Simon Schaupp entlarvt, warum wir selbst schuld sind an der Stärke des neoliberalen Systems
Gleich im ersten Kapitel beschreibt der Soziologe Simon Schaupp, wie er gegen seinen Willen zum Self-Tracker wurde. Er hatte mit seinem neuen Smartphone an einer Demonstration teilgenommen und das neue Gerät meldet sich mit der Botschaft: »Glückwünsch Simon, Sie haben heute mehr als 1000 Schritte gemacht. Versuchen Sie doch morgen 1500.« Die vorinstallierte App hatte nicht nur die Demonstrationsschritte und die Route, sondern auch die Laufgeschwindigkeit und den Kalorienverbrauch während der Demonstration aufgezeichnet.
Während Schaupp unbeabsichtigt ein detailliertes Bewegungsprotokoll aufzeichnen ließ, wächst weltweit die Zahl der Menschen, die täglich ganz freiwillig ihr gesamtes Leben – von der Arbeit über das Joggen bis zum Schlaf – minutiös dokumentieren, sich überwachen lassen und die Daten dann auch noch über soziale Netzwerke in alle Welt verbreiten.
Der kritische Autor stellte sich die Frage nach den gesellschaftlichen Ursachen dieses Phänomens: »Welche politischen und ökonomischen Strukturen machen es notwendig, sich permanent selbst zu überwachen und zu optimieren?« Schaupp warnt eindringlich, dass Self-Tracking aktuell eine enorme Rolle bei der Selbstzurichtung und Konditionierung des Subjekts für die Zumutungen des Kapitalismus spielt. Gerade diese schon alltägliche und massenhaft verbreitete Praxis bewirkt und sichert, dass der Neoliberalismus so stark ist wie nie zuvor und selbst die Krisen der vergangenen Jahre scheinbar schadlos überstanden hat.
»Im Self-Tracking verschmelzen Polizei und Verdächtiger zu einer Person zusammen, die sich selbst mit allen zur Verfügung stehenden technischen Mitteln ausspioniert. Jeder versäumte Jogginggrund, jede überzählige Kalorie, jede verträumte Minute Arbeitszeit wird registriert und angemahnt, um nicht vor sich selbst in den Verdacht zu geraten, das Kapitalverbrechen der Leistungsgesellschaft zu begehen: Nicht das Maximum aus sich herauszuholen«, fasst Schaupp die ökonomischen Zusammenhänge prägnant zusammen.
Der Wissenschaftler zeigt anhand der Werbung für die unterschiedlichen Self-Tracking-Methoden, wie die letztlich fatale Selbstkonditionierung funktioniert. Es ist bezeichnend, dass mit Bergsteigern und Soldaten zwei Gruppen, die immer wieder auch Tote und Schwerverletzte zu verzeichnen haben, Vorbilder für das Self-Tracking sind.
Die Botschaft ist klar: Schonung von Gesundheit und Leben ist im Ellenbogen-Kapitalismus der »Leistungsträger« nur etwas für Loser, Schwächlinge und Versager. Self-Tracking hat laut dem Verfasser auch schon längst Einzug in die Politik gehalten und wird von dieser explizit gewünscht. So hat das britische Gesundheitsministerium Ärzte aufgefordert, ihren Patienten Self-Tracking-Anwendungen zu verschreiben, »damit diese in die Lage versetzt werden, ihre Gesundheit effektiver zu überwachen und so mehr Verantwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen«. Krankenkassen belohnen eifrige Self-Tracker mit Prämien. Wer nicht mitmacht, zahlt höhere Beiträge. Auch die Europäische Kommission setzt große Hoffnungen darauf, mit Self-Tracking immense Einsparungen im europäischen Gesundheitsbudget zu erzielen.
Im letzten Kapitel stellt sich Schaupp die Frage, ob in einer nicht von der Kapitalverwertung bestimmten Gesellschaft die zuvor von ihm beklagten Methoden in emanzipatorischem Sinne verwendet werden könnten. Er gibt darauf keine Antwort. Sie zu finden, überlässt er den Lesern. Nach der Lektüre des Buches drängt sich jedoch noch eine andere Frage auf, die Schaupp nicht stellt: Ist es nicht höchste Zeit, dass sich die Menschen offensiver den Self-Tracking-Methoden verweigern, dem Markt und dem Staat definitiv erklären, sich nicht mehr ständig weiter optimieren zu wollen, nicht mehr immer neue Rekorde und Höchstwerte aus sich herausholen zu lassen?
Simon Schaupp: Digitale Selbstüberwachung. Self-Tracking im kybernetischen Kapitalismus. Verlag Graswurzelrevolution. 160 S., br., 14,90 €.
Gleich im ersten Kapitel beschreibt der Soziologe Simon Schaupp[1] eine bezeichnende Episode, wie er gegen seinen Willen zum Self-Tracker wurde. Er hatte mit seinem neuen Smartphone an einer Demonstration teilgenommen und das neue Gerät verkündete am Bildschirm: „Glückwünsch Simon, Sie haben heute mehr als 1.000 Schritte gemacht. Versuchen Sie doch morgen 1.500.“ Die vorinstallierte App hatte nicht nur die Demonstrationsschritte und die Route genau aufgezeichnet, auch konnte man die Laufgeschwindigkeit feststellen, und obendrein erfuhr Schaupp noch, wie viele Kalorien er für die Demonstration verbraucht hatte. Solch ein perfektes Demonstrationsprotokoll dürfte der Polizei und den unterschiedlichen Verfassungsämtern ungeahnte Überwachungsmöglichkeiten bieten.
Trotzdem erfreut sich Self-Tracking ungebrochener Beliebtheit. Nicht Datenschutz und Datenminimierung, sondern die ungebremste Offenlegung ganz privater Daten sind Kennzeichen einer Bewegung, die ihr Leben von der Arbeit über das Joggen bis zum Schlaf von digitalen Geräten minutiös aufzeichnen und überwachen lässt und die Daten dann noch via Facebook weiterverbreitet.
Simon Schaupp hat in seinem kürzlich im Verlag Graswurzelrevolution erschienenem Buch „Digitale Selbstüberwachung. Self Tracking im kybernetischen Kapitalismus“[2] dieses Phänomen eingeordnet: in die Bemühungen nämlich, den Kampf gegen alles, was die reibungslose Anpassung an die kapitalistischen Erfordernisse und Zumutungen behindert, ins eigene Individuum zu verlagern.
Den Feind in Dir bekämpfen
„Denn im Self-Tracking verschmelzen Polizei und Verdächtiger zu einer Person zusammen, die sich selbst mit allen zur Verfügung stehenden technischen Mitteln ausspioniert. Jeder versäumte Jogginggrund, jede überzählige Kalorie, jede verträumte Minute Arbeitszeit wird registriert und angemahnt, um nicht vor sich selbst in den Verdacht zu geraten, das Kapitalverbrechen der Leistungsgesellschaft zu begehen: Nicht das Maximum aus sich herauszuholen.“
Schaupp zeigt in dem Buch anhand der Werbung für die unterschiedlichen Self-Tracking-Methoden, wie diese Selbstkonditionierung funktioniert. So findet man auf der Homepage des Self-Tracking-Anbieters Runtastic[3] solche Selbstbezichtigungen:
Gegen mich selbst anzutreten und mein Bestes zu geben macht Spaß und ist dank der Rekorde-Funktion auch ganz easy! Es fühlt sich toll an, meine eigenen Bestleistungen immer wieder zu unterbieten und meine neuesten Rekorde auf Runtastic.com zu bewundern.
Runtastic-User
Jede Woche warte ich gespannt auf meinen Fitnessbericht. Grüne Zahlen & Pfeile motivieren mich immer wieder aufs Neue! Ich will mich ja schließlich jede Woche verbessern!
Runtastic-User
„Entdecke die Geheimnisse des Superhelden“, fordert eine andere Werbeseite[4] für potentielle Selbstoptimierer, die immer und überall die Gewinner sein wollen. Auch Diätprogramme[5] arbeiten nach dem Prinzip, wonach mit Disziplin und mit eisernen Willen alles zu schaffen sei. Da ist es nur konsequent, dass ein Zeitsoldat das Abnehmen zu einer Frage der Disziplin erklärt. Auf anderen Self-Tracking Werbeanzeigen finden sich Bergsteiger, die mit Erfolg und vielen Strapazen einen Gipfel erklommen haben.
Es ist bezeichnend, das mit Bergsteigern und Soldaten zwei Gruppen Role-Models für das Self-Tracking sind, die immer wieder auch Tote und Schwerverletzte zu verzeichnen haben. Die Botschaft ist klar: Beim Rattenretten im kapitalistischen Alltag ist Schonung von Gesundheit und Leben etwas für Loser und Versager. Und sie sind in der Werbewelt der Self-Tracker wohl auch das Schlimmste, was man sich denken kann.
Die Landnahme des kybernetischen Kapitalismus
Sehr überzeugend hat Schaupp den Begriff des kybernetischen Kapitalismus als Bezeichnung der aktuellen Regulationsphase eingeführt, der, anders als bekannte Begriffe wie Postfordismus, deutlich macht, dass weiterhin die kapitalistische Verwertung dominiert. Die These von Schaupp lautet, dass das Self-Tracking „Teil einer kapitalistischen Landnahme ist, im Zuge derer sich Unternehmen die Produkte unbezahlter Arbeit in Form von Daten aneignen und als Waren verkaufen“.
Der Soziologe interpretiert den kybernetischen Kapitalismus als Reaktion auf die systemischen Notstände des Postfordismus, wie den Zwang zur ständigen Rationalisierung und der Ausweitung der Warenproduktion. Hier liefert Schaupp einen materialistischen Erklärungsansatz für den Tracking-Boom. Wenn der kapitalistische Imperativ „Du bist nichts, Deine Arbeitskraft ist alles“ verinnerlicht ist, können die ideologischen Staatsapparate, die seit Beginn des Kapitalismus mit Ideologie und Repression dafür gesorgt haben, dass sich die Subjekte der Kapitallogik beugen, etwas in den Hintergrund treten. Verschwinden werden sie aber nicht.
Ruhe und Ordnung
Die Situation ist vergleichbar mit einer Großdemonstration, bei der die eigenen Ordner für Ruhe und Ordnung sorgen. Dann bleibt die Polizei manchmal in den Seitenstraßen und ist im ersten Augenblick nicht sichtbar präsent. Da aber auch da immer die Möglichkeit besteht, dass die störrischen Elemente die Oberhand gewinnen, ist sie jederzeit einsatzbereit. Nicht anders ist der Umgang mit der individuellen Polizei. Wenn es jemand nicht mehr so angenehm empfindet, immer und überall kapitalgerecht zu agieren, gibt es vielfältige Druckmittel von außen.
Viele Self-Tracking-Technologien werden schon längst von diversen Firmen zur Totalüberwachung der Beschäftigten eingesetzt. „RescueTime ist eine Aufklärungsanwendung für Firmen, die Manager informiert hält über ihre wertvollste Ressource“, heißt auf der Webseite der Zeitmanagement-Software[6].
Die Überwachung wird dann als Kultur der Arbeitsplatztransparenz schöngeredet. Tatsächlich handelt es sich um eine einseitige Form der Transparenz. Der Kapitalbesitzer bekommt den Zugriff auch auf die letzten Geheimnisse der Lohnabhängigen. In den fordistischen Arbeitsverhältnissen gab es immer noch einige Nischen, wo sich die Beschäftigten zumindest für kurze Zeit dem Diktat der Maschinen entziehen konnten. Das fällt im Zeitalter der neuen Technologien immer schwerer.
Längst haben Politik und Wirtschaft Druckmittel in Stellung gebracht, falls die Freiwilligkeit nicht mehr gewährleistet ist. Schon hat das Gesundheitsministerium in Großbritannien Ärzte aufgefordert, sie sollten ihren Patienten Self-Tracking-Anwendungen verschreiben, „damit diese in die Lage versetzt werden, ihre Gesundheit effektiver zu überwachen und so mehr Verantwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen“.
Schon längst haben die Krankenkassen begonnen, besonders eifrige Self-Tracker mit Prämien zu belohnen. Wer nicht mitmacht, zahlt mehr. Auch die Europäische Kommission setzt angesichts von prognostizierten 3,4 Milliarden Menschen, die 2017 ein Smartphone benutzen, große Hoffnungen darauf, dass mit Self-Tracking immense Einsparungen im europäischen Gesundheitsbudget erzielt werden können.
Hier wird schon deutlich, dass in der nächsten Zeit Self-Tracking-Methoden Teil der Politik werden können. Wer sich dem verweigert, muss zumindest mit höheren Krankenkassenprämien rechnen. Es könnte allerdings durchaus auch staatliche Sanktionen für Tracking-Verweigerer geben.
In der Öffentlichkeit werden sie schon jetzt als Menschen klassifiziert, die mit ihrer Lebensweise unverantwortlich umgehen und die sozialen Systeme unverhältnismäßig belasten. Unter dem Begriff Quantified Self hat der Publizist Sebastian Friedrich[7] die unterschiedlichen Tracking-Methoden in sein kürzlich erschienenes Lexikon der Leistungsgesellschaft[8] aufgenommen.
Es steht dort neben Einträgen wie „Rennrad“ oder „Marathonlauf“, die in kurzen Kapiteln als Teil der neoliberalen Alltagspraxis vorgestellt werden. Die Stärke des Büchleins besteht darin, Alltagsbeschäftigungen aufzunehmen, die sich auch im kritischen Milieu reger Zustimmung erfreuen und die oft gar nicht mit dem Neoliberalismus in Verbindung gebracht werden.
Dabei zeigt Friedrich überzeugend, wie der erste Marathonlauf in New York wenige Hundert Interessierte anlockte, bevor er zu jenen Massenaufläufen wurde, die heute weltweite ganze Stadtbereiche lahmlegen. Mittlerweile beteiligen sich daran ganze Firmenbelegschaften daran, die so ihre Leistungs- und Leidensfähigkeit unter Beweis stellen. Eine Verweigerung würde sich wohl äußerst negativ für die Karriere auswirken. Das ist auch ein zentraler Begriff im Lexikon der Leistungsgesellschaft.
Kann Kybernetik im emanzipatorischen Sinne genutzt werden?
Im letzten Kapitel seines Buches stellt Schaupp die Frage, ob in einer Gesellschaft, die nicht von der Kapitalverwertung bestimmt ist, Self-Tracking-Methoden in emanzipatorischem Sinne verwendet werden könnte. Doch eine Antwort gibt er darauf nicht.
Dabei hätte er vielleicht einen Hinweis darauf geben können. Der von ihm mehrfach zitierte Stafford Beer, ein wichtiger Theoretiker der Kybernetik, war auch in Chile unter der Regierung der sozialistischen Regierung Allende an einem Projekt[9] beteiligt, das eine wirtschaftliche Planung mit Hilfe kybernetischer Methoden erproben sollte.
Dadurch sollte eine Planung mit den Belegschaften und großer Teile der Bevölkerung gewährleistet werden. Der rechte Putsch gegen die Unidad-Popular-Regierung beendete diesen Versuch, Kybernetik in emanzipatorischem Sinne zu nutzen. Das durch den Roman von Sascha Rehs Roman „Gegen die Zeit“[10], in dem dieses Projekt im Mittelpunkt steht, wurde es auch hierzulande wieder bekannt[11].
Es ist schade, dass Schaupp darauf nicht zumindest kurz hinweist, weil in seinem theoretischen Teil Stafford Beer schließlich eine wichtige Rolle spielt.
Self-Tracking-Verweigerung als Teil einer antikapitalistischen Praxis?
Er stellt nur klar, dass Self-Tracking in den aktuellen Machtverhältnissen eine wichtige Rolle bei der Selbstzurichtung und Konditionierung des Subjekts für die Zumutungen des Kapitalismus spielt. Gerade diese Alltagspraxen der Leistungsgesellschaft sind eine Antwort auf die Frage, warum der Neoliberalismus so stark ist und selbst die Krisen der letzten Jahre scheinbar schadlos überstanden hat.
Schon lange wird die Phrase vom Neoliberalismus in den Köpfen strapaziert. Der Self-Tracking-Boom ebenso wie die Marathonwelle zeigt deutlich, was damit gemeint ist. Dann stellt sich auch die Frage, ob es nicht Zeit für eine Bewegung ist, die sich diesen Self-Tracking-Methoden bewusst verweigert.
Wenn Menschen offen erklären, sich nicht ständig optimieren zu wollen, nicht den Anspruch zu haben, immer mehr Rekorde und Höchstwerde aus sich herausholen zu wollen, dann würde sicher nicht gleich der kybernetische Kapitalismus in eine Krise geraten.
Aber man darf auch nicht vergessen, dass konservative Theoretiker die wachsende Alternativbewegung der 1970er Jahre für die Krise des Fordismus mitverantwortlich machten. So könnte auch eine No-Tracking-Bewegung zumindest das Image ankratzen, das sich heute alle ganz freiwillig und mit großer Freude für den Sport, das Unternehmen und die Nation Opfer bringen.