Gerechtigkeit auch für Whistleblower in Deutschland

Die Verantwortlichen für die Wikileaks-Veröffentlichungen aus dem NSA-Ausschuss dürfen auf wenig Verständnis stoßen

Dass Wikileaks an Bedeutung verloren hat und mit seinen Veröffentlichungen kaum noch jemanden erschreckt, zeigen die Reaktionen auf die Veröffentlichung[1] von als geheim deklarierten Material aus den NSA-Untersuchungsausschüssen.

Eine Diskussion über die Inhalte der geleakten Informationen hat gar nicht erst begonnen. Stattdessen wird darüber gestritten, wie die Informationen überhaupt an Wikileaks gelangen konnten. Die Jagd nach den Verantwortlichen hat längst begonnen. Die Justiz hat die Ermittlungen aufgenommen.

Spiegel-Online berichtet[2] zumindest mit Hintergrundinformationen, dass Wikileaks selbst mit dafür gesorgt habe, dass der Kreis der Verdächtigten überschaubar geblieben ist. Schon die Zahl der Personen, die im NSA-Untersuchungsausschuss Zugang zu den Daten ist überschaubar.

Ein inzwischen bei Wikileaks gelöschtes Dokument[3] sei nur Mitgliedern des Auswärtigen Ausschüssen und des Ausschusses für Europaangelegenheiten zugänglich gewesen. Damit wäre der Kreis der möglichen Stichwortgeber noch einmal eingeschränkter.

Eine Veröffentlichungspraxis, die die Sicherheit der Whistleblower gefährdet, ist natürlich enorm ruinös für eine Enthüllungsplattform, die gegründet wurde, um geheime Dokumente öffentlich zu machen. Nun gerät Wikileaks nicht das erste Mal dafür in die Kritik, dass es bei Veröffentlichungen Sicherheitsstandards nicht einhält.

So wurden Dokumente aus Krisengebieten mit Klarnamen von Akteuren online gestellt, die die Genannten massiv gefährden können. Das Veröffentlichen eines Dokuments, das Hinweise auf die Informanten gibt, würde das Vertrauen in Wikileaks noch weiter unterminieren. In letzter Zeit war auch die politische Kritik vor allem an Wikileaks-Gründer Assange lauter geworden.

Dazu zählte seine Inszenierung als politsicher Verfolgter, weil er sich weigert, von der schwedischen Justiz zu Vorwürfen der sexuellen Belästigungen befragen zu lassen, ebenso wie zahlreiche irritierende politische Äußerungen und Verbindungen von Assange.

Doch auch Spiegel-Online verdient kritische Nachfragen nach seinen Quellen. Schließlich wäre es nicht unwahrscheinlich, dass es sich damit auch um Versuche handelt, das Misstrauen gegenüber Wikileaks zu verstärken. Daher wäre es schon wichtig, woher Spiegel-Online die doch sehr speziellen Informationen hat, die auch nur einen kleinen Kreis zugänglich sind.

Dass nun mehr über vermeintliche oder tatsächliche Pannen der Veröffentlichungsplattform als über die Inhalte der geleakten Daten gesprochen wird, hat sich Wikileaks zum größten Teil selber zuzuschreiben. Ein weiterer Grund ist aber die Heuchelei, mit denen auch Politiker der Oppositionsparteien in der NSA-Angelegenheit vorgegangen sind.

Sicher konnte man in den Wochen, in denen der NSA hierzulande Schlagzeilen machte, immer Politiker von Grünen und Linken finden, die sich furchtbar darüber aufregten, dass die USA Freude aushorchen lässt. Meist endete das Lamento mit der Aufforderung an die Bundesregierung und Merkel persönlich, Rückgrat gegenüber den USA zu zeigen und oftmals fehlte der Verweis auf die angeblich fehlende Souveränität Deutschlands nicht.

Dass bei den NSA-Angelegenheiten eigentlich nur Sachen verhandelt wurden, die alle Staaten, die es sich leisten können, so oder ähnlich machen, und dass Deutschland da keine Ausnahme macht, hörte man schon seltener. Da wurde dann Snowden in Deutschland schon mal als Held der Freiheit gefeiert, ihm wurden auch diverse Auszeichnungen in Deutschland verliehen.


Doch immer war auch klar, dass ein deutscher Snowden auch von diesen Oppositionspolitikern bestimmt nicht mit Preisen überhäuft würde. Denn dann ging es ja um deutsche Interessen, die öffentlich gemacht würden und die Menschen, die gefeiert werden, wenn sie in den USA leben, sind schnell Verräter, wenn sie auch in Deutschland Daten transparent machen, die als vertraulich und geheim deklariert werden.

So erklärte das Grüne Mitglied im NSA-Untersuchungsausschuss Konstantin von Notz[4], die Veröffentlichung der Dokumente auf Wikileaks sei nicht hilfreich und schade sogar[5] bei den Bemühungen, die NSA-Angelegenheit im Ausschuss aufzuklären.

Parlamentarische Kontrolle bedeute nicht, dass alles an die Öffentlichkeit gehöre, machte der grüne Parlamentarier die Grenzen der Transparenz deutlich. Nun könnte man ja argumentieren, dass die Veröffentlichungen dafür sorgen, dass jetzt nicht nur ein exklusiver Kreis im NSA-Untersuchungsausschuss die Daten lesen könnten und damit genau die Transparenz hergestellt würde, die ein Bundestagsausschuss niemals gewähren kann, solange die Mitglieder zur Verschwiegenheit verpflichtet sind.

Was die Veröffentlichung als geheim deklarierter Dokumente anging, war der linke Flügel der Arbeiterbewegung vor 100 Jahren schon mal weiter. Eine der ersten Maßnahmen der jungen Sowjetregierung war im November 1917 die Veröffentlichung von Dokumenten, die von den Vorgängerregierungen als geheim erklärt hatten.

Auch einige der europäischen Länder, die in den Dokumenten erwähnt wurden, waren über die Transparenzoffensive nicht erfreut. In Bayern war eine der ersten Aktionen der kurzlebigen Räterepublik unter Vorsitz des linken Sozialdemokraten Kurt Eisner die Veröffentlichung[6] von als geheim klassifizierten Dokumenten der deutschen Außenpolitik und Diplomatie. Sie machten deutlich, welchen Anteil Deutschland für den Ausbruch des 1. Weltkriegs hatte.

Die alten Mächte aber auch die Mehrheitssozialdemokratie, die sie beerbte, waren erbost über diese Veröffentlichung. Der Hass auf die Räterepublik und ihre Protagonisten wuchs. Kurt Eisner wurde von einem Mitglied des völkischen Thulegesellschaft[7], einer direkten Vorläuferorganisation der NSDAP ermordet.

Dieses Schicksal würde den Whistleblower nicht drohen, die die NSA-Dokumente an Wikileaks weitergeleitet haben. Doch eine Haftstrafe wäre durchaus denkbar. Sollte es dazu kommen, wird sich zeigen, wer von denen, die in den letzten Jahren Snowden lobten, auch für die hiesigen Whistleblower eintritt.

https://www.heise.de/tp/features/Gerechtigkeit-auch-fuer-Whistleblower-in-Deutschland-3549769.html

Peter Nowak


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Links in diesem Artikel:
[1] https://wikileaks.org/bnd-inquiry/
[2] http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/wikileaks-und-nsa-ausschuss-dokument-koennte-informanten-verraten-a-1124153.html
[3] https://webcache.googleusercontent.com/search?q=cache:rBXOJ40BhZMJ:https://wikileaks.org/bnd-inquiry/docs/Bundestag%2520Vorabunterrichtung%2520RfAB%252023.6.2014-1.pdf+&cd=1&hl=de&ct=clnk&gl=de&client=firefox-b
[4] http://von-notz.de/
[5] http://www.deutschlandfunk.de/von-notz-gruene-wikileaks-veroeffentlichung-zu-nsa-schadet.447.de.html?drn:news_id=684551
[6] https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Bayerische_Dokumente_zum_Kriegsausbruch_und_zum_Versailler_Schuldspruch,_1922
[7] http://www.relinfo.ch/thule/info.html

Knackis in der Altersarmut

Sozialverbände kämpfen für den Rentenanspruch von Inhaftierten. Doch viele Gefängnisse verhindern, dass die Insassen über ihre Rechte aufgeklärt werden.

Jahrzehntelanges Arbeiten ohne Aussicht auf Altersbezüge – genau das droht vielen ehemaligen Strafgefangenen, obwohl sich immer mehr in ei­genen Gewerkschaften organisieren (Jungle World 48/2015).

„Knackis in der Altersarmut“ weiterlesen

G20-Gegner: Globalisierungskritik ohne Nationalismus

Die Abgrenzung von Attac gegen rechte Globalisierungskritiker setzt einen klaren Akzent, ansonsten dominieren die alten Event-Rezepte

Nun können die Kritiker und Gegner des G20-Gipfels[1], der im Juli nächsten Jahres in Hamburg stattfinden soll, doch noch in den Räumen der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg tagen. Das Hochschulpräsidium wollte zuvor die Räume für die Globalisierungskritiker kündigen, war aber juristisch damit gescheitert[2].

Schon werden von Attac Szenarien vorgestellt, nach denen Demonstranten am 8.Juli die Hamburger Innenstadt füllen sollen. Dabei müssen an diesem Wochenende erst einmal die Widersprüche innerhalb der Protestszene ausgeräumt werden. An einem Punkt dürfte es zumindest keinen Dissens geben. Avancen von rechts werden auch bei den G20-Protesten nicht auf Gegenliebe stoßen.

Kürzlich hat Attac eine Erklärung[3] verabschiedet, in der einer Globalisierungskritik ohne Nationalismus das Wort geredet wird. Die Klarstellung war auch deshalb notwendig geworden, weil rechte und rechtspopulistische Kräfte Auftrieb bekommen, die mit einem Standortnationalismus gegen den Freihandel mobilisieren. Die Wahl von Trump war ein Menetekel.

Wenn er nun tatsächlich Verträge wie TTIP verhindert, ist das Wasser auf die Mühlen nationalistischer Globalisierungskritiker. Mag auch der Kreis der Protestorganisatoren gegen rechte Avancen immun sein, so gilt das längst nicht für alle, die sich in den letzten Jahren an den von ihnen organisierten Protesten beteiligt hatten. So haben die Protestorganisatoren ein Problem, das auch die Linkspartei kennt.

Sie bzw. ihre Vorgängerpartei wurden auch von Menschen gewählt, die sie als Protestpartei wahrnahmen und eben mangels Alternative ihr Kreuz bei den Linksreformisten machten. Das erklärt, warum so viele von ihnen jetzt die AfD wählen. So beteiligten sich auch viele Freihandelsgegner an den von Linken organisierten Demonstrationen, weil es eben keine anderen wahrnehmbaren Akteure auf diesen Gebiet gab.

Das könnte sich mit dem Aufstieg rechter Bewegungen ändern, die noch darauf verweisen können, dass nicht die Linken, sondern Trump TTIP verhindert hätte, wenn er denn in dieser Frage seine Versprechungen einhält.

Interessant könnte es werden, wenn nun die Globalisierungskritiker Anfang Juli die wahrscheinliche Teilnahme von Trump dazu nutzen, um die Massen auf die Straße zu kriegen. Dann soll ausgerechnet jener Politiker, der für eine rechte Globalisierungskritik steht, den linken Globalisierungskritikern als Zugpferd für ihre Proteste dienen. Dabei stellt sich die Frage, welchen Stellenwert dann noch die Globalisierungskritik bei der Mobilisierung hat oder ob es nicht doch eher eine Antifa-Mobilisierung mit etwas globalisierungskritischen Touch sein wird.

Zumal sich ja neben Trump unter den im Juli anreisenden Politikern weitere Personen finden dürften, die sich für eine Antifa-Mobilisierung eignen. Zudem wird es im Juli 2017 Wahlen in Holland gegeben haben, die auch mit einem rechtspopulistischen Ministerpräsidenten Wilders enden könnten, der noch im letzten Jahr als Redner bei Pegida-Kundgebungen aufgetreten ist[4].

Auch in Frankreich finden die Präsidentenwahlen kurz vor dem G20-Gipfel statt. Mit einem Sieg von Le Pen würden die Weichen für die Proteste endgültig auf die Antifa-Schiene geschoben. Doch das Wahlergebnis ist für die Protestbewegung auch dann fatal, wenn Le Pen verliert. Denn ihr Gegenkandidat würde nach den aktuellen Umfragen kein Sozialdemokrat und nicht einmal ein liberaler Konservativer.

Mit Fillon stünde ein ultrakonservativer Traditionalist und Thatcher-Freund in der Stichwahl gegen Le Pen, der bereits angekündigt hat, die Zumutungen gegen die Lohnabhängigen enorm zu verschärfen, damit Frankreich im EU-Rahmen mit Deutschland ökonomisch konkurrieren kann. Er will die von Deutschland ausgehende Austeritätspolitik verschärft umsetzen, gegen die in Frankreich erst vor wenigen Monaten Zugtausende auf die Straßen gingen und gegen die es massive Streiks gab.

Dass ein solcher Kandidat dann von Gewerkschaftern und sozialen Aktivisten gewählt würde, nur um eine sich sozialprotektionistisch gebende Le Pen zu verhindern, glaubt niemand. Käme es zu dieser Konstellation, würde ein Großteil der Menschen sich der Wahl enthalten. Aber auch Le Pen, hätte mit ihrer nationalsozialen Rhetorik gute Chancen. Ein solches Szenario müsste eigentlich ein Weckruf für eine Linke sein, die mit ihren G20-Protesten dabei ist, die viel kritisierte Eventpolitik vergangener Jahrzehnte zu wiederholen.

Wie zu Zeiten von Heiligendamm im Jahr 2007 setzt man 10 Jahre später wieder darauf, Massen zu einem Treffen zu bringen, das für die Mehrheit der Menschen eigentlich völlig irrelevant ist. Die Mehrheit der prekär Beschäftigten und der Erwerbslosen werden die Proteste, wenn überhaupt, über die sozialen Netzwerke mitbekommen. Ihre Lebens- und Arbeitssituation verändert sich mit diesem Gipfel genauso wenig, wie es die Treffen in Heiligendamm, Göteburg, Genua und andere Gipfelorte taten.

Eine Linke, die wieder Relevanz bekommen will, müsste die Proteste und ersten Kämpfe in den neuen prekären Beschäftigungsverhältnissen zur Grundlage ihrer Arbeit machen. Dass sich in Italien Foodora-Beschäftigte in einem Arbeitskampf[5] befinden, kann man in den sozialen Netzwerken[6] erfahren, wird aber viel weniger bekanntgemacht als die neuesten Infos rund um G20.

Dabei ist Foodora auch in Deutschland ein Pionier für prekäre Arbeitsverhältnisse. Dass in der norditalienischen Logistikindustrie migrantische Arbeitskämpfe seit Jahren Arbeitskämpfe auch erfolgreich für die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen kämpfen[7], wurde selbst dann in Deutschland nicht bekannter, als am 15. September der Streikposten Abd Elsalam Ahmed Eldanf[8] tödlich verletzt wurde.

Angestoßen durch die Blockupy-Proteste[9] der letzten Jahre gründete sich eine Plattform[10], die sich der Verallgemeinerung solcher transnationalen Arbeitskämpfe widmete. Es ist zu befürchten, dass diese Arbeit in den Mühen der Ebenen durch die Konzentration relevanter Teile der Linken auf den Hamburger Event zu kurz kommt.

Das Blockupy-Netzwerk hat mittlerweile beschlossen, seine Arbeit vorerst einzustellen und alle Kräfte auf den G20-Gipfel zu konzentrieren. Dazu hat sicher auch die geringe Beteiligung an den Berliner Blockupy-Protesten Anfang September beigetragen. Doch da müsste die Frage gestellt werden, ob die Erfolge gewerkschaftlicher und betrieblicher Basisarbeit nicht eher durch Streiks und andere Protestformen am Arbeitsplatz als durch Beteiligung an Demonstrationen gemessen werden.

Mit der Konzentration auf die Proteste in Hamburg hat man sich aber wieder auf die Logik der Massenaufmärsche als Kraftmesser des Erfolgs eingelassen.


Dabei wird es auch zu der Hamburger Mobilisierung wieder zwei völlig konträre Protestlogiken geben. Attac und Co. wollen die Protestszene stärken, um sich dadurch als Vermittler und Verhandler für die Staatsseite besser in Szene setzen zu können.

Je mehr Menschen auf die Straße gehen, desto besser können sie vermitteln, dass es sich hier um relevante Probleme geht, die Instanzen brauchen, die verhandeln und regulieren. Sie bieten sich dann natürlich gleich selber an. Dann gibt es auch noch andere Gruppen im Bündnis, die mit der Logik der Repräsentanz und Verhandlung brechen und die Proteste für Ansätze von Gegenmacht nutzen wollen.

In den Vorbereitungskonferenzen wird dann ausgehandelt, ob und wie diese beiden Logiken zusammengehen und wo die Grenzen sein werden. Dabei werden solche Fragen wie der Termin für die Großdemonstration relevant. Im Vorfeld des G20-Gipfels, wie es Attac und Co präferieren oder während des Gipfels, wie es die Teile des Protestspektrums, die mehr für Konfrontation stehen, vorziehen.

Auch die Kooperation mit dem Staat ist ein alter Streitpunkt bei solchen Konferenzen. Während Attac und viele NGO längst ihren Platz in der Protestecke des G20-Gipfels haben, lehnen andere Gruppen eine solche Form der Lobbyarbeit ab. Es sind auch biographische Fragen dabei zu berücksichtigen.

Viele jüngere Freunde des konfrontativen Protests wechseln mit Abschluss ihrer Ausbildung oder ihres Studiums so ganz langsam in die NGO-Landschaft über, bei der es auch verschiedene Abstufungen der Kritik und des Co-Managements gibt.

Natürlich sind die Staatsapparate dabei keine neutralen Beobachter. Schon mehr als 6 Monate vor Beginn des G20-Gipfels gibt es Streit um das Demonstrationsrecht. Das Komitee für Grundrechte hatte kürzlich in einer Erklärung bedauert[11], dass der rot-grüne Senat sich für eine repressive Linie entschieden hat. Das machen die Menschenrechtler an der Personalie des neuen Polizeipräsidenten fest:

Hartmut Dudde, der unter dem Rechtspopulisten und früheren Innenminister Ronald Schill Karriere gemacht hat, hat in seiner Zeit in der Gesamteinsatzleitung der Bereitschaftspolizei mehrfach Rechtsbrüche begangen. Rechtswidrige Einkesselungen von Versammlungsteilnehmer*innen – so z.B der Kessel in Harlingen beim Castortransport 2010, Verbot von Transparenten aufgrund der Länge, Ingewahrsamnahmen, Auflösung von Versammlungen – immer wieder mussten Gerichte feststellen, dass die Polizei Hamburg unter Leitung von Hartmut Dudde gegen das Versammlungsrecht und die Grundrechte der Bürger*innen verstoßen hat[12].

Komitee für Grundrechte

Als weitere Zeichen für eine Eskalation gegenüber den nicht konsensorientierten Teil der G20-Protestbewegung bewertet das Komitee für Grundrechte die Aufrüstung der Polizei und den Ausbau der Untersuchungsgefängnisse. Doch, wenn es um die Einschränkung von Grundrechten gegen radikale Teile der Protestbewegung geht, braucht man gar nicht bis zum G20-Gipfel zu warten.

In der kommenden Woche plant ein kleines antiimperialistisches Protestbündnis eine Demonstration gegen das in Hamburg tagende OSZE-Treffen. Das Hamburger Abendblatt sieht die Einkaufsfreiheit in Gefahr[13] und stellte sich auf die Seite der um das Weihnachtsgeschäft besorgten Händler.

Dass das Blatt noch Angaben über die politische Vita und den Wohnort des Demoanmelders bekannt gab, ist ein eindeutiger Verstoß gegen den Datenschutz und eine Einschüchterung von potentiellen Teilnehmern und Anmeldern solcher Demonstrationen.

https://www.heise.de/tp/features/G20-Gegner-Globalisierungskritik-ohne-Nationalismus-3549554.html

Peter Nowak


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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.g20hamburg.org/de/node
[2] http://www.attac.de/startseite/detailansicht/news/hamburger-senat-muss-raum-fuer-g20-aktionskonferenz-zur-verfuegung-stellen/
[3] http://www.attac.de/startseite/detailansicht/news/-0f177611f2/
[4] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/pegida-geert-wilders-bei-kundgebung-in-dresden-a-1028335.html
[5] https://strugglesinitaly.wordpress.com/2016/10/30/foodora-strikes-in-italy-the-dark-side-of-the-sharing-economy/
[6] https://www.facebook.com/notes/deliverance-project/international-news-release-an-extensive-call-to-all-riders-of-europe/1301332033220753
[7] http://de.labournet.tv/die-angst-wegschmeissen
[8] http://de.labournet.tv/node/7064
[9] https://blockupy.org
[10] http://www.transnational-strike.info/
[11] http://www.grundrechtekomitee.de/node/824
[12] https://kleineanfragen.de/hamburg/21/62-eskalationen-und-rechtsver
[13] http://www.abendblatt.de/hamburg/article208735847/OSZE-Gipfel-in-Hamburg-Haendler-in-Sorge-um-ihre-Laeden.html

»Kein Unglücksfall« – Der Tod eines Streikpostens in Italien

Der Tod eines Kollegen auf Streikposten hat Mitte September in Italien zu massiven Protesten geführt. In Deutschland war das – auch in der linken Öffentlichkeit – kaum ein Thema.
„Er ist mit einem Megaphon in der Hand gestorben. Er ist von SEAM [einem Zulieferer von GLS] und GLS getötet worden.“ Das sagten einige KollegInnen von Abd Elsalam Ahmed Eldanf, der am 15. September 2016 bei der Blockade eines bestreikten GLS-Warenlagers in Piacenza von einem Firmenwagen überfahren wurde. Sie klagen damit auch die beiden Unternehmen an, bei denen der in Ägypten geborene Mann seit 2003 gearbeitet hat.
Mit dem Streik wollten die Beschäftigten die unbefristete Anstellung von 13 KollegInnen und die Wiedereinstellung von weiteren KollegInnen, die ihren Job verloren hatten, weil sie Gewerkschaftsmitglieder geworden waren, durchsetzen. Abd Elsalam hatte bereits einen unbefristeten Arbeitsvertrag. Er beteiligte sich an dem Streik, um seine KollegInnen zu unterstützen. Dieses solidarische Agieren der Beschäftigten kennzeichnet den seit 2008 andauernden Kampfzyklus in der norditalienischen Logistikbranche. „Die meist migrantischen LogistikarbeiterInnen in Italien haben es in den letzten sechs Jahren geschafft, durch militante Streiks ihre menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen grundlegend zu verbessern. Während sie früher regelmäßig bei der Lohnabrechnung betrogen und von den VorarbeiterInnen mit gewalttätiger Arroganz behandelt wurden, haben sie jetzt in vielen Unternehmen normale Bedingungen für sich erkämpft. Wegen dieser Erfolge organisieren sich immer mehr ArbeiterInnen in der Basisgewerkschaft S.I. Cobas und setzen sich mit ihren KollegInnen zur Wehr“, schreibt Bärbel Schönafinger auf der Plattform Labournet.tv. Sie hat einige der italienischen LogistikarbeiterInnen 2014 beim europäischen Treffen von BasisgewerkschafterInnen in Berlin kennengelernt und diese in Norditalien besucht. Aus den Besuchen und Gesprächen ging auch der Film „Die Angst wegschmeißen“ (http://de.labournet.tv/die-angst-wegschmeissen) hervor, mit dem sie den Arbeitskampf in Norditalien in Deutschland bekannter gemacht hat.
Terror gegen Streikende
Für Giorgio Grappi, Sozialwissenschaftler, aktives Mitglied der MigrantInnen-Koordination von Bologna und des Kollektivs »S-Connessioniprecarie« (Prekäre Verbindungen), ist der Tod von Abd Elsalam nicht der tragische Unglücksfall, als den ihn die italienische Justiz darstellt. In einem Interview mit der linken Zeitung Il Manifesto bezeichnet er Abd Elsalams Tod als Höhepunkt der Gewalt, die von Seiten der Unternehmen und des Staates seit Beginn des Kampfzyklus gegen die Streikenden zum Ausdruck kam. „Wer die Arbeitskämpfe der migrantischen ArbeiterInnen in der Logistik verfolgt hat, kennt die Gewalt, die von Unternehmerseite bei den Blockaden ausgeübt wird, die Versuche, sie zu durchbrechen, und die Polizeieinsätze gegen Streikposten sehr genau“, erklärt Grappi. „Youtube ist voll von Videos, die ArbeiterInnen mit schweren Verletzungen zeigen, die ihnen Polizei oder Streikbrecher zugefügt haben“, berichtet auch Bärbel Schönafinger. Die Kampfbereitschaft und Entschlossenheit der Beschäftigten konnte damit nicht gebrochen werden .
Sie haben es geschafft, sich italienweit zu organisieren und gegenseitig in ihren Kämpfen zu unterstützen, so dass auch Kämpfe in Warenlagern gewonnen werden konnten, in denen zunächst nur ein kleiner Teil der Belegschaft in den Streik getreten war. Der Kampfzyklus hatte zudem eine integrative Kraft für die radikale Linke in Italien, die die LogistikarbeiterInnen tatkräftig unterstützt. Der Arbeitskampf wird sowohl von sozialen Zentren und autonomen Zusammenhängen als auch von verschiedenen sozialistischen und kommunistischen Gruppierungen in Norditalien unterstützt. Die unterschiedlichen Spektren der italienischen Linken kooperieren bei der Streikunterstützung. Keine Unterstützung für den Arbeitskampf kam hingegen von den großen Gewerkschaftszentralen in Italien. Ob sich dies nach dem Tod von Abd Elsalam ändert, muss sich zeigen. Am 18. September erklärte der Sekretär der größten italienischen Metallarbeitergewerkschaft FIOM-CGIL, Maurizio Landini: „Mit der Auftragsvergabe an Subunternehmer und Kürzungen bei der Vorbeugung befindet sich die Arbeitssicherheit in einer dramatischen Lage. Man muss die verfehlten Gesetze korrigieren.“ Die CGIL fordert ein neues Statut für die Rechte der Werktätigen und ein Referendum gegen den Jobs Act (kann man das erläutern?). Für den 21. September hatte auch die FIOM-CGIL zu Streiks und Betriebsversammlungen aufgerufen.
Kaum Unterstützung aus Deutschland
Obwohl einige der in Norditalien bestreikten Logistikunternehmen wie IKEA und DHM auch Filialen in deutschen Städten haben, ist es bislang in Deutschland nicht gelungen, eine Solidaritätsstruktur zur Unterstützung der Streikenden in Italien aufzubauen. Nachdem die Auseinandersetzungen in Norditalien durch den Film „Die Angst wegschmeißen“ bekannter wurden, gab es im Sommer 2015 auch Versuche, mit Aktionstagen die Solidarität mit den Streikenden auszuweiten. Das Konzept sah vor, parallel zum Arbeitskampf in Italien auch vor den Filialen in Deutschland die Forderungen der Belegschaft zu unterstützen. In Berlin, Hamburg und dem Ruhrgebiet gab es kleinere Aktionen wie z.B. unangemeldete Kundgebungen, und an IKEA-KundInnen wurden Flugblätter mit Informationen zu den Hintergründen der Streiks in italienischen Logistikunternehmen, die für IKEA arbeiten, verteilt. Doch es gelang nicht, die Solidaritätsaktionen kontinuierlich fortzusetzen oder gar auszuweiten. So wurde der Tod von Abd Elsalam Ahmed Eldanf in Deutschland kaum registriert. Lediglich in den Tageszeitungen Neues Deutschland und junge welt sowie in der Monatszeitung analyse und kritik (ak) gab es Artikel bzw. ein Interview dazu. Auch die außerparlamentarische Linke, die 2001 beim Tod des Globalisierungskritikers Carlo Giuliani noch in vielen Städten Aktionen organisierte, ignorierte den Tod des Streikpostens. Dieses Schweigen ist ein Zeichen, wie schlecht es um eine europaweite gewerkschaftliche Solidarität bestellt ist.
http://www.labournet.de/express/

Peter Nowak

Radeln gegen Rüstung

RALLYE Antimilitaristisches Bündnis ruft Montagabend zu Protest gegen Sicherheitskonferenz auf

Nach Lösungen für „Europa in Gefahr“ suchen am kommenden Montag VertreterInnen der Politik, Nato und Rüstungsindustrie. Organisiert von der Zeitschrift Behördenspiegel treffen sie sich bei der „Berliner Sicherheitskonferenz“ (BSC) im Hotel Andel’s in der Landsberger Allee 106. Am Montagabend organisiert das antimilitaristische   Mit einer sechs Kilometer langen Fahrradtour wollen die
AntimilitaristInnen Orte im Berliner Regierungsviertel aufsuchen, die mit Aufrüstung in Verbindung stehen sollen. Die Tour beginnt am Bundeswehr-Showroom gegenüber dem SBahnhof Friedrichstraße, gefolgt vom Bundesverteidigungsministerium und der Berliner
Dependance der Europäischen Kommission. Beendet wird die Tour mit einer Kundgebung vor der französischen Botschaft am Pariser Platz. Dort treffen sich die TeilnehmerInnen der BSC ab 19 Uhr zu einem Empfang und werden so mit den Protesten konfrontiert. Mehrere Jahre tagte die BSC ohne öffentliche Wahrnehmung. „Die Konferenz hat auf Öffentlichkeitsarbeit weitgehend verzichtet und war daher lange nicht bekannt“, erklärte Martina Roth vom No-War-Bündnis der taz. Sie verweist auf die zahlreichen SponsorInnen aus der Rüstungsindustrie. Dazu gehört der Kampfflugzeughersteller Lockheed Martin aus den USA ebenso wie der europäische Konzern Airbus Defence and Space, der die Bundeswehr mit Elektronik und IT-Systemen beliefert.

aus Taz vom MONTAG, 28. NOVEMBER 2016

Peter Nowak

Die permanente digitale Selbstüberwachung

Simon Schaupp entlarvt, warum wir selbst schuld sind an der Stärke des neoliberalen Systems

Gleich im ersten Kapitel beschreibt der Soziologe Simon Schaupp, wie er gegen seinen Willen zum Self-Tracker wurde. Er hatte mit seinem neuen Smartphone an einer Demonstration teilgenommen und das neue Gerät meldet sich mit der Botschaft: »Glückwünsch Simon, Sie haben heute mehr als 1000 Schritte gemacht. Versuchen Sie doch morgen 1500.« Die vorinstallierte App hatte nicht nur die Demonstrationsschritte und die Route, sondern auch die Laufgeschwindigkeit und den Kalorienverbrauch während der Demonstration aufgezeichnet.

Während Schaupp unbeabsichtigt ein detailliertes Bewegungsprotokoll aufzeichnen ließ, wächst weltweit die Zahl der Menschen, die täglich ganz freiwillig ihr gesamtes Leben – von der Arbeit über das Joggen bis zum Schlaf – minutiös dokumentieren, sich überwachen lassen und die Daten dann auch noch über soziale Netzwerke in alle Welt verbreiten.

Der kritische Autor stellte sich die Frage nach den gesellschaftlichen Ursachen dieses Phänomens: »Welche politischen und ökonomischen Strukturen machen es notwendig, sich permanent selbst zu überwachen und zu optimieren?« Schaupp warnt eindringlich, dass Self-Tracking aktuell eine enorme Rolle bei der Selbstzurichtung und Konditionierung des Subjekts für die Zumutungen des Kapitalismus spielt. Gerade diese schon alltägliche und massenhaft verbreitete Praxis bewirkt und sichert, dass der Neoliberalismus so stark ist wie nie zuvor und selbst die Krisen der vergangenen Jahre scheinbar schadlos überstanden hat.

»Im Self-Tracking verschmelzen Polizei und Verdächtiger zu einer Person zusammen, die sich selbst mit allen zur Verfügung stehenden technischen Mitteln ausspioniert. Jeder versäumte Jogginggrund, jede überzählige Kalorie, jede verträumte Minute Arbeitszeit wird registriert und angemahnt, um nicht vor sich selbst in den Verdacht zu geraten, das Kapitalverbrechen der Leistungsgesellschaft zu begehen: Nicht das Maximum aus sich herauszuholen«, fasst Schaupp die ökonomischen Zusammenhänge prägnant zusammen.

Der Wissenschaftler zeigt anhand der Werbung für die unterschiedlichen Self-Tracking-Methoden, wie die letztlich fatale Selbstkonditionierung funktioniert. Es ist bezeichnend, dass mit Bergsteigern und Soldaten zwei Gruppen, die immer wieder auch Tote und Schwerverletzte zu verzeichnen haben, Vorbilder für das Self-Tracking sind.

Die Botschaft ist klar: Schonung von Gesundheit und Leben ist im Ellenbogen-Kapitalismus der »Leistungsträger« nur etwas für Loser, Schwächlinge und Versager. Self-Tracking hat laut dem Verfasser auch schon längst Einzug in die Politik gehalten und wird von dieser explizit gewünscht. So hat das britische Gesundheitsministerium Ärzte aufgefordert, ihren Patienten Self-Tracking-Anwendungen zu verschreiben, »damit diese in die Lage versetzt werden, ihre Gesundheit effektiver zu überwachen und so mehr Verantwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen«. Krankenkassen belohnen eifrige Self-Tracker mit Prämien. Wer nicht mitmacht, zahlt höhere Beiträge. Auch die Europäische Kommission setzt große Hoffnungen darauf, mit Self-Tracking immense Einsparungen im europäischen Gesundheitsbudget zu erzielen.

Im letzten Kapitel stellt sich Schaupp die Frage, ob in einer nicht von der Kapitalverwertung bestimmten Gesellschaft die zuvor von ihm beklagten Methoden in emanzipatorischem Sinne verwendet werden könnten. Er gibt darauf keine Antwort. Sie zu finden, überlässt er den Lesern. Nach der Lektüre des Buches drängt sich jedoch noch eine andere Frage auf, die Schaupp nicht stellt: Ist es nicht höchste Zeit, dass sich die Menschen offensiver den Self-Tracking-Methoden verweigern, dem Markt und dem Staat definitiv erklären, sich nicht mehr ständig weiter optimieren zu wollen, nicht mehr immer neue Rekorde und Höchstwerte aus sich herausholen zu lassen?

Simon Schaupp: Digitale Selbstüberwachung. Self-Tracking im kybernetischen Kapitalismus. Verlag Graswurzelrevolution. 160 S., br., 14,90 €.

Peter Nowak

Im eigenen Buch lesen ist verboten

Ein Ratgeber von aktiven Gefängnisinsassen wird Häftlingen verwehrt.

Moussa Schmitz ist auch hinter Gittern ein umtriebiger Mensch. Immer wieder meldet sich der in der JVA Wuppertal inhaftierte Mann mit kritischen Artikeln zur rechtlichen und sozialen Situation in den Gefängnissen zu Wort. Er ist auch einer der Autoren des im April 2016 im Verlag Assoziation A erschienenen Ratgebers »Wege durch den Knast«. Doch das Buch hat Schmitz nie erhalten. Die Gefängnisleitung verweigerte die Weiterleitung mit Verweis auf die Anstaltsordnung. Das ist allerdings kein Einzelfall. Der von einem Team aus ehemaligen und aktuellen Gefangenen, Juristen und linken Solidaritätsgruppen erstellte 600-seitige Leitfaden erreicht seine Adressaten, die Häftlinge, oft nicht.

In letzter Zeit scheinen manche Gefängnisleitungen den Ratgeber als Störung des Knastalltags zu begreifen und reagieren mit Sanktionen. »In allen bayerischen Gefängnissen wird das Buch nicht weitergeleitet. Die JVA Straubing hat den Anfang gemacht, Aichach hat mit einer schriftlichen Verfügung nachgezogen. Danach gefährdet der Ratgeber die Sicherheit und Ordnung, sei deshalb vollzugsfeindlich und aufwieglerisch«, erklärt Janko L. vom Herausgeberkollektiv gegenüber »nd«. Mittlerweile scheinen sich auch Gefängnisse in anderen Bundesländern diesem harten Kurs anzuschließen. In den letzten Wochen haben die Justizvollzugsanstalten Darmstadt, Werl und Butzbach den Ratgeber nicht an die den Häftlinge weitergeleitet. Auch eine Stellungnahme der Herausgeber zu dem Verbot sowie ein Auszug aus dem Buch, in dem juristische Wege aufgelistet sind, wie man sich gegen solche Sanktionen wehren kann, wurden von den Insassen ferngehalten.

Die Sanktionen treffen einen Ratgeber, der an keiner Stelle polemisch ist. Die Beiträge sind in sachlichem Ton gehalten. Sie sollen den Gefangenen helfen, sich im Knast zurechtzufinden und sie dazu ermutigen, ihre Rechte auch hinter Gittern wahrzunehmen.

»›Wege durch den Knast‹ ist ein umfassendes Standardwerk für Betroffene, Angehörige und Interessierte. Es vermittelt tiefe Einblicke in die Unbill des Knastalltags, informiert über die Rechte von Inhaftierten und zeigt Möglichkeiten auf, wie diese auch durchgesetzt werden können«, annonciert der Verlag Assoziation A den Leitfaden. In einzelnen Kapiteln werden rechtliche Fragen aufgeworfen sowie praktische Tipps für den Alltag gegeben, zu denen Weiterbildungsmöglichkeiten sowie Anregungen für Sport- und Gesundheitsprogramme hinter Gittern gehören. Das Buch ist eine überarbeitete Fassung eines bereits in den in 1990er Jahren erschienenen Knastleitfadens. Der wiederum hat auch einen Vorläufer: die 1980 erschienene Loseblattsammlung unter dem Titel »Ratgeber für Gefangene mit medizinischen und juristischen Hinweisen«.

Reiner Wendling vom Verlag Assoziation A weist im Gespräch mit dem »nd« auf die Willkür der Sanktionsmaßnahmen hin. »Während der Ratgeber in einigen Gefängnissen Eingang in die Bibliotheken gefunden hat, dürfen in anderen Knästen die Gefangenen nicht einmal Auszüge daraus erhalten.« Doch den Weg vor Gericht hält Wendling nach Rücksprache mit Juristen für zu riskant. Dann könnte der kleinen Willkür der Gefängnisleitungen auch die große Willkür folgen, wenn die Gerichte die Sanktionen für rechtmäßig erklärten. Der Ratgeber würde dann unter Umständen auch den Häftlingen vorenthalten, die ihn heute noch problemlos bestellen können.

ttps://www.neues-deutschland.de/artikel/1032202.im-eigenen-buch-lesen-ist-verboten.html

Von Peter Nowak

Justizminister ignorieren Rentenforderung

JVA Verbände und Gewerkschaften fordern Rentenanspruch und Mindestlohn für Strafgefangene

Mehmet Aykol arbeitet seit über 20 Jahren in einer Druckerei. Dennoch droht ihm Altersarmut, weil er später auf Grundsicherung angewiesen sein wird. Er gehört zu den rund 64.000 Strafgefangenen in Deutschland, die trotz regelmäßiger
Arbeit keine Rentenansprüche haben. „Das widerspricht dem erklärten Ziel des Strafvollzugs, straffällig gewordene Menschen
dabei zu unterstützen, den Weg zurück in die Gesellschaft zu finden“, sagt Michael Löher vom Vorstand des Deutschen Vereins
für öffentliche und privatFürsorge e. V. Er fordert wie andere sozialpolitische Organisationen, dass Strafgefangene einen
Anspruch auf eine Rente haben sollten. Löher & Co. richten ihre Forderung an die Konferenz der Justizminister der Länder, die am 17. November in Berlin tagt. Warum die Rente im Knast erneut nicht auf der Tagesordnung steht, kann die Behörde auf Anfrage der taz nicht erklären. Fakt ist: Das Thema wird wie so oft in den letzten Jahrzehnten vertagt. Schließlich sah das Strafvollzugsgesetz von 1977 bereitsdie Einbeziehung der Gefangenen in die Rentenversicherung vor. Sie wurde bis heute nicht
umgesetzt, weil sich Bund und Länder über die Finanzierung nicht einigen konnten. „Arbeitende Gefangene werden nicht nur gegenüber ihren KollegInnen draußen diskriminiert, sondern auch gegenüber den Strafgefangenen, die als FreigängerInnen außerhalb der Gefängnisse arbeiten und in die Rentenversicherung einbezogen sind“, betont die Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe, Gabriele Sauermann. Ganze Familien würden durch den Ausschluss aus der Rentenversicherung stark belastet. Der Sprecher der 2014 gegründeten Gefangenengewerkschaft/ bundesweite Organisation (GG/BO) betont, dass neben der Rente auch die Zahlung von Mindestlohn nötig ist. Die Bundesländer sehen in der Knastarbeit
kein Arbeitsverhältnis, deshalb erhalten Gefangene auch keinen Lohn, sondern „Entgelt“. In der Berliner JVA Tegel etwa
bekommt ein Gefangener zwischen 8 und 15 Euro pro Tag. Das ist ein Stundenlohn weit unter 2 Euro. „Wo aktuell so viel von Altersarmut die Rede ist, können die Strafgefangenen nicht einfach aus der Diskussion ausgespart werden“, kritisiert Löher. Er
benennt ein klares Ziel der Initiative: „Nach den nächsten Bundestagswahlen muss die Rente hinter Gittern Teil der Koalitionsvereinbarungen werden“.

Inland TAZ.DIE TAGESZEITUNGDIENSTAG, 15. NOVEMBER 2016
PETER NOWAK

Ein Streik hinter Gittern wäre Meuterei

Mehmet Aykol arbeitet seit über 20 Jahren in einer Druckerei. Doch im Rentenalter droht ihm Armut, er wird auf Grundsicherung angewiesen sein. Aykol gehört zu den etwa 64 000 Strafgefangenen in Deutschland, die trotz regelmäßiger Arbeit keine Rentenansprüche haben. »Das widerspricht dem erklärten Ziel des Strafvollzugs, straffällig gewordene Menschen dabei zu unterstützen, den Weg zurück in die Gesellschaft zu finden«, erklärte Michael Löher vom Vorstand des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge. Gemeinsam mit weiteren sozialpolitischen Organisationen hat er am Mittwoch auf einer Pressekonferenz die Einbeziehung der Strafgefangenen in die Rentenversicherung gefordert.

Bereits in den früheren 1970er Jahren diskutierten Juristen und Kriminologen die soziale Gleichstellung der Beschäftigten hinter Gittern. Das Strafvollzugsgesetz von 1977 sah die Einbeziehung der Gefangenen in die Rentenversicherung vor. Sie wurde nicht umgesetzt, weil sich Bund und Länder nicht über die Finanzierung einigen konnten. Für Martin Singe vom Komitee für Grundrechte und Demokratie geht es dabei um eine massive Verletzung der Grundrechte. Ähnlich argumentiert die Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe, Gabriele Sauermann: »Arbeitende Gefangene werden nicht nur gegenüber ihren Kollegen draußen diskriminiert sondern auch gegenüber den Strafgefangenen, die als Freigänger außerhalb der Gefängnisse arbeiten und in die Rentenversicherung einbezogen sind.« Aus vielen Kontakten mit den Gefangenen weiß sie, wie stark der Ausschluss aus der Rentenversicherung die Menschen belastet.

Die 2014 gegründete Gefangenengewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO) erfährt unter anderem wegen ihres Eintretens für die Rente arbeitender Gefangener viel Zustimmung. GG/BO-Sprecher Falk Pyrczek betont allerdings auch, dass nur die Zahlung von Mindestlohn für die Knastarbeit gewähreistet, dass die Gefangenen von ihrer Rente leben können.

Noch eine weitere Forderung der GG/BO ist für den Kampf um die Rente hinter Gittern wichtig: Die Gewährleistung von vollen gewerkschaftlichen Rechten im Gefängnis. »Wenn aktuell Gefangene für die Einbeziehung in die Rentenversicherung in einen Streik treten würden, könnten und müssten sie wegen Meuterei mit empfindlichen Strafen rechnen«, erklärt Pyrczek. So werde das Gefängnis zu einem Billiglohnland im Inneren der Bundesrepublik, das auch Arbeitskräfte an die Automobilbranche verleiht. Als hoffnungsvolles Zeichen wertet der Gefangenengewerkschafter, dass der LINKE-Bundesvorstand die Forderungen der GG/BO unterstützt. Pyrczek hofft, dass das Bundesland Thüringen mit dem LINKE-Ministerpräsidenten Bodo Ramelow im Bundesrat die Initiative für die Rechte der Gefangenen ergreift.

Bei der Herbstkonferenz der Bundesjustizminister am 17. November in Berlin steht das Thema Rente für arbeitende Gefangene wieder einmal nicht auf der Tagesordnung. Michael Löher vom Vorstand des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge erwartet in dieser Legislaturperiode keine Ergebnisse mehr. Jetzt müsse dafür gesorgt werden, dass die Forderung nach Einbeziehung der Gefangenen in die Rentenversicherung in die Koalitionsverhandlungen nach den nächsten Bundestagswahlen Eingang findet.

Peter Nowak

Kundgebung für revolutionären Gemischtladen

Betreiber kämpft, um Räumung zu verhindern / Stadtteilinitiative organisiert Lichterumzug gegen Verdrängung

Nicht nur in Köln meldeten sich am 11. 11. um 11.11 Uhr die Jecken zu Wort. Auch in der der Kreuzberger Manteuffelstraße 99 hatte der Betreiber des dortigen »Gemischtwarenladens mit Revolutionsbedarf« zu einer Kundgebung mit närrischen Karnevalsreden eingeladen. Seit über einem Jahr kämpft Hans Georg Lindenau unterstützt von Stadtteilinitiativen gegen seine Räumung.

Thematisiert werden sollte am Freitagvormittag die nach Ansicht von Hans Georg Lindenau »verrückte Rechtssprechung«, mit der in der letzten Zeit Räumungen von Mietern legitimiert werden. So hätten die Richter des Berliner Landgerichts in ihrem Räumungsurteil bestritten, das Lindenau in seiner Ladenwohnung im Parterre des Hauses lebt. »Dabei bekomme ich seit Jahren regelmäßig die Post und auch die Wahlbenachrichtigungen an diese Adresse«, erklärt Lindenau.

Als weiteres Beispiel für eine »verrückte« Rechtssprechung führt der querschnittgelähmte Mann auf, dass das Gericht in dem Urteil bestritten hat, dass er auf einen Rollstuhl angewiesen sei. Bisher ist die Räumung seines Geschäfts ausgesetzt, zumindest bis mit einem psychiatrischen Gutachten die Folgen eines Verlustes seiner Ladenwohnung für seine psychische Gesundheit geklärt wurde. Lindenau machte auf der Kundgebung noch einmal deutlich, dass er bei einer Räumung sein Lebens- und Arbeitsumfeld verlieren würde.

Neben den Gerichtsbeschlüssen thematisierte Lindenau weitere »verrückte« Tatsachen. So habe der Hauseigentümer in der Manteuffelstraße mehrere Ferienwohnungen eingerichtet, obwohl doch eine Verordnung diese Umwandlung von Mietwohnungen verhindern soll.

Doch der Kreuzberger Aktivist kämpft nicht nur gegen seine drohende Vertreibung. In Beiträgen wurde an den Nachbarschaftsladen in der Neuköllner Friedelstraße 54 erinnert, der bis März 2017 einen Räumungsaufschub bekommen hat. Bei einer Performance, bei der Lindenau einen Polizeihelm trug und jeden Satz mit einem Helau beendete, war die Teilnehmerzahl allerdings wohl wegen des winterlichen Wetters begrenzt. Die Mobilisierung gegen Lindenaus drohende Zwangsräumung sollte am Freitagabend weiter besprochen werden. Nach Redaktionsschluss dieser Seite hatte die Kreuzberger Nachbarschaftsinitiative Bizim Kiez zum Lichterumzug gegen Baufilz aufgerufen. Neben dem Verdrängungsdruck sollte dort auch die Bebauungspläne der Curvrybrache am Spreeufer thematisiert werden. Mietwohnungen zu bezahlbaren Preisen sind dort nicht vorgesehen.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1031880.kundgebung-fuer-revolutionaeren-gemischtladen.html

Wenn deutsche Geopolitik mit Menschenrechtspolitik verwechselt wird

Warum besuchen die Bundesabgeordneten nicht Grup Yorum statt einen Bundeswehrstandort, wenn sie sich für die Menschenrechte in der Türkei einsetzen wollen?

Spätestens seit der Repression gegen die liberale Presse in der Türkei ist die Kritik an der Menschenrechtspolitik der Erdogan-Regierung wieder unüberhörbar. Der Streit, wie sich die deutsch-türkische Kooperation gestalten soll, wird wieder lauter.

Oppositionspolitiker und Medien monieren, dass die Erdogan-Regierung schon viele rote Linien überschritten habe, und rufen dazu auf, die Beziehungen mit ihr zu überdenken. So fragt die Badische Zeitung in einen Kommentar nach einer roten Linie:

Wie sollen die Partner und Verbündeten der Türkei damit umgehen? Erdogan testet offenbar aus, wie weit er gehen kann. Er weiß: Die EU braucht ihn in der Flüchtlingskrise. Das stimmt. Aber es darf kein Freibrief für den Staatschef sein, der immer mehr zum Despoten mutiert. Die Europäer müssen Erdogan genauer auf die Finger sehen. Deutsche Abgeordnete sollten nicht nur die Bundeswehrsoldaten in Incirlik besuchen, sondern sich auch für die Zustände in türkischen Gefängnissen, das Schicksal verhafteter Journalisten und Foltervorwürfe interessieren.

Badische Zeitung[1]

Die Zeitung spricht im letzten Satz tatsächlich ein reales Problem an. Politiker aller Parteien, einschließlich der doch vorgeblich bundeswehrkritischen Linken[2], melden sich in den letzten Wochen zum Besuch auf dem Bundeswehrstützpunkt Incirlik an und beschweren sich, wenn der Besuch von der türkischen Regierung verweigert oder verzögert wird. So können sich die Politiker der unterschiedlichen politischen Parteien auch noch ein wenig als Opfer des Erdogan-Regime gerieren. Doch was hat der Truppenbesuch eigentlich mit der türkischen Menschenrechtspolitik zu tun?

Dass deutsche Abgeordnete überall dort selbstverständlich Einlass begehren, wo die die Bundeswehr ihr Camp aufgeschlagen hat, hat etwas mit deutschen Geopolitik sowie der Nato-Strategie zu tun. Es gibt seit Jahren Kritik an der Rolle der Bundeswehr in Incirlik sowohl in Deutschland[3] als auch in der Türkei. Vor allem dort ist die Kritik meist antimilitaristisch motiviert. Die Nato und die Bundeswehr verweisen[4] darauf, dass Incirlik eine wichtige Rolle beim Kampf gegen den IS spielt. Antimilitaristische Gruppen bezeichnen es hingegen als paradox, dass die Nato von dem Stützpunkt den IS bekämpft, während die türkische Regierung zumindest bis vor wenigen Monaten den IS unterstützte und noch heute andere Islamisten deckt.

Tatsächlich gäbe es für Bundeswehrbesuche von Abgeordneten, die sich mit Opfern der Repression des Erdogan-Regimes solidarisieren wollen, aktuell viele Orte, die sie besuchen können. Incirlik gehört nicht dazu.

Da wäre ein Istanbuler Kulturzentrum zu nennen, das am 21. Oktober von der Polizei gestürmt wurde, weil dort die linke türkische Band Grup Yorum gespielt hat. Nachdem die Polizei abgezogen war, hinterließen sie ein verwüstetes Kulturzentrum und zerschlagene Musikinstrumente. In dem Video „Zerschlagene Instrumente[5] ist zu sehen, wie die Musiker von Grup Yorum mit den zerstörten Instrumenten die Melodie eines in der Türkei beliebten Kampf- und Freiheitsliedes einstimmen.

Der Besuch eines Politikers, dem es um die Menschenrechte in der Türkei geht, bei der Band und in dem Kulturzentrum, wäre schon deshalb sehr hilfreich, weil die Repression gegen die international bekannten linke Band in den hiesigen Medien nicht erwähnt wurde. Diese selektive Wahrnehmung von Menschenrechtsverletzungen ist nicht verwunderlich. Schließlich verstehen sich die Musiker als Teil einer linken Bewegung, die in der Türkei seit Jahren die Schließung des Nato-Stützpunktes Incirlik fordert. Deswegen muss Grup Yorum auch in Deutschland mit Repressalien und rigiden Auflagen rechnen. Das letzte Beispiel war ein Konzert der Band in Fulda Anfang Juli[7]. So durften nach den Auflagen der Stadt[8] weder T-Shirts noch DVDs der Band verkauft oder durch Spenden weitergegeben werden. Auch eine Gage durfte der Band nicht gezahlt werden.Der Politiker der GrünenAnton Hofreiter[9], der wenige Stunden vor dem Auftritt der Band beim gleichen Fest eine Rede[10] gehalten hatte, ließ eine Pressenachfrage unbeantwortet, ob er von den Auflagen gegen die Grup Yorum Protest eingelegt hat. Da muss es nicht verwundern, wenn da auch kein Bundestagsabgeordneter in der Türkei die Band besucht, wenn ihre Konzerte gestürmt und ihre Instrumente von der Polizei zerschlagen werden. Sie besuchen lieber alle „unsere Truppe“ in der Türkei und verwechseln deutsche Geopolitik mit dem Kampf für die Menschenrechte in der Türkei.


URL dieses Artikels:
http://www.heise.de/-3455973

Peter Nowak

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.badische-zeitung.de/kommentare-1/leitartikel-nahe-an-der-roten-linie–129312038.html
[2] http://www.zeit.de/news/2016-09/21/deutschland-auch-linken-politiker-neu-reist-mit-bundestags-ausschuss-nach-incirlik-21120802
[3] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/bundeswehr-in-incirlik-omnid-nouripour-warnt-vor-eskalation-a-1103057.html
[4] http://www.einsatz.bundeswehr.de/portal/a/einsatzbw/!ut/p/c4/LYvBCoMwEET_KGtoIdSbwUuvvVR7kdUssjQmkq4VpB_fBJyBgZnHwAuyA355RuEY0EMH_cT1uKtxdzQQhw_KkSu-ZSPvz4nkIHiWsyM1xUBSUigI55wTSkxqjUl8IVtKmSh20Fe6tdpcq1P61xhjb53Wl_ZuH7AuS_MHlSnIzQ!!/
[5] http://weltnetz.tv/video/954-zerschlagene-instrumente
[6] https://www.facebook.com/grupyorum1985/posts/1145213442229550
[7] http://osthessen-news.de/n11535006/riebold-nennt-buergermeister-wehner-der-verlaengerte-arm-erdogans.html
[8] http://fuldawiki.de/fd/index.php?title=Stadtverordnetenversammlung_Juli_2016#Aktuelle_Stunde:_Auflagen_zu_Grup_Yorum_.28T.C3.BCrkische_Musikgruppe.29
[9] http://toni-hofreiter.de/
[10] https://www.gruene-fulda.de/verschiedenes/

Klau-und-Schmuggel-Wirtschaft in der JVA Tegel

Die größte bundesdeutsche Haftanstalt in Berlin-Tegel liefert Stoff für einen handfesten Justizskandal: Materialien und Waren aus der Knastarbeit werden von JVA-Bediensteten für den Eigenbedarf oder den Weiterverkauf entwendet.

Ein Bericht im ZDF-Magazin «Frontal21» vom 13.9.16 mchte es publik: Im großen Stil werden seit Jahren Produkte, die arbeitende Gefangene unter den Bedingungen von Sozial- und Lohndumping erzeugen, von JVA-Bediensteten über den anstaltseigenen Fahrdienst oder den sogenannten Knast-Shop für den Eigenbedarf oder den Weiterverkauf und ohne Lieferschein und Rechnung aus der JVA geschafft. Die menschliche Arbeitskraft der Inhaftierten wird damit nicht nur zum Billig-, sondern zum Nulltarif abgegriffen. Das beförderten Informationen engagierter Inhaftierter und der Gefangenen-Gewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO) ans Tageslicht.

«Tegeler Tauschring» nennt sich der Dreh. Was aus der JVA Tegel an Informationen über das Ausmaß und den Netzwerk-Charakter diese «Tauschrings» nach außen dringt, zeigt: Die von der Berliner Senatsverwaltung (SVW) für Justiz vertretene «Einzelfall-These» ist pure Augenwischerei. Mindestens (!) 20–30 JVA-Bedienstete sind Teil dieses «Tegeler Tauschrings», sie sind überwiegend namentlich bekannt.

Bereits im Januar dieses Jahres hat der Hauptbelastungszeuge Timo F. die «irregulären Vorgänge» in der JVA Tegel gegenüber der Anstaltsleitung offen gemacht. Anscheinend haben diese und die zuständige Senatsverwaltung die brisanten Informationen nicht nur zurückgehalten, sondern wissentlich vertuscht.

Timo F. legt in seinen Aussagen, die dem Landeskriminalamt Berlin seit Mitte Juli des Jahres vorliegen, u.a. dar, welche Fabrikationen in dem schwungvollen und lukrativen Handel besonders begehrt waren: «Der Umfang der Selbstbedienung ist ziemlich erheblich – sicher 50 Grills, unzählige Schlosserei-Maßanfertigungen (Liegen, Stühle, Vitrinen, Deko-Objekte etc.), mindestens 50 Paletten Steine (Waschbetonplatten, Betonkamine, Ziersteine, Säulen etc.), mindestens 100 Möbel und 200 Produkte aus der Polsterei wurden pro Jahr von den Beamten gezockt; der Schaden liegt meines Erachtens im mittleren sechsstelligen Bereich.»
Konsequenzen
Die neue Berliner Koalition wird sich mit den Vorgängen der organisierten Tegeler «Klau-und-Schmuggel-Wirtschaft» befassen müssen. Vor diesem Hintergrund ist es nur folgerichtig, zeitnah einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss einzuberufen, der u.a. die Mitwisserschaft der Senatsverwaltung für Justiz unter dem Noch-Senator Heilmann (CDU) aufklären muss.

Die Beauftragung einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft ist gleichfalls angezeigt. Das Verhältnis zwischen Materialeinsatz und Warenproduktion in der JVA Tegel dürfte eine enorme Diskrepanz aufweisen. Zudem scheint die JVA Tegel über kein Warenwirtschaftssystem zu verfügen, ein Umstand, der den anstaltsinternen «Schankverlust» erleichtert haben dürfte.

Die Vorfälle in der JVA Tegel sind kein Einzelfall. Korruption ist strukturell im Wesen des Gefängnisses angelegt. Es darf davon ausgegangen werden, dass es – graduell verschieden – faktisch in allen Haftanstalten der Bundesrepublik eine «Klau-und-Schmuggel-Wirtschaft» seitens Bediensteter gibt.

Die Zustände in den Gefängnissen sind auch auf die sozial- und arbeitsrechtliche Diskriminierung der Inhaftierten zurückzuführen: Arbeitszwang, kein Mindestlohn, keine Rentenversicherung, keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, kein Kündigungsschutz und nicht zuletzt ein knastspezifisches Union Busting. Gewerkschaftliche Selbstorganisierung schafft eine wichtige Voraussetzung, damit Inhaftierte im Bündnis mit (Basis-)Gewerkschaften und fortschrittlichen parlamentarischen Vertretern die soziale Frage hinter Gittern wirkungsvoller stellen können. Und Antworten finden…
Bestraft wird der Bote
Die JVA Tegel hat gegen die Gefangenen Timo F. und Benjamin L., die Videos über die Schmuggel- und Klauwirtschaft in der JVA Tegel veröffentlicht hatten, eine Disziplinarstrafe verhängt, weil sie für die Aufnahmen offensichtlich ein Handy benutzt haben. Sie müssen länger in ihren Zellen bleiben und haben Fernsehverbot. Am Donnerstag, den 13.Oktober, bezeichneten die Rechtsanwälte der beiden Gefangenen auf einer Pressekonferenz in Berlin die Maßnahme als Einschüchterung von zwei Whistleblowern, die Missstände hinter Gittern offenlegen.

«Mein Mandant galt in der JVA Tegel als ein Beispiel für eine gelungene Resozialisierung. Nachdem er die Schmuggelwirtschaft in der JVA Tegel aufgedeckt hat, ist seine Prognose für die Zukunft plötzlich negativ», moniert der Anwalt von Benjamin L., Jan Oelbermann. Das könne für seinen Mandanten bedeuten, dass er seine Strafe vollständig verbüßen muss, statt vorzeitig entlassen zu werden. Rechtsanwalt Carsten Hoenig kritisiert nicht nur die Gefängnisleitung, sondern auch das LKA. Sein Mandant Timo F. habe seit Januar 2016 der Verwaltung Informationen über die Existenz des Schmuggelnetzwerks übermittelt. Der damalige Vertrauensanwalt des Landes Berlin, Christoph Partsch, sei ebenso eingeschaltet worden wie das Landeskriminalamt. Im Mai 2016 habe er dem LKA eine Liste mit detaillierten Angaben zu den Vorwürfen im Auftrag seines Mandanten übermittelt. Der sei nun ständig Drohungen von Mitgefangenen ausgesetzt, die an dem Schmuggelnetzwerk beteiligt waren. Trotzdem hat er bisher erfolglos die Verlegung seines Mandanten in ein anderes Gefängnis gefordert.

Knast als Selbstbedienungsladen

von Peter Nowak/Oliver Rast

Chelsea Manning braucht unsere Solidarität

Nach dem Selbstmordversuch  der Whistleblowerin Chelsea Manning gibt es Internationale Kampagne für ihre Freilassung. Dabei sollte sie aber nicht als Opfer sondern als politische Aktivistin wahrgenommen werden

In den letzten Monaten war es um die US-Whistleblowerin Chelsea Manning ruhig geworden.  Die IT-Spezialistin war  wegen Spionage und Verrat von Militärgeheimnissen   zu einer Haftstrafe von 25 Jahren verurteilt worden, weil  sie Dokumente und Videos an die Plattform Wikileaks geschickt, die Kriegsverbrechen  von US-Militärs während  ihres Engagements im Irak  dokumentieren.   Doch seit einigen Wochen wächst weltweit die Angst um das Leben der Whistleblowerin, die als  Transgender ihre Haftstrafe in dem   Militärgefängnis für Männer  Fort Leavenworth  verbüßen muss. Dort verübte Manning in den Morgenstunden des 6.Juli einen Suizidversuch.  Entsprechende Gerüchte wurden von Mannings Anwälten mittlerweile bestätigt. „ Ich bin okay. Ich bin froh, am Leben zu sein. Vielen Dank für Eure Liebe. Ich komme da durch“,  ließ Manning über Twitter ihren Unterstützer_innen mitteilen.  Doch nach ihren Suizidversuch ist die Whistleblowerin mit neuer Repression konfrontiert. So verhängte der Disziplinarausschuss von Fort Leavenworth  Ende September gegen   Manning eine  14 tägige Isolationshaft als Disziplinarstrafe. Sieben Tage wurden auf Bewährung ausgesetzt und sollen  vollstreckt werden, wenn sie sich weiter nicht so verhält, wie es die Gefängnisleitung verlangt. Manning werden im Zusammenhang mit ihrem Suizidversuch  bedrohliches Verhalten,   der Besitz verbotener Gegenstände und der Widerstand gegen Gefängnispersonal vorgeworfen. Kommt es zu einer Verurteilung, befürchtet die  US-Menschenrechtsorganisation (ACLU)  die unbefristete Einzelhaft, die Wiedereinstufung auf die höchste Sicherheitsstufe sowie neun zusätzliche Haftjahre ohne die Möglichkeit der Haftaussetzung.   Solidaritätsgruppen befürchten, dass solche Restriktionen das Leben der psychisch angeschlagenen Gefangenen gefährden könnten. Mit einer Petition wollen die Unterstützergruppen die Öffentlichkeit gegen die erschwerten Haftbedingungen von Manning aufmerksam zu machen. „Chelsea braucht unsere Solidarität“, lautet ihr Motto. Das  Interesse ist zumindest in Deutschland nach ihrer Verurteilung schnell  zurück gegangen. Der Wikipedia-Eintrag zu Manning wurde seit 2014 nicht mehr aktualisiert. Doch nach ihren Suizidversuch  hat der Chaos Computer Club (CCC), deren Ehrenmitglied Mannings ist, ihre Begnadigung  gefordert: „Die unmenschlichen Haftbedingungen haben Chelsea Manning an den Rand des Selbstmords getrieben. Als Strafe für ihren Versuch sollen diese nun noch verschärft werden;“ kritisiert de CCC die US-Behörden.   Mannings Haftbedingungen wurden  schon 2012 vom UN-Berichterstatter als Folter kritisiert.
Nicht auf Begnadigung durch Präsidenten verlassen
Der CCC forder wie andere Solidaritätsgruppen in aller Welt, dass der scheidende  US-Präsident   Barack Obama Manning begnadigt und so den grausamen Bedingungen ein Ende  bereitet.  „Das wäre endlich das langersehnte Zeichen für Whistleblower, auf das viele hoffen“, heißt es in der Erklärung.  Doch Solidaritätsgruppen in den USA warnen vor Illusionen in einen Gnadenakt von Obama. Sie verweisen darauf, dass es bisher  nicht gelungen ist, den nach einen juristisch äußert fragwürdigen Indizienpross, der von massiver politischer Hetze begleitet war, zu lebenslänglicher Haft verurteilten Aktivisten des American Indian Movement Leonard Peltier freizubekommen. Nachdem Peltier vor mehr als einem Jahrzehnt schwer erkrankte, konzentrierten sich die Hoffnungen vieler seiner Unterstützer_innen auf eine Begnadigung durch Präsident Clinton. Doch die ist ausgeblieben. Seitdem ist es trotz Peltiers kritischen Gesundheitszustand nicht  gelungen, die außerparlamentarische Kampagne für seine Freilassung wieder mit mehr Elan zu forcieren. Daher wollen sich viele Unterstützer_innen von Manning verstärkt darauf konzentrieren, die  Solidaritätsbewegung  für seine Freilassung sowohl in ihren eigenen Ländern als auch auf transnationaler  Ebene zu stärken.  Nur so könne  der nötige Druck erzeugt werden, damit zunächst  Mannings Haftbedingungen nicht noch weiter  verschärft werden und der Druck für seine Freilassung wächst, wird argumentiert.
Manning did the right thing
Dabei ist wichtig, Chelsea  Manning nicht in erster Linie als Opfer sondern als eine Aktivistin zu sehen, die durch die Veröffentlichung von  Dokumenten, geheim gehaltene Kriegsverbrechen der US-Armee  im Irak öffentlich  bekannt gemacht hat.  In Zeiten, in denen die Herrschenden aller Länder, auch in Deutschland Kriege wieder  in ihr politisches Kalkül einbeziehen, solle Manning  als Beispiel für einen Widerstand im Herzen der Kriegsmaschinerie gelten. Daher sollte neben ihrer Freilassung immer auch die Unterstützung für die Aktionen stehen, die sie in das Gefängnis brachten. Die Parole „Manning did the right thing“ sollte auf keiner Antikriegsaktion fehlen.

ak 620 vom 18.10.2016

https://www.akweb.de/
Peter Nowak

Kein Anruf ohne diese Nummer

Verwaltungsgericht entscheidet, dass Jobcenter keine Telefonlisten herausgeben müssen

Geklagt hatten vier Erwerbslose, darunter der Vorsitzende der Erwerbsloseninitiative Braunschweig, Sven F. Sie hatten sich auf das Informationsfreiheitsgesetz berufen. Das Gericht hatte in seiner Begründung angeführt, dass die Herausgabe der Nummern die Leistungsfähigkeit der Jobcenter gefährde. Das rechtfertige ausnahmsweise die Verweigerung der Nummern. Demnach hätten direkte Anrufe »nachteilige Auswirkungen auf die effiziente und zügige Aufgabenerfüllung der Jobcenter«. Das Urteil macht ein Zweiklassensystem bei Arbeitslosen deutlich: Anders als Langzeiterwerbslose stören Arbeitslosengeld-I-Bezieher anscheinend die Arbeit der Behörden nicht: Auf ihren Bescheiden findet sich die Rufnummer des Bearbeiters. Hartz-IV-Bezieher dagegen müssen bei einer Servicenummer anrufen und hoffen, dass ihr Anliegen weitergeleitet oder vom Callcenter-Mitarbeiter geklärt wird.

»Damit werden Erwerbslose, die eine Telefonnummer ihrer Fallmanager einfordern, zum Sicherheitsrisiko erklärt«, empört sich die Berliner Erwerbslosenaktivistin Marianne Felten. Es sei offensichtlich, dass mit viel »juristischer Verrenkung« versucht wurde, einen Grund zu finden, um Erwerbslosen die Nummern vorzuenthalten. »Einerseits verweigern die Jobcenter jede Transparenz, gleichzeitig müssen Erwerbslose alle Daten abgeben«, so Felten.

Auch beim Kläger stieß das Urteil auf Kritik: »Ohne die Herausgabe der Telefonnummern ist direkter Kontakt mit den Mitarbeitern nicht möglich. Die Servicenummern werden nun weiter zu einer Vielzahl von Missverständnissen führen, die nicht selten in unnötigen Klagen enden«.

Dirk Feiertag, einer der Klägeranwälte, bezeichnete das Urteil gegenüber »nd« als »frustrierend«. Derzeit betreue seine Kanzlei noch rund 100 ähnliche Klagen, die werde man nun alle zurückziehen müssen.

Der Kampf um transparente Telefonlisten währt lange. Der Erwerbslosenverein Tacheles hatte vor drei Jahren Listen veröffentlicht, sie nach Klagedrohungen aber entfernt. Auch die Berliner Piratenfraktion nahm veröffentlichte Nummern angesichts der Rechtslage wieder aus dem Netz.

Das Urteil wird die Diskussion nicht beenden, im Gegenteil: Die Initiative »Frag das Jobcenter« ruft dazu auf, Onlineanfragen an die Behörde zu starten und sie zur Veröffentlichung ihrer Transparenzregeln aufzufordern. »Nachdem der juristische Versuch gescheitert ist, muss der Druck auf die Jobcenter erhöht werden«, so ein Initiator. Die Richter hätten den Jobcentern nicht verboten, Daten zu veröffentlichen, sondern es ihrem Ermessen überlassen.

Geklagt hatten vier Erwerbslose, darunter der Vorsitzende der Erwerbsloseninitiative Braunschweig, Sven F. Sie hatten sich auf das Informationsfreiheitsgesetz berufen. Das Gericht hatte in seiner Begründung angeführt, dass die Herausgabe der Nummern die Leistungsfähigkeit der Jobcenter gefährde. Das rechtfertige ausnahmsweise die Verweigerung der Nummern. Demnach hätten direkte Anrufe »nachteilige Auswirkungen auf die effiziente und zügige Aufgabenerfüllung der Jobcenter«. Das Urteil macht ein Zweiklassensystem bei Arbeitslosen deutlich: Anders als Langzeiterwerbslose stören Arbeitslosengeld-I-Bezieher anscheinend die Arbeit der Behörden nicht: Auf ihren Bescheiden findet sich die Rufnummer des Bearbeiters. Hartz-IV-Bezieher dagegen müssen bei einer Servicenummer anrufen und hoffen, dass ihr Anliegen weitergeleitet oder vom Callcenter-Mitarbeiter geklärt wird.

»Damit werden Erwerbslose, die eine Telefonnummer ihrer Fallmanager einfordern, zum Sicherheitsrisiko erklärt«, empört sich die Berliner Erwerbslosenaktivistin Marianne Felten. Es sei offensichtlich, dass mit viel »juristischer Verrenkung« versucht wurde, einen Grund zu finden, um Erwerbslosen die Nummern vorzuenthalten. »Einerseits verweigern die Jobcenter jede Transparenz, gleichzeitig müssen Erwerbslose alle Daten abgeben«, so Felten.

Auch beim Kläger stieß das Urteil auf Kritik: »Ohne die Herausgabe der Telefonnummern ist direkter Kontakt mit den Mitarbeitern nicht möglich. Die Servicenummern werden nun weiter zu einer Vielzahl von Missverständnissen führen, die nicht selten in unnötigen Klagen enden«.

Dirk Feiertag, einer der Klägeranwälte, bezeichnete das Urteil gegenüber »nd« als »frustrierend«. Derzeit betreue seine Kanzlei noch rund 100 ähnliche Klagen, die werde man nun alle zurückziehen müssen.

Der Kampf um transparente Telefonlisten währt lange. Der Erwerbslosenverein Tacheles hatte vor drei Jahren Listen veröffentlicht, sie nach Klagedrohungen aber entfernt. Auch die Berliner Piratenfraktion nahm veröffentlichte Nummern angesichts der Rechtslage wieder aus dem Netz.

Das Urteil wird die Diskussion nicht beenden, im Gegenteil: Die Initiative »Frag das Jobcenter« ruft dazu auf, Onlineanfragen an die Behörde zu starten und sie zur Veröffentlichung ihrer Transparenzregeln aufzufordern. »Nachdem der juristische Versuch gescheitert ist, muss der Druck auf die Jobcenter erhöht werden«, so ein Initiator. Die Richter hätten den Jobcentern nicht verboten, Daten zu veröffentlichen, sondern es ihrem Ermessen überlassen.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1029638.kein-anruf-ohne-diese-nummer.html

Von Peter Nowak und 
Grit Gernhardt

Wenn Erwerbslose zur Gefahr werden


„Kein Anspruch auf Informationszugang zu dienstlichen Telefonlisten von Jobcentern“ – Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts und seine mündliche Begründung ist Klassenkampf von oben

Seit Jahren kämpfen Erwerbslosenaktivisten dafür, dass die Jobcenter die dienstlichen Telefonnummern ihrer Mitarbeiter öffentlich zugänglich machen[1]. Die meisten Jobcenter lehnen das ab und verweisen auf den Datenschutz. Am 20. Oktober hat ihnen das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig Recht gegeben[2].

Geklagt hatten vier Erwerbslose, darunter der Vorsitzende der Erwerbsloseninitiative Braunschweig e.V.[3], Sven F. Sie hatten sich auf das Informationsfreiheitsgesetz berufen. Das Gericht hatte in seiner mündlichen Begründung für die Zurückweisung der Klage ausgeführt, dass die Herausgabe der Te

Das Bundesverwaltungsgericht erkannte eine „Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“, was nach dem Informationsfreiheitsgesetz ausnahmsweise die Verweigerung der Telefonnummern rechtfertige. In der Pressemitteilung des Bundesverwaltungsgerichts zum Urteil[4] heißt es:

Das Oberverwaltungsgericht Münster und der Verwaltungsgerichtshof München haben im Einklang mit den maßgeblichen Rechtsvorschriften entschieden, dass zu Lasten der Kläger der Ausschlussgrund des § 3 Nr. 2 IFG[5] eingreift. Danach besteht der Anspruch auf Informationszugang nicht, wenn das Bekanntwerden der Information die öffentliche Sicherheit gefährden kann.

Zum Schutzgut der öffentlichen Sicherheit gehören u.a. Individualrechtsgüter wie Gesundheit und Eigentum sowie die Funktionsfähigkeit und die effektive Aufgabenerledigung staatlicher Einrichtungen. Deren Gefährdung liegt vor, wenn aufgrund einer auf konkreten Tatsachen beruhenden prognostischen Bewertung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass das Bekanntwerden der Information das Schutzgut beeinträchtigt.

Von diesem rechtlichen Ausgangspunkt aus haben das Oberverwaltungsgericht Münster und der Verwaltungsgerichtshof München jeweils Tatsachen festgestellt, die zu einer solchen Gefährdung führen. Sie besteht namentlich in nachteiligen Auswirkungen auf die effiziente und zügige Aufgabenerfüllung der Jobcenter, die infolge von direkten Anrufen bei den Bediensteten eintreten können.Bundesverwaltungsgericht[6]

Hier schwingt die alte Furcht vor den Unterklassen noch immer mit, obwohl es doch nur Ansätze einer engagierten Erwerbslosenbewegung in Deutschland gibt. An der Kampagne gegen renitente Erwerbslose beteiligen sich auch die in der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi organisierten Jobcentermitarbeiter, die die Repressalien gegen renitente Erwerbslose noch verschärften wollen und es schon in der Akte dokumentieren wollen[7], wenn jemand mal lauter wird.

Auf die Idee, dass es die Ungerechtigkeiten des Hartz IV-Systems sein könnte, die manche Erwerbslose wütend macht, kommen auch die gewerkschaftlich organisierten Jobcentermitarbeiter in der Regel nicht. Daher gibt es hierzulande auch keine Fabienne Brutus, eine Jobcentermitarbeitern aus Frankreich, die erklärt hat, sie wolle Betroffene bei der Arbeitsvermittlung unterstützen, sich weigerte, zu strafen und sanktionieren, und dafür im ganzen Land Solidarität erfuhr.

In Deutschland gibt es keinen Aufschrei, wenn Erwerbslose, die eine Telefonnummer ihrer Fallmanager einfordern, zum Sicherheitsrisiko erklärt werden. „Ohne die Herausgabe der Telefonnummern ist direkter Kontakt mit den zuständigen Mitarbeitern des Jobcenters nicht möglich. Die eingerichteten Servicenummern werden nun weiterhin zu einer Vielzahl von Missverständnissen führen, die nicht selten in unnötigen Klagen enden“, bedauert Kläger Sven F. von der Erwerbsloseninitiative Braunschweig.

Hier schwingt die alte Furcht vor den Unterklassen noch immer mit, obwohl es doch nur Ansätze einer engagierten Erwerbslosenbewegung in Deutschland gibt. An der Kampagne gegen renitente Erwerbslose beteiligen sich auch die in der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi organisierten Jobcentermitarbeiter, die die Repressalien gegen renitente Erwerbslose noch verschärften wollen und es schon in der Akte dokumentieren wollen[7], wenn jemand mal lauter wird.

Auf die Idee, dass es die Ungerechtigkeiten des Hartz IV-Systems sein könnte, die manche Erwerbslose wütend macht, kommen auch die gewerkschaftlich organisierten Jobcentermitarbeiter in der Regel nicht. Daher gibt es hierzulande auch keine Fabienne Brutus, eine Jobcentermitarbeitern aus Frankreich, die erklärt hat, sie wolle Betroffene bei der Arbeitsvermittlung unterstützen, sich weigerte, zu strafen und sanktionieren, und dafür im ganzen Land Solidarität erfuhr. Hierzulande nahm die Initiative für soziale Gerechtigkeit, ISG Gera[8] den Funken auf und startete die Aktion deutsche Fabienne[9].

In Deutschland gibt es keinen Aufschrei, wenn Erwerbslose, die eine Telefonnummer ihrer Fallmanager einfordern, zum Sicherheitsrisiko erklärt werden. „Ohne die Herausgabe der Telefonnummern ist direkter Kontakt mit den zuständigen Mitarbeitern des Jobcenters nicht möglich. Die eingerichteten Servicenummern werden nun weiterhin zu einer Vielzahl von Missverständnissen führen, die nicht selten in unnötigen Klagen enden“, bedauert Kläger Sven F. von der Erwerbsloseninitiative Braunschweig.

Frag das Jobcenter

Der Kampf um die Veröffentlichung der Telefonlisten geht schon länger. Der Erwerbslosenverein Tacheles[10] war nach Klagedrohungen gezwungen, die Liste mit Telefonnummern von Jobcentermitarbeitern von seinem Internetportal zu nehmen[11]. Auch die Berliner Piratenfraktion, die daraufhin die Telefonnummern online veröffentlichte, entfernte nach Klagedrohungen angesichts der unsicheren Rechtslage die Daten wieder von ihrer Homepage.

Das Urteil aus Leipzig wird die Diskussion um mehr Transparenz der Jobcenter nicht beenden. Im Gegenteil. Die Initiative Frag das Jobcenter[12] ruft dazu auf, Onlineanfragen an die Behörde zu starten, in denen sie zur Veröffentlichung ihrer Transparenzregeln aufgefordert werden.

„Nachdem der juristische Versuch gescheitert ist, muss der Druck auf die Jobcenter erhöht werden“, meinte ein Initiator. „Schließlich haben die Leipziger Richter den Jobcentern nicht verboten, die Daten zu veröffentlichen, sondern die Entscheidung in ihr Ermessen gestellt.“

Delikt sozialwidriges Verhalten: Repressalien gegen Hartz IV-Bezieher werden verfeinert

Während Erwerbslosen die dienstlichen Nummern ihre Fallmanager verweigert wird, werden sie selbst für die Behörden „immer gläserner“. Nicht nur alle Kontodaten können vom Jobcenter eingesehen werden können. Oft werden sogar Sozialdetektive losgeschickt, die kontrollieren sollen, ob Hartz IV-Bezieher und ihre Mitbewohner eine Bedarfsgemeinschaft sind oder nicht. Zudem wird die Repressionsschraube weiter angezogen. So können die Leistungen empfindlich gekürzt werden, wenn die Behörde den Erwerbslosen sozialwidriges Verhalten vorwirft[13].

So sollen die Jobcenter Gelder sogar nachträglich zurückfordern können, wenn ein Berufskraftfahrer wegen Trunkenheit seinen Führerschein und damit auch seinen Job verloren hat. Oder wenn eine alleinerziehende Mutter nicht den Namen des Kindsvaters nennen möchte. Oder wenn Aufstocker einfach so ihren Job aufgeben und deshalb mehr Hartz-IV-Leistungen benötigen als bislang.

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis zum sozialwidrigen Verhalten auch Rauchen oder falsche Ernährung gezählt wird. Wer ein eigenes Haus besitzt, dann Leistungen nach Hartz IV beziehen muss, kann gezwungen werden, das Haus zu verkaufen. Der Erlös muss für die Deckung der Lebenshandlungskosten verwendet werden. Dabei dürfen allerdings keine Urlaubsreisen oder Luxusgüter gekauft werden.

Das könnte ebenfalls als sozialwidriges Verhalten sanktioniert werden[14]. So ist die Verheimlichung der Dienstnummern der Jobcenterangestellten nur ein weiterer Baustein einer systematischen Entrechtung von Erwerbslosen unter Hartz IV. Mit der Verweigerung der Telefonnummer wird ihnen deutlich gemacht, dass sie keine gleichberechtigen Gesprächs- und Verhandlungspartner sind, sondern gefährliche Klassen, die man im Zweifel ausgesperrt lässt.

Peter Nowak

http://www.heise.de/tp/artikel/49/49774/1.html

Anhang

Links

[0]

https://de.wikipedia.org/wiki/Bundesverwaltungsgericht_(Deutschland)#/media/File:Reichsgerichtsgebauede_-_frontal.jpg

[1]

https://www.heise.de/tp/news/Wann-duerfen-Telefonnummern-von-Jobcenter-Mitarbeitern-veroeffentlicht-werden-2553191.html

[2]

http://www.bverwg.de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilung.php?jahr=2016&nr=86

[3]

http://www.hartz4-im-netz.de/PagEd-index-index-page_id-56.html

[4]

http://www.bverwg.de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilung.php?jahr=2016&nr=86

[5]

https://dejure.org/gesetze/IFG/3.html

[6]

http://www.bverwg.de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilung.php?jahr=2016&nr=86&PageSpeed=noscript

[7]

https://publik.verdi.de/2016/ausgabe-04/gewerkschaft/gewerkschaft/seiten-4-5/A2

[8]

http://www.isg-gera.de/

[9]

http://www.isg-gera.de/index.php?action=fabienne

[10]

http://tacheles-sozialhilfe.de/startseite

[11]

https://www.heise.de/tp/news/Telefonlisten-der-Jobcenter-sollen-geheim-bleiben-2102729.html

[12]

http://blog.fragdenstaat.de/2016/fragdasjobcenter

[13]

http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/hartz-iv-so-hart-koennen-hartz-iv-empfaenger-nun-bestraft-werden-a-1110686.html

[14]

http://www.rp-online.de/wirtschaft/bundessozialgericht-hartz-iv-empfaenger-muessen-zu-grosses-haus-verkaufen-aid-1.6323254