40 Jahre RDL – Podiumsdiskussion Gegenöffentlichkeit in Zeiten von ‘Fake News’ und ‘Lügenpresse’


Freitag 23. Juni ‘17, 18 Uhr
Uni Freiburg, Kollegiengebäude I, HS 1015

Pegida schimpft über die „Lügenpresse“ und Trump verbreitet „Fake News“. Die Zeit der Alternativlosigkeit ist vorbei – aber die Alternative scheint jetzt von rechts zu kommen. Da bleibt der Linken als Gegenpol der Status quo. Radikale Medienkritik ist out und Gegenöffentlichkeit klingt nach einem Möbel aus verschwörungstheoretischen „Echokammern“ der sozialen Medien. Dort kann ohnehin jede_r (fast) alles veröffentlichen.
Wozu also noch selbst eigene Medien machen? Ist das nicht ein umständliches Relikt aus der Zeit, wo noch Comuniqués auf Tonband gelesen wurden? Stärkt der Ruf nach Medienkritik und alternativen Medien nicht die Falschen? Oder ist sogar einfach schon alles gesagt?
Für was braucht es Gegenöffentlichkeit? Kritisieren die diversen öffentlich-rechtlichen Formate nicht viel besser und wirksamer als wir? Wer ist die Zielgruppe von Gegenöffentlichkeit? Gegen wen oder was richten wir uns? Welche Formen und Inhalte besitzen noch Sprengkraft?
Es diskutieren:
Peter Nowak – Freier Journalist
Alex Körner – Radio Corax
Georg Restle – ex-RDL, jetzt WDR (u.a. MONITOR)
u.a.

https://rdl.de/beitrag/gegen-ffentlichkeit-zeiten-von-fake-news-und-l-genpresse

Neues Deutschland:

https://peter-nowak-journalist.de/2017/06/21/crowdfunding-gegen-kriegsverbrechen-in-syrien/


https://peter-nowak-journalist.de/2017/06/20/verbrecherjagd-dank-crowdfunding/

Telepolis:

https://peter-nowak-journalist.de/2017/06/20/grune-und-die-jamaica-vibes/

Taz:

https://peter-nowak-journalist.de/2017/06/14/protest-gegen-nobelbau/“>https://peter-nowak-journalist.de/2017/06/14/protest-gegen-nobelbau/“>https://peter-nowak-journalist.de/2017/06/14/protest-gegen-nobelbau/
Menschen machen Medien:


https://peter-nowak-journalist.de/2017/06/15/raubkopien-youtube-muss-handeln/


Neues Deutschland.

https://peter-nowak-journalist.de/2017/06/15/wirbel-um-grup-yorum/“>https://peter-nowak-journalist.de/2017/06/15/wirbel-um-grup-yorum/“>https://peter-nowak-journalist.de/2017/06/15/wirbel-um-grup-yorum/
Telepolis

https://peter-nowak-journalist.de/2017/06/15/grup-yorum-verbote-schikanen-finanzielle-verluste/

Weitere aktuelle Artikel:

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Crowdfunding gegen Kriegsverbrechen in Syrien

Das Geldsammeln im Internet boomt. Jetzt soll mit Crowdfunding dazu beigetragen werden, dass ein Beschluss der UN-Vollversammlung umgesetzt wird

Deutsche und syrische Menschenrechtsgruppen sammeln unter dem Motto „Crowdfunding gegen Kriegsverbrecher“[1] im Internet Spenden, damit die Untersuchung über die Menschenrechtsverletzungen in Syrien beginnen können. Die von der UN-Generalversammlung verabschiedete Resolution A/71/248[2] sieht einen unabhängigen Mechanismus (IIIM – International, Impartial and Independent Mechanism) vor zur Untersuchung schwerstwiegender Verbrechen in Syrien sowohl vonseiten des Regimes als auch von verschiedenen islamistischen Gruppierungen.

„Vor sechs Monaten hat die UN-Vollversammlung Ermittlungen zu den Kriegsverbrechen in Syrien beschlossen. Geschehen ist bisher nichts“, so der Menschenrechtsanwalt Mazen Darwish, Leiter des Syrian Center for Media and Freedom of Expression[3].

Jeder Tag, an dem nicht ermittelt wird, ist ein Geschenk an die Täter, denn es zeigt: Kriegsverbrechen lohnen sich.
Mazen Darwish

Elias Perabo, der Geschäftsführer des Bündnisses Adopt the revolution[4], das die zivilgesellschaftlichen Kräfte in Syrien unterstützt, erklärt gegenüber Telepolis, die Untersuchungen konnten bisher nicht beginnen, weil die nötigen finanziellen Mitteln nicht bereit stünden.
Gerechtigkeit darf nicht am Geld scheitern

Der Geldmangel ist nicht verwunderlich. Sowohl Russland als auch die USA haben kein Interesse, eine Initiative zu unterstützen, die nicht von ihnen, sondern von der UN-Vollversammlung ausgegangen ist. Deutschland hat bisher eine Million beigesteuert. Eine größere Unterstützung wird vom Bundesaußenministerium mit dem Verweis abgelehnt, dass die Finanzierung von unterschiedlichen Ländern getragen werden soll.

„Die Strafverfolgung in Syrien darf nicht an fehlendem Geld scheitern“, betonen die zivilgesellschaftlichen Initiativen[5], die die Spendenkampagne unterstützen. Dazu gehört auch die Organisation Medico International[6]. Deren Mitarbeiter Thomas Seibert will mit der Spendenkampagne auch das Versagen der Politiker deutlich machen. „Für die EU wären es Peanuts die fehlende Summe auszugleichen und damit den politischen Willen für Strafverfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu unterstreichen“, so Seibert.

Tatsächlich wurde schon 24 Stunden nach Beginn der Crowdfunding-Kampagne mehr Geld gesammelt, als Staaten wie etwa Slowenien für die Strafverfolgung beigesteuert haben.

Zeichen gegen Straflosigkeit

Für Perabo geht es nicht nur um das Sammeln von Geld, sondern auch um die politische Debatte. Die Kampagne sei ein Zeichen für die Stärke der Zivilgesellschaft. Sie schafft es, unabhängig von den Staaten dafür zu sorgen, dass die UN-Initiative beginnen kann. Das wäre wiederum auch ein wichtiges Zeichen an die syrische Zivilgesellschaft, die sowohl vom syrischen Regime als auch von den unterschiedlichen islamistischen Gruppierungen bekämpft wird.

Auf die Vorarbeit dieser syrischen Zivilgesellschaft könnten sich die Ermittler bei ihrer Arbeit stützen, wenn sie denn mit den Untersuchungen beginnen könnten. Perabo verweist auf die vielen Geflüchteten, die in den letzten Monaten in europäischen Staaten Schutz gesucht haben und Opfer von Menschenrechtsverletzungen des Regimes oder islamistischer Gruppen geworden sind.

Zudem seien unter den syrischen Migranten viele Juristen, die nicht verstehen, warum in den europäischen Ländern die Ermittlungen noch nicht begonnen haben. „Ihnen ist nicht zuzumuten, dass sie weiter warten müssen, bis genug Geld vorhanden ist. 6 Monate sind genug“, betont Perabo.

Ein Beginn der Ermittlungen wäre auch ein Signal die Folterer auf allen Seiten, dass sie strafrechtlich nicht immun sind. Dabei verweist Parabo auf die Islamisten verschiedener Länder, die sich in den letzten Jahren im IS-Gebiet beim Foltern fotografieren ließen und die Videos ins Netz stellten, um weitere Mordkumpane zu rekrutieren.

Manche von ihnen waren überrascht, dass sie wegen dieser Videos in Deutschland und anderen Ländern strafrechtlich zu Verantwortung gezogen wurden. Mittlerweile ist diese Art von Terrorpropaganda weniger geworden, was sicher auch Gründe in der schnellen Entzauberung des IS hat.

Aber auch das Wissen darum, dass die Täter und ihre Unterstützer können strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können, dürfte manchen Pogromhelden Zügel dafür angelegt haben, ihre Mordlust ganz offen zur Schau zu stellen.


Ermittlungen gegen Islamisten und Regime

Die Kräfte, die es auch in Kreisen der autoritären Linken gibt, die einer Stärkung des syrischen Regimes etwas Positives abgewinnen können, werden allein deswegen gegen Untersuchungen sein und die Kampagne ablehnen.

Doch das ist politisch kurzsichtig. Gerade eine solche juristische Untersuchung könnte doch mit zur Klärung beitragen, für welche Verbrechen das Regime verantwortlich ist und für welche die unterschiedlichen islamistischen Gruppen. Die vehemente Ablehnung der syrischen Regierung, eine solche Untersuchung zuzulassen, spricht nicht dafür, dass es sie nicht gibt.

Unverständlicher ist noch, dass Teile der Linken in Deutschland und anderen Ländern das Regime hierbei verteidigen. Dabei müsste doch die Einrichtung einer unabhängigen Untersuchung die logische Konsequenz dieser Auseinandersetzung sein.

Es gibt viele Zeugnisse über diese alltägliche Folter[7]. Besonders die Berichte eines angeblichen Geheimdienstüberläufers mit dem Alias-Namen Cäsar[8] haben international für Empörung gesorgt. Es wäre auch die Aufgabe der Untersuchung, hier mehr Klarheit zu schaffen.
https://www.heise.de/tp/features/Crowdfunding-gegen-Kriegsverbrechen-in-Syrien-3751235.html

Peter Nowak
URL dieses Artikels:
http://www.heise.de/-3751235

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.crowd4justice.org/
[2] http://www.un.org/en/ga/71/resolutions.shtml
[3] https://scm.bz/en/
[4] https://www.adoptrevolution.org/
[5] http://www.presseportal.de/pm/14079/3662994
[6] https://www.medico.de/
[7] http://www.20min.ch/panorama/news/story/Laut-Amnesty-18-000-Tote-in-Syriens-Gefaengnissen-28008729
[8] http://www.spiegel.de/politik/ausland/fotos-aus-syrien-zeigen-systematische-folter-und-mord-a-944593.html

Hier die Links zu meinen aktuellen Artikeln:

Telepolis:

https://peter-nowak-journalist.de/2017/06/20/grune-und-die-jamaica-vibes/

Taz:

https://peter-nowak-journalist.de/2017/06/14/protest-gegen-nobelbau/“>https://peter-nowak-journalist.de/2017/06/14/protest-gegen-nobelbau/“>https://peter-nowak-journalist.de/2017/06/14/protest-gegen-nobelbau/
Menschen machen Medien:


https://peter-nowak-journalist.de/2017/06/15/raubkopien-youtube-muss-handeln/


Neues Deutschland.

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Telepolis

https://peter-nowak-journalist.de/2017/06/15/grup-yorum-verbote-schikanen-finanzielle-verluste/

Wohnen und „Recht auf Stadt“-Kämpfe im Ruhrgebiet

MieterEcho online 09.05.2017

Zum Dokumentarfilm DAS GEGENTEIL VON GRAU

Die Filmaufführung war am Sonntagabend im Lichtblick-Kino ausverkauft. Einige BesucherInnen mussten auf einen späteren Termin vertröstet werden. Gezeigt wurde DAS GEGENTEIL VON GRAU, der neue Film des Regisseurs Matthias Coers. Dort werden über 20 MieterInnen- und Recht auf Stadt-Initiativen aus dem Ruhrgebiet vorgestellt.
Coers hat unter aktiven MieterInnen einen guten Namen. Schließlich ist er einer der Regisseure des Films Mietrebellen, der seit drei Jahren in vielen Kinos in der ganzen Republik gezeigt wird und mittlerweile in 7 Sprachen übersetzt wurde. Er zeigt die Vielfältigkeit und Entschlossenheit der Berliner MieterInnenbewegung und motiviert auch Menschen in anderen Städten und Regionen. Dazu gehören auch die AktivistInnen der Initiative „Recht auf Stadt Ruhr“. Sie haben sich an Coers gewandt, weil sie nach dem Vorbild der MIETREBELLEN eine Art Bewegungsfilm für das Recht auf Stadt im Ruhrgebiet machen wollten. 2015 hat Matthias Coers gemeinsam mit Grischa Dallmer und dem Ruhrgebiets-Team mit den Dreharbeiten begonnen und der Kontakt zu den verschiedenen Gruppen ist dann über die Stadtaktiven vor Ort entstanden. Ende März hatte der Film bei Teampremieren im https://www.bmgev.de/mieterecho/mieterecho-online/das-gegenteil-von-grau.html
MieterEcho online 09.05.2017

Peter Nowak

Peter Nowak

Es soll deutsch regiert werden

Wahl in Frankreich: Linke sollen sich für Macron entscheiden?

Formal findet die Stichwahl in Frankreich erst am 7. Mai statt. Doch für die internationalen Beobachter ist die Wahl gelaufen und schon machen sich mache Gedanken, ob Macron die Grausamkeiten gegen die Lohnabhängigen durchsetzen kann, die Deutschland hinter sich hat.

„Der So-gut-wie-Präsident“, lautet die Überschrift im Journal Internationale Politik und Gesellschaft[1] neben einen Konterfei von Emmanuel Macron, der nicht zufällig wie eine jugendliche Ausgabe von Sarkozy aussieht.

Bei der IPG wird nicht mehr diskutiert, ob Macron gegen Le Pen die zweite Runde gewinnt, sondern ob ihm, dem Newcomer ohne Parteibündnis bei den Parlamentswahlen, eine eigene Mehrheit im Parlament gelingt. Die Politikberater machen sich Gedanken, was passiert, wenn Macron ohne diese regieren muss:

Wenn ihm also die eigene parlamentarische Mehrheit fehlen sollte, bestehen drei Optionen. Erstens könnte sich eine der größeren Fraktionen auf eine Koalition mit Macron einlassen. Das wäre ein Novum in der französischen Politik, seit Charles de Gaulle die V. Republik schuf. Zweitens und eher vorstellbar wäre die Stützung seiner Politik ohne formalisierte Koalitionsvereinbarung oder drittens die als Ausnahmefall bereits praktizierte Cohabitation, bei der der Präsident mit einem von der Opposition unterstützten Ministerpräsidenten regiert
IPG-Journal[2]

Der Mythos von den unversöhnlichen Parteien in Frankreich

Nun wird sehr viel Wind um die angebliche französische Eigenart gemacht, dass es keine Kompromisse zwischen den französischen Parteien gebe. Gleich in mehreren Wahlkommentatoren durfte die inhaltsleere Metapher von der Französischen Revolution[3] nicht fehlen, die Macron angeblich schaffen könnte.

Dass auch die konservative Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) diese Wortwahl[4] bemüht, muss nicht verwundern. Was hier als „Französische Revolution“ ausgegeben wird, ist nämlich exakt das Gegenteil. Die Französische Revolution stand für den Aufstand des 3. Standes, den Aufbruch einer bürgerlichen Gesellschaft und war das Gegenteil zum kleingeistig-reaktionären Preußentum, das sich bald in Deutschland breit machte.

Immer dann, wenn selbstbewusste Bürger als Citoyen auf die Straße gehen, wurde die Französische Revolution wieder aufgerufen. Sie stand dafür, keine Angst vor den Autoritäten zu haben weder in der Fabrik, am Arbeitsamt noch in der Gesellschaft. Was aber Macron nach der Hoffnung der KAS, der Bild-Zeitung und anderen leisten soll, ist die Demontage dieses Images der Französischen Revolution.

Er soll endlich die Reformen im Interesse der deutsch-europäischen Wirtschaft in Angriff nehmen, an denen sich seine Vorgänger, zuletzt Hollande, verhoben hatten. Wenn nun so stark betont wird, dass Macron keiner der alten Parteienfamilien entstammt, dann wird die Hoffnung geäußert, dass für ihn im Zweifel die wirtschaftsliberalen Denkfabriken mehr Gewicht haben als für einen Präsidenten, der sich gelegentlich seinen Rückhalt bei den Parteien holen muss.

Dabei ist es ein Mythos, dass die Parteien in Frankreich eine gegenüber Kapitalinteressen unversöhnlichere Rolle spielten als in Deutschland. Auch in Frankreich hat Hollande nach der Wahl die Politik fortgesetzt, die Sarkozy und die Konservativen propagierten. Alle Versprechungen von Hollande, er wolle die EU auch gegenüber Merkel sozialer machen, waren Makulatur.

Er machte gar nicht den Versuch, sich mit Ländern der europäischen Peripherie gegen die deutsche Austeritätspolitik zu wehren. Zudem gab es bereits in den vergangenen Jahren ganz offiziell eine Politik der Cohabitation, also der Zusammenarbeit zwischen den Parteien. Was vielmehr von Macron erwartet wird, ist dass er eben ohne Parteiinteressen ganz im Interesse der Wirtschaftsliberalen durchregieren wird und vor allem auch den Widerstand auf der Straße und in den Betrieben von den Basisgewerkschaften ignoriert oder sogar repressiv bekämpft.

Cohn-Bendit und Interessen der deutschen EU

Ein früher Unterstützer von Macron war der langjährige Grüne Daniel Cohn-Bendit[5], dem noch immer die Aura der Rebellion von 1968 anhaftet. Doch auch da war eben viel Mythos im Spiel. Cohn-Bendit gehörte sehr schnell zu den Neuen Linken, die ihren gegen den Stalinismus berechtigten Linksradikalismus in eine Liebe zum Westen umwandelte.

Der Westen wurde bald die EU. Und seit mehr als zwei Jahrzehnten kann Cohn-Bendit als Propagandist der deutsch-imperialistischen Interessen im grünen Gewand immer auf ein aufmerksames Publikum zählen. Das war auch am Dienstagabend in der Berliner Schaubühne so, als Cohn-Bendit mit mehreren deutschfranzösischen Journalistinnen über die Frankreich-Wahl und die Folgen diskutierte[6].

Obwohl die auch für den Tagespiegel arbeitende Publizistin Pascale Hugues sowie die Journalistinnen Hélène Kohl und Elise Graton nur in Nuancen von Cohn-Bendit abwichen, hätten sie doch einige interessante Details beisteuern können. Doch die Diskussion drehte sich hauptsächlich um Cohn-Bendit. Der aber machte in einer emotional gehaltenen Rede deutlich, warum er niemals den Kandidaten der Linken Jean-Luc Mélenchon unterstützen würde.

Inhaltlich ist das ja gar nicht so einfach zu begründen. Schließlich hatte der Linke ein ökologisches Programm und setzte sich für einen Ausstieg aus der Atomkraft ein. Doch für Cohn-Bendit stand er außenpolitisch auf der falschen Seite, d.h. nicht auf der Seite von Deutsch-Europa. So sei er im Konflikt zwischen China und Tibet nicht auf Seiten der tibetanischen Opposition gewesen wie Cohn-Bendit.

Dass diese im Wesentlichen aus Vertretern der klerikalen Gelbmützensekte bestand, die es mit den Menschenrechten nicht so genau nahm[7], erwähnte Cohn-Bendit nicht. Aber dass Mélenchon im Kosovo-Konflikt auch die serbische Seite nicht von vornherein als illegal empfand und dass er auch im Ukraine-Konflikt den Bösen nicht nur in Putin sah, regte Cohn-Bendit derart auf, dass er erklärte, einen, der sich so positioniere, würde Dany le Rouge nur über seine Leiche unterstützen.

Unabhängig davon, wie man die einzelnen Konflikte beurteilt, ist auffällig, dass Cohn-Bendit kein Problem mit einem Bündnis mit ukrainischen Rechten bis zu syrischen Islamisten hat. Wichtiger noch, er unterstützt von Serbien über Tibet bis zur Ukraine überall die Kräfte, die schon vor 1945 Bündnispartner Deutschlands waren und es bis heute noch sind.

Dass Cohn-Bendit zu Mélenchons Missetaten auch eine Aufforderung an Merkel zählt, diese solle einfach mal das Maul halten, komplementiert das Bild von einem Mann, der als junger Linksradikaler gesprungen und als deutscher Schäferhund gelandet ist.

Unmut bei Cohn-Bendit und einigen Zuhörerin zog sich der Schaubühne-Regisseur Thomas Ostermeier zu, der es tatsächlich wagte, eine prononcierte Gegenmeinung zu Cohn-Bendit zu äußern, die in der Frage gipfelt, warum prekäre Franzosen den Kandidaten Macron wählen sollen, der nun die Mehrheit der Bevölkerung mit jenen Zumutungen beglücken will, die in Deutschland als Hartz-IV bekannt sind.

Cohn-Bendit, Pascale Hugues sowie Hélène Kohl wurden nicht müde zu berichten, wie genau die konservativen Medien verfolgen, wie in Deutschland diese Zumutungen umgesetzt wurden und wie die französische Elite davon lernen kann. Zumindest ein Zuhörer konnte die Lüge widerlegen, dass es in Deutschland keine Proteste gegen Hartz-IV gab. Dass es damals eine monatelange Protestbewegung gab und als Spätfolge über den Umweg der WASG die Linkspartei daraus entstand, muss ein Cohn-Bendit und die ihm huldigen Journalisten nicht mehr wissen.


Wer Macron nicht wählt, ist schuld an Le Pen

Dafür wurden schon neue Gegner ausgemacht. Dass sind all die Linken, die nicht mit fliegenden Fahnen und möglichst noch in der Wahlnacht zur Wahl von Macron aufgerufen haben. Da ist natürlich Cohn-Bendit in einer paradoxen Situation.

Einerseits ist er davon überzeugt, dass Le Pen bei den Wahlen keine Chance hat, und da hat er wahrscheinlich Recht. Andererseits darf Macron auch nicht den Eindruck erwecken, die Wahlen seien schon gelaufen. Sonst werden eben viele einfach die Wahlen boykottieren. Da wurde schon erinnert, dass ein Teil der Konservativen, Klerikalen etc. im Gegensatz zu Fillon nicht für Macron stimmen wollen.

Umso mehr werden nun die Linken in die Pflicht genommen. So haben die oft aus einen Missverständnis bestehende Sympathien deutscher Linksliberaler mit dem französischen Soziologen Didier Eribon bereits starke Risse bekommen, weil der bekennende Mélenchon-Wähler[8] eben nicht bereit[9] ist, Macron zu wählen und zur Erneuerung der Linken aufruft[10].

Er ist nicht allein. Auch Geoffroy de Lagasneri hatte – vor der ersten Wahlrunde – eindeutig erklärt[11], dass das Hochschreiben von Le Pen dazu dient, eine linke Alternative zu diskreditieren:

Das Problem ist, dass alle nur noch strategisch wählen und wir uns kaum noch fragen, was wir eigentlich möchten. Wir sollten diese Frage vermeiden und stattdessen neue Dynamiken für die Linke entwickeln – mit einem sozialistischen Kandidaten oder Jean-Luc Mélenchon.
Geoffroy de Lagasnerie

Der Philosoph und Essayist (vgl. „Die Kunst der Revolte“[12] über Snowden, Assange und Manning) hat auch ganz klar benannt, wofür Macron steht:

Ordnung, Gehorsam und Hierarchie. In jedem Aspekt des sozioökonomischen Lebens ist er immer für den Abbau jener Systeme, die die Menschen vor sozialer Gewalt schützen. Er will das Arbeitsrecht aufheben – die Arbeiterrechte beschneiden und die Arbeitgeberrechte stärken -, um die Klassenordnung zu stärken. Er will die allgemeine Wehrpflicht einführen. Und in einem Gay-Magazin auf mehr Rechte für die Transgender angesprochen, antwortete er, das sei sehr kompliziert, weil mehr Rechte für Transgender eine Provokation für das französische Seelenleben bedeuteten.
Geoffroy de Lagasnerie

Lagasnerie hat auch eine Erklärung für das Hochschreiben von Le Pen:

Damit wir am Ende glücklich sind über einen rechten konservativen Kandidaten. So war es in den Niederlanden. Da wird unsere Angst regiert. Lassen Sie uns nicht über die FN-Wähler sprechen, sondern über die vielen, die nicht wählen können und tatsächlich Ausgeschlossene sind. Menschen, die den FN wählen, tun dies, um repräsentiert zu werden. Das ist ein sehr gewaltvoller Akt. Aber was ist mit den Schwarzen, den Arabern in der Banlieue, die sich ausgeschlossen fühlen?
Geoffroy de Lagasnerie

Frankreich im Ausnahmezustand unter Macron oder Le Pen

Auch Edouard Louis hält[13] nichts von der These, dass Macron das Gegenmittel zu Le Pen sind:

Blödsinn. Politiker wie Macron haben Le Pen stark gemacht. Sie gaben sich als Linke und haben lupenrein rechte Politik gemacht, die Banken unterstützt, das Parlament geschwächt. Wenn er im ersten Wahlgang gewinnt, hat Le Pen im zweiten Wahlgang gute Chancen. Weil sie in erster Linie das Produkt des Ekels vor dieser konservativen Linken ist. Ich habe meine Mutter vor der letzten Wahl überzeugt, für Präsident François Hollande zu stimmen. Heute sagt sie, du hast mich betrogen, er hat vier Jahre lang Politik gegen uns gemacht. Jetzt ist sie geradezu besessen von Le Pen.
Edouard Louis[14]

Nun hat Louis als einer der wenigen Linken auszusprechen gewagt, dass die Wahlen tatsächlich erst am 7. Mai zu Ende sind und bis dahin auch ein Sieg von Le Pen theoretisch noch denkbar ist. Darauf werden jetzt alle Fans von Macron setzen.

Sie würden natürlich auch nicht fragen, ob eine erklärte Wirtschaftsliberale gegen einen Rechtspopulisten auch schon in den USA verloren hat. Manchen war es auch peinlich, dass in EU-Kreisen und der Bundesregierung bereits nach dem ersten Wahlabend in Frankreich von einem guten Ergebnis für Europa gesprochen wurde. Da wurde doch zu offensichtlich das Kreuzeln für irrelevant erklärt.

Da könnte man sich ja gleich Algerien zum Vorbild nehmen. Dort wurde, nachdem Anfang der 1990er Jahre die Islamistische Rettungsfront zu stark wurde, der zweite Wahlgang einfach abgesagt. Das wird man in Frankreich wohl nicht machen. Aber selbst wenn wahrscheinlich Macron auch gewinnt – auch ohne Unterstützung aller Linken -, dürfte er eine Politik machen, die die Rechte weiter stärkt. Es wäre nur zu hoffen, dass auch die entschiedene Linke sich weiter entwickelt, damit bei den nächsten Wahlen wirklich wieder eine zumindest begrenzte Alternative möglich ist.

Ansonsten ist zu hoffen, dass die sozialen Bewegungen und Basisgewerkschaften sich wieder auf der Straße zu Wort melden, und allen Präsidenten deutlich machen, dass mit ihren Widerstand zu rechnen ist. Schließlich hatte ja erst im letzten Jahr eine Kombination aus sozialer Bewegung und Gewerkschaften für mehrere Monate in Frankreich die politische Agenda bestimmt.

In dieser Zeit war der Front National ins Hintertreffen geraten. Die transnationale Unterstützung ist umso wichtiger, weil ja in Frankreich weiterhin der Ausnahmezustand gilt und keiner der Präsidentschaftsbewerber ihn aufheben will. In der aktuellen Ausgabe der Zeitung für Bürgerrechte Cilip[15] wird auf dieses Frankreich im Ausnahmezustand eingegangen.

Es besteht die Gefahr, dass soziale Grausamkeiten wie die Agenda 2010 oder die Rente mit 67 im Zeichen des Ausnahmezustands durchgesetzt werden sollen. Bezeichnend war schon, dass diese Sondergesetze bei der Veranstaltung von Cohn-Bendit genau so wenig erwähnt wurden, wie die aktuellen sozialen Bewegungen, mit denen der Posterboy der 68er nichts zu tun hat.

URL dieses Artikels:
Peter Nowak

https://www.heise.de/tp/features/Es-soll-deutsch-regiert-werden-3699072.html?seite=4
http://www.heise.de/-3699072

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.ipg-journal.de/schwerpunkt-des-monats/frankreich-vor-der-zaesur/artikel/detail/der-so-gut-wie-praesident-2000/
[2] http://www.ipg-journal.de/schwerpunkt-des-monats/frankreich-vor-der-zaesur/artikel/detail/der-so-gut-wie-praesident-2000/
[3] http://www.bild.de/politik/ausland/emmanuel-macron/waere-macron-gut-fuer-europa-und-deutschland-51418912.bild.html
[4] http://www.kas.de/wf/de/33.48666/
[5] http://www.cohn-bendit.eu/de
[6] http://taz.de/!164153/
[7] http://www.taz.de/Archiv-Suche/!1452036&s=goldner&SuchRahmen=Print
[8] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1048825.eribon-waehlt-am-sonntag-melenchon.html
[9] http://www.sueddeutsche.de/politik/praesidentschaftswahl-in-frankreich-didier-eribon-wer-macron-waehlt-waehlt-le-pen-1.3470851
[10] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/didier-eribon-zur-krise-der-linken-in-frankreich-14973605.html
[11] http://www.taz.de/!5398106/
[12] http://www.deutschlandfunkkultur.de/geoffroy-de-lagasnerie-die-kunst-der-revolte-helden-des.950.de.html?dram:article_id=345604
[13] http://www.sueddeutsche.de/kultur/frankreich-die-linke-muesste-meine-eltern-ansprechen-ohne-soziorassistisch-zu-sein-1.3469363
[14] http://www.sueddeutsche.de/kultur/frankreich-die-linke-muesste-meine-eltern-ansprechen-ohne-soziorassistisch-zu-sein-1.3469363
[15] https://www.cilip.de/2017/03/05/112-maerz-2017-alles-anti-terror/

Das migrantische Leben lässt sich nicht vertreiben Deutschland

Gespräch mit Ayşe Güleç zum Tribunal »NSU-Komplex« auflösen

Interview: Peter Nowak
Vom 17. bis 21. Mai 2017 wird in Köln-Mühlheim das Tribunal NSU-Komplex auflösen in direkter Nähe zur Keupstraße stattfinden – dort, wo der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund (NSU) im Jahr 2004 mit einer Nagelbombe die ganze Keupstraße,
stellvertretend für die Gesellschaft der Vielen, angriff. Ayşe Güleç ist in der Initiative 6. April und in der Koordinierungsgruppe
für das NSU-Tribunal aktiv.

Es gab mehrere parlamentarische Untersuchungsausschüsse, die sich mit dem NSU befassten. Warum noch ein NSUTribunal?
Ayşe Güleç: Die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse (PUA) auf der Landesebene sind recht unterschiedlich. Deren Arbeit und Untersuchungsresultate hängen meist vom politischen Willen Einzelner ab und davon, ob und wie sich diese mit behördlichen Auslassungen, Versäumnissen und Fehlern im Kontext NSU-Komplex befassen. Insbesondere durch die Arbeit der PUA Thüringen und durch den Untersuchungsausschuss des Bundes wurden Versäumnisse und die rassistische Grundhaltung in den Sicherheitsbehörden öffentlich. Das Tribunal NSU-Komplex auflösen ist eine Bewegung und eine bundesweite Allianz und Zusammenarbeit von Betroffenen, Einzelpersonen aus Film, Kunst, Aktivismus, Rassismusforschung und anti-rassistischen
Initiativen. Ich sehe das Tribunal als eine gesellschaftlich-politische Notwendigkeit, die längst fällig ist. Es will und kann
nicht Sicherheitsbehörden verbessern durch Reformen, sondern wird den strukturellen Rassismus, der sich im NSU-Komplex offenlegt, in den verschiedenen institutionellen Facetten aufzeigen und anklagen. Die Erzählungen und das Wissen der durch den NSU-Komplex Getroffenen werden ins Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt. Von diesem migrantisch situierten Wissen der Angehörigen der Mordopfer sowie der Überlebenden des Nagelbombenanschlags können wir alle lernen.

Wie lange wird dieses Tribunal schon vorbereitet und was soll dort passieren?
Nach dem Öffentlichwerden des sogenannten NSU entstanden in vielen Städten Initiativen, die Verbindungen zu den Betroffenen aufbauten. Schnell fanden diese Initiativen zueinander und setzten als buaündnis verschiedene m: Straßen wurden nach den Mordopfern umbenannt, um ihre Namen medial in die Öffentlichkeit und ins Bewusstsein zu bringen, gemeinsam begleiteten wir die Betroffenen der Nagelbombe zum Prozess nach München und sorgten für Aufmerksamkeit, damit ihre Zeugenschaft eine breite Öffentlichkeit bekommt. Das führte uns zu der Idee für das Tribunal. Nach kurzer Zeit ist die Vorbereitungsgruppe des Tribunals auf eine große Allianz von über 100 Menschen angewachsen. Mit dem Tribunal geht es uns darum, die verschiedenen institutionellen Bestandteile und deren Wirkmechanismen aufzufächern, um die Verantwortlichen und Institutionen anzuklagen, die darin gehandelt haben. Denn bisher gab es nur zögerliche Affekte auf die Taten, Täterinnen und Täter. Das Tribunal Betroffenen.

Die Frage, wie Geheimdienste im NSU verstrickt waren, spielte in der Diskussion eine große Rolle. Soll das Thema auch auf dem Tribunal im Vordergrund stehen?
Inzwischen wissen wir alle, dass die Geheimdienste eines der wesentlichen Bestandteile des NSU-Komplexes sind. Deutlich wird dies beispielsweise an dem Mord an Halit Yozgat – dem jüngsten und neunten Opfer der rassistisch motivierten Mordserie des NSU. Während der Mordzeit befand sich der ehemalige Verfassungsschützer Andreas Temme im Internet-Café. Er behauptete lange Zeit, dass er nichts gesehen, nichts gehört und auch sonst nichts bemerkt habe. Die Familie Yozgat hingegen hat jahrelang Temmes Ungereimtheiten thematisiert und gefolgert, dass er entweder lügt, die Mörder kennt und diese deckt oder er
elbst Halit ermordet hat. Wir wissen alle auch, dass der Quellenschutz vorgeschoben wurde und Temmes Neo-Nazi V-Mann nicht verhört werden konnte. Wir waren und sind alle Zeuginnen und Zeugen: Über viele Jahre wird von politischen Instanzen versucht, die Beteiligung des Staates rauszuhalten. Die Ermittlungsbehörden setzten die Angehörigen von Enver Şimşek, Abdurahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Teodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat unter Druck, beschuldigten und kriminalisierten sie über viele Jahre. Sie wirkten und wirken daran, dass das Wissen der Angehörigen der Mordopfer sowie der Überlebenden der Bombenanschläge über Jahre nicht hörbar war. Stattdessen wurden die Betroffenen öffentlich verdächtigt, kriminalisiert und beschuldigt, wurden wie Täter behandelt. Die Welt der Ermittler bestand aus Phantasmen: Sie nutzten Fotografien einer blonden Frau, um drei trauernden Witwen ein erfundenes Doppelleben ihrer ermordeten Ehemänner zu beweisen. Wie wanderten diese Fotografien von dem einen Beamten zu dem nächsten? Wer schrieb die Nutzungsanleitung für diese Vernehmungen? Diesen rassistischen Ermittlungsmethoden folgten ebensolche Medienberichte. Aus dem Wissen und den Erfahrungen der direkt Betroffenen ist abzuleiten, was wir alle gemeinsam beklagen, was wir anklagen
und was wir daraus für die Zukunft als Konsequenzen fordern müssen.

Noch immer kämpfen Angehörige in mehreren Städten dafür, dass die Straßen an den Tatorten die Namen der Opfer tragen sollen. Wird das auf dem Tribunal auch ein Thema sein?
Dies ist eine Forderung der Angehörigen. Auch Initiativen, die in der Zeit der Pogrome der 1990er Jahre entstanden sind, werden beim Tribunal dabei sein: der Freundeskreis zum Gedenken an Mölln, die Oury-Jalloh-Initiative und andere wie die Burak-Bektaş-Initiative. Noch immer gibt es viele Kämpfe von Initiativen und Überlebenden der 1980er und 1990er Jahre. Umbenennungen
von Straßen oder Plätzen nach den Mordopfern sind wichtig. Es ist eine wichtige Form der Geschichtsschreibung im öffentlichen Raum. Bundesweit gibt es auf der kommunalpolitischen Ebene eine beharrliche Weigerung, bestehende Straßen nach Opfern von rassistischer Gewalt umzubenennen. Einfacher scheint dies bei Plätzen zu gelingen, die zuvor keinen Namen hatten.


Während die Angehörigen der Opfer schon früh von Nazimorden sprachen, blieb auch ein Großteil der Antifabewegung
abseits. Wie hat sich das Verhältnis zwischen den Betroffenen und antifaschistischen Gruppen weiter entwickelt?

Lange Zeit hat die Berichterstattungen über organisierte Kriminalität andere, solidarische Bewegungen mit den Betroffenen verhindert hat. Das war eine rassistische Spaltung, die durch den nun zweijährigen Vorbereitungsprozess des Tribunals überwunden ist. Die Angehörigen der Mordopfer haben schon immer deutlich formuliert, dass Nazis für die Morde verantwortlich
zu manchen sind. Schon nach dem dritten Mord erkannten die betroffenen Familienangehörigen die Morde als eine Serie gleicher Täter oder Täterinnen. Nach der Nagelbombe wussten die Betroffenen aus der Keupstrasse ebenfalls, dass die Bombe Teil der Mordserie ist. Die Trauerdemo »Kein 10. Opfer« war ein nächster Schritt, um das Wissen großflächig öffentlich zu machen: Nur
ein Monat nach dem Mord an Halit wurde diese von den Familienangehörigen aus Kassel mit den Angehörigen von Mehmet Kubaşık aus Dortmund und den Angehörigen Enver Şimşeks aus Nürnberg organisiert. Bis dahin kannten sich diese drei Familien nicht. Etwa 4.000 Menschen, überwiegend aus den migrantischen Communitys, nahmen daran teil. Politische Verantwortliche
wurden aufgefordert, das Morden zu beenden und die Namen der Täter zu nennen. Entsprechend waren die meisten Transparente in deutscher Sprache, Redebeiträge wurden auf Deutsch übersetzt. Es ist aus heutiger Sicht immer noch sehr erschreckend, dass selbst diese Demonstration von vielen Bevölkerungsteilen nicht wahrgenommen worden ist. Nach den Erfahrungen mit dem NSU-Komplex kann das zukünftig nicht mehr so leicht passieren. ‚


Wo sehen Sie bei der Arbeit zum NSUKomplex Erfolge?

Es gibt viele sehr engagierte Anwälte und Anwältinnen der Nebenklage, die großartige Arbeit leisten und versuchen, in das NSU-Verfahren wichtige Beweisanträge einzubringen. Aus dem Verfahren ist lesbar, was dort verhandelt wird und über was nicht verhandelt werden soll. Dies wird daran deutlich, welche Beweisanträge in der Vergangenheit durch die undesanwaltschaft
abgelehnt wurden: In der Regel die, bei denen es um weitere involvierte V-Leute und Verfassungsschutzmitarbeiter ging. Das Verfahren versucht, die Taten des NSU auf die Angeklagten auf der Anklagebankzu reduzieren. Auch das erweiterte Umfeld des »Trios«, deren Helfer und Helfershelfer, wird herausgehalten. Ein deutlicher Erfolg des Tribunals ist es jetzt schon, dass die Geschichten der Betroffenen nicht nur erzählt, sondern auch gehört werden. Das Tribunal hat das migrantisch situierte Wissen der Betroffenen als die Perspektive ins Zentrum gesetzt und damit einen Perspektivwechsel im Diskurs über den NSUKomplex
erreicht. Das Tribunal NSU-Komplex hat dem Forschungsinstitut Forensic Architecture von der Londoner Goldsmiths Universität
den Auftrag zur Untersuchung des Mordes im Internetcafé erteilt. Das Forensic Architecture Team hat die Untersuchungsergebnisse am 6. April in Kassel veröffentlicht und in einem 1:1-Raummodell des Internet-Cafés und mit Hilfe von 3-D Modellen eine aufwändige Untersuchung v Internet-Café und seine Perspektive. Im Mittelpunkt standen dabei drei Fragen:
Was hat Andreas Temme gesehen? Was hat er gehört, und was hat er gerochen? Die Ergebnisse stellen die bisherige Darstellung von Andreas Temme stark infrage und mit Hilfe von digitalen und analogen Untersuchungsmethoden wurde
hier neues Beweismaterial erzeugt, das uch vor Gericht bestehen kann. Temme muss was gesehen, muss die Schüsse
gehört und muss das Schwarzpulver gerochen haben.

Wird das Tribunal eine Art Schlusspunkt Ihrer Arbeit sein?
Keineswegs! Das Tribunal NSU-Komplex auflösen ist ein nächster Akkumulationspunkt, -und darauf arbeiten wir als Gesellschaft der Vielen hin. Die ganze Dimension des strukturellen Rassismus am Beispiel des NSU bildet die Grundlage für die gesellschaftliche Anklage, um anzuklagen und Forderungen zu stellen für die Zukunft. Und unsere Botschaft ist sehr eindeutig: Migration kann nicht an Grenzen gestoppt werden. Das migrantische Leben lässt sich nicht vertreiben durch rechte Parteien, nicht durch
rechtspopulistische Politiker, nicht durch Neonazis, nicht durch Verfassungsschützer oder V-Männer, die Nazis sind. Diese Realität der Gesellschaft der Vielen kann nicht weggebombt werden. Wir sind hier, wir bleiben hier, leben hier und werden weiter die Gesellschaft der Vielen formen. Peter Nowak arbeitet als freier Journalist. Seine Artikel sind dokumentiert unter peter-nowak-journalist.de. Das Tribunal ist eine gesellschaftlich- politische Notwendigkeit, die längst fällig ist. »Die vom NSU-Terror Betroffenen wussten, wer hinter den Anschlägen auf ihre Familienangehörigen, ihre Nachbarn, ihre Freunde oder auf ihr
eigenes Leben … steckte«, heißt es im Aufruf zum Tribunal. Warum wurde dieses Wissen konsequent ignoriert? Das Tribunal »NSU-Komplex auflösen «, das vom 17. bis 21. Mai in Köln stattfindet, klagt den staatlichen und gesellschaftlichen Rassismus an und lässt die Angehörigen der Opfer des Neonaziterrors sprechen. Info und Spenden: www.nsu-tribunal.de

Die vom NSU-Terror Betroffenen wussten, wer hinter den Anschlägen auf ihre Familienangehörigen, ihre Nachbarn, ihre Freunde oder auf ihr eigenes Leben … steckte«, heißt es im Aufruf zum Tribunal. Warum wurde dieses Wissen konsequent ignoriert? Das Tribunal »NSU-Komplex auflösen «, das vom 17. bis 21. Mai in Köln stattfindet, klagt den staatlichen und gesellschaftlichen Rassismus an und lässt die Angehörigen der Opfer des Neonaziterrors sprechen. Info und Spenden: www.nsu-tribunal.de

aus:
ak – analyse & kritik Nr. 626
www.akweb.de
Interview: Peter Nowak

Pro-Mieter-Politiker Holm zurück in der Apo

Nach dem Rücktritt des Staatssekretärs muss sich Rot-Rot-Grün Fragen stellen: Hatte man das Kräfteverhältnis in Berlin falsch eingeschätzt?

„Staatssekretär Holm gibt auf“ titelten die Zeitungen[1] über den nicht ganz freiwilligen Abgang des Berliner Mieteraktivisten (siehe Klassenkampf mit der Stasi[2]). Doch im großen Versammlungsraum des Weddinger Exrotaprint[3]-Projekts erlebte man einen Andrej Holm, der fast erleichtert schien, vom Posten des Staatssekretärs wieder in die außerparlamentarische Opposition zurückgekehrt zu sein[4].

Von den mehr als 200 Menschen im überfüllten Raum wurde er herzlich und mit Applaus zurück in der Apo willkommen geheißen. Zahlreiche Initiativen[5] und engagierte Einzelpersonen[6], die sich in den Wochen für den Verbleib von Holm[7] im Amt eingesetzt hatten, brachten noch einmal ihre Solidarität mit dem Angegriffenen zum Ausdruck.

Neben der SPD und den Grünen wurde auch der Linken vorgeworfen, sich nicht vorbehaltslos hinter Holm gestellt zu haben. Ein enger Unterstützer erklärte, er habe selbst erlebt, wie der Vorstand der Linken Druck auf Holm ausgeübt hat, seinen Posten zu räumen, um die Berliner Koalition zu retten. Manchmal wünschte man sich etwas mehr selbstkritische Analyse, wenn nun zum wiederholten Male eine Eloge auf Holm kam.

Hatte man nicht vielleicht auch Fehler gemacht, in dem man unterschätzt hat, wie stark gerade jeder kleinste Fehler bei einen Staatssekretär ausgeschlachtet wird, der mit der erklärten Absicht angetreten ist, Politik im Interesse der Mieter und nicht der Investoren zu machen?

Hatte man vor allem Dingen das Kräfteverhältnis in der Stadt falsch eingeschätzt, wo sich viele gegen Gentrifizierung erregen, aber längst nicht alle diese Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt mit dem Kapitalismus in Verbindung bringen? Hätte Holm überhaupt in einem derart verdrahteten und verregelten Kapitalismus eine Chance gehabt, nur einen Teil seiner Pläne umzusetzen?

Das wären einige Fragen gewesen, die auf ein linkes Bewegungstreffen gehören und die auf der Webseite der Treptower Initiative Karla Pappel angesprochen wurden[8]. Da hätte man auch darauf verweisen können, dass der heutige Regierende Bürgermeister Müller als Senator im Kabinett Wowereit dafür berüchtigt war, dass er Mieter in der Treptower Beermannstraße[9], die sich juristisch dagegen wehrten, dass sie ihre Wohnungen verlassen sollten, weil sie einer von großen Teilen der Bevölkerung abgelehnten Verlängerung der Autobahn Platz machen sollten, kurzerhand mit einem Enteignungsverfahren unter Druck setzen ließ.

Ihr beharrlicher Widerstand und die Unterstützung der Stadtteilinitiative Karla Pappel konnte den Mietern die Wohnungen nicht retten. Aber immerhin bekamen sie Entschädigung. Unter der rosa-rot-grünen Regierung gingen auch die Zwangsräumungen[10] weiter. Nur wenige Tage vor Weihnachten wurde in Kreuzberg ein Mieter aus seiner Wohnung vertrieben. Aber für solch kritische Diskussionen gab es am Montagabend keinen Raum.

Man wollte Andrej Holm wieder in den Reihen der Apo begrüßen und man war froh, dass er eben nur seinen Posten, nicht aber seine Bereitschaft aufgegeben hat, für eine Mieterstadt Berlin zu kämpfen. Dann war das Treffen auch schon beendet, weil Anwesende an einer Protestkundgebung gegen einen Auftritt des Regierenden Bürgermeiser Müller im Gorki-Theater teilnehmen wollten. Dort traf sich aber nur ein Teil der Menschen wieder, die Holm zurück in der Apo willkommen geheißen hatten.

In den nächsten Tagen sind noch weitere Proteste gegen Holms Entlassung geplant. Studierende der Humboldtuniversität wollen auch dafür auf die Straße gehen, dass Holm seine Stelle am Institut für Stadtsoziologie[11] an der Humboldtuniversität wieder antreten kann. Das ist bisher unklar, weil ja der Vorwurf im Raum steht, Holm habe bei der Bewerbung um die Stelle unvollständige Angaben zu seiner Stasitätigkeit gemacht.

In den letzten Tagen haben sich aber die Einschätzungen gehäuft, die darin keinen Grund sehen, Holm nicht wieder anzustellen. Die juristische Grundlage des Fragebogens wurde infrage gestellt[12]. Das hätte zur Folge, dass Holm sogar bewusst falsche Angaben hätte machen können, ohne dass er deswegen sanktioniert werden kann.

Die Regisseurin Kathrin Rothe, die mit dem Film Betongold bekannt wurde, der ihre eigene Verdrängung aus Berlin-Mitte zum Thema hat, sagte kürzlich in der Taz, sie habe in einen Fragebogen für ein Seminar bewusst Quatsch eingetragen. Dabei hatte sie nie etwas mit der Stasi zu tun und auch keinerlei Sympathie dafür. Sie wollte mit dem kreativen Umgang mit dem Stasi-Fragebogen aber ihren Unwillen ausdrücken, nach 27 Jahren immer noch mit dieser „Sonderbehandlung Ost“ konfrontiert zu werden.

Der Umgang mit der Causa Holm dürfte bei mehr Leuten diesen Unmut bestärkt haben. Wenn nicht einmal mehr ein Nachweis einer Bespitzelung nötig ist, um einen Menschen, der bereits 2007 vor einem sehr kritischen Publikum, DDR-Oppositionellen, die unter der Stasi gelitten haben, mit seiner Biographie offen umgegangen ist, zu mobben, wird deutlich, dass es hier um Investorenschutz geht. Nicht seine kurzzeitige Stasimitgliedschaft sondern seine kapitalismuskritische Haltung störte an Holm.

Und wenn jetzt wieder in Erinnerung gerufen wird, dass Nazi-Täter[14], die teilweise für Morde und Judendeportationen verantwortlich waren, an führenden Stellen der BRD-Politik und Justiz saßen, dass sich NS-Richter in den 1950 Jahren bei der Verurteilung von Kommunisten sogar auf die NS-Urteile bezogen und ihre neue Strafe damit begründeten, der Angeklagte habe sich nicht bewährt, dann kann das etwas kritisches Geschichtsbewusstsein fördern. Das wäre tatsächlich ein kleiner Erfolg aus dem Fall Holm.

Vielleicht kommt auch mancher auf den Gedanken, dass die DDR nicht nur aus der Stasi bestand, sondern dass dort bei allen Problemen eine Wohnungspolitik realisiert wurde, in denen die Menschen das Problem der Gentrifizierung nicht kannten. Es waren gerade auch die vielen unrenovierten Häuser in den Stadtteilen Prenzlauer Berg und Mitte, wo es fast problemlos möglich war, Wohnungen zu besetzten und selber zu reparieren. Dort war auch die Quelle für die DDR-Subkultur, die zur DDR-Opposition wurde.

Viele wollten eine DDR ohne SED-Herrschaft, nicht aber eine Wiedervereinigung. Sie brachten auch ein besonderes Erbe mit in die BRD, das Kürzel WBA, was in der DDR Wohnbezirksausschuss hieß. Manche nutzten es als verlängerte Stasi, manche als einen Rat der Bewohner, der beispielsweise in der Oderbergerstraße in Prenzlauer Berg den Abriss von Häusern in den 1980er Jahren erfolgreich verhinderte[15].

Dieser Erfolg ermutigte die Aktivisten schon in den frühen 1990er Jahren, den WBA als Initiative „Wir bleiben Alle“ wieder aufleben zu lassen und nun gegen die Gentrifizierung zu kämpfen. Kaum einer dieser DDR-Oppositionellen und WBA-Aktivisten der ersten Stunde lebt heute noch in dem Stadtteil.

Auch das gehört zu einer kritischen Betrachtung von BRD und DDR im Vergleich. Es hätte gerade einen Historiker wie Ilko Sascha Kowalzcuk, der sich differenziert mit dem Fall Holm befasst[16] hat, gut angestanden, diese Aspekte der DDR auch in die Debatte einzubringen. Wie er dann aber zur folgenden hanebüchen Einschätzung kommt, ist unklar und zeugt nur davon, dass selbst kritische Köpfe in einen staatsnahen Slang verfallen.

Manche waren gleicher; viele lebten unter unwürdigen Umständen in den einstigen Ruinenlandschaften in Prenzlauer Berg oder Friedrichshain, die die SED-Diktatur hinterlassen hatte.

Ilko Sascha Kowalzcuk

Angesichts von Gentrifizierung und Wohnungsnot könnten wir nur davon träumen, wir hätten noch so diese von Sascha Kowalzcuk so zu Unrecht geschmähten Häuser zur Verfügung, in denen sich kreative Menschen tatsächlich noch in Eigenregie eine Wohnung selber herrichten konnten. Das wäre tatsächlich ein Versprechen, das anders als die insgesamt zahme und nur die Randprobleme lösenden Wohnungsprogramme des neuen Berliner Senats tatsächlich ein Beitrag zur Lösung der Wohnungsfrage in Berlin wäre.

Peter Nowak

https://www.heise.de/tp/features/Pro-Mieter-Politiker-Holm-zurueck-in-der-Apo-3597704.html


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[1] http://www.mittelbayerische.de/politik-nachrichten/berliner-staatssekretaer-holm-gibt-auf-21771-art1474775.html
[2] https://www.heise.de/tp/features/Klassenkampf-mit-der-Stasi-3597536.html
[3] http://www.exrotaprint.de/
[4] http://www.tagesspiegel.de/berlin/oeffentliche-diskussion-mit-andrej-holm-die-koalition-waere-zerbrochen/19260886.html
[5] https://stadtvonunten.de/
[6] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1037891.das-kreuz-ist-an-der-richtigen-stelle.html
[7] http://www.holmbleibt.de/
[8] https://karlapappel.wordpress.com/
[9] http://beermannstrasse.blogspot.de/
[10] http://berlin.zwangsraeumungverhindern.org/
[11] https://www.sowi.hu-berlin.de/de/lehrbereiche/stadtsoz/mitarbeiterinnen/copy_of_a-z/holm
[12] http://www.taz.de/Rechtsanwalt-Eisenberg-zur-Stasi-Affaere/!5369093/
[13] http://www.karotoons.de/betongold.html
[14] https://www.heise.de/tp/features/Klassenkampf-mit-der-Stasi-3597536.html
[15] http://www.bmgev.de/mieterecho/313/13-hirschhof-pn.html
[16] http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/stasi/240047/einmal-stasi-immer-stasi

Silvester vor der JVA

Anarchistische Gruppen rufen zuKundgebungen vor Berliner Gefängnissen aufnter dem Motto „Silvester zum Knast“ ruft ein Bündnis von anarchistischen Gruppen und Einzelpersonen heute zu Kundgebungenvor Berliner Gefängnissen auf. Dieses Jahr soll um 17 Uhr im Carl-von-Ossietzky-Park gegenüber der JVA Moabiteine Demonstration stattfinden. Um 22.30 Uhr treffen sich AktivistInnen dann vor dem S-Bahnhof Frankfurter Allee undziehen demonstrierend zur JVA für Frauen in der Lichtenberger Alfredstraße. In der Justizvollzugsanstalt ist seit mehreren GülafGülaferit  Ünsal inhaftiert, die  wegen Unterstützung einer verbotenen türkischen kommunistischen Gruppe DHKP-C verurteilt wurde. Seit einigen Wochen sitzt eine Frau mit dem Pseudonym Thunfisch in der JVA in Untersuchungshaft. Sie wird beschuldigt, auf der olidaritätSolidaritätsdemonstration mit dem Hausprojekt Rigaer94 Anfang Juli Steine geworfen zu haben.Die Kundgebung soll bis weit nach Mitternacht andauern unddürfte sich – bis auf die politischen Parolen zwischendrin-  wenig von einem gewöhnlichen Silvesterabend unterscheiden. „Natürlich ist an diesem Tagnd zu dieser Uhrzeit nicht der Ort für hochtheoretische Reden“, meint Sandra Schäfer (Name geändert),die innerhalb der Vorbereitungsgruppe der diesjährigen Knastaktionen aktiv ist.Zum Team gehört auch Robert Schulz (Name geändert), der ineiner Antiknastgruppe mitarbeitet. Er begründwarum gerade Silvester die Aktionen vor den Gefängnissen für ihn wichtig sind. „Während draußen die Menschen feiern und das neue Jahrbegrüßen, sitzen die Inhaftierten allein, passiv und isoliertin ihren Zellen.“ Mit den Kundgebungen, die seit mehr als 20 Jahren stattfinden, wolle anden Gefangenen signalisieren, dass sie nicht vergessen sind.Im Aufruf zu den Kundgebungen wird eine generelle Kritik an den Gefängnissen geübt  So wird auf Plakaten darüber informiert, dass in der JVA Plötzensee circa ein Viertel der Gefangenen inhaftiert sind, weil sie beim Fahren ohne Ticket erwischt wurden und die verhängte Geldstrafe nicht bezahlen konnten. Damit soll dem Bild begegnet werden, dass es bei den aktuell über 4.100 Gefangenen in Berliner JVA um Schwerkriminelle handelt.
aus Taz TAZ vom 31.12. 2016
PETER NOWAK

Solo vor Gericht

Die polnische Hebamme Barbara Rosołowska könnte mit dem Zug von ihrem westpolnischen Wohnort in knapp 80 Minuten in Berlin sein und wie viele ihrer Kolleginnen dort ihren Beruf ausüben. Doch sie nimmt die deutlich schlechtere Zugverbindung und einen drei mal geringeren Lohn in Kauf und arbeitet im polnischen Gorzów. Denn die Gewerkschafterin will vor allem in ihrer Heimat für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen. Rosołowska hat vor dem Arbeitsgericht Gorzów die Klinik, in der sie seit Jahren arbeitet, verklagt. Sie fordert, dass ihr Arbeitgeber sie nicht weiter als Selbstständige beschäftigt, sondern einen regulären Arbeitsvertrag anbietet. »Meine Klage wird von den Medien in Polen und auch von meinen Kolleginnen sehr genau verfolgt«, betont die Hebamme. Dass sie bisher alleine klagt, begründet sie mit der Angst vieler Kolleginnen vor den Konsequenzen. »Sie sind auf ihren Arbeitsplatz angewiesen und wenn sie keine Aufträge mehr haben, bleibt ihnen nur das Ausweichen nach Deutschland oder in ein anderes EU-Land. Wer das nicht will, verzichtet auf die eigenen Rechte.«

Vor dem Arbeitsgericht antwortet eine Hebamme auf die Frage, warum sie eingewilligt habe, als Selbstständige zu arbeiten: »Was hätte ich denn machen sollen? Nach 23 Jahren wurde ich entlassen und das war die einzige Bedingung, unter der ich eingestellt wurde!« Um das zu verändern, hat sich Rosołowska der kämpferischen Basisgewerkschaft Arbeiterkommission (IP) angeschlossen, die schon mit der Organisierung von Beschäftigten im Standort Amazon-Standort Poznan für Schlagzeilen sorgte.

Noch ist die IP allerdings klein. Von anderen polnischen Gewerkschaften kann Rosołowska keine Solidarität erwarten. So hat ein Vertreter der Solidarnocz, die die rechte PIS-Regierung unterstützt, vor dem Arbeitsgericht gegen Rosołowska ausgesagt. Er betonte, dass seine Gewerkschaft keine Probleme mit der Soloselbstständigkeit habe, weil die vom polnischen Zivilrecht gedeckt sei.

»Leider ist die Gründung einer einheitlichen Gewerkschaft für die Beschäftigten im Gesundheitswesen in Polen bisher gescheitert«, bedauert Norbert Kollenda, der in der AG von Attac-Berlin für die Kontakte zu den sozialen Bewegungen in Polen zuständig ist. Über die Onlineplattform LabourNet hatte er zur solidarischen Begleitung des Arbeitsgerichtsprozesses von Rosołowska aufgerufen. Trotz geringer Resonanz wurde die Unterstützung vom Arbeitsgericht und den polnischen Medien wahrgenommen. Anfang Dezember hatte die Transnational Strike Plattform, die im Kontext der Blockupy-Proteste zur Unterstützung transnationaler Arbeitskämpfe gegründet wurde, Barbara Rosołowska zu einer Soli-Veranstaltung nach Berlin eingeladen.

Am 17. Januar wird das Arbeitsgericht in Gorzów über die Klage der Hebamme entscheiden. Gewinnt sie den Prozess, könnten tausende polnischer Solobeschäftigter im Carebereich feste Arbeitsverträge einfordern. Wenn sie verliert, will sie in die nächste Instanz gehen. Denn es geht ihr um mehr als das Arbeitsrecht. Weil viele sich links nennende Parteien in die Politik der Austerität und der Privatisierungen in der Vergangenheit gnadenlos durchsetzten, stoßen die eng begrenzten Sozialprogramme der nationalkonservative Regierung bei nicht wenigen Beschäftigten auf Zustimmung. Eine kämpferische Gewerkschafterin wie Barbara Rosołowska könnte mit ausreichender Präsenz in den polnischen Medien als Alternative wahrgenommen werden.

Peter Nowak

Neoliberalismus im Alltag – Lexikon der Leistungsgesellschaft

Eine der erfolgreichsten und dauerhaftesten Bewegungen der jüngeren Zeit ist der Marathonlauf. In den 1970er Jahren begann er in New York und Berlin mit knapp 100 Teilnehmer_innen.  Heute hat er sich zu einem Massenauflauf entwickelt, der dafür sorgt, dass die Innenstädte weiträumig abgesperrt werden.

Für den Publizisten Sebastian Friedrich ist das eine Konsequenz des Neoliberalismus.

„In Leistungsgesellschaften symbolisiert ein erfolgreicher Marathon besondere Leistungs- und Leidensfähigkeit“, schreibt der Redakteur der Monatszeitschrift „analyse und kritik“ (ak) in seinem in der Edition Assemblage erschienenen „Lexikon der Leistungsgesellschaft“. Dass der Marathon unter den 26 Stichworten auftaucht, mag manche zunächst überraschen.

Doch es ist gerade die Stärke des Lexikons, dass Friedrich Stichworte aufgreift, die manche nicht sofort mit Politik in Verbindung bringen.

Für zusätzliche Irritation dürfte bei manchen Leser_innen beitragen, dass  Friedrich unter den Stichworten auch manche Alltagspraxen aufgenommen hat, die unter Linken einen  guten Ruf haben und als politisch völlig unverdächtig gelten. Gleich das erste Stichwort heißt „Auslandsaufenthalt“, der in Zeiten des Neoliberalismus schon längst nichts mehr mit Aussteigen und Flucht aus dem kapitalistischen Alltag assoziiert werden kann, sondern mit der Schaffung von Karrierevorteilen. Besonders, wenn der Aufenthaltsaufenthalt mit einer sozialen Tätigkeit kombiniert wird, macht sich das gut im Lebenslauf.

Bei vielen GWR-Leser_innen dürfte das Konzept der „gewaltfreien Kommunikation“ einen guten Klang haben. Doch Friedrich verortet es, wenn es in Unternehmen angewandt wird, als oft effektive neoliberale Managementstrategie. Damit soll verhindert werden, dass sich Beschäftigte zusammenschließen und eigene Interessen wie mehr Lohn und weniger Arbeit formulieren und womöglich auch durchsetzen. Auch in linken Zusammenhängen verhindere das Konzept gewaltfreie Kommunikation häufig, dass über Argumente gestritten wird. Es gehe dann oft mehr um die Form der Diskussion als um den Inhalt. Einen klaren Standpunkt auszudrücken, gelte als verpönt, immer müsse in der Diskussion besonders betont werden, dass man nur seine eigene Meinung ausdrücke. Im Lexikon der Leistungsgesellschaft finden sich weitere Schlaglichter auf Alltagspraxen, die sich in der Linken ebenso großer Beliebtheit erfreuen wie in neoliberalen Think Thanks.  Friedrich gelingt es, das Buch in allgemein verständlicher Sprache zu halten. In manchen Texten ist die Ironie nicht zu überhören. Er verzichtet  meist auf moralische Wertungen, wenn er beschreibt, wie der Neoliberalismus unsere Alltagspraxen prägt und strukturiert.  Das ist besonders wirkungsvoll in den Bereichen, in denen wir die Verbindung zur Politik gar nicht  vermuten würden. So gelingt es Friedrich einleuchtend zu erklären, was der Hype um die Rennräder oder ein wachsendes Ernährungsbewusstsein mit dem Neoliberalismus zu tun haben. Andere Themenbereiche wie das Self-Tracking werden hingegen schon deutlicher als Teil einer Lebensplanung im Neoliberalismus betrachtet.

Auf einer theoretischen Ebene hat sich Simon Schaupp in seinen im Oktober 2016 im Verlag Graswurzelrevolution erschienenen Buch „Digitale Selbstüberwachung“ mit dem Boom um die Self-Trecking-Methoden auseinandergesetzt. Friedrich belässt es auch hier bei einemkurzen aber informativen Eintrag. Das Büchlein „Lexikon der Leistungsgesellschaft“ muss zwangläufig unvollständig sein.

Wahrscheinlich bräuchte man einen dicken Wälzer, wenn man alle Stichworte der neoliberalen Leistungsgesellschaft auflisten wollte.

Schließlich ist es ja ein Kennzeichen des Neoliberalismus, dass er nicht einfach ein Kontrollregime ist, das den Menschen gegenübersteht. Schon lange wird die Floskel vom „Neoliberalismus in den Köpfen“ verwendet. Aber vor allem ist der Neoliberalismus in unseren oft scheinbar unpolitischen Alltagspraxen eingeschrieben. Er strukturiert auch unsere Art des Lebens und Arbeitens. Daher greift es auch zu kurz, wenn Friedrich im Schlusskapitel schreibt, dass das Buch mit helfen soll, nicht vom Neoliberalismus vereinnahmt  zu werden. Wichtiger ist zunächst, dass die Leser_innen erkennen, was ihr alltägliches Handeln mit der Stabilität des Neoliberalismus zu  tun hat, den nicht wenige nach der letzten Krise voreilig schon für erledigt gesehen haben. Ein nächster Schritt bestünde darin, sich mit einer solidarischen Alltagspraxis ganz bewusst der neoliberalen Agenda zu verweigern. Das kann auch darin bestehen, dass man sich den Self-Tracking-Methoden verweigert und statt am Marathon teilzunehmen, mit Freund_innen und Kolleg_innen eigene sportliche Betätigungen organisiert. Vielleicht schreibt jemand dann auch ein Lexikon des solidarischen Verhaltens. Das ist ja im Gegensatz zur neoliberalen Lebensführung viel schwieriger umzusetzen und muss täglich in der Praxis gelernt werden.

Sebastian Friedrich, Lexikon der Leistungsgesellschaft. Wie der Neoliberalismus unseren Alltag prägt, Edition Assemblage, Münster 2016,  92 Seiten, 7,80 Euro, ISBN 978-3-96042-001-9

Rezension aus: Graswurzelrevolution Nr. 414, Dezember 2016, www.graswurzel.net

Peter Nowak

Das Ende der Megamaschine

Fabian Scheidlers Geschichtsschreibung auf Attac-Niveau

Fabian Scheidler: Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation, Promedia Verlag, Wien 2015, 272 Seiten, 19.80 Euro, ISBN 978-3-85371-384-6

„Es gibt ein Bild von Paul Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen, und seine Flügel sind aufgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. „Das Ende der Megamaschine“ weiterlesen

Ein Ort des Schreckens

NS-GESCHICHTE Ausstellung in der Charité zeigt die Arbeit im Krankenrevier des KZ Ravensbrück

Jeder Mensch denkt bei dem Wort ‚Krankenrevier‘ an lange, stille Gänge, weiße Betten, tüchtige Schwestern. Für die Häftlinge des KZ Ravensbrück war das Revier wie jeder Winkel des Lagers ein Ort der Angst und des Schreckens“, schrieb die langjährige politische Gefangene Erika Buchmann in dem Standardwerk „Die Frauen von Ravensbrück“. 120.000 Frauen aus 30 Ländern waren zur Zeit des Nationalsozialismus von der SS in das 80 Kilometer nördlich von Berlin gelegene Konzentrationslager gepfercht worden. Einer kleinen Ausstellung über die Arbeit im Krankenrevier des KZ Ravensbrück, die im Campus der Charité gezeigt wird, gelingt es, etwas von dem Schrecken zu vermitteln.,Zahlreiche Fotos, Zeichnungen und Schriftzeugnisse ehemaliger Revierarbeiterinnen und ihrer Patientinnen geben einen Eindruck von den Ängsten der Häftlinge, aber auch der Solidarität unter ihnen. „Zunächst wurden im Krankenrevier hauptsächlich die Folgen von Arbeitsunfällen und isshandlungen notdürftig behandelt. Mit der zunehmenden Überfüllung nach Kriegsbeginn breiten sich Seuchen und andere Krankheiten aus, für deren Behandlung die SS nie ausreichend Medikamente zur Verfügung stellte“, schreibt die Historikerin Christl Wickert, die die Ausstellung zusammen mit Ramona Saavedra Santis kuratierte. Auf einem Foto ist der entstellte Fuß einer Frau zu sehen, der von SS-ÄrztInnen Krankheitskeime injiziert wurden. Viele Gefangene überlebtensolche Versuche nicht oder trugen lebenslange gesundheitliche Schäden davonMehrere Tafeln widmen sich der juristischen Aufarbeitung dieser medizinischen Verbrechen nach dem Krieg. Auch medizinische Helferinnen unter den Häftlingen wurden beschuldigt, der SS geholfen zu haben. „Es waren alles Spritzen zu Heilzwecken“, rechtfertigte sich die Schweizerin Anne Spoerry 1949, als man ihr vorwarf, sie sei durch ihre Tätigkeit für den Tod von Häftlingen mitverantwortlich. Die Ausstellung ist Teil des

Projekts „Wissenschaft in Verantwortung – GeDenkOrt Charité“ und leistet damit auch ei-nen Beitrag zur  eschichtsaufarbeitung. „Auch Ärzte der Berliner Universitätsmedizin waren in der Zeit des Nationalsozialismusan Medizinverbrechen im Konzentrationslager Ravensbrück beteiligt“, heißt es seitens der Charité. Die Schau ist als Wanderausstellung konzipiert und kann verliehen werden.

Peter Nowak

Taz vom 3.8.2016
■■Die Ausstellung „… unmöglich, diesen Schrecken aufzuhalten“ ist bis 31. August im Charité-CrossOver, Campus Charité Mitte, Charitéplatz 1 zu sehen. Mo.–Fr. 7–20 Uhr, Eintritt frei


Rassismus oder Wissenschaft?


Die wissenschaftliche und publizistische Tätigkeit des in Berlin lehrenden Migrationsforschers Ruud Koopmans sorgt für Diskussionen

Einwanderungs- und Integrationspolitik, soziale Bewegungen und Rechtsradikalismus gehören zu den Forschungsthemen von Ruud Koopmans. Seit 2013 hat er die Professur für Soziologie und Migrationsforschung an der Berliner Humboldtuniversität (HU) inne. Zudem ist Koopmans Direktor der Abteilung „Migration Integration und Transnationalisierung“[1] am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Dass ein Mann mit einer solchen wissenschaftlichen Reputation gefragter Interviewpartner zu den Themen Einwanderung und Islam ist, dürfte ebenso wenig überraschen, wie die Einspeisung seiner Thesen in den politischen Meinungsstreit.

Zu islamkritisch für Deutschland?

So titelte die FAZ am 29.April 2016 mit Verweis auf Forschungsergebnisse des Wissenschaftlers: „Koopmans hält Multikulti für gescheitert“[2]. In dem FAZ-Interview behauptet der Migrationsforscher, dass die Diskriminierung von Migranten in Deutschland ein viel geringes Problem sei, als bislang angenommen. Dabei geriert er sich auch als Überbringer unbequemer Wahrheiten, die angeblich in Deutschland unterdrückt werden.

„Es ist schon so, dass die meisten Politiker und Journalisten nur die Bestätigung ihrer eigenen Meinung hören wollen. Und da ist vielleicht die Position, die ich vertrete, in Deutschland zurzeit nicht so populär. Insgesamt ziehen meine Forschungsergebnisse schon Aufmerksamkeit auf sich. Anfang 2015 habe ich eine Studie über islamischen Fundamentalismus und Feindbilder von Muslimen in Europa[3] veröffentlicht. Diese Ergebnisse wurden in vielen Ländern auf der ganzen Welt von Pakistan über Israel bis in die Vereinigten Staaten heftig diskutiert, auch in Europa – aber eben nicht in Deutschland.“

Ein solcher Befund mutet in einer Zeit merkwürdig an, wo islamkritische Positionen doch wahrlich nicht im politischen Untergrund Gehör finden. In der Neuen Züricher Zeitung[4] hinterfragt Koopmans auch die Frage, ob und wann Migranten diskriminiert werden. Auch in der Schweizer Zeitung geriert sich Koopmans als verfolgte Minderheit: „Es gibt Forscher, die seine Mails nicht mehr beantworten und ihrem akademischen Nachwuchs von einem Kontakt mit Koopmans abraten, weil sie ihn für einen verkappten Rassisten halten“, heißt es dort.

Bildung ohne Feindbild

Ob sich die Studierenden, die sich in Berlin in den letzten Wochen kritisch mit den wissenschaftlichen und publizistischen Tätigkeiten Koopmans auseinandersetzten, als akademischer Nachwuchs verstehen, muss offen bleiben. Dass sie aber ihre kritische Handlung eigenständig bilden könnten und nicht von Professoren dazu animiert werden, könnte sich auch bei der NZZ rumgesprochen haben.

Die Kommilitonen der sozialwissenschaftlichen Fachschaft an der Humboldtuniversität hat die Debatte auf ihrer Facebookseite[5] dokumentiert. Die Kritik an Koopmans umfasst neben seiner publizistischen auch seine wissenschaftliche Tätigkeit: „Wir möchten hiermit klar und deutlich zum Ausdruck bringen, dass Ruud Koopmans wissenschaftlich höchst fragwürdige Ergebnisse publiziert. Gleichzeitig nutzt er ebenjene Ergebnisse für normativ zweifelhafte Handlungsempfehlungen und um Stimmung gegen Personen muslimischen Glaubens in Deutschland zu machen“, heißt es in einer Stellungnahme. Während einige wissenschaftliche Kollegen von Koopmans von Denunziation sprachen, wurden die Studierenden in ihrer Kritik vom akademischen Mittelbau unterstützt.

Dabei belassen es die Kritiker nicht bei Erklärungen. Ein Banner mit der Aufschrift „Für Forschung ohne Feindbild“ soll nach einem Beschluss des Institutsrats demnächst zwei Wochen an einer geeigneten Stelle angebracht werden. Da nun die vorlesungsfreie Zeit angebrochen ist, dürfte sich der Streit am Sozialwissenschaftlichen Institut[6] zunächst beruhigen. Dabei wird sich zeigen, ob es im Herbst gelingt, am Sowi-Institut eine Diskussion zu führen, die sich einigen grundsätzlicheren Fragen widmet, die die Kontroverse aufwirft.

Studierende üben Wissenschaftskritik

Dabei geht es einmal um den Formwandel studentischer Proteste, der durchaus positiv ist. Lange Jahre haben Studierende in Zyklen gegen das Bachelorstudium gekämpft und verloren, die Studiengebühren hingegen wurden durch studentische Kämpfe abgewehrt. Doch in den letzten Jahren ist wenig von solchen studentischen Kämpfen zu hören. Dafür sind die Studierenden dazu übergegangen, die wissenschaftlichen Inhalte kritisch unter die Lupe zu nehmen und geraten damit mit Professoren in Konflikt, die auf einmal ihre wissenschaftlichen und politischen Thesen in der Öffentlichkeit verteidigen müssen.

Im letzten Jahr sorgte die kritische Auseinandersetzung[7] mit Forschung, Lehre und politischer Zuarbeit des Politologen Herfried Münkler[8] durch Studierende für Aufmerksamkeit. Auch damals wurden die Kritiker der Denunziation bezichtigt.

In Rostock geriet eine solch wissenschaftskritische studentische Tätigkeit sogar unter Extremismusverdacht[9]. Dabei müsste das neue Interesse studentischer Aktivisten an kritischer Auseinandersetzung mit Forschung und Lehre doch eigentlich Unterstützung von Akademikern bekommen, die tatsächlich noch an einer kritischen Wissenschaft interessiert sind.

Dass Studierende nicht mehr nur für größere Hörsäle und eine bessere Bibliotheksausstattung streiten, sondern die Wissenschaft selber in den Fokus der Auseinandersetzung nehmen, ist keine Radikalisierung. Das kann damit verglichen werden, dass Opel-Arbeiter nicht mehr nur über Lohn und Arbeitszeit verhandeln wollen, sondern sich über die Produkte, die sie herstellen, Gedanken machen und vielleicht sogar Rüstungs- oder Automobilkonversion fordern.

Wo endet die kritische Wissenschaft und wo beginnt der Rassismus?

Natürlich müssen die studentischen Kritiker der offiziellen Wissenschaft sich auch selber der Kritik stellen, die sie gegenüber den Professoren formulieren. Da muss es auch um die Frage gehen, ob es sich bei den inkriminierten Aussagen von Koopmans um Rassismus oder um wissenschaftliche Islamkritik handelt und ob die studentischen Kritiker sich schwer mit einer Kritik am Islam tun.

Der israel-arabische Publizist und Psychologe Ahmad Mansour[10] hat in einen Taz-Beitrag[11] Linken und Linksliberalen genau das vorgeworfen und dafür stichhaltige Argumente geliefert. In seinem engagierten Beitrag liefert Mansour auch das wissenschaftliche Handwerkszeug, das eine dringend notwendige wissenschaftliche Kritik am Islam vom Rassismus unterscheidet:

Humanistische Gesellschaftskritik und Aufklärung haben eine große Tradition im deutschsprachigen Raum. Aufklärung hat immer – absolut immer – mit der Kritik an Herrschaft zu tun, und Herrschaft hat fast immer mit Herren zu tun, also mit Männern, mit dem Patriarchat. Die großen monotheistischen Weltreligionen huldigen einem patriarchalen, strafenden Gott, einem der stärksten Machtfaktoren für ein hierarchisches, antidemokratisches Weltbild. Marx nannte Religion das „Opium fürs Volk“. Hegel, Kant und Weber waren Religionskritiker. Freud analysierte als Ursprung für die Erfindung eines strengen Gottvaters unter anderem ein unmündiges Bedürfnis danach, Verantwortung an Autoritäten abzugeben, sich kindlich zu unterwerfen. Die Französische Revolution übte Kritik an Religion als Instrument der Herrschaft und Unterdrückung. Auch in der Studentenrevolte von 1968 ging es um die Kritik am Klerus, an der Stellung der Frau in der Kirche, an religiösen Denkverboten, an den Vorstellungen von Autorität oder an der grausamen Praxis in staatlichen wie kirchlichen Kinder- und Jugendheimen. In jüngster Zeit empört sich die demokratische Öffentlichkeit über den massenhaften Missbrauch von Kindern in katholischen und anderen Institutionen, der ab 2010 ans Licht gekommen ist. Kritik von Gläubigen wie Nichtgläubigen an Religion als Herrschaftsinstrument ist ein Klassiker der Linken! Diese Kritik gehört zentral zu ihrem Fundament. Umso verrückter erscheint es, wenn die muslimischen Kritiker ihrer eigenen Religion von Grünen, Linken und sogar Sozialdemokraten mit Argwohn betrachtet werden. Warum ist unsere Kritik nicht ebenso berechtigt?Ahmad Mansour

Ahmad Mansour

Es wäre sicher eine lohnende Aufgabe einer emanzipatorischen Wissenschaftskritik, die Arbeiten von Koopmans und seiner Kritiker unter dieser Prämisse zu diskutieren.

Anhang

http://www.heise.de/tp/artikel/48/48854/1.html

Links

[1]

https://www.wzb.eu/de/personen/ruud-koopmans

[2]

http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/migrationsforscher-koopmans-haelt-multikulti-fuer-fatal-14202950.html

[3]

https://www.wzb.eu/sites/default/files/u252/s21-25_koopmans.pdf

[4]

http://www.nzz.ch/feuilleton/gespraech-mit-dem-soziologen-ruud-koopmans-assimilation-funktioniert-ld.13975

[5]

https://www.facebook.com/sowi.fachschaft/posts/1017206941690385:0

[6]

https://www.sowi.hu-berlin.de/de/institut/ueber

[7]

http://hu.blogsport.de/muenkler-watch/

[8]

https://www.sowi.hu-berlin.de/de/lehrbereiche/theorie-der-politik/mitarbeiter-innen/2507

[9]

http://kritischeunihro.blogsport.de/

[10]

http://ahmad-mansour.com/de/

[11]

http://www.taz.de/!5317219/

Streik im Labor

An einem Labor des Instituts für Soziologie der Universität Jena streiken studentische Beschäftigte. Sie fordern Arbeitsverträge statt der bisher üblichen Werkverträge.

Das Comeback der Gewerkschaften – so heißt ein zentrales Thema der Sozio­logen Klaus Dörre und Stefan Schmalz. Die beiden lehren am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seit einigen Wochen wird dort nicht mehr nur theoretisch über gewerkschaftliche Erneuerung diskutiert. Mitte Juni begannen studentische Beschäftigte des von dem Institut betriebenen Labors für Computer-Assisted Telephone Interviewing, kurz CATI-Labor, einen Arbeitskampf. In dem Labor werden telefonische Umfragen und Interviews durchgeführt – für universitäre Zwecke, aber auch für Firmen und politische Akteure. »Viele der am Institut durchgeführten Projekte greifen hierauf zurück, aber auch externen Nutzern wird diese Dienstleistung zur Verfügung gestellt«, heißt es auf der Homepage des CATI-Labors.

Katharina Leipold* hat bisher nur an universitätsinternen sozialwissenschaftlichen Umfragen mitgearbeitet. Vergütet wurde das mit einem Stundenlohn von 8,50 Euro. Urlaubsgeld und andere Zusatzleistungen sind für sie nicht vorgesehen. Denn alle Beschäf­tigten sind beim CATI-Labor lediglich über Werkverträge angestellt. »Wir fordern Arbeitsverträge anstatt der Werkverträge und damit die Umsetzung geltender Arbeitsgesetze und der Bildschirmarbeitsverordnung«, sagt Leipold. »Außerdem verlangen wir eine am ­Tarifvertrag orientierte Vergütung von 13 Euro und die zuverlässige, zeitnahe Überweisung der Löhne«, so die Studentin. In der Vergangenheit mussten die Beschäftigten manchmal mehrere Wochen auf die Überweisung der Löhne warten. Unterstützt wird der Arbeitskampf von der Basisgewerkschaft »Freie Arbeiterinnen- und Arbeiterunion« (FAU), an die sich die Beschäftigten gewandt hatten. »Werkverträge zwingen die Beschäftigten in die Scheinselbständigkeit und unterwandern den Tarif­vertrag der Länder sowie grundlegende arbeitsrechtliche Mindeststandards«, begründet ein Mitglied der FAU die Ablehnung der bisherigen Arbeitsbe­dingungen im CATI-Labor. Eigentlich müsste er mit dieser Argumentation in einem Institut mit gewerkschaftsnahen Wissenschaftlern auf offene Ohren stoßen.

Doch auf einer institutsinternen Sitzung habe sich Dörre sehr ablehnend zu dem Arbeitskampf geäußert, sagte ein FAU-Mitglied. Anfragen der Jungle World an den Soziologieprofessor blieben unbeantwortet. »Das Institut für Soziologie der Universität Jena ist deutschlandweit bekannt für seine enorme akademische Produktivität und gewerkschaftsnahe Forschungsausrichtung. Umso mehr erstaunt es, dass das Institut im CATI-Labor die gewerkschaftlich erkämpften Errungenschaften unterläuft«, heißt es in einer Pressemitteilung der FAU.

Der Landesausschuss der Studentinnen und Studenten (LASS) in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Thüringen begrüßte den Streik: »Endlich haben sich nach dem ›HiWi-Streik‹ in der Soziologie im Jahr 2013 wieder Strukturen gebildet und vernetzt, die die Ausnutzung von Studierenden als billige Arbeitskräfte thematisieren und konkrete und berechtigte Forderungen vorbringen, um ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern«, sagte die LASS-Sprecherin Cindy Salzwedel mit Verweis auf einen Arbeitskampf der studentischen Hilfskräfte vor drei Jahren. Auch die Gefangenengewerkschaft der JVA Untermaßfeld und die sich in Gründung befindliche Hochschulgewerkschaft »Unterbau« (Jungle World 17/2016) solidarisierten sich mit den Jenenser Studierenden und ihren Forderungen.

Mittlerweile scheint auch das universitäre Rechtsamt Zweifel zu hegen, ob die Praxis der Werkverträge juristisch haltbar ist. So berichteten Teilnehmer einer Institutssitzung, die nicht ­namentlich genannt werden wollen, dass dort ein Gutachten der Rechts­abteilung der Universität verlesen worden sei, in dem die Rechtsauffassung der FAU bestätigt wird, wonach die Arbeitsbedingungen im CATI-Labor im Wesentlichen denen eines Arbeitsverhältnisses und nicht der Selbständigkeit entsprechen, die für Werkverträge Voraussetzung ist.

* Name von der Redaktion geändert.

http://jungle-world.com/artikel/2016/27/54407.html

Peter Nowak

War der Täter von Orlando ein Islamist…


…oder hatte er Probleme mit seiner Sexualität? Über die problematische Verarbeitung eines Massakers

Der Historiker Sven Reichardt[1] stützte sein im Suhrkamp Verlag erschienenes Buch Authentizität und Gemeinschaft[2], eine Art Standardwerk „über linksalternatives Leben in den siebziger und achtziger Jahren“, zum großen Teil auf Kontaktanzeigen und Leserbriefe in den Alternativmedien. Tatsächlich spricht aus ihnen unverstellt ein Zeitgeist, der in den politischen Schriften oft nur kodierter zu finden ist.

Noch heute ist die Lektüre von Taz-Leserbriefen wichtig, um sich zu informieren, wie die ehemaligen Linksalternativen und die nachgeborenen Postalternativen ticken. Was sagt es über sie aus, wenn man als Nachlese zum islamistischen Anschlag in Orlando folgende Replik auf die Überschrift „USA: Terror im Schwulenclub“ findet?

Mit eurer Überschrift bewegt ihr euch in einer historischen Tradition, nämlich bestimmte Gruppen unsichtbar zu machen. Das Pulse ist kein „Schwulenclub“, es bezeichnet sich selbst als Ort der LSBTIQ-Community. Und es wurden nicht nur Cis-Männer getötet, wie euer Titel es vermuten lassen könnte.

Eine andere Zuschrift bringt gleich einige Vorschläge, wie eine Würdigung aller Opfer von Orlando hätte lauten müssen:

Es gibt einige Begriffsalternativen, um alle Opfer zu würdigen und um einiges für die Sichtbarkeit von LGBTI zu tun: homosexuell/quer/LBGTI….

Trägt es wirklich zur besseren Würdigung der Opfer bei, wenn sie mit einem Kürzel und einem davor gestauten Gedränge von Adjektiven bezeichnet werden?

Waren die Opfer nicht Menschen?

Was sagt es über eine Bewegung aus, die sich nur gewürdigt fühlt, wenn immer mehr Binde- und Schrägstriche aneinandergereiht werden? Ist das nicht die Widerspiegelung einer neoliberalen Gesellschaft, wenn Maggie Thatchers Verdikt, es gebe keine Gesellschaft, in der Alternativszene bis in die Sprachpolitik durchgespielt wird? So ist es kein Zufall, dass diese Debatte in Großbritannien mit großer Vehemenz geführt[3] wird (vgl. auch Please Don’t Stop the Music[4]).

Wenn jede Bezeichnung größer Einheiten als Unsichtbarmachen von Teilen zurückgewiesen wird, bleiben am Ende nur die isolierten Monaden übrig, die sich bloß als Konkurrenz begreifen. Wo die Utopie einer Gesellschaft abhanden gekommen ist, bleiben nur immer mehr Minderheiten, die sich über bestimmte Konstruktionen wie Geschlecht, Nation etc. definieren. Statt Gesellschaftsveränderung dominiert dann der Konkurrenz- und Statuskampf der Minderheiten.

Dabei könnte man doch die Opfer von Orlando dadurch sichtbar machen, dass man ihre Namen nennt. Wo das nicht möglich ist, sollte man nicht die kleinste Minderheit, sondern die größte Einheit wählen. Die Opfer waren Menschen, die zum selben Zeitpunkt gemeinsam in einem Klub waren. Warum das etwas über ihre sexuelle Orientierung aussagen soll, ist zunächst nicht ersichtlich.

Ist der Islamismus oder das US-Waffenrecht das Problem?

Für den Täter war klar, dass er mit dem Anschlag möglichst viele Menschen treffen wollte, denen er wegen ihrer sexuellen Orientierung das Lebensrecht absprach. Dabei dürfte es für ihn nebensächlich gewesen sein, welche sexuelle Identität die einzelnen Individuen genau hatten. Es reichte schon, dass sie Besucher dieses Clubs waren, um ermordet zu werden.

Nun ist in den USA gleich nach den Anschlag eine heftige Debatte darüber entbrannt, ob es sich um einen islamistischen Anschlag handelte. Das stellte vor allem der designierte Präsidentschaftskandidat der Republikaner, Trump, in den Mittelpunkt seiner Kampagne, konnte er doch die vermeintlich zu islamfreundliche Obama-Administration damit angreifen und sich selber als Retter des christlichen Amerika gerieren.

Trump-Gegner verweisen hingegen darauf, dass nicht der Islamismus, sondern das laxe Waffenrecht in den USA das zentrale Problem sei. Tatsächlich ermöglichte es den Täter, mühelos die tödlichen Waffen zu besorgen, was die Zahl seiner Opfer erhöhte. Doch es handelt sich bei der Gegenüberstellung, ob der Islamismus oder die laxen Waffengesetze für den tödlichen Anschlag verantwortlich waren, um eine Scheinalternative.

Der Islamismus war die ideologische Verbrämung und die laxen Waffengesetze machten es dem Täter leichter möglich, seien Pläne umzusetzen. Es gibt eben Länder, wo es nicht so einfach möglich ist, an eine Waffe zu kommen Allerdings finden entschlossene Täter immer einen Weg.

Warum wird nicht von einem islamistischen Anschlag gesprochen?

Es ist aber die islamistische Ideologie, die hinter dieser Entschlossenheit steckt und es ist schon seltsam zu beobachten, welchen Eiertanz manche Linken und Liberalen aufführen, um diesen einfachen Tatbestand nicht aussprechen zu müssen. Da wird stattdessen gefragt, ob der Täter vielleicht selber Probleme mit seiner sexuellen Orientierung hatte. Was dann zur grotesken Kennzeichnung des Täters als „schwuler Islamist“[5] führte.

Diese ganzen Spekulationen sind müßig. Selbst, wenn der Angreifer Probleme mit seiner Sexualität gehabt haben soll, so erklärt das nicht seine Tat. Zum Massenmörder wird ein Mensch erst dann, wenn er sich eine bestimmte Ideologie zu eigen macht. Hier war es der Islamismus, der nicht als religiöse, sondern als weltweite faschistische Strömung betrachten werden soll. Dann ist es auch gar nicht verwunderlich, dass nicht wenige der islamistischen Attentäter nicht durch eine ausgeprägte Religiosität aufgefallen sind und sich nicht an die Regel des Koran gehalten hätten

Das hindert aber niemanden daran, aktiv in der politischen Bewegung des Islamismus mitzutun. Ein paar rudimentäre Koranzitate mögen dabei von Vorteil sein, nicht aber eine besonders islamische Lebensweise. Der Aktion 3. Welt Saar[6] ist zuzustimmen, wenn sie den Terroranschlag von Orlando „als Ausdruck islamistischen Hasses auf Homosexuelle und auf jede genussbetonte Lebensart“ klassifiziert[7] und vom größten islamistischen Terroranschlag in den USA seit dem 11.09.2001 spricht.

Dieses Verbrechen richtet sich aber nicht nur gegen Homosexuelle. Islamisten wenden sich mit ihrem ‚Heiligen Krieg‘ gegen jede Form eines selbstbestimmten, befreiten, genussbetonten Lebens.Alex Feuerherdt

Alex Feuerherdt

Dafür stehe bei ihnen „der Westen“, vor allem repräsentiert durch die USA und Israel.

Auch die Homophobie anderer religiöser Hardliner ist tödlich

Wenn dann aber Alex Feuerherdt vom Islamkompetenzzentrum der Aktion 3. Welt Saar den Journalisten Thorsten Denkler von der Süddeutschen Zeitung dafür kritisiert, dass er geschrieben hat, dass auch ein evangelikaler Christ die Tat hätte ausführen können, ist das im globalen Maßstab nicht zu rechtfertigen. Denn es hat sich in der Vergangenheit öfter gezeigt, dass sonst verfeindete religiöse Hardliner im Kampf gegen sexuelle Minderheiten zusammenrücken.

Da waren sich in Jerusalem jüdische, christliche-orthodoxe und islamische Kleriker einig gegen eine Schwulenparade in Jerusalem. Der Mann, der im letzten Jahr auf einer Gayparade in Jerusalem mehrere Menschen niedergestochen hat[8], wurde in der Presse als orthodoxer Jude bezeichnet. Aber auch bei ihm war es die Nähe zu rechten Organisationen, die in Israel verboten sind, die den ideologischen Rahmen für das Verbrechen lieferten.

Diese Organisationen berufen sich vage auf ein orthodoxes Judentum, ein wirklicher religiöser Bezug ist aber auch bei ihnen oft nicht vorhanden. Wenn ein vager religiöser Bezug mit einer faschistoiden Ideologie zusammenkommt, sind Verbrechen wie in Jerusalem und Orlando immer möglich. Wie tödlich dann die Attacken sind, liegt dann akzidentiell auch daran, wie schwer oder einfach man an tödliche Waffen kommt. Da ist dann tatsächlich die Kritik an den laxen Waffengesetzen in den USA mehr als berechtigt.

Sie machten es dem Islamisten in Orlando möglich, zu besonders tödlichen Waffen zu kommen, die ungleich gefährlicher waren als das Messer des israelischen Täters. Auch die verschiedenen christlichen Gruppierungen sind im Weltmaßstab an der tödlichen Homophobie beteiligt. Vor allem in vielen afrikanischen Ländern wie Uganda sind verschiedene christliche Fundamentalisten mit guten Kontakten zu ähnlichen Gruppen in den USA[9] verantwortlich für tödliche Angriffe auf Menschen, die nicht ins patriarchale Weltbild passen.

In Nigeria berufen sich die Schwulenhasser auf islamistische und christliche Fundamentalisten[10]. So richtig es also ist, die besondere Gefahr des Islamfaschismus aktuell zu betonen, so richtig ist es auch, darauf hinzuweisen, dass religiöses Sendungsbewusstsein, wenn es mit faschistischer Ideologie und den nötigen technischen Know How verbunden wird, potentiell tödlich ist.

http://www.heise.de/tp/artikel/48/48602/1.html

Peter Nowak 22.06.2016

Anhang

Links

[1]

https://www.geschichte.uni-konstanz.de/professuren/prof-dr-sven-reichardt/

[2]

http://www.suhrkamp.de/buecher/authentizitaet_und_gemeinschaft-sven_reichardt_29675.html

[3]

http://www.taz.de/!5312345/

[4]

https://www.thenation.com/article/please-dont-stop-the-music/

[5]

http://bundesdeutsche-zeitung.de/headlines/politics-headlines/orlando-schwuler-islamist-laeuft-amok-962497

[6]

http://www.a3wsaar.de/islamismus

[7]

http://hpd.de/artikel/politik-und-islamvertreter-verharmlosen-islamismus-13212

[8]

http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/naher-osten/ultraorthodoxer-jude-sticht-menschen-bei-schwulenparade-nieder-13728145.html

[9]

http://www.zeit.de/politik/ausland/2009-12/uganda-homosexualitaet-usa

[10]

http://www.taz.de/!5050650/