Das migrantische Leben lässt sich nicht vertreiben Deutschland

Gespräch mit Ayşe Güleç zum Tribunal »NSU-Komplex« auflösen

Interview: Peter Nowak
Vom 17. bis 21. Mai 2017 wird in Köln-Mühlheim das Tribunal NSU-Komplex auflösen in direkter Nähe zur Keupstraße stattfinden – dort, wo der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund (NSU) im Jahr 2004 mit einer Nagelbombe die ganze Keupstraße,
stellvertretend für die Gesellschaft der Vielen, angriff. Ayşe Güleç ist in der Initiative 6. April und in der Koordinierungsgruppe
für das NSU-Tribunal aktiv.

Es gab mehrere parlamentarische Untersuchungsausschüsse, die sich mit dem NSU befassten. Warum noch ein NSUTribunal?
Ayşe Güleç: Die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse (PUA) auf der Landesebene sind recht unterschiedlich. Deren Arbeit und Untersuchungsresultate hängen meist vom politischen Willen Einzelner ab und davon, ob und wie sich diese mit behördlichen Auslassungen, Versäumnissen und Fehlern im Kontext NSU-Komplex befassen. Insbesondere durch die Arbeit der PUA Thüringen und durch den Untersuchungsausschuss des Bundes wurden Versäumnisse und die rassistische Grundhaltung in den Sicherheitsbehörden öffentlich. Das Tribunal NSU-Komplex auflösen ist eine Bewegung und eine bundesweite Allianz und Zusammenarbeit von Betroffenen, Einzelpersonen aus Film, Kunst, Aktivismus, Rassismusforschung und anti-rassistischen
Initiativen. Ich sehe das Tribunal als eine gesellschaftlich-politische Notwendigkeit, die längst fällig ist. Es will und kann
nicht Sicherheitsbehörden verbessern durch Reformen, sondern wird den strukturellen Rassismus, der sich im NSU-Komplex offenlegt, in den verschiedenen institutionellen Facetten aufzeigen und anklagen. Die Erzählungen und das Wissen der durch den NSU-Komplex Getroffenen werden ins Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt. Von diesem migrantisch situierten Wissen der Angehörigen der Mordopfer sowie der Überlebenden des Nagelbombenanschlags können wir alle lernen.

Wie lange wird dieses Tribunal schon vorbereitet und was soll dort passieren?
Nach dem Öffentlichwerden des sogenannten NSU entstanden in vielen Städten Initiativen, die Verbindungen zu den Betroffenen aufbauten. Schnell fanden diese Initiativen zueinander und setzten als buaündnis verschiedene m: Straßen wurden nach den Mordopfern umbenannt, um ihre Namen medial in die Öffentlichkeit und ins Bewusstsein zu bringen, gemeinsam begleiteten wir die Betroffenen der Nagelbombe zum Prozess nach München und sorgten für Aufmerksamkeit, damit ihre Zeugenschaft eine breite Öffentlichkeit bekommt. Das führte uns zu der Idee für das Tribunal. Nach kurzer Zeit ist die Vorbereitungsgruppe des Tribunals auf eine große Allianz von über 100 Menschen angewachsen. Mit dem Tribunal geht es uns darum, die verschiedenen institutionellen Bestandteile und deren Wirkmechanismen aufzufächern, um die Verantwortlichen und Institutionen anzuklagen, die darin gehandelt haben. Denn bisher gab es nur zögerliche Affekte auf die Taten, Täterinnen und Täter. Das Tribunal Betroffenen.

Die Frage, wie Geheimdienste im NSU verstrickt waren, spielte in der Diskussion eine große Rolle. Soll das Thema auch auf dem Tribunal im Vordergrund stehen?
Inzwischen wissen wir alle, dass die Geheimdienste eines der wesentlichen Bestandteile des NSU-Komplexes sind. Deutlich wird dies beispielsweise an dem Mord an Halit Yozgat – dem jüngsten und neunten Opfer der rassistisch motivierten Mordserie des NSU. Während der Mordzeit befand sich der ehemalige Verfassungsschützer Andreas Temme im Internet-Café. Er behauptete lange Zeit, dass er nichts gesehen, nichts gehört und auch sonst nichts bemerkt habe. Die Familie Yozgat hingegen hat jahrelang Temmes Ungereimtheiten thematisiert und gefolgert, dass er entweder lügt, die Mörder kennt und diese deckt oder er
elbst Halit ermordet hat. Wir wissen alle auch, dass der Quellenschutz vorgeschoben wurde und Temmes Neo-Nazi V-Mann nicht verhört werden konnte. Wir waren und sind alle Zeuginnen und Zeugen: Über viele Jahre wird von politischen Instanzen versucht, die Beteiligung des Staates rauszuhalten. Die Ermittlungsbehörden setzten die Angehörigen von Enver Şimşek, Abdurahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Teodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat unter Druck, beschuldigten und kriminalisierten sie über viele Jahre. Sie wirkten und wirken daran, dass das Wissen der Angehörigen der Mordopfer sowie der Überlebenden der Bombenanschläge über Jahre nicht hörbar war. Stattdessen wurden die Betroffenen öffentlich verdächtigt, kriminalisiert und beschuldigt, wurden wie Täter behandelt. Die Welt der Ermittler bestand aus Phantasmen: Sie nutzten Fotografien einer blonden Frau, um drei trauernden Witwen ein erfundenes Doppelleben ihrer ermordeten Ehemänner zu beweisen. Wie wanderten diese Fotografien von dem einen Beamten zu dem nächsten? Wer schrieb die Nutzungsanleitung für diese Vernehmungen? Diesen rassistischen Ermittlungsmethoden folgten ebensolche Medienberichte. Aus dem Wissen und den Erfahrungen der direkt Betroffenen ist abzuleiten, was wir alle gemeinsam beklagen, was wir anklagen
und was wir daraus für die Zukunft als Konsequenzen fordern müssen.

Noch immer kämpfen Angehörige in mehreren Städten dafür, dass die Straßen an den Tatorten die Namen der Opfer tragen sollen. Wird das auf dem Tribunal auch ein Thema sein?
Dies ist eine Forderung der Angehörigen. Auch Initiativen, die in der Zeit der Pogrome der 1990er Jahre entstanden sind, werden beim Tribunal dabei sein: der Freundeskreis zum Gedenken an Mölln, die Oury-Jalloh-Initiative und andere wie die Burak-Bektaş-Initiative. Noch immer gibt es viele Kämpfe von Initiativen und Überlebenden der 1980er und 1990er Jahre. Umbenennungen
von Straßen oder Plätzen nach den Mordopfern sind wichtig. Es ist eine wichtige Form der Geschichtsschreibung im öffentlichen Raum. Bundesweit gibt es auf der kommunalpolitischen Ebene eine beharrliche Weigerung, bestehende Straßen nach Opfern von rassistischer Gewalt umzubenennen. Einfacher scheint dies bei Plätzen zu gelingen, die zuvor keinen Namen hatten.


Während die Angehörigen der Opfer schon früh von Nazimorden sprachen, blieb auch ein Großteil der Antifabewegung
abseits. Wie hat sich das Verhältnis zwischen den Betroffenen und antifaschistischen Gruppen weiter entwickelt?

Lange Zeit hat die Berichterstattungen über organisierte Kriminalität andere, solidarische Bewegungen mit den Betroffenen verhindert hat. Das war eine rassistische Spaltung, die durch den nun zweijährigen Vorbereitungsprozess des Tribunals überwunden ist. Die Angehörigen der Mordopfer haben schon immer deutlich formuliert, dass Nazis für die Morde verantwortlich
zu manchen sind. Schon nach dem dritten Mord erkannten die betroffenen Familienangehörigen die Morde als eine Serie gleicher Täter oder Täterinnen. Nach der Nagelbombe wussten die Betroffenen aus der Keupstrasse ebenfalls, dass die Bombe Teil der Mordserie ist. Die Trauerdemo »Kein 10. Opfer« war ein nächster Schritt, um das Wissen großflächig öffentlich zu machen: Nur
ein Monat nach dem Mord an Halit wurde diese von den Familienangehörigen aus Kassel mit den Angehörigen von Mehmet Kubaşık aus Dortmund und den Angehörigen Enver Şimşeks aus Nürnberg organisiert. Bis dahin kannten sich diese drei Familien nicht. Etwa 4.000 Menschen, überwiegend aus den migrantischen Communitys, nahmen daran teil. Politische Verantwortliche
wurden aufgefordert, das Morden zu beenden und die Namen der Täter zu nennen. Entsprechend waren die meisten Transparente in deutscher Sprache, Redebeiträge wurden auf Deutsch übersetzt. Es ist aus heutiger Sicht immer noch sehr erschreckend, dass selbst diese Demonstration von vielen Bevölkerungsteilen nicht wahrgenommen worden ist. Nach den Erfahrungen mit dem NSU-Komplex kann das zukünftig nicht mehr so leicht passieren. ‚


Wo sehen Sie bei der Arbeit zum NSUKomplex Erfolge?

Es gibt viele sehr engagierte Anwälte und Anwältinnen der Nebenklage, die großartige Arbeit leisten und versuchen, in das NSU-Verfahren wichtige Beweisanträge einzubringen. Aus dem Verfahren ist lesbar, was dort verhandelt wird und über was nicht verhandelt werden soll. Dies wird daran deutlich, welche Beweisanträge in der Vergangenheit durch die undesanwaltschaft
abgelehnt wurden: In der Regel die, bei denen es um weitere involvierte V-Leute und Verfassungsschutzmitarbeiter ging. Das Verfahren versucht, die Taten des NSU auf die Angeklagten auf der Anklagebankzu reduzieren. Auch das erweiterte Umfeld des »Trios«, deren Helfer und Helfershelfer, wird herausgehalten. Ein deutlicher Erfolg des Tribunals ist es jetzt schon, dass die Geschichten der Betroffenen nicht nur erzählt, sondern auch gehört werden. Das Tribunal hat das migrantisch situierte Wissen der Betroffenen als die Perspektive ins Zentrum gesetzt und damit einen Perspektivwechsel im Diskurs über den NSUKomplex
erreicht. Das Tribunal NSU-Komplex hat dem Forschungsinstitut Forensic Architecture von der Londoner Goldsmiths Universität
den Auftrag zur Untersuchung des Mordes im Internetcafé erteilt. Das Forensic Architecture Team hat die Untersuchungsergebnisse am 6. April in Kassel veröffentlicht und in einem 1:1-Raummodell des Internet-Cafés und mit Hilfe von 3-D Modellen eine aufwändige Untersuchung v Internet-Café und seine Perspektive. Im Mittelpunkt standen dabei drei Fragen:
Was hat Andreas Temme gesehen? Was hat er gehört, und was hat er gerochen? Die Ergebnisse stellen die bisherige Darstellung von Andreas Temme stark infrage und mit Hilfe von digitalen und analogen Untersuchungsmethoden wurde
hier neues Beweismaterial erzeugt, das uch vor Gericht bestehen kann. Temme muss was gesehen, muss die Schüsse
gehört und muss das Schwarzpulver gerochen haben.

Wird das Tribunal eine Art Schlusspunkt Ihrer Arbeit sein?
Keineswegs! Das Tribunal NSU-Komplex auflösen ist ein nächster Akkumulationspunkt, -und darauf arbeiten wir als Gesellschaft der Vielen hin. Die ganze Dimension des strukturellen Rassismus am Beispiel des NSU bildet die Grundlage für die gesellschaftliche Anklage, um anzuklagen und Forderungen zu stellen für die Zukunft. Und unsere Botschaft ist sehr eindeutig: Migration kann nicht an Grenzen gestoppt werden. Das migrantische Leben lässt sich nicht vertreiben durch rechte Parteien, nicht durch
rechtspopulistische Politiker, nicht durch Neonazis, nicht durch Verfassungsschützer oder V-Männer, die Nazis sind. Diese Realität der Gesellschaft der Vielen kann nicht weggebombt werden. Wir sind hier, wir bleiben hier, leben hier und werden weiter die Gesellschaft der Vielen formen. Peter Nowak arbeitet als freier Journalist. Seine Artikel sind dokumentiert unter peter-nowak-journalist.de. Das Tribunal ist eine gesellschaftlich- politische Notwendigkeit, die längst fällig ist. »Die vom NSU-Terror Betroffenen wussten, wer hinter den Anschlägen auf ihre Familienangehörigen, ihre Nachbarn, ihre Freunde oder auf ihr
eigenes Leben … steckte«, heißt es im Aufruf zum Tribunal. Warum wurde dieses Wissen konsequent ignoriert? Das Tribunal »NSU-Komplex auflösen «, das vom 17. bis 21. Mai in Köln stattfindet, klagt den staatlichen und gesellschaftlichen Rassismus an und lässt die Angehörigen der Opfer des Neonaziterrors sprechen. Info und Spenden: www.nsu-tribunal.de

Die vom NSU-Terror Betroffenen wussten, wer hinter den Anschlägen auf ihre Familienangehörigen, ihre Nachbarn, ihre Freunde oder auf ihr eigenes Leben … steckte«, heißt es im Aufruf zum Tribunal. Warum wurde dieses Wissen konsequent ignoriert? Das Tribunal »NSU-Komplex auflösen «, das vom 17. bis 21. Mai in Köln stattfindet, klagt den staatlichen und gesellschaftlichen Rassismus an und lässt die Angehörigen der Opfer des Neonaziterrors sprechen. Info und Spenden: www.nsu-tribunal.de

aus:
ak – analyse & kritik Nr. 626
www.akweb.de
Interview: Peter Nowak

Pro-Mieter-Politiker Holm zurück in der Apo

Nach dem Rücktritt des Staatssekretärs muss sich Rot-Rot-Grün Fragen stellen: Hatte man das Kräfteverhältnis in Berlin falsch eingeschätzt?

„Staatssekretär Holm gibt auf“ titelten die Zeitungen[1] über den nicht ganz freiwilligen Abgang des Berliner Mieteraktivisten (siehe Klassenkampf mit der Stasi[2]). Doch im großen Versammlungsraum des Weddinger Exrotaprint[3]-Projekts erlebte man einen Andrej Holm, der fast erleichtert schien, vom Posten des Staatssekretärs wieder in die außerparlamentarische Opposition zurückgekehrt zu sein[4].

Von den mehr als 200 Menschen im überfüllten Raum wurde er herzlich und mit Applaus zurück in der Apo willkommen geheißen. Zahlreiche Initiativen[5] und engagierte Einzelpersonen[6], die sich in den Wochen für den Verbleib von Holm[7] im Amt eingesetzt hatten, brachten noch einmal ihre Solidarität mit dem Angegriffenen zum Ausdruck.

Neben der SPD und den Grünen wurde auch der Linken vorgeworfen, sich nicht vorbehaltslos hinter Holm gestellt zu haben. Ein enger Unterstützer erklärte, er habe selbst erlebt, wie der Vorstand der Linken Druck auf Holm ausgeübt hat, seinen Posten zu räumen, um die Berliner Koalition zu retten. Manchmal wünschte man sich etwas mehr selbstkritische Analyse, wenn nun zum wiederholten Male eine Eloge auf Holm kam.

Hatte man nicht vielleicht auch Fehler gemacht, in dem man unterschätzt hat, wie stark gerade jeder kleinste Fehler bei einen Staatssekretär ausgeschlachtet wird, der mit der erklärten Absicht angetreten ist, Politik im Interesse der Mieter und nicht der Investoren zu machen?

Hatte man vor allem Dingen das Kräfteverhältnis in der Stadt falsch eingeschätzt, wo sich viele gegen Gentrifizierung erregen, aber längst nicht alle diese Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt mit dem Kapitalismus in Verbindung bringen? Hätte Holm überhaupt in einem derart verdrahteten und verregelten Kapitalismus eine Chance gehabt, nur einen Teil seiner Pläne umzusetzen?

Das wären einige Fragen gewesen, die auf ein linkes Bewegungstreffen gehören und die auf der Webseite der Treptower Initiative Karla Pappel angesprochen wurden[8]. Da hätte man auch darauf verweisen können, dass der heutige Regierende Bürgermeister Müller als Senator im Kabinett Wowereit dafür berüchtigt war, dass er Mieter in der Treptower Beermannstraße[9], die sich juristisch dagegen wehrten, dass sie ihre Wohnungen verlassen sollten, weil sie einer von großen Teilen der Bevölkerung abgelehnten Verlängerung der Autobahn Platz machen sollten, kurzerhand mit einem Enteignungsverfahren unter Druck setzen ließ.

Ihr beharrlicher Widerstand und die Unterstützung der Stadtteilinitiative Karla Pappel konnte den Mietern die Wohnungen nicht retten. Aber immerhin bekamen sie Entschädigung. Unter der rosa-rot-grünen Regierung gingen auch die Zwangsräumungen[10] weiter. Nur wenige Tage vor Weihnachten wurde in Kreuzberg ein Mieter aus seiner Wohnung vertrieben. Aber für solch kritische Diskussionen gab es am Montagabend keinen Raum.

Man wollte Andrej Holm wieder in den Reihen der Apo begrüßen und man war froh, dass er eben nur seinen Posten, nicht aber seine Bereitschaft aufgegeben hat, für eine Mieterstadt Berlin zu kämpfen. Dann war das Treffen auch schon beendet, weil Anwesende an einer Protestkundgebung gegen einen Auftritt des Regierenden Bürgermeiser Müller im Gorki-Theater teilnehmen wollten. Dort traf sich aber nur ein Teil der Menschen wieder, die Holm zurück in der Apo willkommen geheißen hatten.

In den nächsten Tagen sind noch weitere Proteste gegen Holms Entlassung geplant. Studierende der Humboldtuniversität wollen auch dafür auf die Straße gehen, dass Holm seine Stelle am Institut für Stadtsoziologie[11] an der Humboldtuniversität wieder antreten kann. Das ist bisher unklar, weil ja der Vorwurf im Raum steht, Holm habe bei der Bewerbung um die Stelle unvollständige Angaben zu seiner Stasitätigkeit gemacht.

In den letzten Tagen haben sich aber die Einschätzungen gehäuft, die darin keinen Grund sehen, Holm nicht wieder anzustellen. Die juristische Grundlage des Fragebogens wurde infrage gestellt[12]. Das hätte zur Folge, dass Holm sogar bewusst falsche Angaben hätte machen können, ohne dass er deswegen sanktioniert werden kann.

Die Regisseurin Kathrin Rothe, die mit dem Film Betongold bekannt wurde, der ihre eigene Verdrängung aus Berlin-Mitte zum Thema hat, sagte kürzlich in der Taz, sie habe in einen Fragebogen für ein Seminar bewusst Quatsch eingetragen. Dabei hatte sie nie etwas mit der Stasi zu tun und auch keinerlei Sympathie dafür. Sie wollte mit dem kreativen Umgang mit dem Stasi-Fragebogen aber ihren Unwillen ausdrücken, nach 27 Jahren immer noch mit dieser „Sonderbehandlung Ost“ konfrontiert zu werden.

Der Umgang mit der Causa Holm dürfte bei mehr Leuten diesen Unmut bestärkt haben. Wenn nicht einmal mehr ein Nachweis einer Bespitzelung nötig ist, um einen Menschen, der bereits 2007 vor einem sehr kritischen Publikum, DDR-Oppositionellen, die unter der Stasi gelitten haben, mit seiner Biographie offen umgegangen ist, zu mobben, wird deutlich, dass es hier um Investorenschutz geht. Nicht seine kurzzeitige Stasimitgliedschaft sondern seine kapitalismuskritische Haltung störte an Holm.

Und wenn jetzt wieder in Erinnerung gerufen wird, dass Nazi-Täter[14], die teilweise für Morde und Judendeportationen verantwortlich waren, an führenden Stellen der BRD-Politik und Justiz saßen, dass sich NS-Richter in den 1950 Jahren bei der Verurteilung von Kommunisten sogar auf die NS-Urteile bezogen und ihre neue Strafe damit begründeten, der Angeklagte habe sich nicht bewährt, dann kann das etwas kritisches Geschichtsbewusstsein fördern. Das wäre tatsächlich ein kleiner Erfolg aus dem Fall Holm.

Vielleicht kommt auch mancher auf den Gedanken, dass die DDR nicht nur aus der Stasi bestand, sondern dass dort bei allen Problemen eine Wohnungspolitik realisiert wurde, in denen die Menschen das Problem der Gentrifizierung nicht kannten. Es waren gerade auch die vielen unrenovierten Häuser in den Stadtteilen Prenzlauer Berg und Mitte, wo es fast problemlos möglich war, Wohnungen zu besetzten und selber zu reparieren. Dort war auch die Quelle für die DDR-Subkultur, die zur DDR-Opposition wurde.

Viele wollten eine DDR ohne SED-Herrschaft, nicht aber eine Wiedervereinigung. Sie brachten auch ein besonderes Erbe mit in die BRD, das Kürzel WBA, was in der DDR Wohnbezirksausschuss hieß. Manche nutzten es als verlängerte Stasi, manche als einen Rat der Bewohner, der beispielsweise in der Oderbergerstraße in Prenzlauer Berg den Abriss von Häusern in den 1980er Jahren erfolgreich verhinderte[15].

Dieser Erfolg ermutigte die Aktivisten schon in den frühen 1990er Jahren, den WBA als Initiative „Wir bleiben Alle“ wieder aufleben zu lassen und nun gegen die Gentrifizierung zu kämpfen. Kaum einer dieser DDR-Oppositionellen und WBA-Aktivisten der ersten Stunde lebt heute noch in dem Stadtteil.

Auch das gehört zu einer kritischen Betrachtung von BRD und DDR im Vergleich. Es hätte gerade einen Historiker wie Ilko Sascha Kowalzcuk, der sich differenziert mit dem Fall Holm befasst[16] hat, gut angestanden, diese Aspekte der DDR auch in die Debatte einzubringen. Wie er dann aber zur folgenden hanebüchen Einschätzung kommt, ist unklar und zeugt nur davon, dass selbst kritische Köpfe in einen staatsnahen Slang verfallen.

Manche waren gleicher; viele lebten unter unwürdigen Umständen in den einstigen Ruinenlandschaften in Prenzlauer Berg oder Friedrichshain, die die SED-Diktatur hinterlassen hatte.

Ilko Sascha Kowalzcuk

Angesichts von Gentrifizierung und Wohnungsnot könnten wir nur davon träumen, wir hätten noch so diese von Sascha Kowalzcuk so zu Unrecht geschmähten Häuser zur Verfügung, in denen sich kreative Menschen tatsächlich noch in Eigenregie eine Wohnung selber herrichten konnten. Das wäre tatsächlich ein Versprechen, das anders als die insgesamt zahme und nur die Randprobleme lösenden Wohnungsprogramme des neuen Berliner Senats tatsächlich ein Beitrag zur Lösung der Wohnungsfrage in Berlin wäre.

Peter Nowak

https://www.heise.de/tp/features/Pro-Mieter-Politiker-Holm-zurueck-in-der-Apo-3597704.html


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[1] http://www.mittelbayerische.de/politik-nachrichten/berliner-staatssekretaer-holm-gibt-auf-21771-art1474775.html
[2] https://www.heise.de/tp/features/Klassenkampf-mit-der-Stasi-3597536.html
[3] http://www.exrotaprint.de/
[4] http://www.tagesspiegel.de/berlin/oeffentliche-diskussion-mit-andrej-holm-die-koalition-waere-zerbrochen/19260886.html
[5] https://stadtvonunten.de/
[6] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1037891.das-kreuz-ist-an-der-richtigen-stelle.html
[7] http://www.holmbleibt.de/
[8] https://karlapappel.wordpress.com/
[9] http://beermannstrasse.blogspot.de/
[10] http://berlin.zwangsraeumungverhindern.org/
[11] https://www.sowi.hu-berlin.de/de/lehrbereiche/stadtsoz/mitarbeiterinnen/copy_of_a-z/holm
[12] http://www.taz.de/Rechtsanwalt-Eisenberg-zur-Stasi-Affaere/!5369093/
[13] http://www.karotoons.de/betongold.html
[14] https://www.heise.de/tp/features/Klassenkampf-mit-der-Stasi-3597536.html
[15] http://www.bmgev.de/mieterecho/313/13-hirschhof-pn.html
[16] http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/stasi/240047/einmal-stasi-immer-stasi

Silvester vor der JVA

Anarchistische Gruppen rufen zuKundgebungen vor Berliner Gefängnissen aufnter dem Motto „Silvester zum Knast“ ruft ein Bündnis von anarchistischen Gruppen und Einzelpersonen heute zu Kundgebungenvor Berliner Gefängnissen auf. Dieses Jahr soll um 17 Uhr im Carl-von-Ossietzky-Park gegenüber der JVA Moabiteine Demonstration stattfinden. Um 22.30 Uhr treffen sich AktivistInnen dann vor dem S-Bahnhof Frankfurter Allee undziehen demonstrierend zur JVA für Frauen in der Lichtenberger Alfredstraße. In der Justizvollzugsanstalt ist seit mehreren GülafGülaferit  Ünsal inhaftiert, die  wegen Unterstützung einer verbotenen türkischen kommunistischen Gruppe DHKP-C verurteilt wurde. Seit einigen Wochen sitzt eine Frau mit dem Pseudonym Thunfisch in der JVA in Untersuchungshaft. Sie wird beschuldigt, auf der olidaritätSolidaritätsdemonstration mit dem Hausprojekt Rigaer94 Anfang Juli Steine geworfen zu haben.Die Kundgebung soll bis weit nach Mitternacht andauern unddürfte sich – bis auf die politischen Parolen zwischendrin-  wenig von einem gewöhnlichen Silvesterabend unterscheiden. „Natürlich ist an diesem Tagnd zu dieser Uhrzeit nicht der Ort für hochtheoretische Reden“, meint Sandra Schäfer (Name geändert),die innerhalb der Vorbereitungsgruppe der diesjährigen Knastaktionen aktiv ist.Zum Team gehört auch Robert Schulz (Name geändert), der ineiner Antiknastgruppe mitarbeitet. Er begründwarum gerade Silvester die Aktionen vor den Gefängnissen für ihn wichtig sind. „Während draußen die Menschen feiern und das neue Jahrbegrüßen, sitzen die Inhaftierten allein, passiv und isoliertin ihren Zellen.“ Mit den Kundgebungen, die seit mehr als 20 Jahren stattfinden, wolle anden Gefangenen signalisieren, dass sie nicht vergessen sind.Im Aufruf zu den Kundgebungen wird eine generelle Kritik an den Gefängnissen geübt  So wird auf Plakaten darüber informiert, dass in der JVA Plötzensee circa ein Viertel der Gefangenen inhaftiert sind, weil sie beim Fahren ohne Ticket erwischt wurden und die verhängte Geldstrafe nicht bezahlen konnten. Damit soll dem Bild begegnet werden, dass es bei den aktuell über 4.100 Gefangenen in Berliner JVA um Schwerkriminelle handelt.
aus Taz TAZ vom 31.12. 2016
PETER NOWAK

Solo vor Gericht

Die polnische Hebamme Barbara Rosołowska könnte mit dem Zug von ihrem westpolnischen Wohnort in knapp 80 Minuten in Berlin sein und wie viele ihrer Kolleginnen dort ihren Beruf ausüben. Doch sie nimmt die deutlich schlechtere Zugverbindung und einen drei mal geringeren Lohn in Kauf und arbeitet im polnischen Gorzów. Denn die Gewerkschafterin will vor allem in ihrer Heimat für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen. Rosołowska hat vor dem Arbeitsgericht Gorzów die Klinik, in der sie seit Jahren arbeitet, verklagt. Sie fordert, dass ihr Arbeitgeber sie nicht weiter als Selbstständige beschäftigt, sondern einen regulären Arbeitsvertrag anbietet. »Meine Klage wird von den Medien in Polen und auch von meinen Kolleginnen sehr genau verfolgt«, betont die Hebamme. Dass sie bisher alleine klagt, begründet sie mit der Angst vieler Kolleginnen vor den Konsequenzen. »Sie sind auf ihren Arbeitsplatz angewiesen und wenn sie keine Aufträge mehr haben, bleibt ihnen nur das Ausweichen nach Deutschland oder in ein anderes EU-Land. Wer das nicht will, verzichtet auf die eigenen Rechte.«

Vor dem Arbeitsgericht antwortet eine Hebamme auf die Frage, warum sie eingewilligt habe, als Selbstständige zu arbeiten: »Was hätte ich denn machen sollen? Nach 23 Jahren wurde ich entlassen und das war die einzige Bedingung, unter der ich eingestellt wurde!« Um das zu verändern, hat sich Rosołowska der kämpferischen Basisgewerkschaft Arbeiterkommission (IP) angeschlossen, die schon mit der Organisierung von Beschäftigten im Standort Amazon-Standort Poznan für Schlagzeilen sorgte.

Noch ist die IP allerdings klein. Von anderen polnischen Gewerkschaften kann Rosołowska keine Solidarität erwarten. So hat ein Vertreter der Solidarnocz, die die rechte PIS-Regierung unterstützt, vor dem Arbeitsgericht gegen Rosołowska ausgesagt. Er betonte, dass seine Gewerkschaft keine Probleme mit der Soloselbstständigkeit habe, weil die vom polnischen Zivilrecht gedeckt sei.

»Leider ist die Gründung einer einheitlichen Gewerkschaft für die Beschäftigten im Gesundheitswesen in Polen bisher gescheitert«, bedauert Norbert Kollenda, der in der AG von Attac-Berlin für die Kontakte zu den sozialen Bewegungen in Polen zuständig ist. Über die Onlineplattform LabourNet hatte er zur solidarischen Begleitung des Arbeitsgerichtsprozesses von Rosołowska aufgerufen. Trotz geringer Resonanz wurde die Unterstützung vom Arbeitsgericht und den polnischen Medien wahrgenommen. Anfang Dezember hatte die Transnational Strike Plattform, die im Kontext der Blockupy-Proteste zur Unterstützung transnationaler Arbeitskämpfe gegründet wurde, Barbara Rosołowska zu einer Soli-Veranstaltung nach Berlin eingeladen.

Am 17. Januar wird das Arbeitsgericht in Gorzów über die Klage der Hebamme entscheiden. Gewinnt sie den Prozess, könnten tausende polnischer Solobeschäftigter im Carebereich feste Arbeitsverträge einfordern. Wenn sie verliert, will sie in die nächste Instanz gehen. Denn es geht ihr um mehr als das Arbeitsrecht. Weil viele sich links nennende Parteien in die Politik der Austerität und der Privatisierungen in der Vergangenheit gnadenlos durchsetzten, stoßen die eng begrenzten Sozialprogramme der nationalkonservative Regierung bei nicht wenigen Beschäftigten auf Zustimmung. Eine kämpferische Gewerkschafterin wie Barbara Rosołowska könnte mit ausreichender Präsenz in den polnischen Medien als Alternative wahrgenommen werden.

Peter Nowak

Neoliberalismus im Alltag – Lexikon der Leistungsgesellschaft

Eine der erfolgreichsten und dauerhaftesten Bewegungen der jüngeren Zeit ist der Marathonlauf. In den 1970er Jahren begann er in New York und Berlin mit knapp 100 Teilnehmer_innen.  Heute hat er sich zu einem Massenauflauf entwickelt, der dafür sorgt, dass die Innenstädte weiträumig abgesperrt werden.

Für den Publizisten Sebastian Friedrich ist das eine Konsequenz des Neoliberalismus.

„In Leistungsgesellschaften symbolisiert ein erfolgreicher Marathon besondere Leistungs- und Leidensfähigkeit“, schreibt der Redakteur der Monatszeitschrift „analyse und kritik“ (ak) in seinem in der Edition Assemblage erschienenen „Lexikon der Leistungsgesellschaft“. Dass der Marathon unter den 26 Stichworten auftaucht, mag manche zunächst überraschen.

Doch es ist gerade die Stärke des Lexikons, dass Friedrich Stichworte aufgreift, die manche nicht sofort mit Politik in Verbindung bringen.

Für zusätzliche Irritation dürfte bei manchen Leser_innen beitragen, dass  Friedrich unter den Stichworten auch manche Alltagspraxen aufgenommen hat, die unter Linken einen  guten Ruf haben und als politisch völlig unverdächtig gelten. Gleich das erste Stichwort heißt „Auslandsaufenthalt“, der in Zeiten des Neoliberalismus schon längst nichts mehr mit Aussteigen und Flucht aus dem kapitalistischen Alltag assoziiert werden kann, sondern mit der Schaffung von Karrierevorteilen. Besonders, wenn der Aufenthaltsaufenthalt mit einer sozialen Tätigkeit kombiniert wird, macht sich das gut im Lebenslauf.

Bei vielen GWR-Leser_innen dürfte das Konzept der „gewaltfreien Kommunikation“ einen guten Klang haben. Doch Friedrich verortet es, wenn es in Unternehmen angewandt wird, als oft effektive neoliberale Managementstrategie. Damit soll verhindert werden, dass sich Beschäftigte zusammenschließen und eigene Interessen wie mehr Lohn und weniger Arbeit formulieren und womöglich auch durchsetzen. Auch in linken Zusammenhängen verhindere das Konzept gewaltfreie Kommunikation häufig, dass über Argumente gestritten wird. Es gehe dann oft mehr um die Form der Diskussion als um den Inhalt. Einen klaren Standpunkt auszudrücken, gelte als verpönt, immer müsse in der Diskussion besonders betont werden, dass man nur seine eigene Meinung ausdrücke. Im Lexikon der Leistungsgesellschaft finden sich weitere Schlaglichter auf Alltagspraxen, die sich in der Linken ebenso großer Beliebtheit erfreuen wie in neoliberalen Think Thanks.  Friedrich gelingt es, das Buch in allgemein verständlicher Sprache zu halten. In manchen Texten ist die Ironie nicht zu überhören. Er verzichtet  meist auf moralische Wertungen, wenn er beschreibt, wie der Neoliberalismus unsere Alltagspraxen prägt und strukturiert.  Das ist besonders wirkungsvoll in den Bereichen, in denen wir die Verbindung zur Politik gar nicht  vermuten würden. So gelingt es Friedrich einleuchtend zu erklären, was der Hype um die Rennräder oder ein wachsendes Ernährungsbewusstsein mit dem Neoliberalismus zu tun haben. Andere Themenbereiche wie das Self-Tracking werden hingegen schon deutlicher als Teil einer Lebensplanung im Neoliberalismus betrachtet.

Auf einer theoretischen Ebene hat sich Simon Schaupp in seinen im Oktober 2016 im Verlag Graswurzelrevolution erschienenen Buch „Digitale Selbstüberwachung“ mit dem Boom um die Self-Trecking-Methoden auseinandergesetzt. Friedrich belässt es auch hier bei einemkurzen aber informativen Eintrag. Das Büchlein „Lexikon der Leistungsgesellschaft“ muss zwangläufig unvollständig sein.

Wahrscheinlich bräuchte man einen dicken Wälzer, wenn man alle Stichworte der neoliberalen Leistungsgesellschaft auflisten wollte.

Schließlich ist es ja ein Kennzeichen des Neoliberalismus, dass er nicht einfach ein Kontrollregime ist, das den Menschen gegenübersteht. Schon lange wird die Floskel vom „Neoliberalismus in den Köpfen“ verwendet. Aber vor allem ist der Neoliberalismus in unseren oft scheinbar unpolitischen Alltagspraxen eingeschrieben. Er strukturiert auch unsere Art des Lebens und Arbeitens. Daher greift es auch zu kurz, wenn Friedrich im Schlusskapitel schreibt, dass das Buch mit helfen soll, nicht vom Neoliberalismus vereinnahmt  zu werden. Wichtiger ist zunächst, dass die Leser_innen erkennen, was ihr alltägliches Handeln mit der Stabilität des Neoliberalismus zu  tun hat, den nicht wenige nach der letzten Krise voreilig schon für erledigt gesehen haben. Ein nächster Schritt bestünde darin, sich mit einer solidarischen Alltagspraxis ganz bewusst der neoliberalen Agenda zu verweigern. Das kann auch darin bestehen, dass man sich den Self-Tracking-Methoden verweigert und statt am Marathon teilzunehmen, mit Freund_innen und Kolleg_innen eigene sportliche Betätigungen organisiert. Vielleicht schreibt jemand dann auch ein Lexikon des solidarischen Verhaltens. Das ist ja im Gegensatz zur neoliberalen Lebensführung viel schwieriger umzusetzen und muss täglich in der Praxis gelernt werden.

Sebastian Friedrich, Lexikon der Leistungsgesellschaft. Wie der Neoliberalismus unseren Alltag prägt, Edition Assemblage, Münster 2016,  92 Seiten, 7,80 Euro, ISBN 978-3-96042-001-9

Rezension aus: Graswurzelrevolution Nr. 414, Dezember 2016, www.graswurzel.net

Peter Nowak

Das Ende der Megamaschine

Fabian Scheidlers Geschichtsschreibung auf Attac-Niveau

Fabian Scheidler: Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation, Promedia Verlag, Wien 2015, 272 Seiten, 19.80 Euro, ISBN 978-3-85371-384-6

„Es gibt ein Bild von Paul Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen, und seine Flügel sind aufgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. „Das Ende der Megamaschine“ weiterlesen

Ein Ort des Schreckens

NS-GESCHICHTE Ausstellung in der Charité zeigt die Arbeit im Krankenrevier des KZ Ravensbrück

Jeder Mensch denkt bei dem Wort ‚Krankenrevier‘ an lange, stille Gänge, weiße Betten, tüchtige Schwestern. Für die Häftlinge des KZ Ravensbrück war das Revier wie jeder Winkel des Lagers ein Ort der Angst und des Schreckens“, schrieb die langjährige politische Gefangene Erika Buchmann in dem Standardwerk „Die Frauen von Ravensbrück“. 120.000 Frauen aus 30 Ländern waren zur Zeit des Nationalsozialismus von der SS in das 80 Kilometer nördlich von Berlin gelegene Konzentrationslager gepfercht worden. Einer kleinen Ausstellung über die Arbeit im Krankenrevier des KZ Ravensbrück, die im Campus der Charité gezeigt wird, gelingt es, etwas von dem Schrecken zu vermitteln.,Zahlreiche Fotos, Zeichnungen und Schriftzeugnisse ehemaliger Revierarbeiterinnen und ihrer Patientinnen geben einen Eindruck von den Ängsten der Häftlinge, aber auch der Solidarität unter ihnen. „Zunächst wurden im Krankenrevier hauptsächlich die Folgen von Arbeitsunfällen und isshandlungen notdürftig behandelt. Mit der zunehmenden Überfüllung nach Kriegsbeginn breiten sich Seuchen und andere Krankheiten aus, für deren Behandlung die SS nie ausreichend Medikamente zur Verfügung stellte“, schreibt die Historikerin Christl Wickert, die die Ausstellung zusammen mit Ramona Saavedra Santis kuratierte. Auf einem Foto ist der entstellte Fuß einer Frau zu sehen, der von SS-ÄrztInnen Krankheitskeime injiziert wurden. Viele Gefangene überlebtensolche Versuche nicht oder trugen lebenslange gesundheitliche Schäden davonMehrere Tafeln widmen sich der juristischen Aufarbeitung dieser medizinischen Verbrechen nach dem Krieg. Auch medizinische Helferinnen unter den Häftlingen wurden beschuldigt, der SS geholfen zu haben. „Es waren alles Spritzen zu Heilzwecken“, rechtfertigte sich die Schweizerin Anne Spoerry 1949, als man ihr vorwarf, sie sei durch ihre Tätigkeit für den Tod von Häftlingen mitverantwortlich. Die Ausstellung ist Teil des

Projekts „Wissenschaft in Verantwortung – GeDenkOrt Charité“ und leistet damit auch ei-nen Beitrag zur  eschichtsaufarbeitung. „Auch Ärzte der Berliner Universitätsmedizin waren in der Zeit des Nationalsozialismusan Medizinverbrechen im Konzentrationslager Ravensbrück beteiligt“, heißt es seitens der Charité. Die Schau ist als Wanderausstellung konzipiert und kann verliehen werden.

Peter Nowak

Taz vom 3.8.2016
■■Die Ausstellung „… unmöglich, diesen Schrecken aufzuhalten“ ist bis 31. August im Charité-CrossOver, Campus Charité Mitte, Charitéplatz 1 zu sehen. Mo.–Fr. 7–20 Uhr, Eintritt frei


Rassismus oder Wissenschaft?


Die wissenschaftliche und publizistische Tätigkeit des in Berlin lehrenden Migrationsforschers Ruud Koopmans sorgt für Diskussionen

Einwanderungs- und Integrationspolitik, soziale Bewegungen und Rechtsradikalismus gehören zu den Forschungsthemen von Ruud Koopmans. Seit 2013 hat er die Professur für Soziologie und Migrationsforschung an der Berliner Humboldtuniversität (HU) inne. Zudem ist Koopmans Direktor der Abteilung „Migration Integration und Transnationalisierung“[1] am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Dass ein Mann mit einer solchen wissenschaftlichen Reputation gefragter Interviewpartner zu den Themen Einwanderung und Islam ist, dürfte ebenso wenig überraschen, wie die Einspeisung seiner Thesen in den politischen Meinungsstreit.

Zu islamkritisch für Deutschland?

So titelte die FAZ am 29.April 2016 mit Verweis auf Forschungsergebnisse des Wissenschaftlers: „Koopmans hält Multikulti für gescheitert“[2]. In dem FAZ-Interview behauptet der Migrationsforscher, dass die Diskriminierung von Migranten in Deutschland ein viel geringes Problem sei, als bislang angenommen. Dabei geriert er sich auch als Überbringer unbequemer Wahrheiten, die angeblich in Deutschland unterdrückt werden.

„Es ist schon so, dass die meisten Politiker und Journalisten nur die Bestätigung ihrer eigenen Meinung hören wollen. Und da ist vielleicht die Position, die ich vertrete, in Deutschland zurzeit nicht so populär. Insgesamt ziehen meine Forschungsergebnisse schon Aufmerksamkeit auf sich. Anfang 2015 habe ich eine Studie über islamischen Fundamentalismus und Feindbilder von Muslimen in Europa[3] veröffentlicht. Diese Ergebnisse wurden in vielen Ländern auf der ganzen Welt von Pakistan über Israel bis in die Vereinigten Staaten heftig diskutiert, auch in Europa – aber eben nicht in Deutschland.“

Ein solcher Befund mutet in einer Zeit merkwürdig an, wo islamkritische Positionen doch wahrlich nicht im politischen Untergrund Gehör finden. In der Neuen Züricher Zeitung[4] hinterfragt Koopmans auch die Frage, ob und wann Migranten diskriminiert werden. Auch in der Schweizer Zeitung geriert sich Koopmans als verfolgte Minderheit: „Es gibt Forscher, die seine Mails nicht mehr beantworten und ihrem akademischen Nachwuchs von einem Kontakt mit Koopmans abraten, weil sie ihn für einen verkappten Rassisten halten“, heißt es dort.

Bildung ohne Feindbild

Ob sich die Studierenden, die sich in Berlin in den letzten Wochen kritisch mit den wissenschaftlichen und publizistischen Tätigkeiten Koopmans auseinandersetzten, als akademischer Nachwuchs verstehen, muss offen bleiben. Dass sie aber ihre kritische Handlung eigenständig bilden könnten und nicht von Professoren dazu animiert werden, könnte sich auch bei der NZZ rumgesprochen haben.

Die Kommilitonen der sozialwissenschaftlichen Fachschaft an der Humboldtuniversität hat die Debatte auf ihrer Facebookseite[5] dokumentiert. Die Kritik an Koopmans umfasst neben seiner publizistischen auch seine wissenschaftliche Tätigkeit: „Wir möchten hiermit klar und deutlich zum Ausdruck bringen, dass Ruud Koopmans wissenschaftlich höchst fragwürdige Ergebnisse publiziert. Gleichzeitig nutzt er ebenjene Ergebnisse für normativ zweifelhafte Handlungsempfehlungen und um Stimmung gegen Personen muslimischen Glaubens in Deutschland zu machen“, heißt es in einer Stellungnahme. Während einige wissenschaftliche Kollegen von Koopmans von Denunziation sprachen, wurden die Studierenden in ihrer Kritik vom akademischen Mittelbau unterstützt.

Dabei belassen es die Kritiker nicht bei Erklärungen. Ein Banner mit der Aufschrift „Für Forschung ohne Feindbild“ soll nach einem Beschluss des Institutsrats demnächst zwei Wochen an einer geeigneten Stelle angebracht werden. Da nun die vorlesungsfreie Zeit angebrochen ist, dürfte sich der Streit am Sozialwissenschaftlichen Institut[6] zunächst beruhigen. Dabei wird sich zeigen, ob es im Herbst gelingt, am Sowi-Institut eine Diskussion zu führen, die sich einigen grundsätzlicheren Fragen widmet, die die Kontroverse aufwirft.

Studierende üben Wissenschaftskritik

Dabei geht es einmal um den Formwandel studentischer Proteste, der durchaus positiv ist. Lange Jahre haben Studierende in Zyklen gegen das Bachelorstudium gekämpft und verloren, die Studiengebühren hingegen wurden durch studentische Kämpfe abgewehrt. Doch in den letzten Jahren ist wenig von solchen studentischen Kämpfen zu hören. Dafür sind die Studierenden dazu übergegangen, die wissenschaftlichen Inhalte kritisch unter die Lupe zu nehmen und geraten damit mit Professoren in Konflikt, die auf einmal ihre wissenschaftlichen und politischen Thesen in der Öffentlichkeit verteidigen müssen.

Im letzten Jahr sorgte die kritische Auseinandersetzung[7] mit Forschung, Lehre und politischer Zuarbeit des Politologen Herfried Münkler[8] durch Studierende für Aufmerksamkeit. Auch damals wurden die Kritiker der Denunziation bezichtigt.

In Rostock geriet eine solch wissenschaftskritische studentische Tätigkeit sogar unter Extremismusverdacht[9]. Dabei müsste das neue Interesse studentischer Aktivisten an kritischer Auseinandersetzung mit Forschung und Lehre doch eigentlich Unterstützung von Akademikern bekommen, die tatsächlich noch an einer kritischen Wissenschaft interessiert sind.

Dass Studierende nicht mehr nur für größere Hörsäle und eine bessere Bibliotheksausstattung streiten, sondern die Wissenschaft selber in den Fokus der Auseinandersetzung nehmen, ist keine Radikalisierung. Das kann damit verglichen werden, dass Opel-Arbeiter nicht mehr nur über Lohn und Arbeitszeit verhandeln wollen, sondern sich über die Produkte, die sie herstellen, Gedanken machen und vielleicht sogar Rüstungs- oder Automobilkonversion fordern.

Wo endet die kritische Wissenschaft und wo beginnt der Rassismus?

Natürlich müssen die studentischen Kritiker der offiziellen Wissenschaft sich auch selber der Kritik stellen, die sie gegenüber den Professoren formulieren. Da muss es auch um die Frage gehen, ob es sich bei den inkriminierten Aussagen von Koopmans um Rassismus oder um wissenschaftliche Islamkritik handelt und ob die studentischen Kritiker sich schwer mit einer Kritik am Islam tun.

Der israel-arabische Publizist und Psychologe Ahmad Mansour[10] hat in einen Taz-Beitrag[11] Linken und Linksliberalen genau das vorgeworfen und dafür stichhaltige Argumente geliefert. In seinem engagierten Beitrag liefert Mansour auch das wissenschaftliche Handwerkszeug, das eine dringend notwendige wissenschaftliche Kritik am Islam vom Rassismus unterscheidet:

Humanistische Gesellschaftskritik und Aufklärung haben eine große Tradition im deutschsprachigen Raum. Aufklärung hat immer – absolut immer – mit der Kritik an Herrschaft zu tun, und Herrschaft hat fast immer mit Herren zu tun, also mit Männern, mit dem Patriarchat. Die großen monotheistischen Weltreligionen huldigen einem patriarchalen, strafenden Gott, einem der stärksten Machtfaktoren für ein hierarchisches, antidemokratisches Weltbild. Marx nannte Religion das „Opium fürs Volk“. Hegel, Kant und Weber waren Religionskritiker. Freud analysierte als Ursprung für die Erfindung eines strengen Gottvaters unter anderem ein unmündiges Bedürfnis danach, Verantwortung an Autoritäten abzugeben, sich kindlich zu unterwerfen. Die Französische Revolution übte Kritik an Religion als Instrument der Herrschaft und Unterdrückung. Auch in der Studentenrevolte von 1968 ging es um die Kritik am Klerus, an der Stellung der Frau in der Kirche, an religiösen Denkverboten, an den Vorstellungen von Autorität oder an der grausamen Praxis in staatlichen wie kirchlichen Kinder- und Jugendheimen. In jüngster Zeit empört sich die demokratische Öffentlichkeit über den massenhaften Missbrauch von Kindern in katholischen und anderen Institutionen, der ab 2010 ans Licht gekommen ist. Kritik von Gläubigen wie Nichtgläubigen an Religion als Herrschaftsinstrument ist ein Klassiker der Linken! Diese Kritik gehört zentral zu ihrem Fundament. Umso verrückter erscheint es, wenn die muslimischen Kritiker ihrer eigenen Religion von Grünen, Linken und sogar Sozialdemokraten mit Argwohn betrachtet werden. Warum ist unsere Kritik nicht ebenso berechtigt?Ahmad Mansour

Ahmad Mansour

Es wäre sicher eine lohnende Aufgabe einer emanzipatorischen Wissenschaftskritik, die Arbeiten von Koopmans und seiner Kritiker unter dieser Prämisse zu diskutieren.

Anhang

http://www.heise.de/tp/artikel/48/48854/1.html

Links

[1]

https://www.wzb.eu/de/personen/ruud-koopmans

[2]

http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/migrationsforscher-koopmans-haelt-multikulti-fuer-fatal-14202950.html

[3]

https://www.wzb.eu/sites/default/files/u252/s21-25_koopmans.pdf

[4]

http://www.nzz.ch/feuilleton/gespraech-mit-dem-soziologen-ruud-koopmans-assimilation-funktioniert-ld.13975

[5]

https://www.facebook.com/sowi.fachschaft/posts/1017206941690385:0

[6]

https://www.sowi.hu-berlin.de/de/institut/ueber

[7]

http://hu.blogsport.de/muenkler-watch/

[8]

https://www.sowi.hu-berlin.de/de/lehrbereiche/theorie-der-politik/mitarbeiter-innen/2507

[9]

http://kritischeunihro.blogsport.de/

[10]

http://ahmad-mansour.com/de/

[11]

http://www.taz.de/!5317219/

Streik im Labor

An einem Labor des Instituts für Soziologie der Universität Jena streiken studentische Beschäftigte. Sie fordern Arbeitsverträge statt der bisher üblichen Werkverträge.

Das Comeback der Gewerkschaften – so heißt ein zentrales Thema der Sozio­logen Klaus Dörre und Stefan Schmalz. Die beiden lehren am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seit einigen Wochen wird dort nicht mehr nur theoretisch über gewerkschaftliche Erneuerung diskutiert. Mitte Juni begannen studentische Beschäftigte des von dem Institut betriebenen Labors für Computer-Assisted Telephone Interviewing, kurz CATI-Labor, einen Arbeitskampf. In dem Labor werden telefonische Umfragen und Interviews durchgeführt – für universitäre Zwecke, aber auch für Firmen und politische Akteure. »Viele der am Institut durchgeführten Projekte greifen hierauf zurück, aber auch externen Nutzern wird diese Dienstleistung zur Verfügung gestellt«, heißt es auf der Homepage des CATI-Labors.

Katharina Leipold* hat bisher nur an universitätsinternen sozialwissenschaftlichen Umfragen mitgearbeitet. Vergütet wurde das mit einem Stundenlohn von 8,50 Euro. Urlaubsgeld und andere Zusatzleistungen sind für sie nicht vorgesehen. Denn alle Beschäf­tigten sind beim CATI-Labor lediglich über Werkverträge angestellt. »Wir fordern Arbeitsverträge anstatt der Werkverträge und damit die Umsetzung geltender Arbeitsgesetze und der Bildschirmarbeitsverordnung«, sagt Leipold. »Außerdem verlangen wir eine am ­Tarifvertrag orientierte Vergütung von 13 Euro und die zuverlässige, zeitnahe Überweisung der Löhne«, so die Studentin. In der Vergangenheit mussten die Beschäftigten manchmal mehrere Wochen auf die Überweisung der Löhne warten. Unterstützt wird der Arbeitskampf von der Basisgewerkschaft »Freie Arbeiterinnen- und Arbeiterunion« (FAU), an die sich die Beschäftigten gewandt hatten. »Werkverträge zwingen die Beschäftigten in die Scheinselbständigkeit und unterwandern den Tarif­vertrag der Länder sowie grundlegende arbeitsrechtliche Mindeststandards«, begründet ein Mitglied der FAU die Ablehnung der bisherigen Arbeitsbe­dingungen im CATI-Labor. Eigentlich müsste er mit dieser Argumentation in einem Institut mit gewerkschaftsnahen Wissenschaftlern auf offene Ohren stoßen.

Doch auf einer institutsinternen Sitzung habe sich Dörre sehr ablehnend zu dem Arbeitskampf geäußert, sagte ein FAU-Mitglied. Anfragen der Jungle World an den Soziologieprofessor blieben unbeantwortet. »Das Institut für Soziologie der Universität Jena ist deutschlandweit bekannt für seine enorme akademische Produktivität und gewerkschaftsnahe Forschungsausrichtung. Umso mehr erstaunt es, dass das Institut im CATI-Labor die gewerkschaftlich erkämpften Errungenschaften unterläuft«, heißt es in einer Pressemitteilung der FAU.

Der Landesausschuss der Studentinnen und Studenten (LASS) in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Thüringen begrüßte den Streik: »Endlich haben sich nach dem ›HiWi-Streik‹ in der Soziologie im Jahr 2013 wieder Strukturen gebildet und vernetzt, die die Ausnutzung von Studierenden als billige Arbeitskräfte thematisieren und konkrete und berechtigte Forderungen vorbringen, um ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern«, sagte die LASS-Sprecherin Cindy Salzwedel mit Verweis auf einen Arbeitskampf der studentischen Hilfskräfte vor drei Jahren. Auch die Gefangenengewerkschaft der JVA Untermaßfeld und die sich in Gründung befindliche Hochschulgewerkschaft »Unterbau« (Jungle World 17/2016) solidarisierten sich mit den Jenenser Studierenden und ihren Forderungen.

Mittlerweile scheint auch das universitäre Rechtsamt Zweifel zu hegen, ob die Praxis der Werkverträge juristisch haltbar ist. So berichteten Teilnehmer einer Institutssitzung, die nicht ­namentlich genannt werden wollen, dass dort ein Gutachten der Rechts­abteilung der Universität verlesen worden sei, in dem die Rechtsauffassung der FAU bestätigt wird, wonach die Arbeitsbedingungen im CATI-Labor im Wesentlichen denen eines Arbeitsverhältnisses und nicht der Selbständigkeit entsprechen, die für Werkverträge Voraussetzung ist.

* Name von der Redaktion geändert.

http://jungle-world.com/artikel/2016/27/54407.html

Peter Nowak

War der Täter von Orlando ein Islamist…


…oder hatte er Probleme mit seiner Sexualität? Über die problematische Verarbeitung eines Massakers

Der Historiker Sven Reichardt[1] stützte sein im Suhrkamp Verlag erschienenes Buch Authentizität und Gemeinschaft[2], eine Art Standardwerk „über linksalternatives Leben in den siebziger und achtziger Jahren“, zum großen Teil auf Kontaktanzeigen und Leserbriefe in den Alternativmedien. Tatsächlich spricht aus ihnen unverstellt ein Zeitgeist, der in den politischen Schriften oft nur kodierter zu finden ist.

Noch heute ist die Lektüre von Taz-Leserbriefen wichtig, um sich zu informieren, wie die ehemaligen Linksalternativen und die nachgeborenen Postalternativen ticken. Was sagt es über sie aus, wenn man als Nachlese zum islamistischen Anschlag in Orlando folgende Replik auf die Überschrift „USA: Terror im Schwulenclub“ findet?

Mit eurer Überschrift bewegt ihr euch in einer historischen Tradition, nämlich bestimmte Gruppen unsichtbar zu machen. Das Pulse ist kein „Schwulenclub“, es bezeichnet sich selbst als Ort der LSBTIQ-Community. Und es wurden nicht nur Cis-Männer getötet, wie euer Titel es vermuten lassen könnte.

Eine andere Zuschrift bringt gleich einige Vorschläge, wie eine Würdigung aller Opfer von Orlando hätte lauten müssen:

Es gibt einige Begriffsalternativen, um alle Opfer zu würdigen und um einiges für die Sichtbarkeit von LGBTI zu tun: homosexuell/quer/LBGTI….

Trägt es wirklich zur besseren Würdigung der Opfer bei, wenn sie mit einem Kürzel und einem davor gestauten Gedränge von Adjektiven bezeichnet werden?

Waren die Opfer nicht Menschen?

Was sagt es über eine Bewegung aus, die sich nur gewürdigt fühlt, wenn immer mehr Binde- und Schrägstriche aneinandergereiht werden? Ist das nicht die Widerspiegelung einer neoliberalen Gesellschaft, wenn Maggie Thatchers Verdikt, es gebe keine Gesellschaft, in der Alternativszene bis in die Sprachpolitik durchgespielt wird? So ist es kein Zufall, dass diese Debatte in Großbritannien mit großer Vehemenz geführt[3] wird (vgl. auch Please Don’t Stop the Music[4]).

Wenn jede Bezeichnung größer Einheiten als Unsichtbarmachen von Teilen zurückgewiesen wird, bleiben am Ende nur die isolierten Monaden übrig, die sich bloß als Konkurrenz begreifen. Wo die Utopie einer Gesellschaft abhanden gekommen ist, bleiben nur immer mehr Minderheiten, die sich über bestimmte Konstruktionen wie Geschlecht, Nation etc. definieren. Statt Gesellschaftsveränderung dominiert dann der Konkurrenz- und Statuskampf der Minderheiten.

Dabei könnte man doch die Opfer von Orlando dadurch sichtbar machen, dass man ihre Namen nennt. Wo das nicht möglich ist, sollte man nicht die kleinste Minderheit, sondern die größte Einheit wählen. Die Opfer waren Menschen, die zum selben Zeitpunkt gemeinsam in einem Klub waren. Warum das etwas über ihre sexuelle Orientierung aussagen soll, ist zunächst nicht ersichtlich.

Ist der Islamismus oder das US-Waffenrecht das Problem?

Für den Täter war klar, dass er mit dem Anschlag möglichst viele Menschen treffen wollte, denen er wegen ihrer sexuellen Orientierung das Lebensrecht absprach. Dabei dürfte es für ihn nebensächlich gewesen sein, welche sexuelle Identität die einzelnen Individuen genau hatten. Es reichte schon, dass sie Besucher dieses Clubs waren, um ermordet zu werden.

Nun ist in den USA gleich nach den Anschlag eine heftige Debatte darüber entbrannt, ob es sich um einen islamistischen Anschlag handelte. Das stellte vor allem der designierte Präsidentschaftskandidat der Republikaner, Trump, in den Mittelpunkt seiner Kampagne, konnte er doch die vermeintlich zu islamfreundliche Obama-Administration damit angreifen und sich selber als Retter des christlichen Amerika gerieren.

Trump-Gegner verweisen hingegen darauf, dass nicht der Islamismus, sondern das laxe Waffenrecht in den USA das zentrale Problem sei. Tatsächlich ermöglichte es den Täter, mühelos die tödlichen Waffen zu besorgen, was die Zahl seiner Opfer erhöhte. Doch es handelt sich bei der Gegenüberstellung, ob der Islamismus oder die laxen Waffengesetze für den tödlichen Anschlag verantwortlich waren, um eine Scheinalternative.

Der Islamismus war die ideologische Verbrämung und die laxen Waffengesetze machten es dem Täter leichter möglich, seien Pläne umzusetzen. Es gibt eben Länder, wo es nicht so einfach möglich ist, an eine Waffe zu kommen Allerdings finden entschlossene Täter immer einen Weg.

Warum wird nicht von einem islamistischen Anschlag gesprochen?

Es ist aber die islamistische Ideologie, die hinter dieser Entschlossenheit steckt und es ist schon seltsam zu beobachten, welchen Eiertanz manche Linken und Liberalen aufführen, um diesen einfachen Tatbestand nicht aussprechen zu müssen. Da wird stattdessen gefragt, ob der Täter vielleicht selber Probleme mit seiner sexuellen Orientierung hatte. Was dann zur grotesken Kennzeichnung des Täters als „schwuler Islamist“[5] führte.

Diese ganzen Spekulationen sind müßig. Selbst, wenn der Angreifer Probleme mit seiner Sexualität gehabt haben soll, so erklärt das nicht seine Tat. Zum Massenmörder wird ein Mensch erst dann, wenn er sich eine bestimmte Ideologie zu eigen macht. Hier war es der Islamismus, der nicht als religiöse, sondern als weltweite faschistische Strömung betrachten werden soll. Dann ist es auch gar nicht verwunderlich, dass nicht wenige der islamistischen Attentäter nicht durch eine ausgeprägte Religiosität aufgefallen sind und sich nicht an die Regel des Koran gehalten hätten

Das hindert aber niemanden daran, aktiv in der politischen Bewegung des Islamismus mitzutun. Ein paar rudimentäre Koranzitate mögen dabei von Vorteil sein, nicht aber eine besonders islamische Lebensweise. Der Aktion 3. Welt Saar[6] ist zuzustimmen, wenn sie den Terroranschlag von Orlando „als Ausdruck islamistischen Hasses auf Homosexuelle und auf jede genussbetonte Lebensart“ klassifiziert[7] und vom größten islamistischen Terroranschlag in den USA seit dem 11.09.2001 spricht.

Dieses Verbrechen richtet sich aber nicht nur gegen Homosexuelle. Islamisten wenden sich mit ihrem ‚Heiligen Krieg‘ gegen jede Form eines selbstbestimmten, befreiten, genussbetonten Lebens.Alex Feuerherdt

Alex Feuerherdt

Dafür stehe bei ihnen „der Westen“, vor allem repräsentiert durch die USA und Israel.

Auch die Homophobie anderer religiöser Hardliner ist tödlich

Wenn dann aber Alex Feuerherdt vom Islamkompetenzzentrum der Aktion 3. Welt Saar den Journalisten Thorsten Denkler von der Süddeutschen Zeitung dafür kritisiert, dass er geschrieben hat, dass auch ein evangelikaler Christ die Tat hätte ausführen können, ist das im globalen Maßstab nicht zu rechtfertigen. Denn es hat sich in der Vergangenheit öfter gezeigt, dass sonst verfeindete religiöse Hardliner im Kampf gegen sexuelle Minderheiten zusammenrücken.

Da waren sich in Jerusalem jüdische, christliche-orthodoxe und islamische Kleriker einig gegen eine Schwulenparade in Jerusalem. Der Mann, der im letzten Jahr auf einer Gayparade in Jerusalem mehrere Menschen niedergestochen hat[8], wurde in der Presse als orthodoxer Jude bezeichnet. Aber auch bei ihm war es die Nähe zu rechten Organisationen, die in Israel verboten sind, die den ideologischen Rahmen für das Verbrechen lieferten.

Diese Organisationen berufen sich vage auf ein orthodoxes Judentum, ein wirklicher religiöser Bezug ist aber auch bei ihnen oft nicht vorhanden. Wenn ein vager religiöser Bezug mit einer faschistoiden Ideologie zusammenkommt, sind Verbrechen wie in Jerusalem und Orlando immer möglich. Wie tödlich dann die Attacken sind, liegt dann akzidentiell auch daran, wie schwer oder einfach man an tödliche Waffen kommt. Da ist dann tatsächlich die Kritik an den laxen Waffengesetzen in den USA mehr als berechtigt.

Sie machten es dem Islamisten in Orlando möglich, zu besonders tödlichen Waffen zu kommen, die ungleich gefährlicher waren als das Messer des israelischen Täters. Auch die verschiedenen christlichen Gruppierungen sind im Weltmaßstab an der tödlichen Homophobie beteiligt. Vor allem in vielen afrikanischen Ländern wie Uganda sind verschiedene christliche Fundamentalisten mit guten Kontakten zu ähnlichen Gruppen in den USA[9] verantwortlich für tödliche Angriffe auf Menschen, die nicht ins patriarchale Weltbild passen.

In Nigeria berufen sich die Schwulenhasser auf islamistische und christliche Fundamentalisten[10]. So richtig es also ist, die besondere Gefahr des Islamfaschismus aktuell zu betonen, so richtig ist es auch, darauf hinzuweisen, dass religiöses Sendungsbewusstsein, wenn es mit faschistischer Ideologie und den nötigen technischen Know How verbunden wird, potentiell tödlich ist.

http://www.heise.de/tp/artikel/48/48602/1.html

Peter Nowak 22.06.2016

Anhang

Links

[1]

https://www.geschichte.uni-konstanz.de/professuren/prof-dr-sven-reichardt/

[2]

http://www.suhrkamp.de/buecher/authentizitaet_und_gemeinschaft-sven_reichardt_29675.html

[3]

http://www.taz.de/!5312345/

[4]

https://www.thenation.com/article/please-dont-stop-the-music/

[5]

http://bundesdeutsche-zeitung.de/headlines/politics-headlines/orlando-schwuler-islamist-laeuft-amok-962497

[6]

http://www.a3wsaar.de/islamismus

[7]

http://hpd.de/artikel/politik-und-islamvertreter-verharmlosen-islamismus-13212

[8]

http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/naher-osten/ultraorthodoxer-jude-sticht-menschen-bei-schwulenparade-nieder-13728145.html

[9]

http://www.zeit.de/politik/ausland/2009-12/uganda-homosexualitaet-usa

[10]

http://www.taz.de/!5050650/

Unter_bau

Eine neue Gewerkschaft für eine neue Hochschule
Interview mit Pressesprechern

Unter_bau nennt sich eine neue Basisgewerkschaft im Hochschulbereich, die sich im April an der Goethe-Universität Frankfurt am Main gegründet hat. Peter Nowak sprach mit den Pressesprechern Anna Yeliz Schentke und Manuel Müller.

Was sind eure konkreten Forderungen?
Unser Ziel ist eine soziale Hochschule in basisdemokratischer Selbstverwaltung: Ihre Angehörigen sollen gleichberechtigt entscheiden und ihr Profil nicht von wirtschaftlichen Interessen bestimmt sein. Ein solches Ziel erfordert eine Gewerkschaftspolitik, die Tageskampf und grundlegende Veränderung zusammendenkt.

Wie wollt ihr das in der wirtschaftsliberal ausgerichteten Hochschullandschaft umsetzen?
Grundsätzlich geht es darum, Einfluss auf Alltag und Struktur der Hochschule zu nehmen, sowie kontinuierlich Erfahrungen aus Arbeitskämpfen weiterzugeben. Dadurch soll eine Gegenmacht entstehen, mit der sich die Herrschaftsstrukturen an der Hochschule aufbrechen lassen, sodass alternative Strukturen Raum greifen können. Arbeitsbedingungen werden prekarisiert und Stellen abgebaut, Arbeiten outgesourct und Belegschaften gespalten, der Zwang im Studium erhöht und kritische Inhalte verdrängt, die soziale Selektion verschärft und Bildung der Verwaltung von Humankapital unterworfen.

Aus diesen Zuständen ergeben sich für uns unter anderem folgende konkrete Forderungen: Wiedereingliederung von outgesourcten Arbeitsplätzen, Tarifverträge für alle Beschäftigtengruppen, mehr Raum für kritische Studieninhalte, die nicht nach rein ökonomischen Interessen ausgerichtet sind. Dazu gehören auch Forderungen nach mehr unbefristeten Stellen, insbesondere im Mittelbau, und nach einer ausreichenden Finanzierung aller Fächer. Dies lässt sich nur verwirklichen, indem wir die Probleme an der Wurzel packen und die Hochschule zu einer grundlegenden Veränderung ihrer Struktur drängen. Dies soll Antrieb und Anfangspunkt für eine gesamtgesellschaftliche Transformation sein.

Kann sich auch eine Putzfrau oder Mensabeschäftigte bei euch organisieren?
Der Unter_bau ist für alle Statusgruppen, die an der Universität beschäftigt sind, sowie für Studierende offen. Die Universität unterscheidet sich von ihrer Struktur her stark von anderen Arbeitgebern, sie beschäftigt die Arbeitnehmer auf sehr unterschiedliche Weise. Viele Bereiche, wie zum Beispiel der Reinigungssektor oder das Sicherheitspersonal, werden zu weiten Teilen von externen Dienstleistern abgedeckt. Häufig sind die Angestellten höchst prekären Beschäftigungsverhältnissen ausgesetzt.

Studierende, Hilfskräfte, wissenschaftliches Personal und administrativ-technisches Personal arbeiten alle gemeinsam an der Universität. Es ist für alle Gruppen von Beschäftigten offensichtlich, dass nicht nur am eigenen Arbeitsplatz zunehmend Ausbeutungsverhältnisse gefördert werden. Daraus ergeben sich gemeinsame Themenfelder für den Arbeitskampf, die bisher nicht ausgeschöpft wurden. Alle Statusgruppen leiden schlussendlich unter der Ökonomisierung der Hochschule, die sowohl in der Mensa, als auch in Wissenschaft und Lehre ihr Hauptaugenmerk auf Effizienz richtet und dadurch den Bedürfnissen der Menschen an der Universität widerspricht. Eine Trennung von akademischem und nichtakademischem Personal und die damit einhergehende Hierarchisierung lehnt der Unter_bau ab.

Warum organisiert ihr euch nicht bei der GEW oder der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di?
Der Unter_bau unterscheidet sich von seiner Struktur her stark von anderen Gewerkschaften, da ihm ein föderales Konzept zugrunde liegt. Entscheidungen werden basisdemokratisch getroffen, mögliche Funktionärsstrukturen werden durch dieses Konzept ausgeschlossen. Es ist wichtig, dass es sowohl GEW, als auch Ver.di gibt, um Arbeitskämpfe zu führen, allerdings ist das Selbstverständnis des Unter_bau insofern weitreichender, als dass es politisch ist. Es geht über einfache Lohnpolitik hinaus, zu seinem Programm gehört die Einmischung in die Gestaltung der sozialen Umwelt. Ziel ist eine Transformation der Universität, die nur durch ein Infragestellen der bestehenden Machtstrukturen umsetzbar wird. Der Unter_bau will den Angehörigen der Universität die Möglichkeit bieten, sich durch statusgruppenübergreifende Solidarität aktiv und orientiert an den eigenen Interessen und Forderungen einzusetzen. Sie müssen sich nicht schon bestehenden gewerkschaftlichen Strukturen unterordnen, sondern gelangen in die Position, selber eine neue Form von Arbeitskampf führen zu können.

Droht durch eure Initiative nicht eine Zersplitterung gewerkschaftlicher Aktivitäten?
Die Gründung des Unter_bau sollte unter keinen Umständen als Spaltungsmoment für die Gewerkschaftslandschaft betrachtet werden: Wir machen lediglich Gebrauch von dem Recht auf Gewerkschaftspluralismus und Koalitionsfreiheit, wie es allen Arbeitnehmern gesetzlich zusteht. Von der Analyse und der Programmatik des Unter_bau ausgehend, kann die Organisierung am Arbeitsplatz durch verschiedene Gewerkschaften, die kollegial und solidarisch miteinander arbeiten, nur begünstigt werden. Dies sollte unserer Meinung nach auch das Verständnis von gewerkschaftlicher Arbeit anderer Genossinnen und Genossen sein, um gemeinsam grundlegende Veränderungen am Arbeitsplatz zu ermöglichen. Die Gründung des Unter_bau sollte daraus folgend keinesfalls als Zersplitterung aufgefasst werden. Sie aktiviert Beschäftigte, die sich durch die vorhandenen Organisierungsangebote nicht angesprochen fühlen.

http://unterbau.org

http://www.sozonline.de/2016/06/unter_bau/

Interview: Peter Nowak

Torte auf Sahra Wagenknecht …

…hier übt die junge SPD

Eigentlich kann sich die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei Sahra Wagenknecht[1] bei der antifaschistischen Initiative „Torten für Menschenfeinde“ bedanken. Schließlich war Wagenknecht auch parteiintern heftig kritisiert worden, weil sie bei straffälligen Flüchtlingen das Gastrecht verwirkt sah und Obergrenzen für Geflüchtete vorschlug. Damit befindet sie sich im Widerspruch zum gegenwärtigen Parteiprogramm der Linken.

In einem Antrag[2] zum Parteitag gegen das „Obergrenzen-Gerede“ wurde Wagenknecht sogar indirekt der Rücktritt nahegelegt.

Nach dem Tortenangriff auf Wagenknecht haben solche Initiativen keine Chancen mehr. Selbst parteiinterne Kritiker wie die Co-Vorsitzende Katja Kipping stellen sich nun demonstrativ hinter Wagenknecht. Dabei wurde der Tortenangriff – der auch von Linkspartei durchaus als lustig empfunden wird, wenn der politische Gegner betroffen ist – zur Gewalt hochstilisiert und die Phrasenmaschine lief auf Hochtouren. „Das war nicht nur ein Angriff auf Sahra, das war ein Angriff auf uns alle“, erklärte Kipping und erntete großen Applaus. Wagenknechts Kompagnon im Fraktionsvorstand verstieg sich zur Aussage, dass der Tortenangriff hinterhältig und asozial gewesen sei.

Nun hat die Initiative „Torten für Menschenfeinde“ in einem Schreiben[3], in dem sie die Aktion begründete, verdeutlich, dass sie keine Freunde der Linkspartei sind. Dort wird Wagenknecht als Gallionsfigur für all das bezeichnet, „was die Linkspartei für uns unerträglich macht“.

Dass sie Gespräche mit Pegidagagängern nicht ausschließt, wird ihr dort ebenso angekreidet, wie die Worte ihres Ehemanns Oskar Lafontaine aus den19 90er Jahren, als der von Fremdarbeitern in Deutschland schwadronierte.

Nun muss sich eine emanzipatorische Initiative schon fragen, ob sich eine Ehefrau für die Worte und Taten ihres Ehemannes mit verantworten muss. Auch eine Passage in Wagenknechts neustem Buch[4] wird in dem Schreiben angeführt, in dem sie Unterschiede und Kultur und Sprache als Kriterien dafür einführt, dass eine Einheit nicht funktioniert.

Hier werden tatsächlich Ideologeme verbreitet, die nicht weit von völkischen Vorstellungen sind. Schließlich wird hier negiert, dass es schon immer unterschiedliche Kulturen und Sprachen gab und erst der Nationalismus durch Ein- und Ausgrenzung für die Homogenität sorgte, die auch Wagenknecht anscheinend als erstrebenswert bezeichnet.

Wagenknecht gleich Beatrice von Storch?

Ein Schwachpunkt in der Erklärung aber ist der durchgehende Versuch, Wagenknecht wegen solcher Positionen in die Nähe der AfD und deren Spitzenpolitikern Beatrice von Storch zu rücken. Gleich am Beginn heißt es, dass die beiden nicht nur eine, dass jede von linken Kritikern eine Torte ins Gesicht bekam. Vielmehr wird beiden Politikern vorgeworfen, den „Volkszorn in politische Forderungen zu übersetzen“.

Dabei wird ausgeblendet, dass man Wagenknecht viel eher vorwerfen könnte, dass ihre Positionen nahe an SPD, Grünen und auch der Union liegen, die schließlich seit Jahrzehnten permanent das Asylrecht und die Situation für Geflüchtete verschärft haben. Die Linkspartei hat mit Einschluss von Wagenknecht gegen diese Verschärfungen gestimmt. Es ist aber eine auffallende Leerstelle in dem Text, dass jede Kritik an der Flüchtlingspolitik dieser Parteien fehlt und daher so getan wird, als gebe es nur Linkspartei und AfD.

Die Unfähigkeit einer außerparlamentarischen Linken, Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft zu formulieren, ohne die AfD immer gleich zum absolut Bösen aufzubauen, ist kein Zufall. Dahinter steht die Vorstellung, dass Antifaschismus der einzige Bezugspunkt linker Politik ist. Ein solches Politikverständnis landet letztlich doch wieder bei aller linken Rhetorik bei SPD und Grünen als kleineres Übel.

Wenn der SPD-Vize Ralf Stegner Wagenknecht erst kürzlich in einen Interview[5] bescheinigte, in „manchen Positionen näher bei der AfD-Vorsitzenden Petry als bei der SPD“ zu stehen, muss man sich schon fragen, ob die Menschenfreunde nicht in einigen Jahren ihren Platz in der Sozialdemokratie oder bei den Grünen gefunden haben, die sie heute schon nicht kritisieren können oder wollen.

http://www.heise.de/tp/artikel/48/48368/1.html

Peter Nowak

Anhang

Links

[1]

http://www.sahra-wagenknecht.de/

[2]

https://emanzipatorischelinke.files.wordpress.com/2016/04/fort-mit-dem-damoklesschwert-der-ausweisung1.pdf

[3]

https://twitter.com/thodenk/status/736496851206189056

[4]

http://www.sahra-wagenknecht.de

[5]

http://www.deutschlandfunk.de/stegner-spd-ampel-koalition-besser-als-rot-rot-gruen.447.de.html?drn:news_id=618242

„Ich hätte nicht hier sein sollen“

Der Film „A War“ ist ohne einen explizit politischen Anspruch eine einzige Anklage gegen die modernen Zivilisationskriege, weil er deren Lügen aufdeckt

Die gestresste Mutter im komfortablen Reihenhaus kümmert sich rund um die Uhr um ihre drei Kinder. Doch dann passiert es doch. Während sie den Älteren beim Einschlafen hilft, schluckt das Jüngere einige Tabletten. Sofort wird es mit dem Notarztwagen ins Krankenhaus gebracht. Nachdem der Magen ausgepumpt wurde, wird festgestellt, dass die Prozedur medizinisch nicht nötig war. Aber im Zweifel für die Sicherheit, lautet die Devise im dänischen Kleinbürgeridyll.

Wenn am Abend, kurz bevor die Kinder einschlafen, das Telefon klingelt, wissen alle Familienmitglieder, dass es der Ehemann und Vater ist. Dann hat er einige ruhige Minuten, um zumindest telefonisch mit seiner Familie in Kontakt zu sein. Doch Carl Michal Pedersen ist kein schwer beschäftigter Manager, der seine Zeit bis tief in die Nacht im Büro verbringt und daher seine Familie nicht sehen kann. Die Hauptfigur des preisgekrönten Films „A War“[1] ist Kommandeur des dänischen Militärkontingents in Afghanistan. Die ist in einen Gebiet stationiert, in dem die Taliban ihr Unwesen treiben.

Der Film lebt vom Widerspruch zwischen diesen beiden Welten: der dänischen Kleinbürgeridylle, wo die größte Sorge darin besteht, dass sich der Sohn in der Schule prügelt, und der Alltagssituation des Ehemannes, der an einem Militärengagement teilnimmt, das keine Probleme löst, sondern neue schafft, zumindest für die afghanischen Bewohner.

Wenn die Bevölkerung zu Tode geschützt wird

Das wird in vielen Szenen deutlich. Zunächst werden die Soldaten, die an ihrem Einsatz zu zweifeln beginnen, weil sie merken, dass sie dabei auch umkommen können, auch von Pedersen mit den üblichen Propagandafloskeln motiviert. „Wir sind hier, um die Menschenrechte und die Zivilisation der afghanischen Bevölkerung zu verteidigen.“ Nur hat man jeder Begegnung zwischen dieser Bevölkerung und den Soldaten den Eindruck, hier begegnen sich Kolonialherren und Kolonisierte.

Eine besonders eindringliche Szene ist die Durchsuchung eines Fahrzeugs, in dem drei Passanten sitzen, darunter ein älterer Mann. Sie werden rüde aus dem Wagen gezerrt, geduzt, beleidigt, gedemütigt. Sie müssen sich auf den Boden legen, dem Mann wird das Handy entrissen. Als sich herausstellt, dass es sich um ungefährliche Zivilisten handelt, werden sie ohne Erklärung und Entschuldigung aufgefordert, schnell zu verschwinden.

Besonders verhängnisvoll ist die Kolonialherrenperspektive für eine afghanische Familie, die mit den Soldaten kooperiert. Damit gilt sie den Taliban als Todfeinde und die meinen es ernst. Als die Familie nach den Drohungen in das Militärlager flieht und um Asyl bittet, wird sie von Pedersen rüde zurückgeschickt. Auch der schüchterne Einwand einer Soldatin, dass doch für die Familie genug Platz wäre, wird zurückgewiesen. Der Kommandant pocht auf die Vorschriften, und die sehen nun mal nicht vor, dass afghanische Bauern auch nur für eine Nacht dort verbringen können, wo die europäischen Zivilisationsbringer leben.

Als die Soldaten am nächsten Tag zum Bauernhof kommen, haben die Taliban die Familie grausam ermordet. Zudem wurden sie in eine Falle gelockt und die Islamfaschisten beginnen einen Angriff, bei dem abermals ein dänischer Soldat schwer verwundet wird. Daraufhin befiehlt Pedersen die Unterstützung durch die Luftwaffe, die, wie sich später herausstellt, ein Gebäude bombardiert, wobei zahlreiche Zivilisten ums Leben kommen.

Ihr Tod ist im Film nicht zu sehen. Die Zuschauer erfahren erst davon, als die Militärpolizei Ermittlungen aufnimmt, weil Pedersen einige Regeln zum Einsatz der Luftwaffe verletzt hatte. Er hatte versäumt, sich bestätigen zu lassen, dass es sich um ein militärisches Ziel handelt. Kurz sehen wir den Kommandanten zweifeln, aber bevor er vielleicht sogar die Konsequenzen zieht und seinen Fehler bekennt, wird er von seinen Kameraden und seiner Frau bearbeitet. Er solle einfach lügen und vor Gericht aussagen, er habe die die Bestätigung gehabt, könne sich nur nicht mehr erinnern, von wem.

Großer Schlachter rettet Pedersen

Dann kommt der Gerichtsprozess mit einer Staatsanwältin, die ihren Job ernst nimmt und die Aussage des Kommandanten als die Lüge erkennt, die sie auch war. Sie holt sämtliche in Frage kommenden Soldaten in den Zeugenstand und fragt sie, ob sie die Urheber der Bestätigung sind.

Zunächst verneinen alle, doch am Ende findet sich ein Soldat, um Pedersen mit einer Lüge vor einer Haftstrafe zu bewahren. Er trägt bezeichnenderweise den Spitznamen Schlachter. „Großer Schlachter, kleiner Schlachter“, sagt er lächelnd vor Gericht. Weiter will er sich nicht äußern. Mit seiner Aussage hat die Staatsanwaltschaft ihren Trumpf verloren. Sie zweifelt weiterhin den Wahrheitsgehalt an, hat aber bei so viel Korpsgeist keine Chance. Der Freispruch in allen Punkten wird von der versammelten Einheit gebührend gefeiert. Auch Pedersen stimmt in das Lachen und den Jubel ein.

Die afghanischen Opfer sieht man nicht

Dabei bekamen die afghanischen Opfer erst vor Gericht ein Gesicht. Es wurden Fotos gezeigt, die dokumentieren, wie es in dem bombardierten Gebäude aussah. Man sah entstellte Gesichter, aufgeplatzte Gedärme, Arme und Beine ohne Körper. Pedersen und seine Kompanie guckten gequält. Doch als der Kommandant die Möglichkeit hatte, ein letztes Wort vor der Urteilsverkündung zu sprechen, verzichtete er. Er hatte wohl kein Bedürfnis, sich zumindest persönlich, unabhängig vom juristischen Ausgang, bei den Angehörigen der Opfer zu entschuldigen.

Aber der Freispruch entlockte ihm doch Gefühle, wie sich in der letzten Szene zeigte. So zeigt der Film mit seiner fiktiven Handlung sehr viel über den Charakter des Militärs und der Menschenrechtseinsätze in Afghanistan und anderswo. Jede Szene zeigt das Gefälle zwischen erster und dritter Welt. Wenn seine Kameraden vor Gericht Pedersen bescheinigen, er sei ein guter Soldat gewesen, weil er sich von der Devise leiten ließ, dass er keinen Kameraden zurück lässt, so ist das sehr entlarvend. Das Leben eines dänischen Soldaten zählt eben mehr als das von afghanischen Zivilisten.

Der ständige Wechsel zwischen dem dänischen Kleinfamilienidyll und dem afghanischen Alltag zeigt viel darüber, wie unvernünftig die Welt heute eingerichtet ist. Für die rundum versorgten dänischen Kinder ist jede kleine Prellung ein Ereignis. Die Opfer der Bomben der Zivilisationsbringer sieht man nur für einige Sekunden. Sei bleiben namenlos wie die Opfer von Oberst Klein in Kunduz und die Toten vieler anderer Kollateralschäden.

Wenn dann wieder ins dänische Reihenhaus gewechselt wird, fallen einem die Bilder der US-Künstlerin Martha Rosler[2] ein. In der Serie Bringing The War home[3] entwirft sie ähnlich komfortable Reihenhäuser und Idyllen und projiziert[4] Bilder von Kriegen, von Bränden und Versehrten darauf.

http://www.heise.de/tp/artikel/48/48172/1.html

Peter Nowak

http://www.heise.de/tp/artikel/48/48172/1.html

Anhang

Links

[0]

http://www.dfi.dk/faktaomfilm/film/da/90953.aspx%3Fid%3D90953

[1]

http://www.imdb.com/title/tt3830162/

[2]

http://www.martharosler.net/

[3]

http://www.martharosler.net/reviews/cottingham.html

[4]

http://www.martharosler.net/photo/war2/war1.html

Erinnerung an ein Stück Computersozialismus

In Chile wurde unter dem sozialistischen Präsidenten Salvador Allende versucht, eine computergesteuerte Planwirtschaft umzusetzen. Im Roman «Gegen die Zeit» von Sascha Reh stehen die MitarbeiterInnen dieses Projekts im Mittelpunkt.

Langsam verblasst die Erinnerung an die knapp dreijährige Regierungszeit der Unidad Popular unter Präsident Salvador Allende in Chile. Im Herbst 1970 wurde der linke Präsident ins Amt gewählt und im Anschluss immer heftiger von der chilenischen Konterrevolution
und ihren Verbündeten in den USA, aber auch in lateinamerikanischen Nachbarstaaten attackiert.

„Erinnerung an ein Stück Computersozialismus“ weiterlesen

Das Proletariat wird transnational

Neue Publikationen beschäftigen sich mit linken Betriebsinterventionen in Europa infolge des Aufbruchs von 1968. Die länderübergreifende Solidarität in Arbeitskämpfen war damals programmatisch.

»Mit seinem Ketzerbuch ›Abschied vom Proletariat‹ ist er nun überraschend aus der St.-Marx-Kirche ausgetreten«, spottete der Spiegel 1981 über den linken französischen Soziologen André Gorz. Das Buch wurde damals vor allem bei der vom Aufbruch von 1968 geprägten Linken zum Bestseller und sein Titel zum Programm. Denn nun konnte manch altgedienter Maoist auch theoretisch begründen, warum sein Bemühen, die Fabrikarbeiter für die Revolution zu gewinnen, keinen Erfolg gehabt hatte. Von Gorz ist vielen heute nur »Abschied vom Proletariat« bekannt. Die Bücher, in denen er Brücken zwischen der alten Arbeiterbewegung und dem Aufbruch der Neuen Linken nach 1968 schlagen wollte, sind hingegen fast vergessen. Sie trugen ebenso programmatische Titel wie »Die Aktualität der Revolution« und »Zur Strategie der Arbeiterbewegung im Neokapitalismus«.

Klassenkampf überall. Eine Demonstration der Gruppe »Lotta Continua« in Mailand, Anfang der siebziger Jahre

Klassenkampf überall. Eine Demonstration der Gruppe »Lotta Continua« in Mailand, Anfang der siebziger Jahre (Foto: www.lalottacontinua.it)

Es könnte sein, dass die heute nur noch antiquarisch erhältlichen Bücher bald wieder stärkere Beachtung finden. In den vergangenen Jahren haben jüngere Historiker den lange vergessenen dissidenten Strömungen der Arbeiterbewegung Aufmerksamkeit gewidmet. Diese hatten in der Forschung zuvor höchstens in den Fußnoten Erwähnung gefunden. Konzentrierte sich die Forschung auf die großen Arbeiterparteien und Gewerkschaften, widmet man sich jetzt der Rätebewegung und untersucht die zahlreichen Gruppen, die sich weder der Sozialdemokratie noch dem Parteikommunismus zurechneten.

Kürzlich ist die erste Ausgabe der Zeitschrift für historische Studien „Arbeit Bewegung Geschichte“ mit dem Schwerpunktthema »Linke Betriebsintervention, wilde Streiks und operaistische Politik 1968 bis 1988« im Metropol-Verlag erschienen. Die Zeitschrift ist aus dem »Jahrbuch für Forschung zur Geschichte der Arbeiterbewegung«, das seine Wurzeln in der DDR hatte, hervorgegangen. Vor allem der transnationale Charakter der Betriebsinterventionen sei in der historischen Forschung bisher kaum beachtet worden, schreibt der Berliner Historiker Dietmar Lange von der Redaktion von „Arbeit Bewegung Geschichte„. Dabei habe es vor allem nach 1969 einen regen Austausch unter den linken Gruppen diverser europäischer Länder gegeben.

Neben dem Pariser Mai sei der heiße Herbst 1969 in Italien ein wichtiges Schlüsseldatum gewesen.Damit ist ein Zyklus von Kämpfen und Streiks gemeint, die ganz Italien erfasst hatten. Diese Auseinandersetzung wurde von Linken in Europa mit besonderem Interesse wahrgenommen, weil in Italien für einige Monate Realität wurde, was sich viele von ihnen in anderen Ländern vergeblich erhofften: Ein relevanter Teil der Lohnabhängigen beteiligte sich mit militanten Demonstrationen, Streiks und Fabrikbesetzungen an den gesellschaftlichen Kämpfen. Bereits 1969 kam es zu ersten Vernetzungstreffen linker Gruppen, Gewerkschaften und Solidaritätsinitiativen aus verschiedenen Ländern. Dabei wurden Fragen diskutiert, die erstaunlich aktuell scheinen. »Forciert wurde die Kontaktaufnahme nicht nur durch die geographische Nähe, sondern durch die zu dieser Zeit wachsenden Herausforderungen, wie die wachsende Kapitalverflechtung, die zunehmende Migration von Arbeitskräften und die zunehmende Integration im Rahmen des gemeinsamen europäischen Marktes«, schreibt Dietmar Lange. Er hat bei seinen Forschungen in italienischen Archiven einige bisher weitgehend unbekannte Quellen über diese transnationale Vernetzung erschlossen.

Das erste Treffen fand in Rom statt. Daran beteiligten sich Vertreter linkssozialistischer Gruppen und Parteien, die seit 1968 entstanden waren und sich weder dem Traditionskommunismus noch der Sozialdemokratie zuordnen wollten. Auch die beiden in Italien zeitweise einflussreichen linken Gruppen Lotta Continua und Autonomia Operaia, die sich auf unterschiedliche Fraktionen der dissidenten Linken bezogen, suchten und festigten ihre internationalen Kontakte. 1971 war in Zürich ein Koordinationsbüro eröffnet worden, das sich dem Aufbau einer länderübergreifenden Solidarität mit streikenden Betrieben widmen sollte. Zu der wichtigsten Aktivität dieses Büros gehörte eine im April 1973 in Paris veranstaltete Konferenz zur Situation in der europäischen Automobilindustrie. Dort war es zu spontanen Streiks gekommen. Als Protagonist der Kämpfe wurde auf der Konferenz der »multinationale Massenarbeiter« ausgemacht. Damit waren vor allem an- und ungelernte Beschäftigte an den großen Montagebändern gemeint, die oft aus andere Landesteilen oder Ländern zugewandert waren. So spielten in den italienischen Fabrikkämpfen ungelernte Beschäftige aus Süditalien eine zentrale Rolle.

Über die Pariser Konferenz sind viele Details bekannt, weil Lange in den Archiven einen verschollen geglaubten Bericht gefunden und übersetzt hat. Demnach haben sich Automobilarbeiter aus Frankreich, Großbritannien, Italien und der Schweiz an der Konferenz beteiligt. Aus Deutschland waren Beschäftigte der Kölner Ford-Werke, von VW aus Rüsselsheim, Volkswagen aus Hannover und BMW aus München beteiligt. Die Teilnehmer widerlegten die in den bürgerlichen Medien verbreitete These, dass die »italienische Krankheit«, wie die Zunahme der Kämpfe in Italien von Politik und Wirtschaft genannt wurde, nicht auch für andere Länder Bedeutung erlangen könnte. So hätten sich Sabotage und Absentismus, wie das Verlassen des Arbeitsplatzes genannt wurde, auch bei VW-Hannover und bei BMW-München verbreitet.

Doch es wurde auch offen über die Schwierigkeiten und Probleme gesprochen, die einer schnellen Ausbreitung der Arbeitskämpfe in ganz Europa im Wege standen. »Es gibt zu viele Schutzvorrichtungen, politische Stauräume, Ventile zum Dampfablassen, die das Gesamtkapital mit allen seinen produktiven und institutionellen Gliederungen in Bewegung setzen kann«, lautete die Einschätzung in dem Protokoll. »Unter diesen Voraussetzungen kann eine internationale Vereinheitlichung des Arbeiterverhaltens nur in dem Tempo und nach dem Interesse der Bosse vonstatten gehen«, so das wenig optimistische Fazit. Das war für die Konferenzteilnehmer gleichzeitig ein Plädoyer für den Aufbau einer einheitlichen kommunistischen Organisation, die sie Gesamtprojekt nannten.

Doch die Phase der linken Fabrikinterventionen fand ein rasches Ende. »Nur kurze Zeit nach der Konferenz in Paris vollzog ein Großteil der beteiligten Gruppen einen Richtungswechsel und löst sich auf«, schreibt Lange. Auch sein Interviewpartner Karl-Heinz Roth, der damals in diesen Kämpfen eine wichtige Rolle spielte, konnte im Gespräch wichtige Hinweise auf die Hintergründe geben, die nicht nur zur Auflösung des Zürcher Büros, sondern auch zum Zusammenbruch der transnationalen Betriebssolidarität führten. Er erinnerte an Berichte von Teilnehmern der Pariser Konferenz, die sich damals neuen Konzernstrategien widmeten, mit denen das Konzept des kämpferischen Massenarbeiters untergraben wurde. »Diese Prophezeiung des heraufziehenden Postfordismus stand als Menetekel an der Wand des Kongresses«, so Roth. Der lange Abschied der Linken vom Proletariat nahm hier seinen Anfang.

In den vergangenen Jahren gab es neue Versuche, eine transnationale Streiksolidarität aufzubauen. Dafür stehen die Streiks bei Amazon ebenso wie die Migrant Strikers oder die Oficina Precaria Berlin, zwei Initiativen, in denen sich spanische und italienische Arbeitsmigranten in Berlin organisieren. So dürfte das Schwerpunktthema von Arbeit Geschichte Bewegung nicht nur historisches Interesse wecken. Im Vorwort weisen die Herausgeber auf Parallelen zwischen ihrem Forschungsthema und heutigen Auseinandersetzungen hin: »Dazu gehören die bedeutende Rolle von Migranten und Migrantinnen, die Thematisierung der Gesundheit der Arbeiter und Arbeiterinnen sowie der Wohn- und Lebensverhältnisse im Stadtteil.«

Am 30. Mai um 19 Uhr diskutieren in Berlin im Buchladen Schwarze Risse (Mehringhof) Dietmar Lange, Redakteur von »Arbeit Bewegung Geschichte«, und Mitglieder der Basisgewerkschaft IWW über Betriebssolidarität damals und heute.

Peter Nowak

http://jungle-world.com/artikel/2016/15/53836.html
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Berlin:

Diskussionsveranstaltung:

30.Mai 2016, 19 Uhr, Buchladen Schwarze Risse, Gneisenaustr. 2a.

Ist der lange Abschied vom Proletariat zu Ende?

Gespräch über die Geschichte und Aktualität linker Betriebsinterventionen
Mit  Dietmar Lange, Historiker und Mitherausgeber der Zeitschrift Arbeit
Bewegung Geschichte und Mark Richter  Mitglied der IWW*

Moderation Peter Nowak,  Journalist und Herausgeber des Buches „Ein Streikt seht, wenn mensch ihn selber macht“

In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Arbeit Bewegung Geschichte

(http://www.arbeiterbewegung-jahrbuch.de/?p=536)  werden heute weitgehend
unbekannt Details über eine länderübergreifende Koordinierung der linken
betrieblichen Interventionen vorgestellt. Darunter ist ein Bericht über eine Pariser Konferenz von Beschäftigten aus dem Automobilsektor aus mehreren europäischen Ländern im April 1973. Dietmar Lange wird  einen Überblick über den Versuch einer transnationalen linken
Betriebsintervention geben und auchdie Probleme benennen. Waren sie der Grund für den langen Abschied vom Proletariat vieler linker Gruppen? In den letzten Jahren sind Solidarität mit Streiks und anderen betrieblichen Kämpfen wieder Gegenstand linker Initiativen geworden.
Unter dem Titel „Direct Unionism“- Strategie für erfolgreiche Basisgewerkschaften auf der Höhe der Zeit“ veröffentlichte die IWW kürzlich ein Diskussionspapier

(https://de.scribd.com/doc/283876879/Direct-Unionism-Strategie-fur-erfolgreiche-Basisgewerkschaften-auf-der-Hohe-der-Zeit),
in das Erfahrungen mit Arbeitskämpfen in prekären Sektoren einflossen. Mark Richter aus Frankfurt am Main wird die dort vertretenen Thesen zur Diskussion stellen.