»Es war ein verrückter, schwüler Sommer, dieser Sommer, in dem die Rosenbergs auf den elektrischen Stuhl kamen.« So beginnt Silvia Plaths Roman »Die Glasglocke«. Sie erinnert an die jüdischen Kommunist_innen Ethel und Julius Rosenberg, die wegen Atomspionage für die Sowjetunion am 19. Juli 1953 in New York hingerichtet wurden. »Der Antisemitismus war in dem Verfahren gegen die Rosenberg untrennbar mit dem Antikommunismus verbunden«, schreiben die Antisemitismusforscherin Sina Arnold und der Historiker Olaf Kistenmacher in ihrem Buch über den »Fall Rosenberg«. Sie weisen nach, wie sich das Feindbild vom »jüdischen Bolschewismus« in den USA verbreitete, während zeitgleich die stalinistischen kommunistischen Parteien in Osteuropa gegen den jüdischen »Kosmopolitismus« mobil machten. In einem eigenen Kapitel widmen sich die Autor_innen der Hetze gegen Ethel Rosenberg. Ihr nahm der Großteil der Medien übel, dass sie als Mutter zweier Kinder nicht das Leben einer Hausfrau führte. »Im Tierreich spricht man davon, dass Weibchen die tödlicheren Spezies seien. Man kann das auf den Fall Ethel und Julius Rosenberg übertragen«, schrieb die Boulevardzeitung New York World Telegram. Arnold und Kistenmacher haben mit dem Buch einen neuen Zugang zum Fall Rosenberg gefunden. Die Literaturliste und das Verzeichnis der Theaterstücke und Filme zum Fall Rosenberg bieten denen Anregungen, die sich weiter informieren wollen.
Peter Nowak
ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 622 / 13.12.2016
https://www.akweb.de/ak_s/ak622/09.htm
Sina Arnold und Olaf Kistenmacher: Der Fall Ethel und Julius Rosenberg, Antikommunismus, Antisemitismus und Sexismus in den USA zu Beginn des Kalten Krieges. Edition Assemblage, 96 Seiten, 12,80 EUR.
Soziologe Bernd Drücke will mit Vorurteilen gegenüber Anarchismus aufräumen
Anarchismus wird immer wieder mit Gewalt, Terror und Chaos in Verbindung gebracht. Der Münsteraner Soziologe Bernd Drücke versucht seit vielen Jahren dieses Bild zu korrigieren. Er gibt die Zeitschrift »Graswurzelrevolution« heraus, die ein wichtiges Forum der gewaltfreien libertären Bewegung ist. Dass der Historiker Timothy Snyder in einem »Spiegel«-Interview die Behauptung aufstellte: »Hitler war kein Staatsmann oder Nationalist, sondern ein in rassistischen Theorien denkender Anarchist« ist für Drücke eine besondere Diffamierung von Menschen, die sich für eine herrschaftsfreie Gesellschaft einsetzen.
In dem kürzlich im Unrast-Verlag herausgegebenen Buch »Anarchismus Hoch 3« lässt er Menschen zu Wort kommen, die sich als Anarchisten oder Libertäre verstehen. Es ist der dritte Band einer Trilogie über die aktuelle anarchistische Bewegung. »Ja! Anarchismus« und »Anarchismus Hoch Zwei« hießen die beiden Vorgänger.
Auch im dritten Buch gibt Drücke wieder einen guten Überblick über das anarchistische Milieu. So berichtet Andreas Ess über das letztlich gescheiterte Projekt A. Es war der Versuch, in einer Kleinstadt ein libertäres Milieu zu etablieren, in dem Politik und Alltag verbunden werden. Ess schildert, wie er als Jugendlicher und Arbeiter in einer Kohlenzeche tunlich vermied, als Anarchist aufzutreten, dafür aber jede freie Minute für die anarchistische Arbeit nutzte. Der in Hannover lebende Krankenpfleger Heiko Maiwald hingegen verknüpft Politik und Beruf. Als Aktivist der Basisgewerkschaft FAU kämpft der Krankenpfleger für bessere Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen.
Libertäre Tierrechterinnen werden in dem Buch ebenso vorgestellt wie ein Veteran des gewaltfreien Anarchismus. Mehrere Interviewpartner arbeiteten in libertären Verlagen wie Unrast, Edition Nautilus, Assoziation A und Black Pigeon. Auch die Regisseure Moritz Springer und Marcel Seehuber, die in ihren Anfang 2016 fertig gestellten Film »Projekt A« anarchistische Projekte aus verschiedenen europäischen Ländern dokumentierten, kommen in dem Buch zu Wort.
Vier Interviews widmen sich der anarchistischen Bewegung im Ausland. Ralf Dreis schildert beispielsweise die Situation der Anarchisten in Griechenland und kritisiert die SYRIZA-Regierung scharf. Anett Keller spricht über die oppositionellen Kräfte in Indonesien, die sich bis heute nicht von den Massakern erholt haben, mit denen die Opposition Mitte der 1960er Jahre zerschlagen wurde. Auch Ismail Küpeli nimmt in seinem Türkei-Überblick die gesamte oppositionelle Bewegung in den Blick. »Die sozialen Bewegungen sind noch da, trotz der Repression, trotz des brutalen Vorgehens des Staats«, zieht er ein vorsichtig optimistisches Fazit. Sehr treffend ist auch die Einschätzung des russischen Anarchisten Vadim Damier zum Ukrainekonflikt. »Für uns ist das vor allem ein Machtkampf zwischen den kapitalistischen Oligarchie-Cliquen, die leider imstande waren, die Massen für sich zu qualifizieren«, so Damier. Er lehnt daher die Parteinahme für eine Seite ab.
Mit dem Buch hat Drücke einen wichtigen Beitrag zur Bestandsaufnahme der aktuellen libertären Bewegung geleistet. Die politischen Widersprüche zwischen den Strömungen werden deutlich, aber auch das Potenzial und die Rolle, die die Bewegung für eine außerparlamentarische Linke spielen kann.
Simon Schaupp entlarvt, warum wir selbst schuld sind an der Stärke des neoliberalen Systems
Gleich im ersten Kapitel beschreibt der Soziologe Simon Schaupp, wie er gegen seinen Willen zum Self-Tracker wurde. Er hatte mit seinem neuen Smartphone an einer Demonstration teilgenommen und das neue Gerät meldet sich mit der Botschaft: »Glückwünsch Simon, Sie haben heute mehr als 1000 Schritte gemacht. Versuchen Sie doch morgen 1500.« Die vorinstallierte App hatte nicht nur die Demonstrationsschritte und die Route, sondern auch die Laufgeschwindigkeit und den Kalorienverbrauch während der Demonstration aufgezeichnet.
Während Schaupp unbeabsichtigt ein detailliertes Bewegungsprotokoll aufzeichnen ließ, wächst weltweit die Zahl der Menschen, die täglich ganz freiwillig ihr gesamtes Leben – von der Arbeit über das Joggen bis zum Schlaf – minutiös dokumentieren, sich überwachen lassen und die Daten dann auch noch über soziale Netzwerke in alle Welt verbreiten.
Der kritische Autor stellte sich die Frage nach den gesellschaftlichen Ursachen dieses Phänomens: »Welche politischen und ökonomischen Strukturen machen es notwendig, sich permanent selbst zu überwachen und zu optimieren?« Schaupp warnt eindringlich, dass Self-Tracking aktuell eine enorme Rolle bei der Selbstzurichtung und Konditionierung des Subjekts für die Zumutungen des Kapitalismus spielt. Gerade diese schon alltägliche und massenhaft verbreitete Praxis bewirkt und sichert, dass der Neoliberalismus so stark ist wie nie zuvor und selbst die Krisen der vergangenen Jahre scheinbar schadlos überstanden hat.
»Im Self-Tracking verschmelzen Polizei und Verdächtiger zu einer Person zusammen, die sich selbst mit allen zur Verfügung stehenden technischen Mitteln ausspioniert. Jeder versäumte Jogginggrund, jede überzählige Kalorie, jede verträumte Minute Arbeitszeit wird registriert und angemahnt, um nicht vor sich selbst in den Verdacht zu geraten, das Kapitalverbrechen der Leistungsgesellschaft zu begehen: Nicht das Maximum aus sich herauszuholen«, fasst Schaupp die ökonomischen Zusammenhänge prägnant zusammen.
Der Wissenschaftler zeigt anhand der Werbung für die unterschiedlichen Self-Tracking-Methoden, wie die letztlich fatale Selbstkonditionierung funktioniert. Es ist bezeichnend, dass mit Bergsteigern und Soldaten zwei Gruppen, die immer wieder auch Tote und Schwerverletzte zu verzeichnen haben, Vorbilder für das Self-Tracking sind.
Die Botschaft ist klar: Schonung von Gesundheit und Leben ist im Ellenbogen-Kapitalismus der »Leistungsträger« nur etwas für Loser, Schwächlinge und Versager. Self-Tracking hat laut dem Verfasser auch schon längst Einzug in die Politik gehalten und wird von dieser explizit gewünscht. So hat das britische Gesundheitsministerium Ärzte aufgefordert, ihren Patienten Self-Tracking-Anwendungen zu verschreiben, »damit diese in die Lage versetzt werden, ihre Gesundheit effektiver zu überwachen und so mehr Verantwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen«. Krankenkassen belohnen eifrige Self-Tracker mit Prämien. Wer nicht mitmacht, zahlt höhere Beiträge. Auch die Europäische Kommission setzt große Hoffnungen darauf, mit Self-Tracking immense Einsparungen im europäischen Gesundheitsbudget zu erzielen.
Im letzten Kapitel stellt sich Schaupp die Frage, ob in einer nicht von der Kapitalverwertung bestimmten Gesellschaft die zuvor von ihm beklagten Methoden in emanzipatorischem Sinne verwendet werden könnten. Er gibt darauf keine Antwort. Sie zu finden, überlässt er den Lesern. Nach der Lektüre des Buches drängt sich jedoch noch eine andere Frage auf, die Schaupp nicht stellt: Ist es nicht höchste Zeit, dass sich die Menschen offensiver den Self-Tracking-Methoden verweigern, dem Markt und dem Staat definitiv erklären, sich nicht mehr ständig weiter optimieren zu wollen, nicht mehr immer neue Rekorde und Höchstwerte aus sich herausholen zu lassen?
Simon Schaupp: Digitale Selbstüberwachung. Self-Tracking im kybernetischen Kapitalismus. Verlag Graswurzelrevolution. 160 S., br., 14,90 €.
Peter Nowak. In Zeiten, in denen in vielen Ländern rechtspopulistische Parteien wachsen, stellt sich die Frage nach den Gegenkräften, die sich den Rechten entgegenstellen. In Deutschland ist einer dieser Akteure die autonome Antifa.
Es waren radikale Linke, die in gut organisierten Blöcken gegen diverse Alt- und Neonazitreffen protestierten und dabei auch die Kritik an Staat und Nation nicht vergassen. Für einen Grossteil der Medien und auch für die meisten politischen Parteien
war die autonome Antifa ein Haufen von ChaotInnen und ein Fall für Polizei und Justiz. Doch ausgerechnet in der niedersächsischen Universitätsstadt Göttingen wurde die autonome Antifa vor 30 Jahren bündnis- und kulturfähig. Bernd Langer ist seit 1978 in autonomen Antifa-Zusammenhängen aktiv und war einer der stärksten BefürworterInnen einer Bündnispolitik im autonomen Lager. Jetzt hat er unter dem Titel Kunst und Kampf eine allgemeinverständliche Geschichte
darüber verfasst.
Heiss umstrittene Bündnispolitik
Heiss umstrittene Bündnispolitik Ein Höhepunkt seiner Aktivitäten war eine Demonstration gegen ein Neonazi-Zentrum im
niedersächsischen Mackenrode am 7. Mai 1988, zu der bundesweit mobilisiert wurde niedersächsischen Mackenrode am 7. Mai 1988, zu der bundesweit mobilisiert wurde. Damals war die traditionelle autonome Antifa-Politik, die Bündnisse
mit bürgerlichen oder reformistischen Linken ablehnte und nur auf die eigene Kraft vertrauen wollte, an ihre Grenzen gestossen. «In dieser Situation kam es zu Kontakten mit VertreterInnen von DGB (Deutscher Gewerkschaftsbund), Grünen und
anderen antifaschistisch Gesinnten. Endlich bot sich die Chance, autonome Politik weiterzuentwickeln und aus der Isolation rauszukommen. Bündnispolitik hiess das Zauberwort und wurde fortan zum heiss umstrittenen Thema in der autonomen
Szene», beschreibt Langer die Situation vor fast 30 Jahren in Westdeutschland.
2000 Menschen waren am 7.Mai 1988 nach
Mackenrode gekommen. Doch was die Demonstration noch heute interessant macht, war ihre Zusammensetzung.
An der Spitze lief ein autonomer Block, dahinter hatten sich Mitglieder der Grünen, des Deutschen Gewerkschaftsbunds und der SPD in die Demonstration eingereiht. Zuvor hat es klare Absprachen zwischen den Spektren gegeben und auch der autonome Block benannte Verantwortliche, die garantierten, dass die gemeinsamen Vereinbarungen eingehalten wurden. So gingen vom autonomen Block keine Angriffe auf die Polizei aus. Aber es gab die klare Ansage, dass er sich gegen Angriffe verteidigen
würde. Diese Kooperation war etwas Neues und wurde bundesweit diskutiert.
Symbol der Antifaaktion
Noch in einer anderen Hinsicht war die Mackenrode-Demonstration ein Novum. Auf dieser Demonstration waren erstmals in der BRD Fahnen und Transparente mit dem Emblem der Antifaschistischen Aktion in grosser Zahl zu sehen. Bald war dieses Symbol von Demonstrationen und Aktionen der autonomen Antifa nicht mehr wegzudenken. Langer beschreibt sehr detailliert, wie umstritten die Verwendung des leicht veränderten Symbols der Antifaschistischen Aktion aus der Weimarer Republik auch unter autonomen AntifaschistInnen damals Eür viele war es zu stark mit der KPD-Geschichte
der Weimarer Republik verbunden. Langer beschreibt in kurzen Kapiteln mit Witz und Humor seine bewegte politische Vita in der ausserparlamentarischen Linken. Dabei spielte bei ihm mehr und mehr künstlerische Aspekte eine zentrale Rolle. Konflikte zwischen politischen AktivistInnen, denen es vor allem auf die Botschaft ankam und die für ästhetische Fragen wenig Verständnis zeigten, konnten nicht ausbleiben. Dabei trug Langer zur Kulturfähigkeit der autonomen Antifa und der ausserparlamentarischen Linken bei, was man in dem Buch gut sehen kann. Dort sind zahlreiche Plakate nachgedruckt, die die von ihm gegründete Gruppe Kunst und Kampf (KuK) seit Ende der 80er Jahre produziert hat. Sie mobilisierten zu Demonstrationen und politischen Kampagnen, die politische Botschaft kam gut rüber und sie hatten einen Wiedererkennungswert. Mit ihnen verabschiedete sich ein Teil der autonomen Antifa vom Punkstil. Doch nicht alle wollten mitziehen. Langer beschreibt, wie auch in der autonomen Szene Machtpolitik praktiziert wurde, und verschweigt nicht, dass auch er daran beteiligt war. Wenn KuK beim Vorbereitungstreffen zu einer Demonstration schon mit einem fertigen
Plakatentwurf auftrat, war die Chance gross, dass der auch Verwendung fand.
Der Staatsschutz ist dabei
Bernd Langer versteht sich noch immer als radikaler Linker, der keineswegs den Frieden mit diesem Staat gemacht hat. Man muss nicht mit allen seinen politischen Ansichten übereinstimmen, so wenn Langer die Oktoberrevolution als Putsch
der Bolschewiki abqualifiziert. Doch mit dem Buch hat er einen Beitrag dazu geleistet, dass ein wichtiges Kapitel linker Geschichte nicht vergessen wird. Menschen, die dabei waren, werden es ebenso mit Gewinn lesen, wie junge Leute, die noch nicht geboren waren, als die autonome Antifa erstmals Bündnisse einging. Sie können sich diese Geschichte im heutigen Kampf gegen rechts aneignen und selber entscheiden, was davon heute noch brauchbar ist. So beschreibt Langer, dass immer wieder junge Menschen mit ihm Kontakt suchen und Unterstützung suchen. So haben Jugendliche im norddeutschen Städtchen Fallingbostel durch eine Schrift von Langer erfahren, dass in dem Ort im Jahr 1983 eine legendäre Antifademo mit Strassenschlacht stattfand, als die NPD dort ihren Bundesparteitag abhalten wollte. Das Ergebnis war eine Jubiläumsveranstaltung 30 Jahre später. «Im etwas versteckt liegenden DGB-Schulungszentrum Walsrode fand der Vortrag statt. Mehr als 100 Personen wurden gezählt, darunter viele alte KämpferInnen. So war der Abend durchaus mit den schönen Wiedersehensszenen verbunden. Leider musste aufgrund des niedersächsischen Polizeigesetzes der Staatsschutz im Saal
geduldet werden», schreibt Langer. Hier wird deutlich, dass seine Arbeit durchaus mehr als ein nostalgischer Rückblick ist und die Staatsschutzbehörden auch Jubiläen in gewerkschaftlichen Räumen durchaus ernst nehmen. Die in dem Buch nachgedruckten Plakate, viele von ihnen sind kaum mehr bekannt, bringen die autonome Geschichte den Lesenden
auch optisch nahe. Langers Geschichtsüberblick ist auch nicht nur für Deutschland interessant. Schliesslich hat das Konzept des autonomen Antifaschismus vor allem bei jüngeren Linken in vielen europäischen Ländern Nachahmung gefunden. Die
heutige Antifabewegung betrachtet Langer mit Solidarität, aber auch mit Kritik. «Bündnispolitik wird heute in grossen Teilen der autonomen Antifa betrieben. Doch oft fehlt das Bewusstsein, eine organisierte politische Kraft zu sein und droht in einem
diffusen bunten Allerlei aufzugehen», moniert er. Diese Fragen dürften auch bei seiner aktuellen Veranstaltungsreihe eine Rolle spielen, in der Langer das neue Buch vorstellt. Am 17. Dezember wird er unter anderem um 19 Uhr im Infoladen Magazin in
Basel auftreten.#
Peter Nowak WEITERE VERANSTALTUNGSTERMINE UNTER: WWW.KUNST-UND-KAMPF.DE
LANGER, BERND, KUNST UND KAMPF, MÜNSTER:
UNRAST-VERLAG, 2016. 19,80 EURO.
Gleich im ersten Kapitel beschreibt der Soziologe Simon Schaupp[1] eine bezeichnende Episode, wie er gegen seinen Willen zum Self-Tracker wurde. Er hatte mit seinem neuen Smartphone an einer Demonstration teilgenommen und das neue Gerät verkündete am Bildschirm: „Glückwünsch Simon, Sie haben heute mehr als 1.000 Schritte gemacht. Versuchen Sie doch morgen 1.500.“ Die vorinstallierte App hatte nicht nur die Demonstrationsschritte und die Route genau aufgezeichnet, auch konnte man die Laufgeschwindigkeit feststellen, und obendrein erfuhr Schaupp noch, wie viele Kalorien er für die Demonstration verbraucht hatte. Solch ein perfektes Demonstrationsprotokoll dürfte der Polizei und den unterschiedlichen Verfassungsämtern ungeahnte Überwachungsmöglichkeiten bieten.
Trotzdem erfreut sich Self-Tracking ungebrochener Beliebtheit. Nicht Datenschutz und Datenminimierung, sondern die ungebremste Offenlegung ganz privater Daten sind Kennzeichen einer Bewegung, die ihr Leben von der Arbeit über das Joggen bis zum Schlaf von digitalen Geräten minutiös aufzeichnen und überwachen lässt und die Daten dann noch via Facebook weiterverbreitet.
Simon Schaupp hat in seinem kürzlich im Verlag Graswurzelrevolution erschienenem Buch „Digitale Selbstüberwachung. Self Tracking im kybernetischen Kapitalismus“[2] dieses Phänomen eingeordnet: in die Bemühungen nämlich, den Kampf gegen alles, was die reibungslose Anpassung an die kapitalistischen Erfordernisse und Zumutungen behindert, ins eigene Individuum zu verlagern.
Den Feind in Dir bekämpfen
„Denn im Self-Tracking verschmelzen Polizei und Verdächtiger zu einer Person zusammen, die sich selbst mit allen zur Verfügung stehenden technischen Mitteln ausspioniert. Jeder versäumte Jogginggrund, jede überzählige Kalorie, jede verträumte Minute Arbeitszeit wird registriert und angemahnt, um nicht vor sich selbst in den Verdacht zu geraten, das Kapitalverbrechen der Leistungsgesellschaft zu begehen: Nicht das Maximum aus sich herauszuholen.“
Schaupp zeigt in dem Buch anhand der Werbung für die unterschiedlichen Self-Tracking-Methoden, wie diese Selbstkonditionierung funktioniert. So findet man auf der Homepage des Self-Tracking-Anbieters Runtastic[3] solche Selbstbezichtigungen:
Gegen mich selbst anzutreten und mein Bestes zu geben macht Spaß und ist dank der Rekorde-Funktion auch ganz easy! Es fühlt sich toll an, meine eigenen Bestleistungen immer wieder zu unterbieten und meine neuesten Rekorde auf Runtastic.com zu bewundern.
Runtastic-User
Jede Woche warte ich gespannt auf meinen Fitnessbericht. Grüne Zahlen & Pfeile motivieren mich immer wieder aufs Neue! Ich will mich ja schließlich jede Woche verbessern!
Runtastic-User
„Entdecke die Geheimnisse des Superhelden“, fordert eine andere Werbeseite[4] für potentielle Selbstoptimierer, die immer und überall die Gewinner sein wollen. Auch Diätprogramme[5] arbeiten nach dem Prinzip, wonach mit Disziplin und mit eisernen Willen alles zu schaffen sei. Da ist es nur konsequent, dass ein Zeitsoldat das Abnehmen zu einer Frage der Disziplin erklärt. Auf anderen Self-Tracking Werbeanzeigen finden sich Bergsteiger, die mit Erfolg und vielen Strapazen einen Gipfel erklommen haben.
Es ist bezeichnend, das mit Bergsteigern und Soldaten zwei Gruppen Role-Models für das Self-Tracking sind, die immer wieder auch Tote und Schwerverletzte zu verzeichnen haben. Die Botschaft ist klar: Beim Rattenretten im kapitalistischen Alltag ist Schonung von Gesundheit und Leben etwas für Loser und Versager. Und sie sind in der Werbewelt der Self-Tracker wohl auch das Schlimmste, was man sich denken kann.
Die Landnahme des kybernetischen Kapitalismus
Sehr überzeugend hat Schaupp den Begriff des kybernetischen Kapitalismus als Bezeichnung der aktuellen Regulationsphase eingeführt, der, anders als bekannte Begriffe wie Postfordismus, deutlich macht, dass weiterhin die kapitalistische Verwertung dominiert. Die These von Schaupp lautet, dass das Self-Tracking „Teil einer kapitalistischen Landnahme ist, im Zuge derer sich Unternehmen die Produkte unbezahlter Arbeit in Form von Daten aneignen und als Waren verkaufen“.
Der Soziologe interpretiert den kybernetischen Kapitalismus als Reaktion auf die systemischen Notstände des Postfordismus, wie den Zwang zur ständigen Rationalisierung und der Ausweitung der Warenproduktion. Hier liefert Schaupp einen materialistischen Erklärungsansatz für den Tracking-Boom. Wenn der kapitalistische Imperativ „Du bist nichts, Deine Arbeitskraft ist alles“ verinnerlicht ist, können die ideologischen Staatsapparate, die seit Beginn des Kapitalismus mit Ideologie und Repression dafür gesorgt haben, dass sich die Subjekte der Kapitallogik beugen, etwas in den Hintergrund treten. Verschwinden werden sie aber nicht.
Ruhe und Ordnung
Die Situation ist vergleichbar mit einer Großdemonstration, bei der die eigenen Ordner für Ruhe und Ordnung sorgen. Dann bleibt die Polizei manchmal in den Seitenstraßen und ist im ersten Augenblick nicht sichtbar präsent. Da aber auch da immer die Möglichkeit besteht, dass die störrischen Elemente die Oberhand gewinnen, ist sie jederzeit einsatzbereit. Nicht anders ist der Umgang mit der individuellen Polizei. Wenn es jemand nicht mehr so angenehm empfindet, immer und überall kapitalgerecht zu agieren, gibt es vielfältige Druckmittel von außen.
Viele Self-Tracking-Technologien werden schon längst von diversen Firmen zur Totalüberwachung der Beschäftigten eingesetzt. „RescueTime ist eine Aufklärungsanwendung für Firmen, die Manager informiert hält über ihre wertvollste Ressource“, heißt auf der Webseite der Zeitmanagement-Software[6].
Die Überwachung wird dann als Kultur der Arbeitsplatztransparenz schöngeredet. Tatsächlich handelt es sich um eine einseitige Form der Transparenz. Der Kapitalbesitzer bekommt den Zugriff auch auf die letzten Geheimnisse der Lohnabhängigen. In den fordistischen Arbeitsverhältnissen gab es immer noch einige Nischen, wo sich die Beschäftigten zumindest für kurze Zeit dem Diktat der Maschinen entziehen konnten. Das fällt im Zeitalter der neuen Technologien immer schwerer.
Längst haben Politik und Wirtschaft Druckmittel in Stellung gebracht, falls die Freiwilligkeit nicht mehr gewährleistet ist. Schon hat das Gesundheitsministerium in Großbritannien Ärzte aufgefordert, sie sollten ihren Patienten Self-Tracking-Anwendungen verschreiben, „damit diese in die Lage versetzt werden, ihre Gesundheit effektiver zu überwachen und so mehr Verantwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen“.
Schon längst haben die Krankenkassen begonnen, besonders eifrige Self-Tracker mit Prämien zu belohnen. Wer nicht mitmacht, zahlt mehr. Auch die Europäische Kommission setzt angesichts von prognostizierten 3,4 Milliarden Menschen, die 2017 ein Smartphone benutzen, große Hoffnungen darauf, dass mit Self-Tracking immense Einsparungen im europäischen Gesundheitsbudget erzielt werden können.
Hier wird schon deutlich, dass in der nächsten Zeit Self-Tracking-Methoden Teil der Politik werden können. Wer sich dem verweigert, muss zumindest mit höheren Krankenkassenprämien rechnen. Es könnte allerdings durchaus auch staatliche Sanktionen für Tracking-Verweigerer geben.
In der Öffentlichkeit werden sie schon jetzt als Menschen klassifiziert, die mit ihrer Lebensweise unverantwortlich umgehen und die sozialen Systeme unverhältnismäßig belasten. Unter dem Begriff Quantified Self hat der Publizist Sebastian Friedrich[7] die unterschiedlichen Tracking-Methoden in sein kürzlich erschienenes Lexikon der Leistungsgesellschaft[8] aufgenommen.
Es steht dort neben Einträgen wie „Rennrad“ oder „Marathonlauf“, die in kurzen Kapiteln als Teil der neoliberalen Alltagspraxis vorgestellt werden. Die Stärke des Büchleins besteht darin, Alltagsbeschäftigungen aufzunehmen, die sich auch im kritischen Milieu reger Zustimmung erfreuen und die oft gar nicht mit dem Neoliberalismus in Verbindung gebracht werden.
Dabei zeigt Friedrich überzeugend, wie der erste Marathonlauf in New York wenige Hundert Interessierte anlockte, bevor er zu jenen Massenaufläufen wurde, die heute weltweite ganze Stadtbereiche lahmlegen. Mittlerweile beteiligen sich daran ganze Firmenbelegschaften daran, die so ihre Leistungs- und Leidensfähigkeit unter Beweis stellen. Eine Verweigerung würde sich wohl äußerst negativ für die Karriere auswirken. Das ist auch ein zentraler Begriff im Lexikon der Leistungsgesellschaft.
Kann Kybernetik im emanzipatorischen Sinne genutzt werden?
Im letzten Kapitel seines Buches stellt Schaupp die Frage, ob in einer Gesellschaft, die nicht von der Kapitalverwertung bestimmt ist, Self-Tracking-Methoden in emanzipatorischem Sinne verwendet werden könnte. Doch eine Antwort gibt er darauf nicht.
Dabei hätte er vielleicht einen Hinweis darauf geben können. Der von ihm mehrfach zitierte Stafford Beer, ein wichtiger Theoretiker der Kybernetik, war auch in Chile unter der Regierung der sozialistischen Regierung Allende an einem Projekt[9] beteiligt, das eine wirtschaftliche Planung mit Hilfe kybernetischer Methoden erproben sollte.
Dadurch sollte eine Planung mit den Belegschaften und großer Teile der Bevölkerung gewährleistet werden. Der rechte Putsch gegen die Unidad-Popular-Regierung beendete diesen Versuch, Kybernetik in emanzipatorischem Sinne zu nutzen. Das durch den Roman von Sascha Rehs Roman „Gegen die Zeit“[10], in dem dieses Projekt im Mittelpunkt steht, wurde es auch hierzulande wieder bekannt[11].
Es ist schade, dass Schaupp darauf nicht zumindest kurz hinweist, weil in seinem theoretischen Teil Stafford Beer schließlich eine wichtige Rolle spielt.
Self-Tracking-Verweigerung als Teil einer antikapitalistischen Praxis?
Er stellt nur klar, dass Self-Tracking in den aktuellen Machtverhältnissen eine wichtige Rolle bei der Selbstzurichtung und Konditionierung des Subjekts für die Zumutungen des Kapitalismus spielt. Gerade diese Alltagspraxen der Leistungsgesellschaft sind eine Antwort auf die Frage, warum der Neoliberalismus so stark ist und selbst die Krisen der letzten Jahre scheinbar schadlos überstanden hat.
Schon lange wird die Phrase vom Neoliberalismus in den Köpfen strapaziert. Der Self-Tracking-Boom ebenso wie die Marathonwelle zeigt deutlich, was damit gemeint ist. Dann stellt sich auch die Frage, ob es nicht Zeit für eine Bewegung ist, die sich diesen Self-Tracking-Methoden bewusst verweigert.
Wenn Menschen offen erklären, sich nicht ständig optimieren zu wollen, nicht den Anspruch zu haben, immer mehr Rekorde und Höchstwerde aus sich herausholen zu wollen, dann würde sicher nicht gleich der kybernetische Kapitalismus in eine Krise geraten.
Aber man darf auch nicht vergessen, dass konservative Theoretiker die wachsende Alternativbewegung der 1970er Jahre für die Krise des Fordismus mitverantwortlich machten. So könnte auch eine No-Tracking-Bewegung zumindest das Image ankratzen, das sich heute alle ganz freiwillig und mit großer Freude für den Sport, das Unternehmen und die Nation Opfer bringen.
»Anna Estorges dite Rirette Maîtrejean 1887 – 1968« steht auf der Gedenktafel eines Urnengrabs auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise. Dort liegt die in Deutschland bisher unbekannte französische Anarchistin begraben.
Lou Marin hat nun im Verlag Graswurzelrevolution die erste deutschsprachige Biographie von Rirette Maitrejean herausgebracht. Damit erinnert er an eine jahrzehntelang in der anarchistischen Bewegung tätigen Frau, die bald aus der Reihe tanzte und dafür in den eigenen Kreisen angefeindet wurde. Schließlich hatte sie eine scharfe Kritik an dem Flügel der anarchistischen Bewegung formuliert, der vor mehr als 100 Jahren Attentate, bewaffnete Raubüberfälle und Bombenanschläge als »Propaganda der Tat« verherrlichte.
In Zeiten von AfD und Pegida fragt sich mancher, warum so wenig von der Autonomen Antifa zu hören ist, die noch vor zwei Jahrzehnten Schlagzeilen machte. Bernd Langer ist seit 1978 in autonomen Antifazusammenhängen aktiv und war einer der stärksten Verfechter für Bündnispolitik im autonomen Lager. Jetzt hat er unter dem Titel »Kunst und Kampf« im Unrast-Verlag ein Buch darüber verfasst.
Ein Höhepunkt seiner Aktivitäten war die Demonstration gegen ein Neonazizentrum im niedersächsischen Mackenrode am 7. Mai 1988, zu der bundesweit mobilisiert wurde. Damals war die traditionelle autonome Antifapolitik, die Bündnisse mit bürgerlichen oder reformistischen Linken ablehnte, an ihre Grenzen gestoßen. »In dieser Situation kam es zu Kontakten mit Vertreter_innen von DGB, Grünen und anderen antifaschistisch Gesinnten. Endlich bot sich die Chance, autonome Politik weiterzuentwickeln und aus der Isolation rauszukommen«, beschreibt Langer die Situation vor fast 30 Jahren in der BRD. Bündnispolitik habe das Zauberwort geheißen und sei fortan zum heftig umstrittenen Thema in der autonomen Szene geworden, erklärt der Aktivist.
2000 Menschen waren am 7. Mai 1988 nach Mackenrode gekommen. Doch was die Demonstration noch heute interessant macht, war ihre Zusammensetzung. An der Spitze lief ein autonomer Block, dahinter hatten sich Mitglieder der Grünen, des DGB und der SPD in die Demonstration eingereiht. Zuvor hatte es klare Absprachen zwischen den Spektren gegeben und auch der autonome Block benannte Verantwortliche, die garantierten, dass diese eingehalten werden. Diese Kooperation war etwas Neues und wurde bundesweit diskutiert.
Doch für große Teile der autonomen Antifaszene bedeutete die Mackenrode-Demonstration noch eine weitere Zäsur. Erstmals waren dort in der BRD Fahnen und Transparente mit dem Emblem der Antifaschistischen Aktion in großer Zahl zu sehen. Bald war dieses Symbol bei Demos und Aktionen der Autonomen Antifa nicht mehr wegzudenken. Langer schildert, wie umstritten die Verwendung des leicht veränderten Symbols der Antifaschistischen Aktion aus der Weimarer Republik unter autonomen AntifaschistInnen war, vor allem wegen der engen Verknüpfung des Symbols mit der KPD.
In dem Buch sind zahlreiche Plakate abgedruckt, die von der Gruppe Kunst und Kampf (kuk) – Langer war eines ihrer Gründungsmitglieder – seit Ende der 1980er Jahre produziert wurden. Mit knackigen Botschaften und Wiedererkennungswert wurden sie zur Mobilisierung genutzt. Damit verabschiedete sich ein Teil der Autonomen Antifa vom subkulturellen Stil der frühen Jahre. Doch nicht alle wollen mitziehen.
Langer beschreibt präzise die knallharte Machtpolitik in der autonomen Szene und verschweigt auch seine eigene Beteiligung nicht. Wer zum Vorbereitungstreffen für eine Großdemonstration schon mit einem fertigen Plakatentwurf auftrat, bestimmte die Ausrichtung der Öffentlichkeitsarbeit. Man muss nicht in allem mit Langer übereinstimmen, beispielsweise wenn der die Oktoberrevolution als Putsch der Bolschewiki abqualifiziert. Doch mit dem Buch hat er ein wichtiges Kapitel außerparlamentarischer linker Geschichte dem Vergessen entrissen.
Bernd Langer, »Kunst und Kampf«. Unrast-Verlag, 256 Seiten, 19,80 Euro, ISBN 978-3-89771-582-0
In Zeiten von AfD-Aufstieg und Pegida fragen sich nicht wenige, warum man heute so wenig von der Autonomen Antifa hört, die noch vor zwei Jahrzehnten Schlagzeilen machte.
Es waren radikale Linke, die in gut organisierten Blöcken gegen diverse Alt- und Neonazitreffen protestierten und dabei auch die Kritik an Staat und Nation nicht vergaßen. Für einen Großteil der Medien und auch für die meisten politischen Parteien war die Autonome Antifa ein Haufen von Chaoten und ein Fall für Polizei und Justiz. Doch ausgerechnet in der niedersächsischen Universitätsstadt Göttingen wurde die Autonome Antifa vor 30 Jahren bündnis- und kulturfähig.
Bernd Langer ist seit 1978 in autonomen Antifazusammenhängen aktiv und war einer der stärksten Befürworter einer Bündnispolitik im autonomen Lager. Jetzt hat er unter dem Titel Kunst und Kampf eine allgemeinverständliche Geschichte darüber verfasst.
Ein Höhepunkt seiner Aktivitäten war eine Demonstration gegen ein Neonazizentrum im niedersächsischen Mackenrode am 7.Mai 1988, zu der bundesweit mobilisiert wurde. Damals war die traditionelle autonome Antifapolitik, die Bündnisse mit bürgerlichen oder reformistischen Linken ablehnte und nur auf die eigene Kraft vertrauen wollte, an ihre Grenzen gestoßen. «In dieser Situation kam es zu Kontakten mit Vertreter_innen von DGB, Grünen und anderen antifaschistisch Gesinnten. Endlich bot sich die Chance, autonome Politik weiterzuentwickeln und aus der Isolation rauszukommen. Bündnispolitik hieß das Zauberwort und wurde fortan zum heiß umstrittenen Thema in der autonomen Szene», beschreibt Langer die Situation vor fast 30 Jahren in Westdeutschland.
2000 Menschen waren am 7.Mai 1988 nach Mackenrode gekommen. Doch was die Demonstration noch heute interessant macht, war ihre Zusammensetzung. An der Spitze lief ein autonomer Block, dahinter hatten sich Mitglieder der Grünen, des DGB und der SPD in die Demonstration eingereiht. Zuvor hat es klare Absprachen zwischen den Spektren gegeben und auch der autonome Block benannte Verantwortliche, die garantierten, dass die gemeinsamen Vereinbarungen eingehalten wurden. So gingen vom autonomen Block keine Angriffe auf die Polizei aus. Aber es gab die klare Ansage, dass er sich gegen Angriffe verteidigen würde. Diese Kooperation war etwas Neues und wurde bundesweit diskutiert.
Symbol der Antifaaktion Noch in einer anderen Hinsicht war die Mackenrode-Demonstration ein Novum. Auf dieser Demonstration waren erstmals in der BRD Fahnen und Transparente mit dem Emblem der Antifaschistischen Aktion in großer Zahl zu sehen. Bald war dieses Symbol von Demos und Aktionen der Autonomen Antifa nicht mehr wegzudenken. Langer beschreibt sehr detailliert, wie umstritten die Verwendung des leicht veränderten Symbols der Antifaschistischen Aktion aus der Weimarer Republik auch unter autonomen Antifaschisten damals war. Für viele war es zu stark mit der KPD-Geschichte der Weimarer Republik verbunden.
Auch zur Kulturfähigkeit der Autonomen Antifa trug Langer bei, was man in dem Buch gut sehen kann. Dort sind zahlreiche Plakate nachgedruckt, die die von ihm gegründete Gruppe Kunst und Kampf (KuK) seit Ende der 80er Jahre produziert hat. Sie mobilisierten zu Demonstrationen und politischen Kampagnen, die politische Botschaft kam gut rüber und sie hatten einen Wiedererkennungswert. Mit ihnen verabschiedete sich ein Teil der Autonomen Antifa vom Punkstil.
Doch nicht alle wollen mitziehen. Langer beschreibt, wie auch in der autonomen Szene Machtpolitik praktiziert wurde, und verschweigt nicht, dass auch er daran beteiligt war. Wenn KuK beim Vorbereitungstreffen zu einer Demonstration schon mit einem fertigen Plakatentwurf auftrat, war die Chance groß, dass der auch Verwendung fand.
Bernd Langer versteht sich noch immer als radikaler Linker, der keineswegs den Frieden mit diesem Staat gemacht hat. Man muss nicht mit allen seinen politischen Ansichten übereinstimmen, so wenn Langer die Oktoberrevolution als Putsch der Bolschewiki abqualifiziert. Doch mit dem Buch hat er einen Beitrag dazu geleistet, dass ein wichtiges Kapitel linker Geschichte nicht vergessen wird. Menschen, die dabei waren, werden es ebenso mit Gewinn lesen, wie junge Leute, die noch nicht geboren waren, als die Autonome Antifa erstmals Bündnisse einging. Sie können sich diese Geschichte im heutigen Kampf gegen Rechts aneignen und selber entscheiden, was davon heute noch brauchbar ist. Die in dem Buch nachgedruckten Plakate, viele von ihnen sind kaum mehr bekannt, bringen die autonome Geschichte den Lesenden auch optisch nahe.
Lou Marin hat eine Biografie über die Anarchistin Rirette Maîtrejean verfasst
Nur ihr Geburtsname, ihr Pseudonym und die Lebensdaten 1887 bis 1968 sind an ihrem Urnengrab auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise vermerkt. Hierzulande ist die französische Anarchistin Rirette Maîtrejean, geboren als Anna Henriette Estorges in einem kleinen französischen Dorf, so gut wie nicht bekannt. Umso erfreulicher, dass Lou Marin jetzt die erste deutsche Biografie vorlegt.
Die Redakteurin der Zeitung »l’ anarchie«, Geliebte von Viktor Kibaltschin alias Victor Serge, unfreiwillige Komplizin der »Bande à Bonnot« und Weggefährtin von Albert Camus, den sie in die anarchistische Ideenwelt einführte, ist zeitweise massiv von den eigenen Genossen angefeindet worden. Denn sie verurteilte Attentate, bewaffnete Raubüberfälle und Bombenanschläge, die der radikale Flügel des Anarchismus als Propaganda der Tat verherrlichte. Sie war überzeugt, dass terroristische Aktionen der Sache nicht dienen, sondern nur schaden.
Lou Marin berichtet nicht nur über Rirette Maîtrejeans Leben, das von Anfang an widerständig war. So verweigerte sie sich ihrer Mutter, die für sie eine gute Partie zu finden hoffte. Für Rirette Maîtrejean glich die Ehe einer Zwangsprostitution, sie verschrieb sich der freien Liebe. Der Biograf gibt auch Einblick in den Mikrokosmos des anarchistischen Milieus in Paris vor dem Ersten Weltkrieg.
Einige Anarchisten weigerten sich, mit anderen linken Gruppen gemeinsam gegen den in der Dreyfus-Affäre offen zutage getretenen Antisemitismus zu kämpfen. Vor allem Sébastian Faure wurde als Regierungsanarchist angegriffen, weil er bei der Verteidigung des fälschlich der Spionage für Deutschland angeklagten jüdischen Hauptmanns mit sozialistischen und bürgerlichen Kräften kooperierte. Dessen Hauptkritiker Emilie Janvion gründete eine Zeitung, »die sich schnell antifreimaurerischen und antisemitischen Verschwörungstheorien hingab«, so Lou Marin. Am Beispiel von Gustav Hervé zeigt er die fatalen Folgen für die anarchistische Idee in Frankreich auf: »Angezogen vom Gewalt befürwortenden Verbalradikalismus Hervés sollten die ihm lange Zeit nachfolgenden AnarchistInnen in einen langen Prozess der Desillusionierung und der Rechtsentwicklung weg vom Antinationalismus und Antimilitarismus, hin zum Nationalismus und letztlich zur Kriegsvorbereitung hinübergezogen werden.« Doch nicht nur während des Ersten Weltkrieges spielte Hervé eine unrühmliche Rolle. Während des Zweiten Weltkrieges war er ein Unterstützer des Vichy-Regimes, Hitlers Marionettenregierung im Süden Frankreichs.
In jener Zeit lernte Rirette Maîtrejean Albert Camus kennen, den sie zu dem Abschnitt »Der individuelle Terror« in dessen Erfolgsbuch »Der Mensch in der Revolte« inspirierte. Eine enge Freundschaft verband sie auch mit dem jüdischen Anarchisten Pierre Ruff. Während jener 1936 Hitler und Stalin noch gleichermaßen verurteilte, verteidigte er die Sowjetunion nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die UdSSR. »Er lobte den Mut der Kommunisten und begann bald, seine ehemaligen GenossInnen des Komplizentums mit dem Nazismus zu bezichtigen«, bemerkt Lou Marin. Ruff kam im KZ Neuengamme ums Leben. Als Rirette Maîtrejean ihr Leben vollendete, erlebte Paris einen heißen Mai.
Lou Marin war es wichtig, das Vorurteil zu brechen, Anarchismus bedeute stets Gewalt. Das ist ihm mit seiner einfühlsamen Biografie von Rirette Maîtrejean gelungen. * Lou Marin: Rirette Maîtrejean. Verlag Graswurzelrevolution. 262 S., br., 16,90 €.
Horst Gobrecht würdigt den Kampf von Else und Alfred Nothnagel gegen Hitler und die Stalinisierung der DDR
Das Todesurteil für Alfred Nothnagel hatten die Nazis schon geschrieben. Und seine Frau Else hat sich schon innerlich von ihrem Mann verabschiedet. Doch die beiden sollten die braune Diktatur überleben. Sie beteiligten sich am Aufbau der DDR, gerieten dann jedoch in die Mühlen der stalinistischen Repression. Bei aller Kritik am Dogmatismus der SED standen die Nothnagels in prinzipieller Solidarität zur DDR, deren Untergang beide im hohen Alter erlebten. Else Nothnagel starb 1993, ihr Mann 1999.
Der Gewerkschaftler und Journalist Horst Gobrecht hat jetzt die Vita der beiden veröffentlicht, die zur Minderheit der anständigen Deutschen gehörten. Beide waren in Leipzig Mitglied der Jugendorganisation der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP), die sich für eine Einheitsfront aller Hitlergegner einsetzte. Damit standen sie im Widerspruch zur offiziellen Politik von SPD und KPD. Gobrecht berichtet, wie die Noth-nagels eng mit Kommunisten zusammenarbeiteten, nachdem deren Partei auf die Politik der Volksfront eingeschwenkt ist. Ausführlich geht er auf die Arbeit der Antifaschisten in der NS-Freizeitorganisation »Kraft durch Freude« (KdF) ein. Entsprechend der Taktik des Trojanischen Pferdes wollten sie innerhalb der Massenorganisation auf Widersprüche zwischen Demagogie und Wirklichkeit im Faschismus aufmerksam machen. Gobrecht widerspricht der These des Historikers Alexander Lange , der das Eindringen von Antifaschisten in NS-Organisationen als »Überwintern« denunziert. Es war aktiver Widerstand. Gobrecht weist nach, dass die Jugendlichen Kontakte zu sowjetischen Kriegsgefangenen unterhielten und sogar Waffen für das illegale Buchenwaldkomitee organisierten, deren Übergabe indes nicht klappte.
Ins Reich der Legende verweist Gobrecht auch die Lesart der SED, nach der die Leipziger Antifaschisten unter Führung der KPD agierten. Der Autor weiß, dass die NS-Gegner oft voneinander isoliert tätig waren und die seinerzeitigen Direktiven der KPD erst Jahre später lesen konnten. Für Gobrecht ist es ein Ritterschlag, dass die jungen Kommunisten »auch tatsächlich bereit waren, selbstständig politisch zu handeln, statt auf eine (wirkliche oder imaginäre) zentrale operative Leitung der KPD innerhalb Nazideutschlands zu warten«. Der Autor berichtet, wie sich Alfred Nothnagel schon Mitte der 1960er für die Entmythologisierung der Geschichte des Leipziger Widerstands einsetzte.
Ausführlich widmet sich Gobrecht der Streitfrage, ob es sich bei der Gründung der SED um Einsicht in eine Notwendigkeit oder Zwang gehandelt habe. Nicht die Vereinigung, sondern die nachfolgende Stalinisierung ist für ihn das eigentliche Problem. Der Vereinigungsprozess sei gescheitert, als ehemalige Mitglieder linker Organisationen außerhalb der KPD wie Parteifeinde behandelt wurden. Auch die Nothnagels blieben davon nicht verschont. Nachdem Alfred Nothnagel bereits wegen seiner SAP-Vergangenheit angegriffen wurde, brachte ihm sein couragiertes Agieren am 17. Juni 1953 den endgültigen Bannstrahl ein. Als Direktor der VEB Textilwerke in Kirchberg hatte er sich der Kritik der Arbeiter gestellt und für sie gar eine Kundgebung angemeldet. Damit habe er gegen das von der Sowjetischen Militäradministration erlassene Versammlungsverbot verstoßen, hieß es.
Trotz Parteiausschluss blieben die Nothnagels Kommunisten. Sie kuschten vor niemandem. Als Alfred Nothnagel 1968 die Parteimitgliedschaft wieder zuerkannt und er aufgefordert wurde, sein Parteibuch abzuholen, lehnte er trotzig ab. Man müsse es ihm schon vorbeibringen. Tatsächlich kam ein Mitglied des Politbüros. Gobrecht ehrt zwei außergewöhnliche, bewundernswerte Menschen.
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* Horst Gobrecht: Entweder wir sind einig – oder wir sind nichts! Else und Alfred Nothnagel. GNN. 356 S., br., 18 €
Die AfD hatte dieses Jahr einen handfesten Antisemitismusstreit. Ausgelöst wurde er durch die Schriften des mittlerweile zurückgetretenen AfD-Landtagsabgeordneten von Baden-Württemberg Wolfgang Gedeon. Für den hatte u. a. der Chefredakteur der Monatszeitschrift »Compact« Partei ergriffen – mit einem »Appell an die Einheit der AfD«: »Schließt keine Personen aus, deren Ausschluss der politische Gegner fordert, sondern stellt Euch gerade hinter solche Angegriffenen, auch wenn sie in der Vergangenheit politische Fehler gemacht haben.«
»Compact« habe sich innerhalb kurzer Zeit zu einem der relevantesten Querfrontorgane im deutschsprachigen Raum entwickelt, betonen die Sozialwissenschaftler Kevin Culina und Jonas Fedders. Vor allem Jürgen Elsässer wiederhole dort gebetsmühlenartig, Rechte und Linke sollten gemeinsam für »die Souveränität Deutschlands« kämpfen. Gegen wen? Washington, Brüssel – und »die Juden«. Culina/Fedders interessierten sich vor allem für den codierten Antisemitismus des Magazins. »Während der offen neonazistische Antisemitismus bisweilen aus politischen Diskursen ausgegrenzt wird, haben sich gewisse Artikulationsformen für antisemitische Ressentiments herausgebildet, welche zwar auf das starke Fortbestehen von antisemitischen Positionen in der Gesellschaft verweisen, aber nicht immer als solche (an)erkannt werden und daher bis weit in die selbst ernannte bürgerliche ›Mitte‹ hineinreichen.« Der codierte Antisemitismus sei de facto der kleinste gemeinsame Nenner.
Offen antisemitische Äußerungen wie sie von Gedeon zu lesen sind, wird man in »Compact« kaum finden. Es wird mit Metaphern und Bildern gearbeitet, die der Leser zu deuten versteht. Das offenbaren einige im Band nachgedruckte Leserbriefe, in denen »Compact« als letzter Verteidiger des freien Wortes hochgelobt wird. »Für den judenfeindlichen Gehalt einer Aussage über die ›Rockefellers‹ oder die ›Rothschilds‹ ist deren tatsächliche Religionszugehörigkeit von keinerlei Bedeutung, solange in einem breiteren Rezipient_innenkreis die Auffassung vorherrscht, es handele sich um einflussreiche Familien mit jüdischen Wurzeln. Adorno schrieb einst sehr treffend, der Antisemitismus sei ›das Gerücht über die Juden‹«, heißt es bei Culina/Fedders. Zum Schluss gehen sie noch auf die Kontroversen um die Friedensmahnwachen ein und mahnen, dass der Gefahr von »Compact« »viel mehr Widerspruch entgegengestellt werden muss«.
Kevin Culina/Jonas Fedders: Im Feindbild vereint. Zur Relevanz des Antisemitismus in der Querfront-Zeitschrift »Compact«. Edition Assemblage, Münster 2016. 96 S., br., 9,80 €.
Die Politologin Anna Kern stellt in punkto Sicherheitspolitik und Repression linke Gemeinplätze in Frage
Die Politologin Anna Kern forscht zum Wandel von staatlichen Sicherheitspolitiken. Sie hinterfragt die These, dass der Staat immer repressiver werde.
In den letzten Wochen präsentierten Unionspolitiker Vorschläge zum weiteren Abbau der Demokratie und ein Ritual begann: Die SPD erklärte zunächst, so etwas sei mit ihr nicht zu machen, um wenige Tage später zu beteuern, sich realistischen Vorschlägen in der Sicherheitspolitik nicht verschließen zu wollen.
Auch die Grünen machen in Berlin Wahlkampf mit dem Thema Innere Sicherheit, fordern mehr Polizei auf den Straßen, lehnen Videokameras und den finalen Rettungsschuss nicht mehr generell ab.
Die Politologin Anna Kern, die in Marburg zum Wandel der Sicherheitsregime forscht, hat kürzlich im Dampfboot-Verlag unter dem Titel »Produktion von (Un-) Sicherheit – urbane Sicherheitsregime im Neoliberalismus« ein Buch herausgegeben, das solche regelmäßig wiederkehrenden Diskussionen um die Sicherheit in einen größeren gesellschaftlichen Kontext stellt.
Im ersten Kapitel stellt die Autorin verschiedene wissenschaftliche Ansätze zur Sicherheitspolitik kritisch vor. So verwirft sie Erklärungsmuster, die von einem quasi naturgegebenen Sicherheitsbedürfnis bei allen Menschen ausgehen und eine Quelle von Unsicherheit in einer mangelnden staatlichen Ordnung ausmachen wollen. Kern hingegen sieht in der kapitalistischen Produktionsweise einen ständigen Quell von Unsicherheit. Angelehnt an das Marx’sche Theorem vom Fetischcharakter der Ware spricht sie von einem Sicherheitsfetisch. »Demnach bezieht sich der Staat auf soziale Ängste, um nationale Politiken zu legitimieren, während die Sicherheitsdienste deren profitorientierte Kommodifizierung zum Ziel haben«, schreibt Kern über die Entwicklung, Sicherheit zur Ware zu machen.
Die Autorin unterzieht auch manche vermeintlichen linken Gewissheiten zum Thema Sicherheitspolitik einer fundierten Kritik. So hinterfragt sie die These, dass der Staat immer repressiver werde, ebenso wie die schematische Vorstellung, nach der ein repressiver Staat große Teile der Bevölkerung unterdrücke. Die Politologin stellt hingegen die These auf, dass relevante Teile der Bevölkerung in den Sicherheitsdiskurs einbezogen werden.
Als Beispiel führt sie eine im letzten Jahrzehnt entstandene Kooperation zwischen Nichtregierungsorganisationen und Staatsapparaten bei der Bekämpfung von häuslicher Gewalt und bei der Drogenprävention in Frankfurt am Main an. Diese Kooperation zwischen der Polizei und zivilgesellschaftlichen Gruppen hat dazu geführt, dass auch in der Sozialarbeit »Repression nun als notwendiger Teil der Arbeit erachtet wird und vormalige Skepsis und Abneigung durch Wertschätzung gegenüber den Partner/innen und deren Arbeit ersetzt wurde«. Allerdings konstatiert Kern auch, dass nach umstrittenen Polizeieinsätzen wie der stundenlangen Einkesselung der Blockupy-Demonstranten in Frankfurt/Main 2014 schnell eine kritische Öffentlichkeit entsteht, welche die Legitimität des Polizeihandelns in Frage stellt. Dadurch könne auch das Agieren der Polizei verändert werden. Auch bei den linken Kritikern konnte Kern keine langfristigen Projekte finden, die herrschende Sicherheitsdiskurse infrage stellen.
Ihre fundierte Analyse des aktuellen Sicherheitsdiskurses beendet Kern mit Gedanken über eine alternative Sicherheitspolitik im internationalen Maßstab. Sie stellt dafür das Beispiel Rojava vor, wo kurdische Aktivisten ein Rätesystem aufgebaut haben, das auch für die Sicherheitsfragen zuständig ist.
Kern, Anna, Produktion von (Un-)Sicherheit – Urbane Sicherheitsregime im Neoliberalismus, Verlag Westfälisches Dampfboot, 296 Seiten, 29,90 €
In den vergangenen Wochen präsentierten Unionspolitiker zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit Vorschläge zum weiteren Abbau der Demokratie. Die SPD erklärte wiederum, sich realistischen Vorschlägen in der Sicherheitspolitik nicht verschließen zu wollen. Die Politologin Anna Kern hat nun ein Buch herausgegeben, das den regelmäßig wiederkehrenden Topos der Sicherheitspolitik in einen größeren gesellschaftlichen Kontext stellt. Im ersten Kapitel verwirft Kern Erklärungsmuster, die von einem quasi naturgegebenen Sicherheitsbedürfnis bei allen Menschen ausgehen.
Hingegen zeigt sie auf, dass der Sicherheitsbegriff einem ständigen Wandel unterzogen ist. Derzeit sieht sie in der kapitalistischen Produktionsweise einen ständigen Quell von Unsicherheit. Angelehnt an das Marx’sche Theorem vom Fetischcharakter der Ware, spricht Kern von einem Sicherheitsfetisch. »Demnach bezieht sich der Staat auf soziale Ängste, um nationale Politiken zu legitimieren, während die Sicherheitsdienste deren profitorientierte Kommodifizierung zum Ziel haben«, beschreibt Kern die Entwicklung, Sicherheit zur Ware zu machen. Entgegen mancher linker Plattitüden vom repressiven Staat versus unterdrückte Bevölkerung beschreibt sie, wie relevante Teile der Bevölkerung in den Sicherheitsdiskurs einbezogen werden. Als Beispiel führt sie die im vergangenen Jahrzehnt intensivierte Kooperation zwischen Nichtregierungsorganisationen und Staatsapparaten bei der Bekämpfung häuslicher Gewalt und der Drogenprävention an. Ihre fundierte Analyse beendet Kern mit Gedanken über eine alternative Sicherheitspolitik, die mit Bezügen zu Rojava und Toni Negri etwas beliebig wirken. Das Buch ist ein wichtiger Beitrag für eine linke Sicherheitsdebatte, die sich nicht darauf beschränkt, die angeblich immer schlimmer werdende Repression zu beklagen.
Anna Kern: Produktion von (Un-)Sicherheit – Urbane Sicherheitsregime im Neoliberalismus. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2016, 296 Seiten, 29,80 Euro
Kevin Culina und Jan Fedders untersuchen den Antisemitismus und regressiven Antizionismus in einer wichtigen Publikation der neuen Rechten
Die AfD hat seit Wochen einen handfesten Antisemitismusstreit. Ausgelöst wurde er durch antisemitische Schriften des mittlerweile zurückgetretenen AfD-Landtagsabgeordneten von Baden Württemberg Wolfgang Gedeon. Sofort hatte sich auch der Chefredakteur der Monatszeitschrift Compact in diese Angelegenheit zu Wort gemeldet. Unter dem Titel »Appell an die Einheit der AfD« ergriff er Partei für Gedeon. »Schließt keine Personen aus, deren Ausschluss der politische Gegner fordert, sondern stellt Euch gerade hinter solche Angegriffenen, auch wenn sie in der Vergangenheit politische Fehler gemacht haben.« Diese Parteinahme von Compact ist nicht verwunderlich, wenn man ein kürzlich im Verlag Edition Assemblage unter dem Titel »Im Feindbild vereint« erschienenes Buch zur Grundlage nimmt. Auf knapp 100 Seiten untersuchen die Sozialwissenschaftler Kevin Culina und Jonas Fedders den Stellenwert des Antisemitismus bei dem Monatsmagazin Compact.
Die Zeitschrift habe sich innerhalb kurzer Zeit zu einem der relevantesten Querfrontorgane im deutschsprachigen Raum entwickelt, begründen die Autoren ihr Interesse an dieser Publikation. Zudem betonten sie, dass Compact sich von den anderen rechten Medien dadurch unterscheidet, dass dort immer wieder versucht wird, Brücken zu Teilen der Linken zu bauen. Elsässer hat wiederholt dazu aufgerufen, Rechte und Linke sollten gemeinsam für die Souveränität Deutschlands kämpfen. In den beiden ersten Kapiteln geben die Autoren einen kurzen Überblick über die wissenschaftlichen Diskussionen zu Querfront und zum Antisemitismus. Dabei stellen sie dem codierten Antisemitismus in den Mittelpunkt ihre Überlegungen. »Während also der offen neonazistische Antisemitismus bisweilen aus politischen Diskursen ausgegrenzt wird, haben sich gewisse Artikulationsformen für antisemitische Ressentiments herausgebildet, welche zwar auf das starke Fortbestehen von antisemitischen Positionen in der Gesellschaft verweisen, aber nicht immer als solche (an)erkannt werden und daher bis weit in die selbst ernannte bürgerliche ‘Mitte’ hineinreichen«, schreiben die Sozialwissenschaftler. Anhand der sehr detaillierten Analyse verschiedener Compact-Artikel zeigten Culina und Fedders auf, der ein codierter Antisemitismus einen zentralen Stellenwert in der Compact-Berichterstattung hat. Die Autoren sprechen sogar davon, dass er der kleinste gemeinsame Nenner ist, auf den sich die Leser einigen können. Dabei wird man offen antisemitische Äußerungen wie sie in den Schriften Gedeons in der Compact kaum finden. Dafür wird mit Metaphern und Bildern gearbeitet, der die Leser durchaus entsprechend zu deuten wissen. Das zeigt sich an einigen abgedruckten Leserbriefen, in denen die Zeitschrift als letzte Verteidigerin des freien Wortes hochgelobt wird.
»Für den judenfeindlichen Gehalt einer Aussage über die ‘Rockefellers’ oder die ‘Rothschilds’ ist deren tatsächliche Religionszugehörigkeit von keinerlei Bedeutung, solange in einem breiteren Rezipient_innenkreis die Auffassung vorherrscht, es handele sich um einflussreiche Familien mit jüdischen Wurzeln. Adorno schrieb einst sehr treffend, der Antisemitismus sei ‘das Gerücht über die Juden’«, schreiben die Herausgeber. Am Schluss des Buches gehen sie auch auf die kontroverse Debatte um die Friedensmahnwachen ein, die heute weitgehend vergessen ist. Das Buch soll eine kritische Debatte um den Umgang mit Compact anregen. »Denn von der Compact geht eine Gefahr aus, dem viel mehr Widerspruch entgegengestellt werden muss«, so der Wunsch der beiden Herausgeber.
Kevin Culina / Jonas Fedders
Im Feindbild vereint: Zur Relevanz des Antisemitismus in der Querfront-Zeitschrift Compact 2016, Edition Assemblage, 96 Seiten, 9,80 Euro
ISBN 978–3-96042–004-0 | WG 973
In der JVA Würzburg haben Gefangene nach elf Tagen ihren Hungerstreik abgebrochen
Im Juli haben sich 47 Gefangene in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Würzburg mit einem einen Hungerstreik für bessere Zustände im Gefängnis eingesetzt. Das Medieninteresse blieb allerdings erstaunlich gering. Dies hat dazu geführt, dass die Gefangenen ihre Aktion nach elf Tagen erfolglos abbrechen mussten. Wie die regionale Presse den Streik interpretierte, zeigt ein Bericht der Onlinezeitung infranken.de zum Streikabbruch. Der Anstaltsleiter Robert Hutter kam dort mit der Erklärung zu Wort, dass die Zahl der Hungerstreikenden »mit jeder Mahlzeit weniger geworden« seien, obwohl ihre Forderungen nicht erfüllt wurden.
Auf jene Forderungen der Hungerstreikenden, die in der Onlinezeitung als »drogenabhängige Strafttäter« diffamiert werden, wird genau so wenig eingegangen, wie auf die Repression der Gefängnisleitung, die auch zum Abbruch des Hungerstreiks beigetragen hat. Die Anstaltsleiter hatte »acht Rädelsführer« in andere Gefängnisse verlegen lassen, heißt es in der kurzen Meldung. Auch hier ist die diffamierende Diktion eindeutig erkennbar: Gefangene, die für ihre Rechte eintreten und auch Mitgefangene motivieren, werden mit als »Rädelsführer« bezeichnet. Dass Häftlinge Rechte haben, wird in dem Beitrag nicht einmal erwähnt.
Dass sich in den letzten Monaten mehr Gefangene für ihre Rechte einsetzen, hängt auch mit der Gefangenengewerkschaft/Bundesweite Organisierung (GG/BO) zusammen, die im Mai 2014 in der JVA-Tegel gegründet wurde. (ak 612) »Einige der am Würzburger Hungerstreik beteiligten Häftlinge sind Mitglieder der GG/BO. Wir standen mit ihnen Kontakt und haben den Hungerstreik insgesamt unterstützt, indem wir in einer Pressemitteilung die Forderungen publiziert und zur Solidarität aufgerufen haben«, erklärt Konstantin von der GG/BO Jena gegenüber ak.
Dass die Würzburger Gefangenen nicht für die drei Kernforderungen der GG/BO – Mindestlohn, Sozial- und Rentenversicherung und Anerkennung der Gewerkschaft – in den Hungerstreik gegangen sind, hält Konstantin nicht für eine Beliebigkeit. »Die GG/BO vertritt wie auch alle anderen Gewerkschaften die Interessen und Bedürfnisse der inhaftierten Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich in ihr organisieren – in all ihrer Vielfalt.« Das können mehr Telefonate, bessere Ernährung, bessere medizinische Versorgung, frühere Haftentlassung, ein Ende der rassistischen Diskriminierung oder die Abschaffung der Postzensur sein.
Besonders restriktive Haftanstalt
Die Würzburger Häftlinge forderten unter anderem ein Methadonprogramm und die Lockerung der Arrestbedingungen für Gefangene, die sich im Drogenentzug befinden. Betroffene berichteten, dass in der JVA Würzburg auch diese Gefangene trotz ihrer körperlichen Beeinträchtigungen weiterhin zur Pflichtarbeit gezwungen werden. Von den extrem niedrigen Löhnen dieser Zwangsarbeit profitiert unter anderem der VW-Konzern, wie ein Mitglied der GG/BO Leipzig in einem Interview mit dem Freiburger Sender Radio Dreyeckland erklärte.
Für die Rechtsanwältin Christina Glück, die einen der Würzburger Häftlinge vertritt, verletzt die JVA Würzburg durch den erzwungenen kalten Entzug die Menschenwürde. Die Häftlinge litten vor allem am Anfang unter starken Entzugserscheinungen, klagten über schweren Durchfall und Erbrechen. Die in der Würzburger Justizvollzugsanstalt zuständigen Ärzte hielten trotzdem an dieser Form des Entzugs fest. Die Menschenwürde der Gefangenen wird in der JVA Würzburg auch dadurch verletzt, dass sie nur in ganz wenigen Ausnahmefällen telefonieren dürfen. Dann bleibt als einziges Kommunikationsmittel nach Draußen das in allen Gefängnissen verbotene Mobiltelefon. Wenn ein Handy bei einem Gefangenen gefunden wird, folgt als Sanktion eine 14-tägige Isolationshaft, der sogenannte Bunker. Wie die Antwort der bayerischen Landesregierung auf eine Kleine Anfrage des bayerischen Landtagsabgeordneten Florian Streibel (Freie Wähler) zeigt, hält die JVA Würzburg bei diesen Bunkerstrafen in Bayern den Rekord.
Eine weitere Verschärfung in der JVA Würzburg besteht darin, dass die Gefangenen ihre seltenen Telefonate nur mit dem Geld, das sie durch die Pflichtarbeit im Knast verdienen, begleichen dürfen. Telefonate durch Überweisungen von Außen hingegen sind nicht möglich.
Die Arbeitskraft zur Waffe machen
Wie verzweifelt die Situation der Gefangenen ist, zeigte sich daran, dass die zum Mittel des Hungerstreiks gegriffen haben. »Es gibt nicht viele Möglichkeiten, im Knast zu protestieren. Die Verweigerung von Nahrung – oft Hungerstreik oder Hungerfasten genannt, ist eine davon«, schreibt die Schweizer Journalistin Sabine Hunziker in der Einleitung ihres im März dieses Jahres erschienenen Buches »Protestrecht des Körpers«. Schon der Titel verdeutlicht, dass Menschen, die keine andere Möglichkeit zum Widerstand haben, ihren Körper als Waffe einsetzen. In dem Buch kommen auch Hungerstreikende aus verschiedenen Knastkämpfen zu Wort. Der politische Aktivist Fritz Teufel, der sich auch an mehreren Hungerstreiks beteiligte, suchte schon in den 1970er Jahren nach Alternativen zu einer Kampfform, in der es schnell um Leben und Tod geht.
Die Gefangenengewerkschaft könnte eine solche Alternative bieten. Nicht ihre Körper, sondern ihre Arbeitskraft, die sie hinter Gittern besonders billig verkaufen müssen, könnte dann zur Waffe werden. »Bis dahin braucht es aber sicher noch einiges an Organisierungsarbeit und gemeinsamen Erfahrungen«, erklärt Konstantin von der GG/BO Jena. Der Hungerstreik in der JVA Würzburg kann so auch nach ihren Abbruch zur Bewusstseinsbildung der Gefangenen beitragen. Selbst JVA-Leiter Hutter geht von weiteren Protesten in der JVA Würzburg aus. Es wäre zu wünschen, dass sich dann neben der GG/BO auch weitere Teiel der außerparlamentarischen Linken und zivilgesellschaftliche Gruppen für die Rechte der Gefangenen einsetzen würden. Von ihnen war in den elf Tagen des Hungerstreikes nicht zu hören.
Peter Nowak schrieb in ak 617 über die Zukunft der Freien Archive.
Zum Weiterlesen:
Sabine Hunziker: Protestrecht des Körpers. Einführung zum Hungerstreik in Haft. Unrast Verlag, Münster 2016. 108 Seiten, 9,80 EUR.