Aufständen keine Revolution wurde, solch kryptischen Sätze: „Vielleicht können wir fragen, was in uns selbst den Feind einen Ansatzpunkt bietet, sodass wir nicht zufällig, sondern häufig scheitern. Vielleicht können wir fragen, was zum Beispiel noch links ist an den Revolutionären und sie nicht nur scheitern lässt, sondern einen allgemeinen Hass aussetzt. Ein gewisser Anspruch auf moralische Hegemonie, die sie sich gar nicht leisten können, ist ein Fehler, den sie von der Linken geerbt haben. Ebenso die unhaltbare Anmaßung, die richtige Lebensweise vorschreiben zu wollen – die wirklich fortschrittliche, aufgeklärte, moderne, korrekte, dekonstruierte, einwandfreie. Eine Anmaßung, die Mordgelüste in allen weckt, die sich dadurch unwiderruflich ins Lager der Reaktionären-Konservativen-Altmodischen gestoßen fühlen.“
Meinen die AutorInnen tatsächlich, dass der Political Correctness der Linken dafür verantwortlich ist dass die Aufstände nicht zu einer gesellschaftlichen Umwälzung führten? Und wer sind die Kräfte, die Mordgelüste gegen diese Revolutionäre hegen? Wenn man weiß, dass das Unsichtbare Komitee auch den ukrainischen Maidan-Aufstand zu den gescheiteren Aufständen zählt, kann man immerhin ahnen, wer gemeint sein könnte.
Nun könnte ja an der Kritik an einer Linken, der es mehr um die richtige Lebensweise als um eine Gesellschaftsveränderung steht, durchaus mehr als ein Körnchen Wahrheit sein. Doch da das UK keine Klassengesellschaft kennt und die Arbeiterklasse als etwas Vorgestriges sieht, stellen sie sich gar nicht die Frage, ob der von ihnen kritisierte moralische Hegemonie der Linken, nicht der Versuch eines globalen Mittelstandes ist ,die eigenen Vorstellungen vom richtigen Leben für allgemeingültig zu erklären. Daher klingt das Lamento des UK fast schon wie die Klage konservativer KulturkritikerInnen gegen Political Correctness.
Hacker statt streikende ArbeiterInnen
Da ist es auch nur konsequent, dass das UK die Figur des Hackers in den Mittelpunkt stellt, wenn es darum geht, Daten- Waren- und Kapitalströme zu unterbrechen. Dass es in verschiedenen Ländern wie in Norditalien langanhaltende Arbeitskämpfe in der Logistikbranche gab, wird vom UK nicht erwähnt. Dass aber ein Streik auf diesen Sektor, wenn mehrere Länder mit einbezogen wären, eine effektive Unterbrechung von Waren- und Kapitalströmen bedeuten würde, kommt den AutorInnen gar nicht in den Sinn. Dabei wäre für einen solchen transnationalen Arbeitskampf im Logistikbereich Selbstorganisationsprozesse die Voraussetzung. Die Hacker aber sind selbst wenn sie kollektiv handelt, bestenfalls eine kleine Gruppe von SpezialistInnen und ExpertInnen So wird auch deutlich, wie die Ausblendung des Proletariats auch dem Ziel des UK zuwiderläuft, Kämpfe möglichst ohne Hierarchien und Repräsentation zu führen.
aus: Direkte aktion Januar/Februar 2016
Peter Nowak
Unsichtbares Komitee, An unsere Freunde,
Aus dem Französischen von Birgit Althaler
Broschur, 192 Seiten, mit 10 S-W-Fotos illustriert.
€ (D) 16,–. ISBN: 9783894018184
Während das Unsichtbare Komitee kommende Aufstände erst einmal absagt, gibt es in verschiedenen Bereichen der linken Bewegung neue Perspektivdiskussionen
Die Blockupy-Proteste sind vorbei und die außerparlamentarische Bewegung, die sie monatelang vorbereitete, gönnt sich mehrheitlich eine Pause. Andere organisieren die kalendarisch anfallenden Protesttage wie die Demonstrationen zum 1. Mai. Bei beiden Großveranstaltungen geht es um den Widerstand gegen die Symbole herrschender Politik wie die EZB, bzw. um die Sichtbarmachung von politischem und sozialem Protest an einem historisch aufgeladenen Datum beim 1. Mai [1].
Dabei wurde auch in Berlin ein Dilemma der außerparlamentarischen Linken deutlich. Die Teilnehmerzahl ist weiterhin hoch; die Organisatoren sprechen sogar von der größten Demonstration der letzten Jahre. Doch da nur zwei Lautsprecherwagen mitfuhren, war der Großteil der Demonstration eher ein Spaziergang ohne Parolen. Hier wird deutlich, wie wenig organisierte Gruppen es in der außerparlamentarischen Linken noch gibt.
Ein anderes Problem für die Demo-Organisatoren ist die Eventgesellschaft. Das einst als Gegengewicht zu den oft militanten Maidemonstrationen etablierte Myfest [2] sorgt mittlerweile in einer Weise für eine Beeinträchtigung der Demonstration, die sich vor fast 10 Jahren selbst die Erfinder des Events nicht hätten träumen lassen. Potentielle Demonstrationsteilnehmer konnten nicht an dem Aufzug teilnehmen, weil sie wegen der Menschenmassen nicht zum Zielort kamen.
Was wie eine besonders dreiste Ausrede von Demoorganisatoren klingt, haben unabhängig voneinander mehrere Personen bestätigt [3]. Zudem brauchten die Demovorbereiter solche Storys wahrlich nicht zu erfinden, war doch die Teilnehmerzahl trotzdem sehr hoch. Viele der Teilnehmer haben das Myfest bewusst umgangen.
Das Problem könnte sich in den nächsten Jahren lösen. Die Kreuzberger Bürgermeisterin stellt das Myfest in Zukunft in Frage, offiziell wegen Sicherheitsbedenken [4]. Doch es wird schon mehrere Jahre gefragt, warum für das Myfest noch Geld ausgeben werden soll, wo es doch sein Ziel erreicht hat. Die Demonstrationen sind immer weniger mit Randale verbunden.
Manche meinen schon, dass Kreuzberg einen Imageschaden erleiden könnte, wenn in dem Stadtteil der 1. Mai nur noch ein großer Event sein sollte. Schließlich gehört zumindest für die Kreativwirtschaft ein wenig Widerstand durchaus zu den positiven Stadtortfaktoren [5].
Der kommende Aufstand – erst einmal vertagt
In diesen Kreisen wurde deshalb auch ein schmales Bändchen sehr gelobt, das von dem anonymen Autorenkollektiv Unsichtbares Komitee unter dem Titel „Der kommende Aufstand“ verfasst worden war. Es wurde sogar zum Theoriebuch der aktuellen Linksradikalen hochgeschrieben [6], obwohl dort außer der intellektuell geschraubten Sprache wenig Theorie zu finden war.
Nun hat das Autorenkollektiv ein zweites Buch mit dem Titel „An unsere Freunde“ [7] nachgelegt und mit Ernüchterung festgestellt: Die Aufstände sind gekommen, geändert hat sich nichts:
An diesem Punkt müssen wir Revolutionäre unsere Niederlage eingestehen. Nicht, weil wir die Revolution seit 2008 als Ziel nicht erreicht hätten, sondern weil sich die Revolution als Prozess fortlaufend von uns losgelöst hat.
„Dezentrale und zeitlich begrenzte Aufstände führen eben noch keinen Systembruch herbei. Trotz zunehmender, auch militanter Proteste in den vergangenen Jahren ist der Kapitalismus schließlich in bester Verfassung“, fasst [8] der Rezensent Florian Schmid im Freitag die Botschaft des zweiten Buches zusammen.
Es ist tatsächlich auch eine Niederlage für alle, die Bewegungen fetischieren, Theorie eher als Beiwert und alle Formen von festen Organisationen zum Übel erklären. Das Unsichtbare Komitee musste hier nur die Erfahrung persönlich machen, die radikale Linke zu allen Zeiten machen mussten. Für eine grundlegende Änderung der Verhältnisse reicht nicht eine gehörige Portion Utopie und Voluntarismus.
Carerevolution – oder Wege in eine solidarische Welt
Wesentlich weniger Aufmerksamkeit als „Der kommende Aufstand“ hat bisher ein Buch bekommen, das wahrscheinlich mehr zu einer Transformation der Verhältnisse beitragen kann, als noch so viele Unsichtbare Komitees. In „Care Revolution- Schritte in eine solidarische Gesellschaft“ [9] zeigt die feministische Sozialwissenschaftlerin Gabriele Winker [10] auf, dass die kapitalistische Gesellschaft nicht in der Lage ist, eine Sorgearbeit für alle Menschen zu garantieren.
Dazu gehört die Kindererziehung, die Bildung, aber auch die immer wichtiger werdende Pflegearbeit für ältere Menschen. Winker legt dar, dass diese Vernachlässigung nicht an bösen Menschen und Organisationen, sondern im Verwertungsinteresse des Kapitals begründet liegt. Sie bleibt aber nicht bei dem Lamento über die schlechten Zustände stehen.
In mehreren Kapiteln zeigt sie die unterschiedlicher Facetten einer Carebewegung, die sich eben nicht mit den Sachzwängen zufrieden geben will. Dabei gehören auch immer wieder gewerkschaftliche Kämpfe. So kämpfen Mitarbeiter an der Berliner Charité für einen Personalschlüssel, der eine gute Pflege für alle überhaupt noch möglich macht.
Ähnliche Bewegungen gibt es im Kitabereich, wo die Streiks der nächsten Tage durchaus auch als Teil dieser Carebewegung betrachtet werden können. Besonders überzeugend ist Winkers Plädoyer, weil sie auch deutlich macht, dass hier und heute der Kampf um Veränderungen beginnen muss, die Kämpfe aber über die kapitalistische Gesellschaft hinausweisen müssen. Sie lässt da keinen Raum für Illusionen von Reformen im System.
Im Gegensatz zum „Kommenden Aufstand“ zeigt Care Revolution die Möglichkeiten auf, Veränderungen im Alltag zu beginnen, ohne sich in der Realpolitik zu verfangen. Deswegen ist es vielleicht nicht der große Renner der Feuilletonisten, wird aber in verschiedenen Kreisen der außerparlamentarischen Linken nicht nur gelesen, sondern durchaus auch als undogmatische Handelsanleitung verstanden.
Im letzten Jahr gab es den großen bundesweiten Kongress zur Care Revolution [11]. Seitdem finden nicht nur regelmäßige Treffen statt. Auf großen Demonstrationen gibt es eigene Blöcke, die die Carerevolution thematisieren, beispielsweise bei den Blockupy-Protesten [12] am18. März 2015 oder beim 1. Mai in Berlin.
Dort hatte das Netzwerk unter dem Motto „Tag der unsichtbaren Arbeit [13]“ aufgerufen. Erstaunlicherweise blieben diese Aktivitäten auch in einem großen Teil der Medien, die über den 1. Mai berichteten, unsichtbar. Es scheint eben immer noch angesagter, über unverbindliche kommende oder kleine Kreuzberger Aufstände beziehungsweise ihr Ausbleiben zu schreiben, als über Transformationsprozesse, die sich an den aktuellen Verhältnissen orientieren.
Linke Woche der Zukunft
Diesen Anspruch hat auch die parteiförmig organisierte Linke. Ende August lud sie zu einer linken Woche der Zukunft [14]nach Berlin ein. Unter den mehreren Hundert Veranstaltungen fanden sich tatsächlich einige, die zumindest die Fragen aufwerfen, die in den nächsten Jahrzehnten aktuell sind. Dass man dabei bei Abwehrkämpfen, wie „Hartz IV muss weg“ oder „Kein Krieg mit Russland“ nicht stehen bleiben kann, ist eigentlich allen klar.
Es müssen Politikfelder gesucht werden, die Menschen Lust machen, sich in einer linken Bewegung oder Partei zu engagieren. Dafür sind Abwehrkämpfe nur bedingt geeignet. So diskutierten auf einer Podiumsveranstaltung unter dem Titel „Digitale Revolution?“ die ehemalige Piratenpolitikerin Anke Domscheit-Berg, der marxistische Soziologe Christian Fuchs und die Linkspartei-Abgeordnete Halina Wawzyniak über die Frage, ob die Digitalisierung der Produktionsverhältnisse nicht auch emanzipatorische Momente habe.
Dabei blieb man aber oft noch zu sehr bei der Frage stecken, ob denn die 3-D-Drucker in der nächsten Generation tatsächlich so viele Lohnarbeitsverhältnisse überflüssig machen würden. Erst, wenn sich eine Linke die Frage stellt, warum ist es denn ein Fluch ist, dass Lohnarbeitsverhältnisse durch Maschinen überflüssig werden und welche Verhältnisse hergestellt werden müssen, dass man darüber froh sein kann, wenn Maschinen stupide, oft krankmachende Lohnarbeit übernehmen, ist sie aber auf der Höhe der Zeit.
Denn dann käme wieder die Schranke der kapitalistischen Verwertungslogik auf die Tagesordnung. Zudem könnte endlich die Diskussion darüber beginnen, ob viele Menschen nicht tatsächlich viel Schöneres als Lohnarbeit machen könnten und dass für viele nicht das Problem der Verlust der Lohnarbeit, sondern das Fallen ins das Hartz IV-System ist.
Genau da müsste eine linke Praxis ansetzen, die genau das verhindert. Wenn die Leute mehr freie Zeit haben, könnten sie Sorgearbeit für sich und ihre Freunde in einem viel größeren Umfang selber leisten. Darauf weist Gabriele Winker in Care Revolution hin und zeigt damit auf, dass es durchaus heute schon Skizzen für ein linkes Projekt gibt, für das sich zu kämpfen lohnt. Dafür braucht es allerdings einen langen Atem.
Wer innerhalb weniger Jahre kommende Aufstände an- und absagt, hat die zumindest nicht. Der richtet sich eher nach dem Rhythmus der Kulturindustrie.