Doppelt bestraft


Aktionstage sollen auf die Belange von Straffälligen aufmerksam machen

Schon 1977 hatte der Bundestag beschlossen, Strafgefangene für ihre Arbeit im Gefängnis in die Rentenversicherung einzubeziehen. Bis heute wurde das Vorhaben nicht umgesetzt, weil sich Bund und Länder nicht über die Kosten einigen können. »Damit werden nicht nur die Gefangenen, sondern auch ihre Angehörigen bestraft«, erklärt Anais Denigot gegenüber »nd«. Für die Referentin der Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe ist der Ausschluss von Strafgefangenen aus der Rentenversicherung, der massenhaft Altersarmut produziert, ein Ausdruck dafür, wie stark das Thema Gefängnisse noch immer mit gesellschaftlichen Vorurteilen und Ressentiments belastet ist. In Teilen der Bevölkerung hält sich hartnäckig die grundrechtswidrige Vorstellung, Gefängnisinsassen sollten neben ihrer Haftstrafe auch noch besondere Erschwernisse erleiden. Das Bündnis »Aktionstage Gefängnis« will eine gesellschaftliche Diskussion über die Realitäten in den Gefängnissen anstoßen.
Dazu haben sich unterschiedliche soziale und zivilgesellschaftliche Gruppen zusammengeschlossen. Das Spektrum reicht vom Deutschen Caritasverband, der Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe bis zur Gefangenengewerkschaft (GG/BO). Mitte November 2016 war dieses Bündnis anlässlich der damals in Berlin tagenden Konferenz der Justizminister der Länder erstmals an die Öffentlichkeit getreten und setzt sich für den Rentenanspruch und den Mindestlohn für Gefangene ein. Ein Jahr später hat sich das Bündnis nun verbreitert und orientiert sich mit den »Aktionstagen Gefängnis« an Vorbildern aus Frankreich und Belgien.
In Frankreich organisieren Sozialverbände bereits seit 40 Jahren jährlich eine ganze Aktionswoche, bei der dezentral in verschiedenen Städten die Bevölkerung für Probleme in den Gefängnissen sensibilisiert werden sollen. Die Palette der Aktionen reicht von Filmveranstaltungen und Ausstellungen bis zum Nachbau einer Gefängniszelle auf einem Platz in der Innenstadt. »Viele Passanten sind überrascht, wie eng die Zelle ist«, beschreibt Anais Denigot, die zu dem Thema geforscht hat, die Reaktionen. Sie gehört zu den VorbereiterInnen des ersten »Aktionstages Gefängnis« in Deutschland. Am 7. November sollen auf einer mehrstündigen Veranstaltung im Büro des Deutschen Caritasverbandes in der Reinhardtstraße 13 in Berlin neben verschiedenen Sozialverbänden und der Gefangenengewerkschaft auch die Leiterin der JVA Moabit, Anke Stein, zu Wort kommen.
Das Bündnis will sich auf die Forderung nach einer Einbeziehung der Gefangenen in die Rentenversicherung konzentrieren. Diese geht an die künftige Bundesregierung, aber auch an die Landesregierungen. Bisher habe sie den Eindruck, dass das Thema zwischen den Ressorts der Justiz- und Finanzminister hin- und her geschoben wird und die Gefangenen und ihre Familien darunter leiden müssen, kritisiert Denigot die bisherige Debatte. Mit den Aktionstagen soll gesellschaftlicher Druck auf die Politik erzeugt werden.

Wichtig ist den OrganisatorInnen auch die Einbeziehung der Betroffenen. Schließlich lautet das Motto der Diskussionsveranstaltung »Selbstorganisation, Mindestlohn und Sozialversicherung«. Dabei spielt die GG/BO eine wichtige Rolle. Ihr ist es seit der Gründung im Mai 2014 gelungen, in allen Bundesländern Gefangene mit der Forderung nach Mindestlohn und Einbeziehung in die Rentenversicherung zu organisieren. In Köln, Berlin, Leipzig und Jena existieren Solidaritätsgruppen, die diese Forderungen von Außerhalb unterstützt. »Dass überschreitet oft unsere Kapazitäten, wir werden schon lange nicht mehr allen Anfragen gerecht«, umreist Martina Franke von der Berliner Solidaritätsgruppe die Probleme einer kontinuierlichen Unterstützungsarbeit zwischen Drinnen und Draußen. Das Bündnis Aktionstage Gefängnis könnte für die Verbreiterung der gesellschaftlichen Basis sorgen und deutlich machen, dass die Betroffenen bei der Durchsetzung von Menschenrechten nicht allein gelassen werden dürfen.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1068774.doppelt-bestraft.html

Peter Nowak

Knackis in der Altersarmut

Sozialverbände kämpfen für den Rentenanspruch von Inhaftierten. Doch viele Gefängnisse verhindern, dass die Insassen über ihre Rechte aufgeklärt werden.

Jahrzehntelanges Arbeiten ohne Aussicht auf Altersbezüge – genau das droht vielen ehemaligen Strafgefangenen, obwohl sich immer mehr in ei­genen Gewerkschaften organisieren (Jungle World 48/2015).

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Justizminister ignorieren Rentenforderung

JVA Verbände und Gewerkschaften fordern Rentenanspruch und Mindestlohn für Strafgefangene

Mehmet Aykol arbeitet seit über 20 Jahren in einer Druckerei. Dennoch droht ihm Altersarmut, weil er später auf Grundsicherung angewiesen sein wird. Er gehört zu den rund 64.000 Strafgefangenen in Deutschland, die trotz regelmäßiger
Arbeit keine Rentenansprüche haben. „Das widerspricht dem erklärten Ziel des Strafvollzugs, straffällig gewordene Menschen
dabei zu unterstützen, den Weg zurück in die Gesellschaft zu finden“, sagt Michael Löher vom Vorstand des Deutschen Vereins
für öffentliche und privatFürsorge e. V. Er fordert wie andere sozialpolitische Organisationen, dass Strafgefangene einen
Anspruch auf eine Rente haben sollten. Löher & Co. richten ihre Forderung an die Konferenz der Justizminister der Länder, die am 17. November in Berlin tagt. Warum die Rente im Knast erneut nicht auf der Tagesordnung steht, kann die Behörde auf Anfrage der taz nicht erklären. Fakt ist: Das Thema wird wie so oft in den letzten Jahrzehnten vertagt. Schließlich sah das Strafvollzugsgesetz von 1977 bereitsdie Einbeziehung der Gefangenen in die Rentenversicherung vor. Sie wurde bis heute nicht
umgesetzt, weil sich Bund und Länder über die Finanzierung nicht einigen konnten. „Arbeitende Gefangene werden nicht nur gegenüber ihren KollegInnen draußen diskriminiert, sondern auch gegenüber den Strafgefangenen, die als FreigängerInnen außerhalb der Gefängnisse arbeiten und in die Rentenversicherung einbezogen sind“, betont die Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe, Gabriele Sauermann. Ganze Familien würden durch den Ausschluss aus der Rentenversicherung stark belastet. Der Sprecher der 2014 gegründeten Gefangenengewerkschaft/ bundesweite Organisation (GG/BO) betont, dass neben der Rente auch die Zahlung von Mindestlohn nötig ist. Die Bundesländer sehen in der Knastarbeit
kein Arbeitsverhältnis, deshalb erhalten Gefangene auch keinen Lohn, sondern „Entgelt“. In der Berliner JVA Tegel etwa
bekommt ein Gefangener zwischen 8 und 15 Euro pro Tag. Das ist ein Stundenlohn weit unter 2 Euro. „Wo aktuell so viel von Altersarmut die Rede ist, können die Strafgefangenen nicht einfach aus der Diskussion ausgespart werden“, kritisiert Löher. Er
benennt ein klares Ziel der Initiative: „Nach den nächsten Bundestagswahlen muss die Rente hinter Gittern Teil der Koalitionsvereinbarungen werden“.

Inland TAZ.DIE TAGESZEITUNGDIENSTAG, 15. NOVEMBER 2016
PETER NOWAK

Ein Streik hinter Gittern wäre Meuterei

Mehmet Aykol arbeitet seit über 20 Jahren in einer Druckerei. Doch im Rentenalter droht ihm Armut, er wird auf Grundsicherung angewiesen sein. Aykol gehört zu den etwa 64 000 Strafgefangenen in Deutschland, die trotz regelmäßiger Arbeit keine Rentenansprüche haben. »Das widerspricht dem erklärten Ziel des Strafvollzugs, straffällig gewordene Menschen dabei zu unterstützen, den Weg zurück in die Gesellschaft zu finden«, erklärte Michael Löher vom Vorstand des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge. Gemeinsam mit weiteren sozialpolitischen Organisationen hat er am Mittwoch auf einer Pressekonferenz die Einbeziehung der Strafgefangenen in die Rentenversicherung gefordert.

Bereits in den früheren 1970er Jahren diskutierten Juristen und Kriminologen die soziale Gleichstellung der Beschäftigten hinter Gittern. Das Strafvollzugsgesetz von 1977 sah die Einbeziehung der Gefangenen in die Rentenversicherung vor. Sie wurde nicht umgesetzt, weil sich Bund und Länder nicht über die Finanzierung einigen konnten. Für Martin Singe vom Komitee für Grundrechte und Demokratie geht es dabei um eine massive Verletzung der Grundrechte. Ähnlich argumentiert die Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe, Gabriele Sauermann: »Arbeitende Gefangene werden nicht nur gegenüber ihren Kollegen draußen diskriminiert sondern auch gegenüber den Strafgefangenen, die als Freigänger außerhalb der Gefängnisse arbeiten und in die Rentenversicherung einbezogen sind.« Aus vielen Kontakten mit den Gefangenen weiß sie, wie stark der Ausschluss aus der Rentenversicherung die Menschen belastet.

Die 2014 gegründete Gefangenengewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO) erfährt unter anderem wegen ihres Eintretens für die Rente arbeitender Gefangener viel Zustimmung. GG/BO-Sprecher Falk Pyrczek betont allerdings auch, dass nur die Zahlung von Mindestlohn für die Knastarbeit gewähreistet, dass die Gefangenen von ihrer Rente leben können.

Noch eine weitere Forderung der GG/BO ist für den Kampf um die Rente hinter Gittern wichtig: Die Gewährleistung von vollen gewerkschaftlichen Rechten im Gefängnis. »Wenn aktuell Gefangene für die Einbeziehung in die Rentenversicherung in einen Streik treten würden, könnten und müssten sie wegen Meuterei mit empfindlichen Strafen rechnen«, erklärt Pyrczek. So werde das Gefängnis zu einem Billiglohnland im Inneren der Bundesrepublik, das auch Arbeitskräfte an die Automobilbranche verleiht. Als hoffnungsvolles Zeichen wertet der Gefangenengewerkschafter, dass der LINKE-Bundesvorstand die Forderungen der GG/BO unterstützt. Pyrczek hofft, dass das Bundesland Thüringen mit dem LINKE-Ministerpräsidenten Bodo Ramelow im Bundesrat die Initiative für die Rechte der Gefangenen ergreift.

Bei der Herbstkonferenz der Bundesjustizminister am 17. November in Berlin steht das Thema Rente für arbeitende Gefangene wieder einmal nicht auf der Tagesordnung. Michael Löher vom Vorstand des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge erwartet in dieser Legislaturperiode keine Ergebnisse mehr. Jetzt müsse dafür gesorgt werden, dass die Forderung nach Einbeziehung der Gefangenen in die Rentenversicherung in die Koalitionsverhandlungen nach den nächsten Bundestagswahlen Eingang findet.

Peter Nowak