Neue Erkenntnisse zur Brandnacht in der Dessauer Polizeizelle: Brandsimulation stützt Mordthese und wirft Frage nach Parallelen zum NSU-Komplex auf
Doch nicht nur in Mordfällen, bei denen die Spuren direkt in die rechte Szene führen, mangelt es in Hessen an Aufklärung. Erst recht, wenn es um strukturellen Rassismus und in manchen Fällen tödliche Polizeigewalt geht, wenn also von vornherein nur staatliche Akteure im Spiel sind, wird gemauert.

Wurde der Asylsuchende Oury Jalloh am 7. Januar 2005 in einer Zelle der Dessauer Polizeistation mit Benzin übergossen, bevor den grausamen Feuertod starb? Diese Version legt zumindest eine Rekonstruktion der Todesumstände nahe, die von der Initiative zum Gedenken an Oury Jalloh veranlasst wurde. Auf einer Pressekonferenz am Mittwoch in einer Berliner Galerie stellte Iain Peck vom Prometheus Forensic Service UK seine Expertise vor. Es sei wahrscheinlich, dass der 1968 in Sierra Leone geborene Mann mit der …

„“ weiterlesen
Bald zehn Jahre nach Bekanntwerden der NSU-Morde misstrauen kritische Juristen und Soziologen weiterhin dem Verfassungsschutz

Zivilgesellschaftliche Initiativen sind letzte Hoffnung

»Der Kampf gegen den Rechtsextremismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem und darf nicht an den Verfassungsschutz delegiert werden«, erklärte Quent. Das wurde beim Pressegespräch an mehreren Stellen deutlich. So benannte Haldenwang in seinem Eingangsstatement die Zahl von 280 Menschen, die seit 1990 Opfer rechter Gewalt geworden sind. Es blieb aber unerwähnt, dass es in vielen Fällen dem Engagement antifaschistischer und zivilgesellschaftlicher Gruppen in Kooperation mit engagierten Medienvertreter*innen zu verdanken ist, dass sie oft erst nach vielen Jahren von den Behörden als Opfer rechter Gewalt anerkannt wurden.

Beim Pressegespräch des »Mediendienstes Integration« waren sich die Menschen auf dem Podium nicht immer einig. »Zehn Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU – welche Lehren haben die Sicherheitsbehörden gezogen?« lautete die Frage, zu der neben dem Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, die Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız und der Soziologe am Donnerstag eingeladen waren. Haldenwang nannte zu Beginn die Namen der …

„Zivilgesellschaftliche Initiativen sind letzte Hoffnung“ weiterlesen

Mit dem Verfassungsschutz gegen die AfD?

Während die meisten aus dem weltoffenen Lager längst ihren Frieden mit dem VS gemacht haben, macht VS-Präsident Maaßen deutlich, dass er kein Partner im Kampf gegen Rechts sein kann

Man stelle sich vor nach der einer linken Demonstration mit starker Beteiligung autonomer Gruppen würden sich Politik und Medien über linke Gewalt echauffieren. Und dann würde der Bundesinnenminister sagen, er könne die Anliegen der Demonstranten verstehen und könnte sich sogar vorstellen, selbst daran teilzunehmen, wenn er nicht im Amt wäre. Doch natürlich würde er nicht zusammen mit den ganz Radikalen demonstrieren. Und dann würde sich noch der Chef des Verfassungsschutzes zu Wort melden und sagen, Polizisten seien auf der Demonstration nicht gejagt worden und Videos, die solche Szenen zeigen, könnten gefälscht sein.

Wäre so ein Szenario vorstellbar? Bestimmt nicht. Doch nach Chemnitz ist genau das passiert. Seehofer warnte vor den Radikalen, konnte aber die Mehrheit der Demonstranten verstehen und sich auch vorstellen, mit zu demonstrieren, wenn er nicht in Amt und Würden wäre. Fast müsste man schon befürchten, dass Seehofer, sollte er doch noch sein Amt verlieren, aus Rache für Merkel bei Pegida mitmachen würde. Und Maaßen, der links immer und überall Gefahren und Gefährder sieht, gibt sich gegen Rechts ganz entspannt und zweifelt die Echtheit eines Videos an, auf denen die Jagd auf nichtdeutsch aussehende Menschen in Chemnitz zu sehen ist. Die Dresdner Justiz hält das Video hingegen für echt.

Wie Maaßen rechte Theorien übernimmt

Bemerkenswert ist auch, wie stark sich Maaßen auf der rechten Seite aus dem Fenster lehnt. Er hätte sagen können, dass es noch offene Fragen zu dem Video gibt, die noch der Prüfung harren. Doch seine im Tagesspiegel zitierten [1] Aussagen waren andere.

Über das Video, das Jagdszenen auf ausländische Menschen nahe des Johannisplatzes in Chemnitz zeigen soll, sagte Maaßen: „Es liegen keine Belege dafür vor, dass das im Internet kursierende Video zu diesem angeblichen Vorfall authentisch ist.“ Nach seiner vorsichtigen Bewertung „sprechen gute Gründe dafür, dass es sich um eine gezielte Falschinformation handelt, um möglicherweise die Öffentlichkeit von dem Mord in Chemnitz abzulenken“. Da stellen sich schon einige Fragen. Eigentlich müsste man doch erwarten, dass die Echtheit des Videos angezweifelt wird, weil dafür Belege vorliegen, die dann bitte auch genannt werden sollten. Wer hat vor Maaßen die Echtheit des Videos mit welchen Argumente angezweifelt? Und warum macht sich der VS-Präsident auch noch Gedanken über die Motive der nicht belegten Fälschung. Nämlich, dass von der Tötung eines deutschen Staatsbürgers durch Migranten abgelenkt werden soll.

Mittlerweile haben sich zwei Afghanen bei der Polizei gemeldet, die auf dem Foto als Opfer rechter Attacken zu sehen sein sollen. Sollte sich das bestätigen, wäre zumindest erwiesen, dass Maaßen hier voreilig oder bewusst die Rechten begünstigende Fakenews verbreitete. Seine Kritiker sollten, wenn sie sich dazu äußern, den Sachverhalt genau prüfen. Schließlich ist es keineswegs ausgeschlossen, dass auch auf Seiten des weltoffenen Lagers Videos oder Fotos mit falschen Angaben verbreitet werden. Ob wegen mangelnder Überprüfung oder bewusst, kann dann offen bleiben. Solche Methoden sind ja nicht auf ein bestimmtes politisches Lager beschränkt.

Mord und Totschlag?

Dass Maaßen dann von Mord in Chemnitz sprach, obwohl gegen die Verdächtigen wegen Totschlag ermittelt wird, dürfte im Alltagsbewusstsein keine große Rolle spielen. Doch juristisch ist der Unterschied zwischen Mord und Totschlag sehr relevant. Im einschlägigen Paragraphen [2] heißt es: „Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft.“

Im Alltagsbewusstsein wird oft gemutmaßt, dass eine Anklage nach Totschlag statt nach dem Mordparagraphen eine Begünstigung der Täter bedeutet, wenn es sich dann noch um Migranten handelt, ist das rechte Weltbild wieder intakt. Da ist es schon ein Politikum, wenn der Jurist Maaßen den Unterschied zwischen Mord und Totschlag mit seinem Statement verwischt. Es wäre allerdings auch wünschenswert, wenn die Justiz transparent erklärt, wieso sie wegen Totschlag und nicht wegen Mord ermittelt.

Es ist daher schwer verständlich, warum sich das weltoffen-liberale Lager so über den geleakten Haftbefehl eines der in Chemnitz Tatverdächtigen echauffiert hat Mit der illegalen Veröffentlichung machte der zuständige Justizbeame wahrscheinlich aus falschen Gründen das Richtige. Erst bei der Verurteilung des Mörders von Mia aus Kandel hatte man den Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt und auch die Urteilsbegründung nicht öffentlich gemacht, weil man aufgrund des Zweifels für den Angeklagten nach Jugendrecht geurteilt hat. Der Angeklagte hatte unterschiedliche Geburtsdaten angegeben. Dabei wäre es gerade bei solch umstrittenen Urteilen, die ja immer „im Namen des Volkes“ ergehen, wichtig, wenn die interessierte Öffentlichkeit auch das Hintergrundwissen in die Hand bekommt, um sich selber ein Urteil darüber zu bilden, ob das Urteil berechtigt ist.

Es wäre gerade für Linke eine wichtige Aufgabe, eine solche Transparenz zu fordern. Schließlich gehörte Kritik an der Justiz als Teil der repressiven Staatsapparate einmal zu den Kernaufgaben einer staatskritischen Linken. Heute sehen große Teile dieser ehemaligen Linken in der Justiz fast das letzte Bollwerk von Demokratie. Damit überlassen sie den Rechten nun neben der Medien- auch die Justizkritik, die dann natürlich vor allem Ressentiments bedienen.

Verfassungsschutz ist kein Partner gegen Rechts

Doch nicht nur die Justiz, auch der Verfassungsschutz wird von einer Staatsschutzlinken, hier ist der Begriff sehr treffend, mittlerweile als Mittel gegen Rechts gesehen. Dass führende SPD-Politiker schon seit Längerem fordern, der VS müsse die AfD beobachten, ist nicht verwunderlich. Schließlich ist für sie Staatschutz seit gut 100 Jahren ein besonderes Anliegen. Die Grünen aber wollten noch vor 2 Jahrzehnten alle Geheimdienste abschaffen.

Von der Forderung hatten sie sich als Realpolitiker mehr und mehr verabschiedet. Doch mit der Selbstaufdeckung des NSU konnte man von einigen grünen Politikern Statements hören, die zumindest Reminiszenzen an die alte Kritik an den Geheimdiensten anklingen ließen. Schließlich war bei der Geschichte des NSU nicht das Problem, dass dort Verfassungsschutzmitarbeiter nicht beobachteten. Das eigentliche Problem war, dass sehr viele Verfassungsschutzmitarbeiter ganz nah dran waren am NSU und wohl nicht nur zur Beobachtung. Noch immer ist die These nicht wiederlegt, dass die NSU-Terrorgruppe schneller aufgedeckt worden wäre, wenn nicht so viele VS-Mitarbeiter so nah dran gewesen wäre.

Man hätte das migrantische Wissen [3] nutzen können. Migranten sind bereits 2006 unter dem Motto „Kein 10. Opfer“ [4] auf die Straße gegangen. Für sie war der rechte Hintergrund der Mordserie längst klar, als die staatlichen Organe die Opfer und ihre Angehörigen noch verdächtigten.

Doch solche Erfahrungen über die Rolle von VS und Rechte spielen heute scheinbar keine Rolle, wenn gerade Grüne in vielen Bundesländern eine Beobachtung der AfD durch den VS fordern. Die Linkspartei argumentiert größtenteils noch dagegen und verweist dabei auf die Rolle der Geheimdienste beim NSU. Es wird sich zeigen, wann sich der erste Realpolitiker der Linken den Grünen und der SPD anschließen und ebenfalls den Einsatz des VS gegen die AfD fordern.

Vielleicht sorgen die Äußerungen von Maaßen dafür, dass diese Bestrebungen gebremst werden. Man kann ihm fast dankbar sein, wenn er noch mal verdeutlicht hat, dass Staatsapparate wie Verfassungsschutzämter strukturell rechts und keine Partner im Kampf gegen die AfD sein können. Die Staatsschutzlinke will solche Erkenntnisse natürlich nicht wahrhaben und fordert umso schneller und lauter Maaßens Rücktritt. Für sie geht es um eine Personalie und nicht um eine Struktur. Sie fordern Maaßens Kopf, damit sie weiter den VS als Partner im Kampf gegen die AfD anpreisen können.

„Die hatten nur die Russen“

Nicht nur an der Frage des Umgangs mit repressiven Staatsapparaten zeigt sich, dass nicht wenige Kritiker der rechten Demonstrationen in Chemnitz in ihren politischen Schlussfolgerungen gar nicht so weit entfernt von ihnen sind. So kommentierte die ultrakonservative dänische Tageszeitung, Jyllands-Posten, die wegen der Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen sowohl von Säkularen als auch von Rechten aus aller Welt gelobt wurde, die Ereignisse in Chemnitz mit einer besonderen Sichtweise auf die deutsche Geschichte [5]:

Anders als die Westdeutschen hatten die Ostdeutschen keine freundliche Besatzungsmacht, die ihnen nach dem Krieg Demokratie und Pluralismus beibringen konnte. Die hatten die Russen.

Jyllands-Posten
Die Diagnose, dass man von den Russen besetzt war, dürfte auch bei den Rechten in Chemnitz und anderswo auf Zustimmung stoßen. Schließlich braucht man nicht zu erwähnen, dass die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion überfiel und dort Millionen Menschen ermordete, dass die Rote Armee und ihre Verbündeten mit großen Opfer den Krieg in das Land zurücktrug, vom dem er mit Unterstützung großer Teile der Bevölkerung ausgegangen war und so die Welt von der NS-Herrschaft befreite. Danach hatten die Ostdeutschen keinen Führer mehr, aber wohl die Russen, da sind sich viele besorgte Bürger in Deutschland mit großen Teilen ihrer Kritiker im In- und Ausland einig.

Peter Nowak

URL dieses Artikels:
http://www.heise.de/-4158330
https://www.heise.de/tp/features/Mit-dem-Verfassungsschutz-gegen-die-AfD-4158330.html

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.tagesspiegel.de/politik/streit-um-video-aus-chemnitz-spitze-der-unionsfraktion-gegen-vorverurteilung-von-maassen/23007898.html
[2] https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__212.html
[3] https://rdl.de/beitrag/nsu-komplex-rassismus-und-migrantisches-wissen-interview-mit-ayse-g-le-frn-73549
[4] https://www.nsu-watch.info/2014/01/kein-10-opfer-kurzfilm-ueber-die-schweigemaersche-in-kassel-und-dortmund-im-maijuni-2006/
[5] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1099098.zu-chemnitz.html

Oury Jalloh: „Und wenn es doch Mord war?“

Nach der bundesweiten Demonstration zum 13.Jahrestag des ungeklärten Todes des Asylbewerbers aus Sierra Leone geht es um die Frage, ob es gelingt, den Druck zu verstärken

Manche Autofahrer werden am Wochenende über die neuen Verkehrsschilder gestaunt haben. Dort wo sonst für das Bauhaus oder das Unesco-Weltkulturerbe Dessau-Wörlitzer Gartenreich geworben wird, prangte die Aufschrift Oury Jalloh-Stadt Dessau. Das dürfte wohl Marketingexperten der Stadt und rechte Politiker aller Parteien mehr ärgern als die Großdemonstration am vergangenen Sonntag .

Knapp 4.000 Menschen aus der ganzen Republik hatten sich am 7. Januar in Dessau versammelt. Dort verbrannte vor 13 Jahren Oury Jalloh an Armen und Beinen in einer Polizeizelle. Die zentrale Parole lautete „Oury Jalloh, das war Mord.“ Seit 13 Jahren waren Freunde und Unterstützer von Oury Jalloh alljährlich nach Dessau gekommen, um an den Toten zu gedenken und die Aufklärung der Todesumstände zu fordern.

Sie sind von Anfang an davon ausgegangen, dass Oury Jalloh gewaltsam in der Dessauer Polizeiwache zu Tode kam. Doch sie wurden kriminalisert, wenn die die Parole „Oury Jalloh, das war Mord“ skandierten und auf Schildern und Transparenten zeigten.

Todeszone Dessauer Polizeizelle

Mittlerweile geht sogar der Staatsanwalt Frank Bittmann davon aus, dass Oury Jalloh ermordet wurde. Das Motiv könnte darin bestanden haben, dass man ihn beseitigen wollte, weil er zuvor auf der Polizeiwache misshandelt wurde. Er hätte später Aussagen machen können, dann wären die ungeklärten Todesumstände von Klaus-Jürgen R. und Mario B. womöglich noch bekannt geworden.

Klaus-Jürgen R. ist 1997, Mario B. 5 Jahre später in der Dessauer Polizeiwache zu Tode gekommen. Sie stammten aus armen Verhältnissen, niemand fragte nach den Todesumständen, es gab keine Ermittlungen und kein Medieninteresse. Ihre Namen waren vergessen. Das wäre auch mit Oury Jalloh geschehen, der auf der Suche nach einem besseren Leben von Sierra Leone nach Deutschland kam und in Dessau den Tod fand.

Es ist der Beharrlichkeit seiner Freunde und Unterstützer zu verdanken, dass Oury Jalloh und die Dessauer Verhältnisse nun weit über Deutschland hinaus ein Begriff geworden sind. Dadurch wurden auch die beiden anderen Opfer der Dessauer Verhältnisse der Anonymität entrissen. Es ist aber nun keineswegs davon auszugehen, dass Dessau da so eine Ausnahme in Deutschland ist. Was in den anderen Städten fehlt, sind eben Initiativen wie die der Unterstützer für Oury Jalloh.

Komplettversagen von Justiz und Zivilgesellschaft

Nun könnte man denken, wenn jetzt fast 4.000 Menschen auf die Straße gehen und die Parole „Oury Jallo, das war Mord“ nicht mehr kriminalisiert wird, ist doch noch alles gut geworden. Doch das wäre ein Selbstbetrug. Denn dem erwähnten Staatsanwalt Bittmann wurde der Fall entzogen, nachdem er von einem Mord ausgegangen ist.

Ein Polizeibeamter, der mehrmals Aussagen machen wollte, die der offiziellen Version widersprachen, wurde abgewiesen und mit Sanktionen bedroht. Es müsste eigentlich republikweite Proteste gegen diese Versuche geben, die Aufklärung des Todes von Oury Jalloh zu behindern. Auf ganzer Linie versagt hat auch die Justiz, die sich schon früh auf die Version festgelegt hat, wonach sich der Tote nur selber umgebracht haben kann.

Das Undenkbare

Was nicht in diese Version passte, wie das nicht vorhandene Feuerzeug und die schnelle Ausbreitung des Feuers, das nur durch Brandbeschleuniger erklärt werden kann, wurde ausgeblendet. Es waren die Initiativen, die Gerechtigkeit für Oury Jalloh forderten, die auf eigene Veranlassung und mit eigenem Geld Gutachten orderten, die nachwiesen, dass die offizielle Version nicht stimmen kann. Sie haben einen Staatsanwalt zum Umdenken gebracht.

Auch die liberalen Medien haben immer noch an der Verson festgehalten, dass es einen Mord in einer Polizeizelle in Deutschland nicht geben kann. Doch mittlerweile, nach dem Umdenken des Staatsanwalts, beginnen einige Medien das für sie bisher Undenkbare zu formulieren: Und wenn es doch Mord war?

Darauf könnte man mit dem Hinweis auf eine „Tradition“ in Deutschland antworten. Vor 100 Jahren im Jahr Herbst 1918 und im Frühjahr 1919 wurden Tausende von protestierenden Arbeitern überall in Deutschland erschossen. Die rechten Freikorps handelten im Auftrag der Regierung. Für den Historiker Sebastian Haffner begann hier eine Entwicklung, die in den NS-Massenmorden gipfelten. Nach 1945 machte das alte Personal weitgehend weiter.

Parallelen zum NSU

Auch nachdem diese Generation in Rente gegangen war, blieb vieles von der Tradition erhalten. Deshalb konnte der NSU-Komplex unter Aufsicht von Geheimdiensten so lange morden. Während die Opfer unter der Parole „Kein 10. Opfer“ auf die Straße gingen, verdächtigten Justiz, Politik und die meisten Medien die Opfer und ihre Angehörigen.

Das Erschrecken, nachdem sich der NSU in Teilen selbstaufgedeckt hat, war nur kurz. Wenn kürzlich ein verurteilter Neonazi in Hamburg eine Bombe legte, kommt sofort die Entwarnung, es sei nur ein unpolitischer Trinker gewesen.

Derweil formieren sich auch im Fall von Oury Jalloh die Rechtsaußengruppen wie die AfD, die die Polizei und die Stadt Dessau am Pranger sehen und die Schließung der Akten fordern. Selbst am Todestag von Oury Jalloh waren sie mit knapp 150 Personen mit einer Kundgebung vertreten.

Am Fortgang des Falls wird sich zeigen, ob es in Deutschland noch möglich ist, erfolgreichen Widerstand gegen die Dessauer Verhältnisse zu organisieren. Wenn es möglich ist, dass ein Verfahren eingestellt wird, obwohl ein Staatsanwalt von einen Mord ausgeht, dann muss man wohl nur dem Begriff Rechtsstaat eine neue Bedeutung geben.

https://www.heise.de/tp/features/Oury-Jalloh-Und-wenn-es-doch-Mord-war-3936789.html

Peter Nowak

URL dieses Artikels:
http://www.heise.de/-3936789

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.bento.de/today/oury-jalloh-stadt-dessau-autobahn-schild-erinnert-an-verbrannten-asylbewerber-1996716/
[2] https://www.heise.de/tp/features/Oury-Jalloh-das-war-Mord-3893511.html
[3] http://www.sozonline.de/2012/02/oury-jalloh-das-war-mord/
[4] http://thevoiceforum.org/node/3030
[5] https://www.berliner-zeitung.de/politik/drei-tote-in-dessau-ein-eigentlich-unvorstellbares-szenario–29256548
[6] http://www.taz.de/!5472022/
[7] http://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/id_83008906/demonstration-fuer-oury-jalloh-und-wenn-es-doch-mord-war-.html
[8] http://www.nsu-tribunal.de/
[9] https://www.nsu-watch.info/2014/01/kein-10-opfer-kurzfilm-ueber-die-schweigemaersche-in-kassel-und-dortmund-im-maijuni-2006/
[10] https://www.focus.de/regional/hamburg/hamburg-explosion-am-s-bahnhof-veddel-bomber-ein-nazi-und-totschlaeger_id_8028435.html
[11] https://www.facebook.com/afdfraktion.lsa/videos/1578397642182871/

„Oury Jalloh, das war Mord!“

Ein beispielloser deutscher Justizskandal: Ein Mann wird in einer Polizeizelle verbrannt und niemanden interessiert es

Es war ein massiver Polizeieinsatz im Januar 2012, der aber nur in einer kleinen politischen Szene wahrgenommen wurde. Es waren vor allem Migranten aus Afrika, die wie jedes Jahr am 7. Januar auf die Straße gegangen sind, um am Todestag ihres Freundes und Bekannten Oury Jalloh zu gedenken. Jalloh war am 7.Januar 2005 in einer Dessauer Polizeizelle verbrannt.

Für die Polizei stand sofort fest, der Tote hat die Zelle selbst in Brand gesetzt. Ein kleiner Kreis von Jallohs Freunden und Bekannten wollte sich damit aber nicht zufriedengeben. Immer zum Todestag gingen sie in Dessau auf die Straße. Was 2012 geschehen ist, beschrieb die Initiative so:

Anlässlich des 7.Todestags von Oury Jalloh gab es am Sonnabend, den 7. Januar 2012, eine Gedenkdemonstration in Dessau. Im Laufe dieses Tages gab es vielfache, von der Polizei strategisch im Voraus geplante Übergriffe – explizit auf afrikanische Aktivistinnen der Initiative und ihre Unterstützer. Zwei Tage zuvor hatten Polizeibeamte Mouctar Bah in seinem Laden in Dessau aufgesucht und verkündet, die Initiative habe Meinungen wie „Oury Jalloh, das war Mord!“ zu unterlassen, sie unterstellten einen Straftatbestand. Mouctar Bah weigerte sich, sich der Drohung zu beugen.

Am Gedenktag selbst, und noch bevor die Demonstration von den 250 Teilnehmenden eröffnet wurde, kam es zu Übergriffen seitens der Polizeibeamten, die Aktivisten aus der Menge herausgriffen, Pfefferspray sprühten und mehrere Menschen stark verletzten. Einige Transparente und Schilder wurden den Demonstrierenden gewaltsam entrissen. Als die Demonstration schließlich los gehen sollte, haben die Versammlungsbehörde und die Polizei die Teilnehmenden über eine Stunde davon abgehalten, ihr Versammlungsrecht wahrzunehmen und das Recht auf freie Meinungsäußerung rechtswidrig unterbunden. All dies wurde mit damit begründet, die Parole „Oury Jalloh, das war Mord!“ stelle einen Straftatbestand dar.

Initiative Oury Jalloh

Es sollte noch häufiger vorkommen, dass Demonstrationen wegen Transparenten mit der Parole „Oury Jalloh, das war Mord“ angehalten wurden und es gab häufiger Strafbefehle gegen Menschen, die sie getragen oder gerufen haben. Und nun haben sich den Inhalt dieser inkriminierten und kriminalisierten Parolen nicht nur zahlreiche Feuer- und Brandexperten zu eigen gemacht.

Auch der Dessauer Oberstaatsanwalt Folker Bittmann geht mittlerweile von einem begründeten Mordverdacht im Fall Oury Jalloh aus. Das ist besonders brisant, weil Bittmann seit Jahren den ungeklärten Todesfall bearbeitet und lange Zeit ein Anhänger der offiziellen Version war, wonach Oury Jalloh die Zelle selber in Brand gesetzt hat. Von daher ist die Schlagzeile von ARD-Monitor berechtigt, wo von einer „dramatischen Wende im Fall Oury Jalloh“ berichtet wurde.

Aufklärung über Spendensammlungen für Gutachten

Eigentlich ist der Fall ein beispielloser Justizskandal. Denn schon im April 2017 hatte der Dessauer Staatsanwalt in einem Brief geschrieben, dass er nun mehr nicht mehr von einer Selbsttötung Jallohs ausgeht. Dazu gebracht haben ihn die Ergebnisse von Gutachten, die internationale Brandexperten erstellt haben.

Die wurden aber nicht etwa von den zuständigen Ermittlungsbehörden beauftragt, die ja eigentlich dazu verpflichtet wären zu ermitteln, warum Jalloh in einer Dessauer Polizeizelle verbrennen konnte. Doch für die Behörden war ja längst klar, dass nur der Getötete selber schuld sein kann.

Es war die schon erwähnte Initiative zum Gedenken an Oury Jalloh, die durch Spendensammlungen das Geld aufbrachte, um diese Gutachten erstellen zu lassen, und sie mussten dann auch dafür sorgen, dass die Ergebnisse in einer größeren Öffentlichkeit überhaupt wahrgenommen wurden.

Es waren die Freunde und Bekannten Oury Jallohs sowie seine Angehörigen, die die offizielle Version anzweifelten. Ihnen zur Seite stand ein kleiner Kreis von Unterstützern aus Deutschland. Sie wurden angefeindet, nicht nur, weil sie die kriminalisierte Parole „Oury Jalloh, das war Mord“ verwendeten. Sie wurden wahrheitswidrig mit Drogenhandel in Verbindung gebracht.

Einem engen Freund von Oury Jalloh, der sich von Anfang in der Initiative zur Aufklärung seines Todes engagierte, wurde unter falschen Behauptungen die Lizenz zur Betreibung eines Internetcafés entzogen. Der Laden war in Dessau der wichtige Treffpunkt für den kleinen Kreis von Leuten geworden, die sich nicht mit der offiziellen Version zum Tod von Oury Jalloh zufriedengeben wollten.

Nun könnte man denken, am Ende wurde ja alles gut. Die Initiative hat unter widrigen Umständen ihren Kampf nicht aufgegeben und konnte sogar den leitenden Ermittler überzeugen.

Leitender Ermittler abgezogen, als er offizielle Version in Frage stellte

Doch hier setzt sich der Justizskandal fort und selbst langjährige Kritiker der deutschen Verhältnisse müssen feststellen, dass die Realität meistens noch die pessimistischen Szenarien übertrifft. Denn der Dessauer Staatsanwalt wurde just dann von dem Fall abgezogen, als er sich davon überzeugt hatte, dass die offizielle Version der Todesumstände von Oury Jalloh nicht zu halten ist.

Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft von Halle und die sieht in den neuen Gutachten keine neuen Erkenntnisse und will den Fall endgültig zu den Akten legen. Es wäre nicht ungewöhnlich, dass unterschiedliche Staatsanwaltschaften zu unterschiedlichen Auffassungen kommen, sagte eine Sprecherin der Justiz in Halle. Diese Aussage ist an Perfidie schwerlich zu toppen. Da wird die Frage, ob ein wehrloser Mann in einer Polizeizelle verbrannt wurde, zur Frage von unterschiedlichen Wertungen.

Untersuchung unter internationaler Beteiligung

Das Vorgehen der Justiz in diesem Fall müsste eigentlich zu einem massiven Aufruhr der zivilgesellschaftlichen Kräfte in Deutschland führen. Diejenigen, denen Menschenrechte über Sonntagsreden hinaus wichtig sind, müssten eine Untersuchungskommission mit internationaler Beteiligung fordern, die sämtliche für den Fall relevanten Gutachten auswerten und weitere Expertisen in Auftrag geben kann, wenn weitere Fragen geklärt werden müssen.

Die Rolle der deutschen Justiz und Politik sollte untersucht werden. Es wäre zu fragen, warum über Jahre versucht wurde, alle Indizien zu negieren, die gegen die offizielle Version der Todesumstände von Oury Jalloh vorgebracht wurden. Dazu gehört der Umstand, dass schon einige Jahre vor dem Tod von Oury Jalloh, ein wohnungsloser Mann in der gleichen Zelle unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen ist.

Auch bei dessen Tod waren Polizisten und der Polizeiarzt anwesend, der auch am Todestag von Oury Jalloh präsent war. Da sind die offen rassistischen Äußerungen des Arztes, die auf einem Mitschnitt zu hören sind, bevor er Oury Jalloh Blut abnimmt. Da ist der von den Polizisten abgestellte Lautsprecher, über den Oury Jalloh um Hilfe rief und da ist vor allem das Feuerzeug, mit dem der Tote den Brand selber gelegt haben soll.

Doch zuvor war es gründlich untersucht wurden und die Gutachter erklären, es wurde erst nachträglich in die Zelle gebracht. Das ist nur ein Teil der offenen Fragen, die die Justiz ignorierte und die durch die Gedenkinitiative weiterhin gestellt wurden.

Vom NSU zu Oury Jalloh

Die noch bestehende Zivilgesellschaft sollte die Vorstellung, dass in einer Polizeizelle in Deutschland ein Mensch getötet werden kann, nicht als Verschwörungstheorie abtun, sondern sich fragen, wie sie darauf reagiert.

Wenn nun der Fall Oury Jalloh tatsächlich zu den Akten gelegt wird, und sich höchstens ein paar tausend Menschen aufregen, während die Aufmerksamkeit sonst beim Geplänkel der künftigen Koalitionen liegt, dann ist das ein Signal, dass in Deutschland auch unter Polizeiaufsicht kriminelle Taten begangen werden können, denen nicht nachgegangen wird.

Soll das zur Gewohnheit werden? Schließlich haben wir ja beim NSU-Komplex erlebt, wie die Angehörigen der Opfer verzweifelt forderten: Ermittelt im rechten Milieu! „Kein 10. Opfer!“, lautete ihre Parole auf Demonstrationen im Jahr 2006.

Stattdessen wurden sie verdächtigt, verleumdet und überwacht – genau wie die Freunde von Oury Jalloh. Und nachdem sich der NSU vier Jahre später selber aufdeckte, wird bis heute verhindert, dass die Frage, wieviel Staat steckt im NSU, aufgearbeitet wird. Das lässt sich besonders gut an der Personalie des Verfassungsschützers Andreas Temme ablesen.

Zurzeit kann man im Rahmen der Kunstausstellung Herbstsalon in Berlin einige Installationen zum NSU-Komplex zu sehen. Darunter auch eine Arbeit der Gruppe Forensic Architecture von der Londoner Goldsmith University, die nachgeforscht haben, was in den entscheidenden 9 Minuten und 26 Sekunden geschehen ist, als in einem Kasseler Internetcafé Halit Özgat am 6.April 2006 erschossen wurde, während Temme Gast in dem Café war.

Das Resultat der Forscher lautet, Temme muss den Mord bemerkt haben. Die aufwendige Untersuchung erfolgte ebenfalls nicht durch die Justiz, sondern durch die Initiative NSU-Komplex auflösen und die Ergebnisse werden von der deutschen Justiz weiter ignoriert.

https://www.heise.de/tp/features/Oury-Jalloh-das-war-Mord-3893511.html

Peter Nowak

http://www.heise.de/-3893511

Links in diesem Artikel:
[1] https://initiativeouryjalloh.wordpress.com
[2] http://www.sozonline.de/2012/02/oury-jalloh-das-war-mord
[3] http://www1.wdr.de/daserste/monitor/extras/pressemeldung-oury-jalloh-100.html
[4] http://www.sueddeutsche.de/panorama/zehn-jahre-nach-verbrennungstod-in-dessau-ich-vertraue-der-justiz-nicht-mehr-1.22922
[5] https://www.nsu-watch.info/2014/01/kein-10-opfer-kurzfilm-ueber-die-schweigemaersche-in-kassel-und-dortmund-im-maijuni-2006
[6] http://www.taz.de/!420305/
[7] http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-04/nsu-mord-kassel-andreas-temme-verfassungsschutz-halit-yozgat/seite-2)
[8] http://www.berliner-herbstsalon.de/dritter-berliner-herbstsalon
[9] http://www.forensic-architecture.org
[10] http://www.forensic-architecture.org
[11] http://www.forensic-architecture.org/case/77sqm_926min/
[12] http://www.nsu-tribunal.de

Das migrantische Leben lässt sich nicht vertreiben Deutschland

Gespräch mit Ayşe Güleç zum Tribunal »NSU-Komplex« auflösen

Interview: Peter Nowak
Vom 17. bis 21. Mai 2017 wird in Köln-Mühlheim das Tribunal NSU-Komplex auflösen in direkter Nähe zur Keupstraße stattfinden – dort, wo der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund (NSU) im Jahr 2004 mit einer Nagelbombe die ganze Keupstraße,
stellvertretend für die Gesellschaft der Vielen, angriff. Ayşe Güleç ist in der Initiative 6. April und in der Koordinierungsgruppe
für das NSU-Tribunal aktiv.

Es gab mehrere parlamentarische Untersuchungsausschüsse, die sich mit dem NSU befassten. Warum noch ein NSUTribunal?
Ayşe Güleç: Die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse (PUA) auf der Landesebene sind recht unterschiedlich. Deren Arbeit und Untersuchungsresultate hängen meist vom politischen Willen Einzelner ab und davon, ob und wie sich diese mit behördlichen Auslassungen, Versäumnissen und Fehlern im Kontext NSU-Komplex befassen. Insbesondere durch die Arbeit der PUA Thüringen und durch den Untersuchungsausschuss des Bundes wurden Versäumnisse und die rassistische Grundhaltung in den Sicherheitsbehörden öffentlich. Das Tribunal NSU-Komplex auflösen ist eine Bewegung und eine bundesweite Allianz und Zusammenarbeit von Betroffenen, Einzelpersonen aus Film, Kunst, Aktivismus, Rassismusforschung und anti-rassistischen
Initiativen. Ich sehe das Tribunal als eine gesellschaftlich-politische Notwendigkeit, die längst fällig ist. Es will und kann
nicht Sicherheitsbehörden verbessern durch Reformen, sondern wird den strukturellen Rassismus, der sich im NSU-Komplex offenlegt, in den verschiedenen institutionellen Facetten aufzeigen und anklagen. Die Erzählungen und das Wissen der durch den NSU-Komplex Getroffenen werden ins Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt. Von diesem migrantisch situierten Wissen der Angehörigen der Mordopfer sowie der Überlebenden des Nagelbombenanschlags können wir alle lernen.

Wie lange wird dieses Tribunal schon vorbereitet und was soll dort passieren?
Nach dem Öffentlichwerden des sogenannten NSU entstanden in vielen Städten Initiativen, die Verbindungen zu den Betroffenen aufbauten. Schnell fanden diese Initiativen zueinander und setzten als buaündnis verschiedene m: Straßen wurden nach den Mordopfern umbenannt, um ihre Namen medial in die Öffentlichkeit und ins Bewusstsein zu bringen, gemeinsam begleiteten wir die Betroffenen der Nagelbombe zum Prozess nach München und sorgten für Aufmerksamkeit, damit ihre Zeugenschaft eine breite Öffentlichkeit bekommt. Das führte uns zu der Idee für das Tribunal. Nach kurzer Zeit ist die Vorbereitungsgruppe des Tribunals auf eine große Allianz von über 100 Menschen angewachsen. Mit dem Tribunal geht es uns darum, die verschiedenen institutionellen Bestandteile und deren Wirkmechanismen aufzufächern, um die Verantwortlichen und Institutionen anzuklagen, die darin gehandelt haben. Denn bisher gab es nur zögerliche Affekte auf die Taten, Täterinnen und Täter. Das Tribunal Betroffenen.

Die Frage, wie Geheimdienste im NSU verstrickt waren, spielte in der Diskussion eine große Rolle. Soll das Thema auch auf dem Tribunal im Vordergrund stehen?
Inzwischen wissen wir alle, dass die Geheimdienste eines der wesentlichen Bestandteile des NSU-Komplexes sind. Deutlich wird dies beispielsweise an dem Mord an Halit Yozgat – dem jüngsten und neunten Opfer der rassistisch motivierten Mordserie des NSU. Während der Mordzeit befand sich der ehemalige Verfassungsschützer Andreas Temme im Internet-Café. Er behauptete lange Zeit, dass er nichts gesehen, nichts gehört und auch sonst nichts bemerkt habe. Die Familie Yozgat hingegen hat jahrelang Temmes Ungereimtheiten thematisiert und gefolgert, dass er entweder lügt, die Mörder kennt und diese deckt oder er
elbst Halit ermordet hat. Wir wissen alle auch, dass der Quellenschutz vorgeschoben wurde und Temmes Neo-Nazi V-Mann nicht verhört werden konnte. Wir waren und sind alle Zeuginnen und Zeugen: Über viele Jahre wird von politischen Instanzen versucht, die Beteiligung des Staates rauszuhalten. Die Ermittlungsbehörden setzten die Angehörigen von Enver Şimşek, Abdurahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Teodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat unter Druck, beschuldigten und kriminalisierten sie über viele Jahre. Sie wirkten und wirken daran, dass das Wissen der Angehörigen der Mordopfer sowie der Überlebenden der Bombenanschläge über Jahre nicht hörbar war. Stattdessen wurden die Betroffenen öffentlich verdächtigt, kriminalisiert und beschuldigt, wurden wie Täter behandelt. Die Welt der Ermittler bestand aus Phantasmen: Sie nutzten Fotografien einer blonden Frau, um drei trauernden Witwen ein erfundenes Doppelleben ihrer ermordeten Ehemänner zu beweisen. Wie wanderten diese Fotografien von dem einen Beamten zu dem nächsten? Wer schrieb die Nutzungsanleitung für diese Vernehmungen? Diesen rassistischen Ermittlungsmethoden folgten ebensolche Medienberichte. Aus dem Wissen und den Erfahrungen der direkt Betroffenen ist abzuleiten, was wir alle gemeinsam beklagen, was wir anklagen
und was wir daraus für die Zukunft als Konsequenzen fordern müssen.

Noch immer kämpfen Angehörige in mehreren Städten dafür, dass die Straßen an den Tatorten die Namen der Opfer tragen sollen. Wird das auf dem Tribunal auch ein Thema sein?
Dies ist eine Forderung der Angehörigen. Auch Initiativen, die in der Zeit der Pogrome der 1990er Jahre entstanden sind, werden beim Tribunal dabei sein: der Freundeskreis zum Gedenken an Mölln, die Oury-Jalloh-Initiative und andere wie die Burak-Bektaş-Initiative. Noch immer gibt es viele Kämpfe von Initiativen und Überlebenden der 1980er und 1990er Jahre. Umbenennungen
von Straßen oder Plätzen nach den Mordopfern sind wichtig. Es ist eine wichtige Form der Geschichtsschreibung im öffentlichen Raum. Bundesweit gibt es auf der kommunalpolitischen Ebene eine beharrliche Weigerung, bestehende Straßen nach Opfern von rassistischer Gewalt umzubenennen. Einfacher scheint dies bei Plätzen zu gelingen, die zuvor keinen Namen hatten.


Während die Angehörigen der Opfer schon früh von Nazimorden sprachen, blieb auch ein Großteil der Antifabewegung
abseits. Wie hat sich das Verhältnis zwischen den Betroffenen und antifaschistischen Gruppen weiter entwickelt?

Lange Zeit hat die Berichterstattungen über organisierte Kriminalität andere, solidarische Bewegungen mit den Betroffenen verhindert hat. Das war eine rassistische Spaltung, die durch den nun zweijährigen Vorbereitungsprozess des Tribunals überwunden ist. Die Angehörigen der Mordopfer haben schon immer deutlich formuliert, dass Nazis für die Morde verantwortlich
zu manchen sind. Schon nach dem dritten Mord erkannten die betroffenen Familienangehörigen die Morde als eine Serie gleicher Täter oder Täterinnen. Nach der Nagelbombe wussten die Betroffenen aus der Keupstrasse ebenfalls, dass die Bombe Teil der Mordserie ist. Die Trauerdemo »Kein 10. Opfer« war ein nächster Schritt, um das Wissen großflächig öffentlich zu machen: Nur
ein Monat nach dem Mord an Halit wurde diese von den Familienangehörigen aus Kassel mit den Angehörigen von Mehmet Kubaşık aus Dortmund und den Angehörigen Enver Şimşeks aus Nürnberg organisiert. Bis dahin kannten sich diese drei Familien nicht. Etwa 4.000 Menschen, überwiegend aus den migrantischen Communitys, nahmen daran teil. Politische Verantwortliche
wurden aufgefordert, das Morden zu beenden und die Namen der Täter zu nennen. Entsprechend waren die meisten Transparente in deutscher Sprache, Redebeiträge wurden auf Deutsch übersetzt. Es ist aus heutiger Sicht immer noch sehr erschreckend, dass selbst diese Demonstration von vielen Bevölkerungsteilen nicht wahrgenommen worden ist. Nach den Erfahrungen mit dem NSU-Komplex kann das zukünftig nicht mehr so leicht passieren. ‚


Wo sehen Sie bei der Arbeit zum NSUKomplex Erfolge?

Es gibt viele sehr engagierte Anwälte und Anwältinnen der Nebenklage, die großartige Arbeit leisten und versuchen, in das NSU-Verfahren wichtige Beweisanträge einzubringen. Aus dem Verfahren ist lesbar, was dort verhandelt wird und über was nicht verhandelt werden soll. Dies wird daran deutlich, welche Beweisanträge in der Vergangenheit durch die undesanwaltschaft
abgelehnt wurden: In der Regel die, bei denen es um weitere involvierte V-Leute und Verfassungsschutzmitarbeiter ging. Das Verfahren versucht, die Taten des NSU auf die Angeklagten auf der Anklagebankzu reduzieren. Auch das erweiterte Umfeld des »Trios«, deren Helfer und Helfershelfer, wird herausgehalten. Ein deutlicher Erfolg des Tribunals ist es jetzt schon, dass die Geschichten der Betroffenen nicht nur erzählt, sondern auch gehört werden. Das Tribunal hat das migrantisch situierte Wissen der Betroffenen als die Perspektive ins Zentrum gesetzt und damit einen Perspektivwechsel im Diskurs über den NSUKomplex
erreicht. Das Tribunal NSU-Komplex hat dem Forschungsinstitut Forensic Architecture von der Londoner Goldsmiths Universität
den Auftrag zur Untersuchung des Mordes im Internetcafé erteilt. Das Forensic Architecture Team hat die Untersuchungsergebnisse am 6. April in Kassel veröffentlicht und in einem 1:1-Raummodell des Internet-Cafés und mit Hilfe von 3-D Modellen eine aufwändige Untersuchung v Internet-Café und seine Perspektive. Im Mittelpunkt standen dabei drei Fragen:
Was hat Andreas Temme gesehen? Was hat er gehört, und was hat er gerochen? Die Ergebnisse stellen die bisherige Darstellung von Andreas Temme stark infrage und mit Hilfe von digitalen und analogen Untersuchungsmethoden wurde
hier neues Beweismaterial erzeugt, das uch vor Gericht bestehen kann. Temme muss was gesehen, muss die Schüsse
gehört und muss das Schwarzpulver gerochen haben.

Wird das Tribunal eine Art Schlusspunkt Ihrer Arbeit sein?
Keineswegs! Das Tribunal NSU-Komplex auflösen ist ein nächster Akkumulationspunkt, -und darauf arbeiten wir als Gesellschaft der Vielen hin. Die ganze Dimension des strukturellen Rassismus am Beispiel des NSU bildet die Grundlage für die gesellschaftliche Anklage, um anzuklagen und Forderungen zu stellen für die Zukunft. Und unsere Botschaft ist sehr eindeutig: Migration kann nicht an Grenzen gestoppt werden. Das migrantische Leben lässt sich nicht vertreiben durch rechte Parteien, nicht durch
rechtspopulistische Politiker, nicht durch Neonazis, nicht durch Verfassungsschützer oder V-Männer, die Nazis sind. Diese Realität der Gesellschaft der Vielen kann nicht weggebombt werden. Wir sind hier, wir bleiben hier, leben hier und werden weiter die Gesellschaft der Vielen formen. Peter Nowak arbeitet als freier Journalist. Seine Artikel sind dokumentiert unter peter-nowak-journalist.de. Das Tribunal ist eine gesellschaftlich- politische Notwendigkeit, die längst fällig ist. »Die vom NSU-Terror Betroffenen wussten, wer hinter den Anschlägen auf ihre Familienangehörigen, ihre Nachbarn, ihre Freunde oder auf ihr
eigenes Leben … steckte«, heißt es im Aufruf zum Tribunal. Warum wurde dieses Wissen konsequent ignoriert? Das Tribunal »NSU-Komplex auflösen «, das vom 17. bis 21. Mai in Köln stattfindet, klagt den staatlichen und gesellschaftlichen Rassismus an und lässt die Angehörigen der Opfer des Neonaziterrors sprechen. Info und Spenden: www.nsu-tribunal.de

Die vom NSU-Terror Betroffenen wussten, wer hinter den Anschlägen auf ihre Familienangehörigen, ihre Nachbarn, ihre Freunde oder auf ihr eigenes Leben … steckte«, heißt es im Aufruf zum Tribunal. Warum wurde dieses Wissen konsequent ignoriert? Das Tribunal »NSU-Komplex auflösen «, das vom 17. bis 21. Mai in Köln stattfindet, klagt den staatlichen und gesellschaftlichen Rassismus an und lässt die Angehörigen der Opfer des Neonaziterrors sprechen. Info und Spenden: www.nsu-tribunal.de

aus:
ak – analyse & kritik Nr. 626
www.akweb.de
Interview: Peter Nowak

„Wir lassen den NSU-Komplex nicht verjähren“

In den letzten Tagen beschäftigte der Nationalsozialistische Untergrund wieder einmal alle Medien (NSU). Schließlich jährte sich die Aufdeckung des NSU zum fünften Mal. Bei den Opferverbänden und den zivilgesellschaftlichen Organisationen aus dem antifaschistischen und antirassistischen Spektrum ist längst Ernüchterung eingetreten. Schließlich hat sich mit Pegida und der AfD erst nach der NSU-Enttarnung in Deutschland der Rechtspopulismus in und außerhalb der Parlamente organisiert.

Selbst das offene Nazispektrum, das seine Solidarität mit einigen der im NSU-Prozess Angeklagten mit Demonstrationen und Solidaritätskonzerten immer wieder unter Beweis stellt, braucht sich nicht zu verstecken, sondern organisiert sich sogar länderübergreifend[1].

Die Tatsache, dass eine rechte Terrorgruppe über Jahre hinweg Menschen nur deshalb ermordet hat, weil sie nicht Deutschland geboren wurden, hat nicht den oft zitierten Schock ausgelöst, der die Organisierung einer neuen Rechtsbewegung erschwert. Das war allerdings auch jenseits der Sonntagsreden nicht verwunderlich.

Auch in Norwegen regiert die Partei mittlerweile mit, die den Rechtsterroristen Brevik politisch prägte, bevor er sie als zu lasch verlassen hatte. Eine weitere Ernüchterung ist dadurch eingetreten, dass die durch den NSU unter Druck geratenen Verfassungsschutzämter nicht etwa an Einfluss verloren oder gar abgeschafft wurden. Dieser Forderung hatten sich kurz der NSU-Aufdeckung viele Gruppen angeschlossen. Sie waren nach der Rolle, die die Geheimdienste in der Geschichte des NSU gespielt haben, überzeugt, dass sie nicht Teil der Lösung sondern des Problems sind. Man muss dazu keine Verschwörungstheorien bemühen, sondern kann auf die Fakten zurückgreifen, die durch die parlamentarischen und außerparlamentarischen Untersuchungen aktenkundig waren.

Diese Rolle der Verfassungsschutzämter kann heute so zusammengefasst werden: Sie haben nichts dazu beigetragen, dass die Aktivitäten des NSU unterbunden und juristisch verfolgt werden. Sie haben aber in unterschiedlicher Weise dem NSU geholfen. Daher kann weiterhin die Frage gestellt werden, ob es ohne die Geheimdienste den NSU in dieser Form gegeben hätte.

Das soll nicht implizieren, dass der NSU eine Gründung der Dienste war, sondern dass zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche V-Leute in der rechten Szene durch ihr Handeln und Nichthandeln den NSU unterstützt haben. Zudem ist nun mittlerweile erwiesen, dass V-Leute wissentlich Dokumente vernichteten, um die Aufklärung ihrer eigenen Rolle zu erschweren oder zu verhindern – und dass dies von der Justiz gebilligt wird.

Obwohl ein Verfassungsschutzmitarbeiter mit dem Decknamen Lothar Lingen Akten über mehrere im Umfeld des NSU-Trios platzierte V-Leute des Verfassungsschutzes vernichten ließ, wird es kein Verfahren gegen ihn geben. Medienberichten zufolge ist in der Nacht zum Freitag, dem 11. November, eine dafür relevante Frist abgelaufen. So bleibt die im Rahmen der „Aktion Konfetti“ angeordnete Aktenvernichtung ohne Folgen.

Die Klagen gegen Lingen wegen Strafvereitelung, Urkundenunterdrückung und Verwahrungsbruch werden juristisch nicht verfolgt, wie die Generalstaatsanwaltschaft am 11. November mitteilte. Mit ihren Beiträgen spielte sie öfter den verrückten, aber nicht närrischen Gerichtsentscheidungen zu. So wäre auch ihre Begründung für die Nichteinleitung eines Verfahrens für eine kabarettistische Einlage geeignet. Die Staatsanwaltschaft sei überzeugt, dass Lingen davon ausging, die Akten seien „vernichtungsfähig und vernichtungspflichtig gewesen“, wird der Kölner Oberstaatsanwalt Ulf Willuhn vom Spiegel wiedergegeben[2]. Es habe sich beim Schreddern um eine „Bereinigung der Aktenbestände“ entsprechend den damals geltenden BfV-Regeln gehandelt. Damit falle ein Vorsatz für einen Verwahrungsbruch und Urkundenunterdrückung weg.

Es bleibe der Vorwurf der Strafvereitelung. Aber es gebe keinen Hinweis darauf, was vereitelt worden sein sollte. Gilt der Grundsatz „Unkenntnis schützt vor Strafe nicht“ im Falle von Geheimdienstmitarbeitern nicht?

Doch auch diese Entscheidung ist keine Überraschung, sondern sie reiht sich ein in eine Serie von Signalen einer Justiz, die sich längst vom Vorsatz verabschiedet hat, den NSU-Komplex aufzuklären. Der Journalist Andreas Förster, der das Verfahren von Anfang an publizistisch kritisch begleitet, schreibt in der Wochenzeitung „Freitag“, dass der Vorsitzende Richter im NSU-Verfahren anfangs noch Interesse an einer Aufklärung hatte. Das sei aber „am Widerstand und Blockadehaltung von Ermittlern und Behörden, vor allem am Widerstand des Verfassungsschutzes gescheitert“.

Im vergangenen Frühjahr habe Richter Götzl dann seine Bemühungen aufgegeben und erklärt, das Gericht sei nicht zu „ausufernder Aufklärung“ verpflichtet. Für Förster ist der Versuch im NSU-Prozess, die Aufklärung über die Zusammenhänge und das gesamte Ausmaß des deutschen Rechtsterrorismus zu eruieren, gegen die Wand gefahren. Förster zeigt, wie die Justiz dagegen gegen linke Militanz „ausufernd“ ermittelt.

So wurde Ende November eine Berlinerin in Karlsruhe vernommen[3], weil die Ermittlungsbehörden von ihr Auskünfte über die linke Gruppe mit dem Namen „Das Komitee“ erwarten.

Dieses hatte keine Menschen ermordet, sondern es versuchte, 1995 ein Abschiebegefängnis im Bau zu zerstören. Der Angriff hat wegen logistischer Probleme nie stattgefunden[4]. Drei Mitglieder gingen „ins Exil“, die Gruppe löste sich vor mehr als 20 Jahren auf. Obwohl die Delikte, die ihnen vorgeworfen werden, heute verjährt sind, ermittelt die Justiz akribisch-ausufernd und droht der nicht aussagebereiten Frau mit Beugehaft[5].

Die Einstellung des Verfahrens gegen Lothar Lingen kurz nach dem fünfjährigen Jubiläum der NSU-Enttarnung sorgt für Empörung. In einem Aufruf haben sich zahlreiche Migrationsforscher mit einer Erklärung[6] zu Wort gemeldet, in der sie juristische Konsequenzen für den V-Mann fordern. Dabei erinnern sie auch daran, wie in der Öffentlichkeit gelogen wurde.

„Bis zum September diesen Jahres kursierte die zweifelhafte Verlautbarung des BfV, die Akten seien, durch unglückliche Zufälle, eine Woche nach der Feststellung der drei NSU-Mitglieder Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe, unter die betrieblich festgesetzten Löschfristen gefallen. Vor dem Bundestagsuntersuchungsausschuss verwies Lingen kürzlich jedoch auf eine bereits 2014 vor der Bundesanwaltschaft getätigte Aussage: Er habe die Unterlagen explizit löschen lassen, um kritische Nachfragen beim BfV zu verhindern. Dass trotz dieser vorsätzlichen Aktenvernichtung keine Anklage durch die Bundesanwaltschaft erhoben wurde, ist ein Skandal für sich“, schreiben die Wissenschaftler und zivilgesellschaftlichen Aktivisten.

Dass es ihnen noch einmal gelingt, eine gesellschaftliche Bewegung zum Protest gegen die Straflosigkeit und die dreisten Lügen der Geheimdienste in Deutschland auf die Beine zu stellen, ist unwahrscheinlich. Der Mainstream in Deutschland hat sich schon längst vom NSU abgewandt, was auch die Aktivitäten zum fünften Jubiläum zeigten. Dort waren vor allem zivilgesellschaftliche Gruppen, die Opfer und ihre Unterstützer sowie liberale Künstler, die über den NSU Theaterstücke[7] und Filme produzieren.

Diese Arbeit sollte gerade mit Blick auf die künftigen Erzählungen über den NSU nicht gering geschätzt werden. In einigen Jahrzehnten könnte vor allem in den Kunstwerken die Sicht auf den NSU deutlich werden, die in den offiziellen Darstellungen ausgeblendet wird und auch beim Prozess nicht berücksichtigt wird. Auch die Ergebnisse des Tribunals NSU-Komplex auflösen[8], das für Mitte Mai 2017 in Köln geplant ist, dürfte für die Nachwelt Spuren hinterlassen.

Solche Aktivitäten machen deutlich, dass die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten der letzten fünf Jahre nicht vergebens waren. Sie mögen sich nicht in die offizielle Justiz und Politik einschreiben, dafür aber in Kunst, Kultur und Literatur. Es könnte in einigen Jahrzehnten so sein, dass sich ein Bild über den NSU und die Rolle der Justiz und der offiziellen Politik herausschält und prägt , das an die Rolle der ideologischen Staatsapparate im Westdeutschland der 1950er Jahre in Bezug auf die NS-Verbrechen erinnert. Auch damals ging die Aufklärung nicht von Staat und Justiz aus.

https://www.heise.de/tp/features/Wir-lassen-den-NSU-Komplex-nicht-verjaehren-3464634.html

13.11.2016  –  Peter Nowak

URL dieses Artikels:
http://www.heise.de/-3464634

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/Erloes-aus-NaziKonzert-fliesst-an-NSUHelfer/story/27928624
[2] http://www.spiegel.de/panorama/justiz/nsu-aktenschreddern-bleibt-fuer-verfassungsschuetzer-folgenlos-a-1120662.html
[3] http://dageblieben.net/category/aktuelles
[4] http://radikal.squat.net/komitee/komitee1.htm
[5] https://rhka.wordpress.com/2016/10/18/vorgeladene-person-auf-freiem-fuss-beugehaft-angedroht/
[6] http://kritnet.org/2016/appell-fuer-ein-verfahren-gegen-lothar-lingen/?from=box-a1
[7] http://www.heimathafen-neukoelln.de/node/177
[8] http://nsu-tribunal.de