Herrschaftsfreiheit ohne Chaos

Soziologe Bernd Drücke will mit Vorurteilen gegenüber Anarchismus aufräumen

Anarchismus wird immer wieder mit Gewalt, Terror und Chaos in Verbindung gebracht. Der Münsteraner Soziologe Bernd Drücke versucht seit vielen Jahren dieses Bild zu korrigieren. Er gibt die Zeitschrift »Graswurzelrevolution« heraus, die ein wichtiges Forum der gewaltfreien libertären Bewegung ist. Dass der Historiker Timothy Snyder in einem »Spiegel«-Interview die Behauptung aufstellte: »Hitler war kein Staatsmann oder Nationalist, sondern ein in rassistischen Theorien denkender Anarchist« ist für Drücke eine besondere Diffamierung von Menschen, die sich für eine herrschaftsfreie Gesellschaft einsetzen.

In dem kürzlich im Unrast-Verlag herausgegebenen Buch »Anarchismus Hoch 3« lässt er Menschen zu Wort kommen, die sich als Anarchisten oder Libertäre verstehen. Es ist der dritte Band einer Trilogie über die aktuelle anarchistische Bewegung. »Ja! Anarchismus« und »Anarchismus Hoch Zwei« hießen die beiden Vorgänger.

Auch im drit­ten Buch gibt Drü­cke wie­der ei­nen gu­ten Über­blick über das an­ar­chis­ti­sche Mi­lieu. So be­rich­tet Andre­as Ess über das letzt­lich ge­schei­ter­te Pro­jekt A. Es war der Ver­such, in ei­ner Kle­in­stadt ein li­ber­tä­res Mi­lieu zu eta­blie­ren, in dem Po­li­tik und All­tag ver­bun­den wer­den. Ess schil­dert, wie er als Ju­gend­li­cher und Ar­bei­ter in ei­ner Koh­len­ze­che tun­lich ver­mied, als An­ar­chist auf­zu­tre­ten, da­für aber je­de freie Mi­nu­te für die an­ar­chis­ti­sche Ar­beit nutz­te. Der in Han­no­ver le­ben­de Kran­ken­pfle­ger Hei­ko Mai­wald hin­ge­gen ver­knüpft Po­li­tik und Be­ruf. Als Ak­ti­vist der Ba­sis­ge­werk­schaft FAU kämpft der Kran­ken­pfle­ger für bes­se­re Ar­beits­be­din­gun­gen im Ge­sund­heits­we­sen.

Li­ber­tä­re Tier­rech­te­rin­nen wer­den in dem Buch eben­so vor­ge­stellt wie ein Ve­te­ran des ge­walt­frei­en An­ar­chis­mus. Meh­re­re In­ter­view­part­ner ar­bei­te­ten in li­ber­tä­ren Ver­la­gen wie Un­rast, Edi­ti­on Nau­ti­lus, As­so­zia­ti­on A und Black Pi­ge­on. Auch die Re­gis­seu­re Mo­ritz Sprin­ger und Mar­cel See­hu­ber, die in ih­ren An­fang 2016 fer­tig ge­stell­ten Film »Pro­jekt A« an­ar­chis­ti­sche Pro­jek­te aus ver­schie­de­nen eu­ro­päi­schen Län­dern do­ku­men­tier­ten, kom­men in dem Buch zu Wort.

Vier In­ter­views wid­men sich der an­ar­chis­ti­schen Be­we­gung im Aus­land. Ralf Dreis schil­dert bei­spiels­wei­se die Si­tua­ti­on der An­ar­chis­ten in Grie­chen­land und kri­ti­siert die SY­RI­ZA-Re­gie­rung scharf. Anett Kel­ler spricht über die op­po­si­tio­nel­len Kräf­te in In­do­ne­si­en, die sich bis heu­te nicht von den Mas­sa­kern er­holt ha­ben, mit de­nen die Op­po­si­ti­on Mit­te der 1960er Jah­re zer­schla­gen wur­de. Auch Is­mail Kü­pe­li nimmt in sei­nem Tür­kei-Über­blick die ge­sam­te op­po­si­tio­nel­le Be­we­gung in den Blick. »Die so­zia­len Be­we­gun­gen sind noch da, trotz der Re­pres­si­on, trotz des bru­ta­len Vor­ge­hens des Staats«, zieht er ein vor­sich­tig op­ti­mis­ti­sches Fa­zit. Sehr tref­fend ist auch die Ein­schät­zung des rus­si­schen An­ar­chis­ten Va­dim Da­mier zum Ukrai­ne­kon­flikt. »Für uns ist das vor al­lem ein Macht­kampf zwi­schen den ka­pi­ta­lis­ti­schen Olig­ar­chie-Cli­quen, die lei­der im­stan­de wa­ren, die Mas­sen für sich zu qua­li­fi­zie­ren«, so Da­mier. Er lehnt da­her die Par­tei­nah­me für ei­ne Sei­te ab.

Mit dem Buch hat Drü­cke ei­nen wich­ti­gen Bei­trag zur Be­stands­auf­nah­me der ak­tu­el­len li­ber­tä­ren Be­we­gung ge­leis­tet. Die po­li­ti­schen Wi­der­sprü­che zwi­schen den Strö­mun­gen wer­den deut­lich, aber auch das Po­ten­zi­al und die Rol­le, die die Be­we­gung für ei­ne au­ßer­par­la­men­ta­ri­sche Lin­ke spie­len kann.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1034529.herrschaftsfreiheit-ohne-chaos.html

Peter Nowak

Bernd Drü­cke, An­ar­chis­mus Hoch 3, Uto­pie, Theo­rie, Pra­xis. Un­rast Ver­lag, Müns­ter 2016, 16 Eu­ro, ISBN. 978-389771-219-5

Was wir erreichen können!

Filmemacher Moritz Springer über die alte Idee des Anarchismus, die für ihn äußerst lebendig ist

Der Filmemacher

Filmemacher Moritz Springer wurde 1979 in Starnberg geboren. Nach der Schule zog es ihn nach Afrika. Heute lebt er zusammen mit Freunden und Familie auf einem eigenen Hof in der Nähe von Berlin. Mit dem Dokumentarfilmer sprach für »nd« Peter Nowak.
»Projekt A« nimmt mit auf eine Reise zu anarchistischen Projekten in Europa. Er zeichnet ein Bild jenseits des Klischees vom Chaos stiftenden, Steine werfenden Punk. Brennende Autos kommen trotzdem darin vor.

Für ihren Dokumentarfilm »Projekt A« haben die Filmemacher Marcel Seehuber und Moritz Springer eine Reise zu anarchistischen Projekten in Europa unternommen. So besuchten sie das »Internationale Anarchistische Treffen« mit 3000 Teilnehmern in der Schweiz (Foto: Projekt A), die deutsche Anti-Atom-Aktivistin Hanna Poddig, die anarchosyndikalistische Gewerkschaft »Confederación General del Trabajo« in Barcelona, den zum öffentlichen Park umfunktionierten Parkplatz »Parko Narvarinou« in Athen oder auch das »Kartoffelkombinat« von München, das solidarische Landwirtschaft betreibt. Beim Münchner Filmfest 2015 gewann der Streifen den Publikumspreis. Seit Februar ist er in Programmkinos verschiedener Städte zu sehen.
Welchen Bezug zu Anarchismus hatten Sie vor dem Dreh von »Projekt A«? Was hat Sie dazu motiviert?
Den Ausschlag für den Film gab eine Begegnung mit Horst Stowasser, den ich bei einem Vortrag kennenlernte. Stowasser und seine Art über den Anarchismus zu sprechen hat mich so beeindruckt, dass ich Lust bekommen habe, mich mehr mit Anarchismus auseinanderzusetzen.

Horst Stowasser war nicht nur Autor diverser Bücher über Anarchismus, sondern auch an einem praktischen Versuch beteiligt, libertäre Strukturen in den Alltag zu integrieren. Bezieht sich der Titel Ihres Films auf dieses »Projekt A«?
Der Titel unseres Films ist dem entliehen. 1985 brachte Stowasser mit Mitstreitern ein Büchlein in Umlauf, das für die Idee warb, Anarchismus ganz konkret in einer Kleinstadt umzusetzen. Vier Jahre später ging es in drei Orten tatsächlich an die Realisierung, wobei Neustadt an der Weinstraße das wohl erfolgversprechendste und größte Projekt war. Die am Projekt A beteiligten Menschen gründeten dort Kneipen, kleine Läden und Handwerksbetriebe. Das war ein spannender Versuch, der leider im Großen gescheitert ist, von dem aber viele selbstverwaltete Strukturen übrig geblieben sind. Als wir Stowasser kennenlernten, war er gerade dabei, an einer Wiederbelebung von Projekt A zu arbeiten. Leider starb er 2009 ganz überraschend.

Was bedeutete das für den Film?
Es war ein großer Rückschlag. Wir waren damals noch in der Planungsphase. Eigentlich sollte Stowasser eine große Rolle in dem Film spielen. Nach seinem Tod fragten wir uns, ob wir den Film überhaupt machen sollten. Es war uns dann aber schnell klar, dass in dem Thema soviel Potenzial steckt, dass wir auch ohne ihn den Film machen wollten.

Nach welchen Kriterien haben Sie entschieden, welche Projekte Sie besuchen?
Wir verfolgen zwei Ansätze mit dem Film: Auf der einen Seite wollen wir eine Einführung in die Theorie des Anarchismus geben und einen Eindruck vermitteln, was Anarchisten wollen und wie sie sich organisieren. Und zwar in einer Sprache, die auch für die Leute von nebenan funktioniert. Auf der anderen Seite wollten wir zeigen, wie Menschen ihre Vision einer anderen Welt im Hier und Jetzt versuchen zu leben. Wir haben dann Themenblöcke gesucht, die wir mit Anarchismus verbinden, und die auf bestimmte Länder aufgeteilt. So stellen wir zum Beispiel für Anarchosyndikalismus die Gewerkschaft CGT vor, die mit ca. 60 000 Mitgliedern in Spanien eine wichtige Rolle spielt.

Der Film will ein Bild von Anarchie jenseits der Klischees vom Chaos stiftenden, Steine werfenden Punk zeichnen. Dennoch zeigen Sie auch brennende Autos in Athen. Wird da nicht das Klischee wieder bedient?
Die Szene war nicht gestellt, sondern während eines Generalstreiks passiert. Wir sind Filmemacher und zeigen die Realität. Gerade im Athener Stadtteil Exarchia werden die unterschiedlichen Facetten anarchistischer Aktivitäten deutlich. Da sind die Leute, die einen ehemaligen Parkplatz besetzt und dort einen selbstverwalteten Nachbarschaftsgarten gestaltet haben. Dort kracht es aber auch häufig und es gibt Straßenschlachten mit der Polizei. Im Film kommentiert eine der Protagonistinnen die Szene und sagt, dass sie die Diskussion über Gewalt müßig findet. Man müsse über die Ursachen der Gewalt sprechen und über die wirklich wichtigen Probleme. Die Gewalt ist real, sie ist ein Teil des Alltags in Exarchia, sie auszublenden wäre nicht ehrlich.

Der Film endet mit dem Münchner Kartoffelkombinat, das sich selbst gar nicht als anarchistisch versteht. Haben Sie das bewusst an den Schluss gesetzt, um gesellschaftlich breiter anschlussfähig zu sein?
Uns geht es um einen Brückenschlag. Es hilft nichts, wenn wir in unseren abgeschlossenen Zirkeln bleiben. Wir wollen mit dem Film auch Menschen ansprechen, die sich noch nicht mit Anarchismus auseinander gesetzt haben. Wir müssen uns möglichst viele Bereiche des Lebens zurückerobern. Das Kartoffelkombinat produziert Lebensmittel und zahlt faire Löhne. Es arbeitet an der Transformation von Eigentum zu Gemeingütern und wirtschaftet nicht profit-, sondern bedürfnisorientiert – wohl gemerkt orientiert an den Bedürfnissen der Genossenschaftsmitglieder und nicht von Shareholdern. Dieser Charakter ist entscheidend und nicht, ob sie sich selbst Anarchismus auf die Fahne schreiben.

Welchen Eindruck haben Sie nach dem Besuch der unterschiedlichen Projekte von der anarchistischen Bewegung?
Ich war sehr beeindruckt von der Vielfalt. Jedes Projekt beinhaltet einen Erkenntnisgewinn für mich. Jedes einzelne macht deutlich, was wir erreichen können, wenn wir uns organisieren. Interessant wird es allerdings dann, wenn wir uns fragen, wie wir die verschiedenen Projekte miteinander vernetzten und wie größere gesellschaftliche Strukturen aussehen könnten. Die CGT, aber auch die CIC in Katalonien sind interessante Beispiele. Ich bin gespannt, wie sich das in den nächsten Jahren entwickelt.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/1002784.was-wir-erreichen-koennen.html

Interview: Peter Nowak