»Eine Verlagerung der Verantwortung vom Staat zum Individuum«

Simon Schaupp ist Soziologe und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Munich Center for Technology in Society der Technischen Universität München. Derzeit forscht er zu den Machtwirkungen digitaler Prozesssteuerungstechnologien in der »Industrie 4.0«. Im Oktober 2016 erschien sein Buch »Digitale Selbstüberwachung. Self-Tracking im kybernetischen Kapitalismus« im Verlag Graswurzelrevolution. Am Freitag, 13. Januar 2017, stellt er in Berlin ab 19 Uhr das Buch im FAU-Gewerkschaftslokal in der Grünthaler Straße 23 vor.


Warum sind immer mehr Menschen bereit, mit tragbaren digitalen Geräten ihren Lebenswandel zu überwachen und die Ergebnisse dann ins Internet zu stellen?

Die Gründe für dieses sogenannte Self-Tracking sind vielfältig. Was ich versuche zu zeigen, ist, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen den permanenten Anforderungen der Selbstoptimierung im Neoliberalismus und den Self-Tracking-Praktiken. Wenn das Aufpolieren des Selbst durch Sport, Wellness, Diäten etc. in vielen Bereichen zur Voraussetzung dafür wird, die eigene Arbeitskraft erfolgreich verkaufen zu können, dann ist es naheliegend, dass über kurz oder lang Hilfsmittel dafür angeboten werden. Als solche Hilfsmittel zur Rationalisierung der Arbeit am Selbst können die Self-Tracking-Technologien verstanden werden. Ihre Funktion ist in dieser Hinsicht wesentlich eine buchhalterische. Die verschiedenen Anwendungen überwachen mittels Sensortechnik bestimmte Aktivitäten und bereiten diese anschließend in Zahlen auf. Oft wird dann »Input« und »Output« gegenübergestellt, also zum Beispiel gelaufene Schritte und verbrannte Kalorien. Dadurch soll im Gegensatz zur subjektiv verzerrten Selbstwahrnehmung eine »objektive« Darstellung geboten werden. So weiß ich immer genau, was ich »investieren« muss, um meine Werte zu steigern. Diese ökonomischen Begriffe sind übrigens nicht meine Metaphern, sondern die werden wirklich so in der Self-Tracking-Werbung, die ich analysiert habe, benutzt. Die Userinnen und User werden klar als Unternehmer ihrer selbst angesprochen. Das sind die wesentlichen strukturellen Gründe für das Self-Tracking. Die individuellen Gründe können aber natürlich auch ganz andere sein, zum Beispiel das ­Experimentieren mit dem eigenen Körper. Die Darstellung der Self-T

Ihr kürzlich im Verlag Graswurzelrevolution erschienenes Buch heißt »Digitale Selbstüberwachung. Self-Tracking im kybernetischen Kapitalismus«. Was verstehen Sie unter »kybernetischem Kapitalismus«?

Ich verstehe darunter ein Produktionsregime, das wesentlich auf der Erhebung und Verarbeitung von Daten beruht. Durch die Allgegenwärtigkeit teils miniaturisierter vernetzter Computer werden in fast allen Lebenssituationen, vor allem aber da, wo Mehrwert produziert werden soll, Daten erhoben. Diese Daten erfüllen eine Doppelfunktion. Einerseits dienen sie der Kontrolle und Optimierung des überwachten Prozesses. Das kann die industrielle Produktion von Pappkartons sein, aber eben auch der individuelle Kalorienhaushalt. Andererseits werden diese Daten selbst zur Ware. Die Daten aus der Überwachung der Pappe-Produktionsmaschinen können beispielsweise zu abstrakten Prozessoptimierungsmodellen aggregiert werden, oder die Self-Tracking-Daten werden zu detaillierten persönlichen Profilen zusammengefasst, die dann als Grundlage für individualisierte Werbung dienen können. Ich benutze den Begriff des kybernetischen Kapitalismus, um den Kontrollaspekt zu betonen, der in der Debatte um Überwachung und die Kommodifizierung von Daten oft in den Hintergrund gerät. Norbert Wiener, der Begründer der Kybernetik, hat sie als »Wissenschaft von Kommunikation und Kontrolle« definiert. In ihrem Zentrum steht die Idee der Kontrolle durch permanentes Feedback. Self-Tracking ist ein Paradebeispiel für so eine Art von Kontrolle.

Wie stehen Politik, Wirtschaft und Krankenkassen zum Self-Tracking?

Der Trend wird dort zu großen Teilen geradezu euphorisch aufgenommen. Es gibt ein Positionspapier der Europäischen Kommission zu Self-Tracking im Gesundheitsbereich. Dort wird im Self-Tracking vor allem das Potential der Kosteneinsparung in den jeweiligen Gesundheitssystemen gesehen. Die Idee ist, dass mit dem Self-Tracking eine Verlagerung der Verantwortung vom Staat zum Individuum stattfinden soll. Die Nutzerinnen und Nutzer sollen zu einem gesünderen Lebenswandel und sogar zu Selbstdiagnosen »ermächtigt« werden. Entsprechend dieser Vision hat beispielsweise das britische Gesundheitsministerium Ärzten empfohlen, ihren Patienten Self-Tracking-Technologien zu verschreiben. Das Interesse der Krankenkassen am Self-Tracking ist natürlich naheliegend. Verschiedene Versicherungen, auch in Deutschland, experimentieren mit Bonusprogrammen auf der Grundlage von Self-Tracking-Daten. Das ist eine Entwicklung, die schnell zum Selbstläufer werden kann, so dass das Verweigern des Trackens indirekt finanziell bestraft wird. Noch ist dieser Punkt aber zum Glück nicht erreicht.

Bei einer Analyse der Werbung für Self-Tracking-Technologien kommen Sie zu dem Fazit, dass Soldaten und Bergsteiger immer wiederkehrende Bilder sind. Warum gerade diese beiden Gruppen?

Der Bergsteiger ist das zentrale Bild in der Illustration von Werbung für Self-Tracking. Meist wird der Bergsteiger dabei in sehr unwirtlicher Umgebung gezeigt. Er ist gerade angeseilt auf einem schneebedeckten Gipfel angekommen und schaut nun in den Sonnenuntergang. Damit werden dann Technologien beworben, die der Überwachung von Produktivität bei der Schreibtischarbeit dienen. Diese Figur des Bergsteigers ist die idealtypische Verkörperung von Leistung und Erfolg, nach dem Motto: »Wenn du nur hart genug an dir arbeitest, wirst du alles meistern.« Hier knüpft auch der militaristische Aspekt der Werbung an: Fast in jeder Self-Tracking, App gibt es virtuelle »Orden«, die bei Rekorden und Höchstleistungen freigeschaltet werden. Die Diätfirma Weight Watchers hat sogar eine eigene Werbekampagne unter dem Slogan »lose like a man« (abnehmen wie ein Mann), in der ein Soldat dem Publikum erklärt, wie er mittels Self-Tracking zum »Vorbild für seine Männer« geworden ist. Das Bild des Soldaten steht dabei hauptsächlich für die Disziplin, die die jeweiligen Programme fördern sollen. Gleichzeitig lässt es sich auch als Ausdruck eines auf Leistung fixierten Männlichkeitskults interpretieren.

Werden solche Methoden von Unternehmen auch zur Überwachung von Beschäftigten eingesetzt, wie es bei Fahrdiensten und Callcentern schon geschieht?

Ja. Viele Self-Tracking-Programme, wie zum Beispiel die Zeitmanagement-Anwendung Rescue Time haben sogenannte Team-Funktionen. Damit kann man nicht nur die eigene »Produktivität« steigern, sondern Vorgesetzte können auch minutiös überwachen, was ihre Untergebenen tun und sich beispielsweise Screenshots von deren Bildschirmen anzeigen lassen. Wenn ihnen nicht gefällt, was sie sehen, gibt es »Nudge«-Funktionen, mit denen den Untergebenen angezeigt werden kann, dass sie effizienter arbeiten sollen. Viele setzen sich aber auch scheinbar freiwillig der Überwachung aus, um so ihre Selbstdisziplin zu steigern. So gibt es Programme, die bei jedem Fehltritt oder auch bei mangelnder Dateneingabe eine vorher bestimmte Aufsichtsperson informieren. Besonders aufschlussreich sind aber diejenigen Fälle, in denen Selbst- und Fremdüberwachung verschmelzen. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn Unternehmen ihren Angestellten nahelegen, sich in ihrer Freizeit zu tracken. Nicht, um dann die Daten abzugreifen, sondern in der Hoffnung, dass sie dadurch produktiver arbeiten.

Im Buch stellen Sie unter anderem die Frage, ob unter nichtkapitalistischen Verhältnissen Self-Tracking und andere Formen kybernetischer Kontrolle auch zu emanzipatorischen Zwecken nutzbar wären. Gibt Ihr nächstes Buch*, das sich unter anderem mit einem solchen Projekt in Chile unter Salvador Allende befasst, darauf eine Antwort?

Self-Tracking ist nicht die Ursache des Neoliberalismus, sondern die Konsequenz seiner Anforderungen. Gleichzeitig befördert es aber auch eine ­neoliberale Lebensführung und trägt damit zu dessen Stabilisierung bei. Insgesamt scheint mir die Kybernetik weder politisch neutral zu sein, noch produziert sie notwendigerweise eine bestimmte Form von Politik. Sie legt ­jedoch eine technikunterstützte Selbstorganisation nahe, die durchaus auch emanzipatorisch angewandt werden kann. Das von mir mitherausgegebene Buch dreht sich um die Frage, welche emanzipatorischen Perspektiven der technologische Wandel eröffnen könnte. Das angesprochene chilenische Projekt Cybersyn sollte so zum Beispiel die technische Infrastruktur für eine Art selbstorganisierte Planwirtschaft liefern. Allende ließ dafür den britischen Managementkybernetiker Stafford Beer nach Chile einfliegen, der ein Computersystem konzipieren sollte, das es ermöglicht, Produktionsentscheidungen in die jeweiligen von Arbeitern verwalteten Fabriken zu delegieren und trotzdem die Volkswirtschaft als Ganze nicht aus dem Blick zu verlieren. Für die Koordination dezentraler Organisation sind kybernetische Technologien also durchaus nützlich. Dass wir für eine emanzipatorische Lebensführung allerdings Self-Tracking-Technologien brauchen, scheint mir eher zweifelhaft.

http://jungle-world.com/artikel/2017/02/55535.html

Interview: Peter Nowak

  • Paul Buckermann, Anne Koppenburger und Simon Schaupp (Hg.): »Kybernetik, Kapitalismus, Revolutionen. Emanzipatorische Perspektiven im technologischen Wandel«, Unrast-Verlag, ab März 2017 erhältlich

Digitale Selbstüberwachung

Self-Tracking ist zu einem schnell wachsenden Trend geworden.Immer mehr Menschen überwachen mittels tragbarer digitaler Geräte minutiös ihren Lebenswandel – und das freiwillig.

Gleich im ersten Kapitel beschreibt der Soziologe Simon Schaupp, wie er gegen seinen Willen zum Self-Tracker wurde. Er hatte mit seinem neuen Smartphone an einer Demonstration teilgenommen und das neue Gerät verkündete am Bildschirm: «Glückwünsch Simon, Sie haben heute mehr als 10 000 Schritte gemacht. Versuchen Sie doch morgen 15 000.» Die vorinstallierte App hatte nicht nur die Schritte und die Demoroute genau aufgezeichnet, auch konnte man die Laufgeschwindigkeit feststellen und obendrein erfuhr Schaupp noch, wie viele Kalorien er an der Demo verbraucht hatte. Solch ein perfektes Demonstrationsprotokoll dürfte der Polizei und den unterschiedlichen erfassungsämtern ungeahndete Überwachungsöglichkeiten offenlegen. Trotzdem erfreut sich Self-Tracking ungebrochener Beliebtheit. Simon Schaupp hat in seinem kürzlich im Verlag Graswurzelrevolution erschienene Buch mit dem Titel «Digitale Selbstüberwachung – Self-Tracking im kybernetischen Kapitalismus» dieses Phänomen eingeordnet, in die Bemühungen, den Kampf gegen alles, was die reibungslose Anpassung an die kapitalistischen Erfordernisse und Zumutungen behindert, ins eigene Individuum zu verlagern.

Den Feind in Dir bekämpfen

«Denn im Self-Tracking verschmelzen Polizei und Verdächtiger zu einer Person zusammen, die sich selbst mit allen zur Verfügung stehenden technischen Mitteln ausspioniert. Jeder versäumte Joggingrund, jede überzählige Kalorie, jede verträumte Minute Arbeitszeit wird registriert und angemahnt, um nicht vor sich selbst in den Verdacht zu geraten, das Kapitalverbrechen der Leistungsgesellschaft zu begehen: Nicht das Maximum aus sich herauszuholen.» Schaupp zeigt in dem Buch anhand der Werbung für die unterschiedlichen Self-Tracking-Methoden, wie diese Selbstkonditionierung funktioniert. So findet man auf der Homepage des Self-Tracking-Anbieters «Runtastic» Selbstbezichtigungen dieser Art: «Gegen mich selbst anzutreten und mein Bestes zu geben macht Spass und ist dank der Rekorde-Funktion auch ganz easy! Es fühlt sich toll an, meine eigenen Bestleistungen immer wieder zu unterbieten und meine neuesten Rekorde auf Runtastic.com zu bewundern.» Auch Diätprogramme werben mit dem Grundsatz, dass mit eisernen Willen alles zu schaffen ist . Da ist es nur konsequent, dass ein Zeitsoldat das Abnehmen zu einer Frage der Disziplin erklärt. Sehr überzeugend hat Schupp den Begriff des kybernetischen Kapitalismus für die Bezeichnung der aktuellen Rgulationsphase eingeführt, der anders griffe wie Postfordismus, deutlich macht, dass weiterhin die kapitalistische Verwertungslogik dominiert. Schaupp bezeichnet Self-Tracking als «Teil einer kapitalistischen Landnahme, im Zuge derer sich Unternehmen die Produkte unbezahlter Arbeit in Form von Daten aneignen und dann als Ware zu verkaufen». Der Soziologe interpretiert den kybernetischen Kapitalismus als Reaktion auf die systemischen Notstände des Postfordismus, wie den Zwang zur ständigen Rationalisierung und der Ausweitung der Warenproduktion. Hier liefert Schaupp einen materialistischen Erklärungsansatz für den Tracking-Boom. Wenn der kapitalistische Imperativ «Du bist nichts, Deine Arbeitskraft ist alles» so verinnerlicht ist, können die ideologischen Staatsapparate, die seit Beginn des Kapitalismus mit Ideologie und Repression dafür sorgen, dass sich die Subjekte der Kapitallogik beugen, etwas in den Hintergrund treten, werden aber nie ganz verschwinden. Die Situation ist vergleichbar mit einer Grossdemonstration, bei der die eigenen OrdnerInnen für Ruhe und Ordnung sorgen. Da aber auch da immer die Möglichkeit besteht, dass die störrischen Elemente die Oberhand gewinnen, ist sie jederzeit einsatzbereit. Nicht anders ist der Umgang mit der individuellen Polizei. Wenn man es doch nicht mehr als so an genehm empfindet, immer und überall kapitelgerecht zu agieren, gibt es vielfältige Druckmittel von aussen. Viele Self-Tracking-Technologien werden schon längst von diversen Firmen zur Totalüberwachung der Beschäftigten eingesetzt. «RescueTime ist eine Aufklärungsanwendung für Firmen, die Manager informiert hält, über ihre wertvollste Ressource», heisst es auf der Webseite der Zeitmanagement-Software. Die Überwachung wird dann als Kultur der Arbeitsplatztransparenz schöngeredet, tatsächlich handelt es sich aber um eine sehr ein seitige Form der Transparenz. In den fordistischen Arbeitsverhältnissen gab es immerhin wenigstens noch einige Nischen, in denen sich die Beschäftigten zumindest für kurze Zeit dem Diktat der Maschinen entziehen konnten. Das fällt im Zeitalter der neuen Technologien immer schwerer.

Self-Tracking per Rezept

Längst haben Politik und Wirtschaft Druckmittel in Stellung gebracht, falls die Freiwilligkeit nicht mehr gewährleistet ist. Schon hat das Gesundheitsministerium in Grossbritannien Ärztinnen und Ärzte aufgefordert, ihren PatientInnen Self-Tracking-Anwendungen zu verschreiben, «damit diese in die Lage versetzt werden, ihre Gesundheit effektiver zu überwachen und so mehr Verntwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen». Krankenkassen belohnen besonders eifrige Self-TrackerInnen mit Prämien. Wer nicht mitmacht, zahlt mehr. Auch die Europäische Kommission hofft, mit Self-Tracking immense Einsparungen im europäischen Gesundheitsbudget zu erzielen. Im letzten Kapitel seines Buches stellt Schaupp die Frage, ob in einer Gesellschaft, die nicht von der Kapitalverwertung bestimmt ist, die Kybernetik im emanzipatorischen Sinne verwendet werden könnte. Eine Antwort gibt er nicht. Er hätte die Frage mit Blick auf ein historisches Beispiel bejahen können. Der von ihm mehrfach zitierte Stafford Beer, ein wichtiger Theoretiker der Kybernetik, war auch in Chile unter der Regierung der sozialistischen Regierung Allende an einem Projekt beteiligt, das eine wirtschaftliche Planung mit Hilfe kybernetischer Methoden erproben sollte. Dadurch sollte eine Planung mit den Belegschaften und grossen Teilen der Bevölkerung gewährleistet werden. Der rechte Putsch gegen die «Unidad Popular»-Regierung beendete den Versuch, Kybernetik in emanzipatorischem Sinne zu nutzen. Im Hier und Jetzt drängt sich nach der Lektüre von Schaupps empfehlenswerten Buch eine andere Frage auf: Ist es nicht höchste Zeit, dass sich die Menschen offensiver den Self-Tracking-Methoden verweigern, dem Markt und dem Staat definitiv erklären, sich nicht mehr ständig weiter optimieren zu wollen, nicht mehr immer neue Rekorde und Höchstwerte aus sich herausholen zu lassen?

Peter Nowak

vorwärts – 23. Dez. 2016

SIMON SCHAUPP: DIGITALE SELBSTÜBERWACHUNG – SELF-TRACKING IM KYBERNETISCHEN KAPITALISMUS. VERLAG GRASWURZEL-REVOLUTION, HEIDELBERG 2016. 14,90 EURO

Der Artikel ist auf Schattenblick dokumentiert:

http://www.schattenblick.de/infopool/medien/altern/vorw1252.html

Self-Tracking und kybernetischer Kapitalismus

Gleich im ersten Kapitel beschreibt der Soziologe Simon Schaupp[1] eine bezeichnende Episode, wie er gegen seinen Willen zum Self-Tracker wurde. Er hatte mit seinem neuen Smartphone an einer Demonstration teilgenommen und das neue Gerät verkündete am Bildschirm: „Glückwünsch Simon, Sie haben heute mehr als 1.000 Schritte gemacht. Versuchen Sie doch morgen 1.500.“ Die vorinstallierte App hatte nicht nur die Demonstrationsschritte und die Route genau aufgezeichnet, auch konnte man die Laufgeschwindigkeit feststellen, und obendrein erfuhr Schaupp noch, wie viele Kalorien er für die Demonstration verbraucht hatte. Solch ein perfektes Demonstrationsprotokoll dürfte der Polizei und den unterschiedlichen Verfassungsämtern ungeahnte Überwachungsmöglichkeiten bieten.

Trotzdem erfreut sich Self-Tracking ungebrochener Beliebtheit. Nicht Datenschutz und Datenminimierung, sondern die ungebremste Offenlegung ganz privater Daten sind Kennzeichen einer Bewegung, die ihr Leben von der Arbeit über das Joggen bis zum Schlaf von digitalen Geräten minutiös aufzeichnen und überwachen lässt und die Daten dann noch via Facebook weiterverbreitet.

Simon Schaupp hat in seinem kürzlich im Verlag Graswurzelrevolution erschienenem Buch „Digitale Selbstüberwachung. Self Tracking im kybernetischen Kapitalismus“[2] dieses Phänomen eingeordnet: in die Bemühungen nämlich, den Kampf gegen alles, was die reibungslose Anpassung an die kapitalistischen Erfordernisse und Zumutungen behindert, ins eigene Individuum zu verlagern.

„Denn im Self-Tracking verschmelzen Polizei und Verdächtiger zu einer Person zusammen, die sich selbst mit allen zur Verfügung stehenden technischen Mitteln ausspioniert. Jeder versäumte Jogginggrund, jede überzählige Kalorie, jede verträumte Minute Arbeitszeit wird registriert und angemahnt, um nicht vor sich selbst in den Verdacht zu geraten, das Kapitalverbrechen der Leistungsgesellschaft zu begehen: Nicht das Maximum aus sich herauszuholen.“

Schaupp zeigt in dem Buch anhand der Werbung für die unterschiedlichen Self-Tracking-Methoden, wie diese Selbstkonditionierung funktioniert. So findet man auf der Homepage des Self-Tracking-Anbieters Runtastic[3] solche Selbstbezichtigungen:

Gegen mich selbst anzutreten und mein Bestes zu geben macht Spaß und ist dank der Rekorde-Funktion auch ganz easy! Es fühlt sich toll an, meine eigenen Bestleistungen immer wieder zu unterbieten und meine neuesten Rekorde auf Runtastic.com zu bewundern.

Runtastic-User

Jede Woche warte ich gespannt auf meinen Fitnessbericht. Grüne Zahlen & Pfeile motivieren mich immer wieder aufs Neue! Ich will mich ja schließlich jede Woche verbessern!

Runtastic-User

„Entdecke die Geheimnisse des Superhelden“, fordert eine andere Werbeseite[4] für potentielle Selbstoptimierer, die immer und überall die Gewinner sein wollen. Auch Diätprogramme[5] arbeiten nach dem Prinzip, wonach mit Disziplin und mit eisernen Willen alles zu schaffen sei. Da ist es nur konsequent, dass ein Zeitsoldat das Abnehmen zu einer Frage der Disziplin erklärt. Auf anderen Self-Tracking Werbeanzeigen finden sich Bergsteiger, die mit Erfolg und vielen Strapazen einen Gipfel erklommen haben.

Es ist bezeichnend, das mit Bergsteigern und Soldaten zwei Gruppen Role-Models für das Self-Tracking sind, die immer wieder auch Tote und Schwerverletzte zu verzeichnen haben. Die Botschaft ist klar: Beim Rattenretten im kapitalistischen Alltag ist Schonung von Gesundheit und Leben etwas für Loser und Versager. Und sie sind in der Werbewelt der Self-Tracker wohl auch das Schlimmste, was man sich denken kann.

Sehr überzeugend hat Schaupp den Begriff des kybernetischen Kapitalismus als Bezeichnung der aktuellen Regulationsphase eingeführt, der, anders als bekannte Begriffe wie Postfordismus, deutlich macht, dass weiterhin die kapitalistische Verwertung dominiert. Die These von Schaupp lautet, dass das Self-Tracking „Teil einer kapitalistischen Landnahme ist, im Zuge derer sich Unternehmen die Produkte unbezahlter Arbeit in Form von Daten aneignen und als Waren verkaufen“.

Der Soziologe interpretiert den kybernetischen Kapitalismus als Reaktion auf die systemischen Notstände des Postfordismus, wie den Zwang zur ständigen Rationalisierung und der Ausweitung der Warenproduktion. Hier liefert Schaupp einen materialistischen Erklärungsansatz für den Tracking-Boom. Wenn der kapitalistische Imperativ „Du bist nichts, Deine Arbeitskraft ist alles“ verinnerlicht ist, können die ideologischen Staatsapparate, die seit Beginn des Kapitalismus mit Ideologie und Repression dafür gesorgt haben, dass sich die Subjekte der Kapitallogik beugen, etwas in den Hintergrund treten. Verschwinden werden sie aber nicht.

Die Situation ist vergleichbar mit einer Großdemonstration, bei der die eigenen Ordner für Ruhe und Ordnung sorgen. Dann bleibt die Polizei manchmal in den Seitenstraßen und ist im ersten Augenblick nicht sichtbar präsent. Da aber auch da immer die Möglichkeit besteht, dass die störrischen Elemente die Oberhand gewinnen, ist sie jederzeit einsatzbereit. Nicht anders ist der Umgang mit der individuellen Polizei. Wenn es jemand nicht mehr so angenehm empfindet, immer und überall kapitalgerecht zu agieren, gibt es vielfältige Druckmittel von außen.

Viele Self-Tracking-Technologien werden schon längst von diversen Firmen zur Totalüberwachung der Beschäftigten eingesetzt. „RescueTime ist eine Aufklärungsanwendung für Firmen, die Manager informiert hält über ihre wertvollste Ressource“, heißt auf der Webseite der Zeitmanagement-Software[6].

Die Überwachung wird dann als Kultur der Arbeitsplatztransparenz schöngeredet. Tatsächlich handelt es sich um eine einseitige Form der Transparenz. Der Kapitalbesitzer bekommt den Zugriff auch auf die letzten Geheimnisse der Lohnabhängigen. In den fordistischen Arbeitsverhältnissen gab es immer noch einige Nischen, wo sich die Beschäftigten zumindest für kurze Zeit dem Diktat der Maschinen entziehen konnten. Das fällt im Zeitalter der neuen Technologien immer schwerer.


Längst haben Politik und Wirtschaft Druckmittel in Stellung gebracht, falls die Freiwilligkeit nicht mehr gewährleistet ist. Schon hat das Gesundheitsministerium in Großbritannien Ärzte aufgefordert, sie sollten ihren Patienten Self-Tracking-Anwendungen verschreiben, „damit diese in die Lage versetzt werden, ihre Gesundheit effektiver zu überwachen und so mehr Verantwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen“.

Schon längst haben die Krankenkassen begonnen, besonders eifrige Self-Tracker mit Prämien zu belohnen. Wer nicht mitmacht, zahlt mehr. Auch die Europäische Kommission setzt angesichts von prognostizierten 3,4 Milliarden Menschen, die 2017 ein Smartphone benutzen, große Hoffnungen darauf, dass mit Self-Tracking immense Einsparungen im europäischen Gesundheitsbudget erzielt werden können.

Hier wird schon deutlich, dass in der nächsten Zeit Self-Tracking-Methoden Teil der Politik werden können. Wer sich dem verweigert, muss zumindest mit höheren Krankenkassenprämien rechnen. Es könnte allerdings durchaus auch staatliche Sanktionen für Tracking-Verweigerer geben.

In der Öffentlichkeit werden sie schon jetzt als Menschen klassifiziert, die mit ihrer Lebensweise unverantwortlich umgehen und die sozialen Systeme unverhältnismäßig belasten. Unter dem Begriff Quantified Self hat der Publizist Sebastian Friedrich[7] die unterschiedlichen Tracking-Methoden in sein kürzlich erschienenes Lexikon der Leistungsgesellschaft[8] aufgenommen.

Es steht dort neben Einträgen wie „Rennrad“ oder „Marathonlauf“, die in kurzen Kapiteln als Teil der neoliberalen Alltagspraxis vorgestellt werden. Die Stärke des Büchleins besteht darin, Alltagsbeschäftigungen aufzunehmen, die sich auch im kritischen Milieu reger Zustimmung erfreuen und die oft gar nicht mit dem Neoliberalismus in Verbindung gebracht werden.

Dabei zeigt Friedrich überzeugend, wie der erste Marathonlauf in New York wenige Hundert Interessierte anlockte, bevor er zu jenen Massenaufläufen wurde, die heute weltweite ganze Stadtbereiche lahmlegen. Mittlerweile beteiligen sich daran ganze Firmenbelegschaften daran, die so ihre Leistungs- und Leidensfähigkeit unter Beweis stellen. Eine Verweigerung würde sich wohl äußerst negativ für die Karriere auswirken. Das ist auch ein zentraler Begriff im Lexikon der Leistungsgesellschaft.

Im letzten Kapitel seines Buches stellt Schaupp die Frage, ob in einer Gesellschaft, die nicht von der Kapitalverwertung bestimmt ist, Self-Tracking-Methoden in emanzipatorischem Sinne verwendet werden könnte. Doch eine Antwort gibt er darauf nicht.

Dabei hätte er vielleicht einen Hinweis darauf geben können. Der von ihm mehrfach zitierte Stafford Beer, ein wichtiger Theoretiker der Kybernetik, war auch in Chile unter der Regierung der sozialistischen Regierung Allende an einem Projekt[9] beteiligt, das eine wirtschaftliche Planung mit Hilfe kybernetischer Methoden erproben sollte.

Dadurch sollte eine Planung mit den Belegschaften und großer Teile der Bevölkerung gewährleistet werden. Der rechte Putsch gegen die Unidad-Popular-Regierung beendete diesen Versuch, Kybernetik in emanzipatorischem Sinne zu nutzen. Das durch den Roman von Sascha Rehs Roman „Gegen die Zeit“[10], in dem dieses Projekt im Mittelpunkt steht, wurde es auch hierzulande wieder bekannt[11].

Es ist schade, dass Schaupp darauf nicht zumindest kurz hinweist, weil in seinem theoretischen Teil Stafford Beer schließlich eine wichtige Rolle spielt.

Er stellt nur klar, dass Self-Tracking in den aktuellen Machtverhältnissen eine wichtige Rolle bei der Selbstzurichtung und Konditionierung des Subjekts für die Zumutungen des Kapitalismus spielt. Gerade diese Alltagspraxen der Leistungsgesellschaft sind eine Antwort auf die Frage, warum der Neoliberalismus so stark ist und selbst die Krisen der letzten Jahre scheinbar schadlos überstanden hat.

Schon lange wird die Phrase vom Neoliberalismus in den Köpfen strapaziert. Der Self-Tracking-Boom ebenso wie die Marathonwelle zeigt deutlich, was damit gemeint ist. Dann stellt sich auch die Frage, ob es nicht Zeit für eine Bewegung ist, die sich diesen Self-Tracking-Methoden bewusst verweigert.

Wenn Menschen offen erklären, sich nicht ständig optimieren zu wollen, nicht den Anspruch zu haben, immer mehr Rekorde und Höchstwerde aus sich herausholen zu wollen, dann würde sicher nicht gleich der kybernetische Kapitalismus in eine Krise geraten.

Aber man darf auch nicht vergessen, dass konservative Theoretiker die wachsende Alternativbewegung der 1970er Jahre für die Krise des Fordismus mitverantwortlich machten. So könnte auch eine No-Tracking-Bewegung zumindest das Image ankratzen, das sich heute alle ganz freiwillig und mit großer Freude für den Sport, das Unternehmen und die Nation Opfer bringen.

Peter Nowak

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[6] https://www.rescuetime.com/
[7] http://www.sebastian-friedrich.net/
[8] https://www.edition-assemblage.de/lexikon-der-leistungsgesellschaft
[9] http://www.cybersyn.cl/imagenes/documentos/textos/Eden%20Medina%20JLAS%202006.pdf
[10] https://www.schoeffling.de/buecher/sascha-reh/gegen-die-zeit
[11] http://www.deutschlandradiokultur.de/sascha-reh-gegen-die-zeit-ein-historisches-experiment.950.de.html?dram:article_id=328089