Griechenland: „Es reicht“

«Wir sind Gemüseladen»

In Kreuzberg soll der Lebensmittelladen Bizim Bakkal teuren Investorenwünschen weichen

Seit 28 Jahren betreibt Ahmet Caliskan seinen Gemüseladen in der Kreuzberger Wrangelstraße 77. Jetzt will ihn der Investor bis Ende September rausschmeißen.

«Je suis Bizim Bakkal», «Wir sind Gemüseladen» oder einfach nur «Wir sind Bizim-Kiez». Solche Sprüche sind in den letzten Tagen rund um die Wrangelstraße in Kreuzberg auf Flyern, Plakaten und Transparenten zu lesen. Seit bekannt wurde, dass der Gemüseladen Bizim Bakkal in der Wrangelstraße 77 zum 30. September 2015 gekündigt wurde, probt die Nachbarschaft den Widerstand.

Das Haus hatte in der letzten Zeit viele Eigentümerwechsel und wurde vor einigen Monaten von der Immobilienfirma Wrangelstraße 77  GmbH erworben.  Vertriebsparnter ist die Gekko Real  Estate GmbH, die  kaufkräftige Interessenten mit dem Werbespruch wirbt: «Suchen Sie eine passende Immobilie oder ein kreatives Projekt für Ihre Investition? Sie haben sehr individuelle Vorstellungen? Dann sprechen Sie mit uns gezielt über Ihr Vorhaben.»

Viele Nachbarn kennen solche Sprüche und haben ganz oft erfahren, dass wenige Jahre später kein Platz mehr für Menschen mit geringen Einkommen war. Deshalb haben sie mit eigenen kreativen Ideen erste Protestaktionen für den Laden geplant. Martin Steinbach war über die Resonanz selber erstaunt. Er wohnt in unmittelbarer Nachbarschaft und ist seit fast 25 Jahren Kunde bei Bizim Bakkal. «Ich habe mit anderen Nachbarn die ersten Einladungen für eine Nachbarschaftsversammlung verbreitet. Wir haben mit ca. 25 Menschen gerechnet, gekommen sind aber 125 Nachbarn», sagt Steinbach. Vor allem seien darunter viele junge Menschen gewesen, die gleich mit konkreten Aktionsvorschlägen gekommen sind. So wurden Flyer und Plakate gestaltet und eine Homepage erstellt. Damit ist der Protest gegen die Kündigung des Ladens auf der Straße und im Internet angekommen. «Der Protest zum Widerstand kam aus der Nachbarschaft und nicht von außen», betont auch eine andere Nachbarin, die sich für den Erhalt des Ladens engagiert. «Die Menschen haben in den letzten Jahren mitbekommen, wie sich der Stadtteil immer mehr verändert hat. Sie haben sicher auch erlebt, wie sich Stadtteil- und Mieterinitiativen dieser Entwicklung entgegen zu stellen versuchen. »Dass nun auch Bizim Bakkal verschwinden soll, hat für viele das Fass zum Überlaufen gebracht«, sagt sie.

Ahmet Caliskan betreibt seinen Gemüseladen seit 28 Jahren. Erst im letzten Jahren hat er viel Geld in die Renovierung gesteckt. Sollte der Laden verschwinden, würden nur noch Discounterläden in dem Stadtteil übrig bleiben. Doch der Protest sei keine Sehnsucht nach dem Tante-Emma-Laden, betont eine Unterstützerin. »Mit dem Laden werden auch die Kunden mit geringem Einkommen verschwinden. Dagegen wehren wir uns«, erklärt sie. Neben Caliskan sollen aus der der Wrangelstraße 77 auch die anderen Mieter des Hauses verschwinden. Der neue Eigentümer soll Umzugsprämien von bis zu 28 000 Euro anbieten. Einem Mieter wurde das Angebot unterbreitet, seine Wohnung von knapp über 100 Quadratmetern für vierhundertdreißigtausend Euro zu verkaufen. Zwei Mieter hätten sich schon an die Initiative gewandt und überlegen, wie sich gegen die Kündigungen wehren, berichtet Steinbach. Für den 17. Juni lädt die Nachbarschaftsinitiative ab 19 Uhr erneut zum Nachbarschaftstreffen mit Picknick in die Wrangelstraße ein. Während die erste Versammlung noch spontan war, drängte die Polizei dieses Mal auf eine Anmeldung und erließ Auflagen. »Nicht mehr spontan, dafür um so zahlreicher«, lautet das Motto der Initiative. Tatsächlich haben sich viele Aktivisten aus Kreuzberg und anderen Berliner Stadtteilen angesagt. Das Medienecho hat inzwischen auch dazu beigetragen, dass der anfangs kleine Aufstand gegen die Vertreibung eines Ladens so großen Zulauf bekam.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/974667.wir-sind-gemueseladen.html

Peter Nowak

»Ein Grexit würde die humanitäre Krise zuspitzen«

Der 1944 geborene Publizist und Soziologe Joachim Bischoff ist Mitherausgeber der Zeitschrift Sozialismus und Autor im VSA- Verlag. Die Jungle World sprach mit ihm über die griechische Finanzkrise und das Szenario des sogenannten Grexit, eines Ausstiegs Griechenlands aus der Euro-Zone.

Mittlerweile sorgt die Griechenland-Pleite für Satire. Hat das Thema durch die ständigen Drohungen seine Gefahr verloren?

Die Medien haben einen großen Anteil daran, dass in der Berliner Republik eine Mischung aus Ressentiments gegenüber dem griechischen Volk und erheblichem Desinteresse an den Folgen einer möglichen Insolvenz des griechischen Staates existiert. Gleichwohl hat selbst die Kampagne der Bild-Zeitung gegen weitere Zahlungen man Griechenland keinen durchschlagenden Erfolg gehabt. In der letzten Emnid-Umfrage – kurz vor der finalen Entscheidung im griechischen Drama – sprechen sich 67 Prozent für einen weiteren Verbleib Griechenlands in der Eurozone aus. Nur 27 Prozent der Deutschen sind dagegen und wollen lieber einen »Grexit«. Allerdings: Über den Kurs zur Euro-Rettung herrscht große Unsicherheit. So bestehen 41 Prozent der Deutschen darauf, dass Griechenland sämtliche vereinbarten Forderungen erfüllt. Immerhin 33 Prozent der Befragten können sich aber auch vorstellen, den Wünschen Athens ein Stück weit entgegenzukommen. Einen weiteren Schuldenschnitt befürworten nur 19 Prozent der Deutschen.

Wie sind diese widersprüchlichen Zahlen zu erklären?

Die Unsicherheit geht meines Erachtens entscheidend darauf zurück, dass trotz häufiger Berichterstattung die Zusammenhänge und Hintergründe nicht aufklärend präsentiert worden sind. Die griechische Ökonomie ist seit der großen Krise von 2008 um 26 Prozent geschrumpft. Es ist absurd, für die derzeitige Rezession die linke Koalitionsregierung von Syriza verantwortlich zu machen. Seit dem letzten Quartal 2014 schrumpft die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit erneut. Bekanntlich fand der Wechsel zu einer Anti-Troika-Politik erst Ende Januar 2015 statt. Die mögliche Pleite des griechischen Staates hat für die europäischen und politischen Eliten ihren Schrecken verloren, weil die Verflechtung der griechischen Ökonomie in die europäische Wirtschaft gering ist. Mittlerweile haben die privaten Investoren und Banken ihr Engagement in Griechenland stark zurückgefahren. Die Wertverluste einer möglichen Insolvenz tragen im Wesentlichen öffentliche Gläubiger. Die Verluste von rund 80 Miliarden Euro für Deutschland gehen zu Lasten der Steuerzahler.

Über den »Grexit« diskutieren nicht nur Neoliberale, sondern auch Linke kontrovers. Wäre der Ausstieg aus dem Euro für die griechische Regierung ein Befreiungsschlag?

Die griechische Regierung und eine große Mehrheit der Wahlbevölkerung sieht in einem Hinausdrängen des Landes aus der Euro- Zone eine schwere politische Niederlage mit gefährlichen Folgewirkungen. Eine repräsentative Befragung von Anfang Juni besagt, dass sich 74 Prozent der Befragten für den Verbleib in der Euro- Zone aussprechen, nur 18 Prozent würden lieber zur griechischen Drachme zurückkehren. Für die Griechen würde mit einem Hinausdrängen aus der Euro- Zone eine erneute schwere sozio-ökonomische Anpassungsphase einsetzen. Mit Sicherheit würde sich der wirtschaftliche Schrumpfungsprozess verschärfen. Der Zusammenbruch des Gesundheitssystems zeigt, dass die Rückwirkungen der gebeutelten Wirtschaft auf andere Bereiche der Gesellschaft erhebliche negative Folgen hätten. Außerdem werden die Probleme der Bewältigung der Fluchtbewegung für Griechenland noch drückender. Und die geopolitische Konstellation des Nato-Mitglieds Griechenland gegenüber der Türkei und den gescheiterten Staaten in Nahost wirft weitere Probleme auf.

Die Wirtschaftskolumnistin Ulrike Herrmann stellte in der Taz die These auf, dass es Griechenland mit der Drachme nach anfänglichen Schwierigkeiten sogar besser gehen könnte als jetzt. Teilen Sie diese Einschätzung?

Die Argumente für eine ökonomisch-politische Rekonstruktion Griechenlands nach einer erneuten Durststrecke sind nicht überzeugend. Alle Befürworter einer Rückkehr Griechenlands zu einer eigenen Währung und einem nationalstaatlich geprägten Wirtschaftsraum gehen davon aus, dass zunächst eine deutliche Abwertung der Drachme von 20 bis 30 Prozent zu verarbeiten wäre. Auch abgesehen von den komplizierten Umschuldungsprozeduren müssten viele Wirtschaftsabkommen neu justiert werden. Ein möglicher Vorteil ist die zügige Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit im Tourismus. Griechenland könnte einen noch größeren Anteil im Bereich touristischer Dienstleistungen zu Lasten der Türkei, Spaniens und Italiens gewinnen. Aber da kaum mehr ein relevanter Exportsektor in der griechischen Wirtschaft existiert, wären die Folgen einer Abwertung auf längere Zeit negativ. Im Grundsatz sehen auch viele Befürworter eines Grexit die eintretende Notlage; da sich die humanitäre Krise zuspitzen würde, müsste Griechenland auf längere Zeit aus dem europäischen Raum unterstützt werden, ohne, dass diese Hilfe zu einer wirtschaftlichen Rekonstruktion und einer selbsttragenden Ökonomie führte.

Zu den Vorschlägen, wie ein Grexit verhindert werden könnte, zählt auch die Einführung eines digitalen Euro. Sehen Sie hierin eine Alternative?

Das Kernproblem in Griechenland ist nicht die Verbesserung des Geld- und Kreditsystems, sondern wie der Schrumpfungsprozess in der Realökonomie beendet werden kann und wie über die Erneuerung des öffentlichen und privatkapitalistischen Kapitalstocks eine Erholung eines sozialökologisch geprägten Wachstums eingeleitet werden kann.

Der linke Flügel von Syriza schlägt eine härtere Haltung gegenüber der Gläubigerländern und Institutionen und die Verstaatlichung der Banken vor. Die Kommunistische Partei Griechenlands will gar einen totalen Bruch mit EU und den Troika-Institutionen aus EZB, EU-Kommission und Internationalem Währungsfonds (IWF). Wären solche Vorschläge prak­tikabel?

Keine Frage, ein Bruch mit dem europäischen Binnenmarkt, ein Austritt aus der Euro -Zone und mindestens eine Aussetzung der Mitgliedschaft in der Nato könnten durch verschiedene Maßnahmen eingeleitet werden. Seit der Regierungsübernahme Ende Januar 2015 wird der Wirtschaftskreislauf in Griechenland wesentlich durch Notkredite seitens der europäischen Zentralbank EZB gewährleistet. Das Volumen dieser Kredite beträgt aktuell über 80 Milliarden Euro. Im selben Zeitraum musste das griechische Bankensystem einen Abzug von Einlagen in der Größenordnung von 30 bis 40 Milliarden Euro hinnehmen. Die häufig geforderte Gegenmaßnahme ist die Einführung von Kapitalverkehrskontrollen wie zuletzt in Zypern. Mit Kapitalverkehrskontrollen, deren Ausgestaltung und Durchführung die EZB nicht zustimmt, wäre der Ausstieg aus dem Währungs- und Kreditsystem eröffnet. Die Mehrheitsströmung in Syriza will eine solche Politikentwicklung nicht. Die Chance von Griechenland besteht in einer Investitionsoffensive und einer wirtschaftlichen Rekonstruktion im europäischen Verbund. Ein solcher Politikwechsel eröffnete auch für andere Krisenländer entsprechende Alternativen und könnte für den europäischen Verbund insgesamt eine andere Entwicklung einleiten.

In Island hatte eine bürgerliche Regierung auf Druck der Bevölkerung die Rückzahlung von immensen Schulden eingestellt, das Land wurde nicht isoliert. Warum klappte dort ein Schuldenschnitt und in Griechenland bisher nicht?

In der Tat hat Island eine bemerkenswert andere und positive Entwicklung zur Bewältigung der Folgen der großen Finanz- und Wirtschaftskrise eingeleitet. Das Verhältnis von Realökonomie und privatem sowie öffentlichem Finanzüberbau in Island ist nicht mit der Konstellation in Griechenland zu vergleichen. Griechenland schultert eine große Schuldenlast, aber der seit Jahren anhaltende Abwärtstrend der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit liegt nicht an etwaigen unerträglichen Zinslasten oder Schuldentilgungen. Hätte Griechenland im Jahr 2014, wie von der konservativ-sozialdemokratischen Regierung und den Troika-Institutionen erhofft und prognostiziert, endlich ein positives Wirtschaftswachstum erreicht, wären sämtliche Tilgungen und Zinszahlungen problemlos möglich geworden. Griechenland muss aus dem Schrumpfungsmodus heraus. Für 2015 droht erneut bestenfalls eine Stagnation des Wachstums. Bei einem grundsätzlich möglichen Wachstum von zweieinhalb Prozent – nach einer Periode der Schrumpfung um 26 Prozent – ist, da stimme ich dem griechischen Finanzminister Varoufakis zu, die Schuldentragfähigkeit ein sekundäres Problem.

Zeigt die monatelange Hängepartie um Griechenland nicht auch, dass selbst eine moderat reformerische Politik, wie sie die jetzige Regierung vorschlägt, zurzeit keine Chance auf Umsetzung in der EU hat?

Die Macht der neoliberalen Eliten in Wirtschaft und Politik wird uns durch den Kampf um die wirtschaftlich-finanzielle Strangulation Griechenlands vor Augen geführt. Die griechische Linksregierung verdeutlicht, wie schwer ein Politikwechsel – ein Bruch mit der neoliberalen Konzeption – umzusetzen ist. Aber auch die Krisenländer Portugal und Spanien leiden sehr unter der Austeritätspolitik. Frankreich und Italien hatten ebenfalls versucht, einen Freiraum für verstärkte gesellschaftliche Investitionen zu erhalten. Man streitet also in nationalstaatlich unterschiedlichen Konstellationen für einen Bruch mit der neoliberalen Sanierungspolitik, die bestenfalls eine säkulare Stagnation mit mehr oder minder regelmäßigen Krisenprozessen von Vermögenspreisblasen beschert.

Ist die Forderung nach der Schuldenbefreiung eines Landes nicht genauso illusorisch wie eine Forderung nach Sozialismus?

Die Überschuldung vieler kapitalistischer Länder ist eine Tatsache. Die schwächelnde, teils krisenhafte Akkumulation des Kapitals ist in den letzten Jahrzehnten durch eine Expansion des Kredits überlagert worden. Es geht nicht vorrangig um Schuldenbefreiung. Schulden sind akkumulierte Ansprüche auf künftig erst noch zu produzierenden gesellschaftlichen Reichtum. Die Verteilungsverhältnisse sind stark verzerrt. Selbst die OECD und der IWF sowie andere Organisationen der kapitalistischen Länder sehen heute, dass wachsende soziale Spaltungen zu einer Blockade oder einem Hindernis für die Kapitalakkumulation und das gesellschaftliche Wachstum geworden sind. Die Auseinandersetzung dreht sich also um die gesellschaftliche Ökonomie und deren Verteilungsverhältnis.

http://jungle-world.com/artikel/2015/24/52105.html

Interview: Peter Nowak

Das Land und seine Liegenschaften

Mit einem Volksentscheid will eine Initiative in Berlin den Bau von mehr sozialem Wohnraum durchsetzen. Der Senat hat juristischen Widerstand angekündigt.

48  541 Unterschriften hat die Initiative »Mietenvolksentscheid Berlin« am 1. Juni der Senats­verwaltung für Inneres übergeben. So viele in Berlin gemeldete Personen haben den Antrag für ­einen Volksentscheid unterstützt, der ein »Gesetz über die Neuausrichtung der sozialen Wohnraumversorgung in Berlin« zum Ziel haben soll. Ab einer Unterschriftenzahl von 20 000 kann man beim Innensenator die Einleitung eines Volksentscheids beantragen. Kern des 59seitigen Gesetzentwurfs, den die Initiative vorgelegt hat, ist die Einrichtung eines Wohnraumförderfonds zur sozialen Wohnraumversorgung. Außerdem sollen die landeseigenen Immobilien verstärkt für den sozialen Wohnungsbau genutzt und ­dieser soll auf neue rechtliche Grundlagen gestellt werden.

Bisher scheiterten Versuche, landeseigene Grundstücke für Genossenschaften und nichtkommer­zielle Wohnprojekte zur Verfügung zu stellen, an der Vorgabe des Liegenschaftsfonds, die Areale gewinnbringend zu veräußern. Mittlerweile ist es Mieterinitiativen gelungen, die Kritik an dieser Praxis bis ins Parlament zu tragen. So wird derzeit heftig über die Zukunft des Dra­go­ner­areals am Mehringdamm in Berlin-Kreuzberg gestritten. Während der Bund weiterhin die Meistbietenden zum Zuge kommen lassen möchte, unterstützen nicht nur Kreuzberger Bezirkspolitiker, sondern auch einige Ländervertreter im Bundesrat die Initiative »Stadt von unten«, die sich für eine sozialverträgliche Gestaltung des Areals einsetzt. Auch die Interessengemeinschaft Groka, in der sich Mieter aus der Großgörschen- und der Katzlerstraße in Schöneberg zusammengeschlossen haben, fordern von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BIMA) den Stopp des Verkaufs ihrer Häuser zum Höchstpreisgebot.

Diese Initiativen sind das Ergebnis einer Mieterbewegung in Berlin, in der es nicht um ein Lamento über gierige Immobilienhändler oder die Jagd auf Vermieter von Ferienwohnungen geht. Initiativen wie die IG Groka und »Stadt von unten« stellen in Frage, dass Grund und Boden der kapitalistischen Verwertung unterworfen sein sollen.

Obwohl mit den vorgelegten Unterschriften die erste Hürde des Verfahrens für ein Volksbegehren genommen sein könnte, heißt das noch nicht, dass der Gesetzentwurf zur Abstimmung kommt. Nachdem sich die Initiatoren von Warnungen durch Mitglieder des Berliner Senats wegen der hohen Kosten, die bei einer Realisierung ihrer Vorschläge für die Schaffung von mehr sozialem Wohnraum anfallen würden, nicht haben einschüchtern lassen, hat Berlins Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel (SPD) nun angekündigt, den Gesetzentwurf vor dem Berliner Verfassungsgerichtshof prüfen zu lassen. Es müsse geklärt werden, inwieweit ein solch tiefer Eingriff in das Budgetrecht des Parlaments verfassungsgemäß sei. Finanzsenator Matthias Kollatz-Ahnen (SPD) machte bereits Ende April Stimmung gegen den Mietenvolksentscheid und wies darauf hin, dass im Fall seines Erfolgs erst einmal kein Geld mehr für Kitas, Kultur und den öffentlichen Personennahverkehr zur Verfügung stehe.

Für die Initiatoren des Volksbegehrens, zu denen neben Mieterinitiativen wie »Kotti und Co« auch die Interventionistische Linke gehört, könnten solche Drohungen auch eine Chance sein. Zumindest wird deutlich, dass es illusionär ist, auf dem kapitalistischen Wohnungsmarkt per Unterschrift eine sozialverträglichere Mietenpolitik durchzusetzen. Die kommenden Monate, in denen der Gesetzesentwurf juristisch geprüft wird, könnten für eine Debatte darüber genutzt werden, wie man reagieren wird, sollte das Volksbegehren vom Verfassungsgerichtshof gestoppt werden. Zudem gibt es Zeit für eine Diskussion mit den wenigen linken Kritikern der Initiative, die sich zu Wort gemeldet haben. So bezeichnete Karl-Heinz Schubert im Editorial des Online-Magazins Trend den zur Abstimmung stehenden Gesetzentwurf als »kapitalaffines Elaborat« und warf linken Unterstützern des Mietervolksbegehrens vor, sich am Mitverwalten im Kapitalismus zu beteiligen.

http://jungle-world.com/artikel/2015/24/52111.html

Peter Nowak

Viel Lärm um Hackerangriffe auf den Bundestag

„So nah ist uns in Deutschland die Gefahr aus dem Netz noch nie gekommen.“

„So nah ist uns in Deutschland die Gefahr aus dem Netz noch nie gekommen. Wir wissen nicht, wer uns angreift, wir wissen nicht, was der Angreifer will. Wir kennen seine Absichten nicht. Werden gezielt geheime Informationen abgeschöpft? Sollen einzelne Abgeordnete ausspioniert werden, um Erpressungspotenziale zu ermitteln?“

Mit diesen kriegerischen Tönen kommentierte Brigitte Fehrle, ehemals Taz, heute Berliner Zeitung, im Deutschlandfunk [1] die Hackerangriffe auf Computersysteme des Bundestags. Bei der ganzen kriegerischen Rhetorik kommt Fehrle nicht einmal auf die Idee, die ganze Erzählung über den großen Hackerangriff auf uns alle, einmal kritisch zu hinterfragen. Damit ist sie aber in der journalistischen Zunft nicht allen. Einige der Dramatisierungen der letzten Tage wurden auf Golem.de zusammengefasst [2].

Jagd auf „politische Kriminelle?“

Doch eine solche Versachlichung würde nicht gut zu Fehrles Endzeitvision passen. Schließlich kann in diesem Cyberkrieg jeder der Feind sein:

Das Wesen des Cyberkrieges ist der unsichtbare Gegner. Er kann überall sein. Selbst die Rückverfolgung eines platzierten Virus sagt nichts über die Auftraggeber. Es können Geheimdienste sein, es können Firmen sein, die Industriespionage betreiben, es können politische Kriminelle sein, die Unruhe stiften wollen.

Gerade die letzte Aufzählung macht stutzig. Wer sollen denn die politischen Kriminellen sein? Besteht ihr Delikt darin, dass sie eben Unruhen schaffen? Gehören sie vielleicht zu jenen Personenkreisen, die in der letzten Zeit manche Behörden durch die Preisgabe von streng geheimen Daten zur Verzweiflung gebracht haben? Man denke nur an die 2011 durch Wikileaks veröffentlichten, streng vertraulichen Diplomatic Cables [3], eine unredigierte Sammlung von zahllosen Depeschen aus US-Botschaften, die nur teilweise als geheim eingestuft worden waren.

Datenschutz und Persönlichkeitsrechte gelten für Personen, die in der Wertung von Wikileaks Verwerfliches getan haben, anscheinend nicht. Und auch nicht für ihre Freunde und Bekannten. Wer in Wikileaks-Enthüllungen namentlich genannt wird, hat im Übrigen keinerlei Möglichkeit, sich bei einer Kommission zu beschweren oder auf Löschung oder auch nur eine Entschuldigung zu drängen.

Gerade eine Szene, die sich mit Recht gegen staatliche Überwachung wehrt, sollte diese Kritik auch gegenüber Institutionen wie Wikileaks behalten, wenn die in ihrer alltäglichen Praxis noch hinter die staatlichen Behörden zurückfallen. Eine solche Kritik sollte aber eine Verteidigung von Wikileaks und ähnlichen Institutionen gegen staatliche Kriminalisierungsversuche mit einschließen.

Die Geheimdienstmitarbeiter auf unseren Häuserwänden

Nun gibt es neben Wikileaks auch andere Wege und Methoden, sich mit den Akteuren der Überwachung zu beschäftigten. In Berlin kann man manchmal sogar ihre Konterfeis auf öffentlichen Häuserwänden sehen. Overexposed [4] heißt das Projekt des italienischen Künstlers Paolo Cirio [5]. Dort verwendet und verfremdet er Fotos von führenden Akteuren der Überwachung, die er in deren privaten Netzwerk gefunden hat.

Sie sind nicht nur auf manchen Häuserwänden, sondern auch noch bis zum 20. Juli in der Galerie Nome in Berlin-Friedrichshain zu sehen. Paolo Cirio hat natürlich die Menschen, die er porträtiert nicht um Erlaubnis gefragt. Die Möglichkeit, dass sein Vorgehen juristische Folgen haben kann, ist nicht gering.

Gerade in einer Zeit, in der die Öffentlichkeit davon überzeugt werden sollen, dass es sich bei den Hackerangriffen auf Bundestagscomputer um einen „Angriff auf uns alle“ handelt. Solche Floskeln haben wir immer dann gehört, wenn die wieder einmal Rechte eingeschränkt werden sollen. Nebenbei werden die durch die verschiedenen Überwachungsdebatten diskreditierten Verfassungsschutzbehörden auf diese Weise wieder rehabilitiert und bekommen sogar noch mehr Macht, als sie offiziell bisher hatten. Die Taz bringt das Dilemma so auf den Punkt [6]:

Der Bundestag muss sich also helfen lassen – doch von wem? Dass der Verfassungsschutz bei der Aufklärung mitwirkt, hat zwar selbst die Linksfraktion akzeptiert; doch dass sich das Parlament beim Aufbau seines Computersystems komplett in die Abhängigkeit von Bundesbehörden wie dem Verfassungsschutz oder dem BSI begibt, dürfte auf Vorbehalte stoßen – schließlich ist die Gewaltenteilung zentral für die Demokratie.

So könnte die Dramatisierung der Hackerangriffe auf Bundestagscomputer einen Beitrag dazu leisten, dass die Hack-Aktivismus kriminalisiert und staatliche Überwachungsbehörden rehabilitiert werden.

http://www.heise.de/tp/news/Viel-Laerm-um-Hackerangriffe-auf-den-Bundestag-2691006.html

Peter Nowak

Links:

[1]

http://www.deutschlandfunk.de/cyberangriff-auf-bundestag-der-unsichtbare-feind.720.de.html

[2]

http://www.golem.de/news/iuk-kommission-das-protokoll-des-bundestags-hacks-1506-114635.html

[3]

https://wikileaks.org/cablegate.html

[4]

http://www.nomeproject.com/de/ausstellungen/overexposed

[5]

http://www.paolocirio.net/

[6]

http://www.taz.de/Angriff-aufs-Netz-des-Bundestags/!5203618/

Verkauf von SS-Kommandantur gestoppt

Bildungswerk will im einstigen nationalsozialistischen Vernichtungslager Belzec einen Täter- zum Gedenkort machen

Ein verfallendes Gebäude, mehr ist nicht übrig von den Originalbauten des Vernichtungslagers im polnischen Belzec. Nun konnte die Versteigerung der einstigen SS-Komandantur gestoppt werden.

Einen großen Erfolg kann ein antifaschistisches Bildungswerk vermelden, das sich für den Erhalt der Kommandantur des ehemaligen Vernichtungslagers Belzec einsetzt. Kurzfristig sagte die Polnische Bahn, der das Grundstück mit dem historischen Gebäude gehört, eine für den 22. Juni geplante Versteigerung ab. »Die Bahn hat erklärt, dass das Gebäude nur in Anerkennung seiner historischen Bedeutung genutzt werden soll und nicht mehr als Bauland verkauft wird«, erklärte Andreas Kahrs vom Bildungswerk Stanislaw Hantz gegenüber »nd«. Genau das hatten sie gefordert.

Das Bildungswerk hatte bereits mehr als 8000 Euro über das Internet gesammelt, um das Grundstück zu erwerben. Insgesamt hätten sie voraussichtlich 40 000 Euro dafür auf den Tisch legen müssen.
Die Geschichte von Belzec ist weitgehend unbekannt. Dabei wurden in dem Vernichtungslager zwischen März und Dezember 1942 mindestens 450 000 Menschen ermordet. Im Rahmen der sogenannten Aktion Reinhart, der planmäßigen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Polens, wurden die Bewohner der Ghettos von Lublin, Lviv und Krakau nach Belzec verschleppt. 1942 wurden zusätzlich mehr als 50 000 jüdische Menschen aus dem Reichsgebiet und den »eingegliederten Gebieten« in die Region zwischen Lublin und Zamość deportiert. Viele von ihnen wurden in Belzec ermordet.

Doch die SS beseitigte im Frühjahr 1943 die Spuren ihrer Mordaktion. Fast alle Gebäude wurden abgerissen, auf dem Gelände wurde ein Bauernhof errichtet. Lange Zeit war der Ort frei zugänglich. 1963 wurde ein erstes Denkmal mit der Inschrift »Zur Erinnerung an die Opfer des Hitlerterrors« auf dem Gelände errichtet. Die jüdischen Opfer wurden dort nicht erwähnt. Das änderte sich 2004, als eine große Erinnerungsstätte eingeweiht wurde, an der internationale Gedenkveranstaltungen stattfinden. »Doch bisher fehlen in Belzec Räume für Seminare und Veranstaltungen«, sagt Kahrs vom Bildungswerk, das nach dem polnischen Auschwitz-Überlebenden Stanislaw Hantz benannt ist, der 2008 verstarb.

Hantz hatte sich aktiv am Aufbau des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau beteiligt und war Mitbegründer der Zgorzelecer Vereinigung ehemaliger KZ-Häftlinge. Bis ins hohe Alter führte er Interessierte durch die Stätten des NS-Terrors. So kam er auch in Kontakt mit jungen Menschen, die später das nach ihm benannte Bildungswerk gründeten.

Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Organisation von Bildungsreisen zu Stätten der NS-Vernichtung. Vom 17. bis 24. Oktober ist die nächste Fahrt nach Belzec, Sobibor und Treblinka geplant. Dabei sollen den Besuchern auch Einblicke in die unterschiedlichen Aspekte der NS-Vernichtungspolitik in Ostpolen und der Ukraine vermittelt werden.

Nach den Vorstellungen des Bildungswerks könnte eine solche Arbeit in dem sanierten Gebäude der ehemaligen Kommandantur geleistet werden. Zu den weiteren Plänen des Bildungswerks gehört die Einbeziehung der Kommandantur in Führungen und die pädagogische Arbeit der Gedenkstätte sowie die Einrichtung einer Ausstellungsfläche.

Nachdem nun die Polnische Bahn den Weg freigemacht hat, geht es für das Bildungswerk um die konkrete Umsetzung ihrer Pläne. »Die bisherigen Spenden möchten wir also nicht mehr nur für den Kauf, sondern bereits in die Instandsetzung investieren«, so Kahrs. Dafür erwartet er auch von staatlichen Stellen in Deutschland finanzielle Unterstützung. Schließlich gehören der Erhalt der Täterorte des ehemaligen NS-Terror.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/974583.verkauf-von-ss-kommandantur-gestoppt.html

Peter Nowak

Von Schülern für alle

Das »Open Minds«-Festival in Buch setzt sich für Toleranz ein und wird von Nazis gestört

Berlin-Buch entwickelt sich seit Längerem zum neuen Zentrum der organisierten Neonazis der Stadt. Ein Festival wirbt seit Jahren für Toleranz. Bereits bei den Vorbereitungen gab es Ärger.

»Flüchtlinge bleiben, Nazis vertreiben«. Diese Parole schallte am Samstagnachmittag durch den Pankower Ortsteil Buch. Ab 13.30 Uhr hatten sich bei glühender Hitze ca. 300 Menschen am S-Bahnhof versammelt, um durch den Ort bis zum Festivalgelände des »Open Air for Open Minds« in der Wolfgang-Heinz-Straße zu ziehen. Nach einer kurzen Abschlusskundgebung begann damit der zweite Tag des Festes mit Konzerten, Diskussionen und einer Theateraufführung. Zahlreiche Informationsstände warben für Solidarität. Eine Aktivistengruppe aus Berlin informierte über die Dringlichkeit der Freilassung des schwer kranken schwarzen US-Journalisten Mumia Abu Jamal, der vor 22 Jahren in einem unfairen Prozess wegen eines Polizistenmords verurteilt wurde. Das Unistreikkomitee der FU Berlin befasste sich in einem Workshop mit den Mechanismen, die zur Entrechtung von Geflüchteten beitragen. Auch das »Willkommens-Netzwerk Pankow hilft« war auf dem Festival vertreten, ein Bündnis von Einzelpersonen und Initiativen, das sich für eine positive Willkommenskultur für die im Stadtteil lebenden Flüchtlinge einsetzt.

»Das Festival soll die Menschen unterstützen, die sich gegen Neonazis und Rassisten im Stadtteil engagieren«, erklärte Max Schneider gegenüber »nd«. Er ist Aktivist der Gruppe »Von Schülern für Alle« (Vosifa). Gegründet wurde sie 2006 von linken Jugendlichen aus dem Nordosten Berlins. Seitdem organisieren sie jedes Jahr das »Open Minds«-Festival an unterschiedlichen Orten im Norden Berlins. Das Festival findet mittlerweile zum neunten Mal statt. »Es geht uns darum, politische und nichtkommerzielle Kultur besonders in Gegenden zu fördern, in denen solche Möglichkeiten sonst nicht gegeben sind«, betont Schneider.

Bereits beim Aufbau des Festes hatte es Auseinandersetzungen mit Neonazis gegeben. Nach Angaben der Organisatoren hatten am Donnerstagabend vier bekannte Rechte, darunter der Pankower NPD-Vorsitzende, auf dem Gelände provoziert. Es kam zu einem Handgemenge bei dem die Rechten auch Pfefferspray eingesetzt haben sollen. Auf der Demonstration stellten Redner diesen Vorfall in den Kontext einer verstärkten Neonazipräsenz in Buch und Umgebung. Die Gruppe ist ist bekannt unter dem Namen »Freie Nationalisten Buch«.

Bereits im Mai 2014, vor der Brandenburger Landtagswahl, war ein SPD-Kandidat in Buch von Neonazis attackiert worden. In den letzten Monaten hat sich die rechte Kampagne vor allem gegen das Containerdorf für Geflüchtete in Buch gerichtet. Es gab mehrere rechte Kundgebungen und auch Angriffe auf das Wachpersonal.

Dass die rechte Kampagne bei manchen Anwohnern auf offene Ohren stößt und es durchaus Unterstützung für rechte Überzeugungen gibt, wurde am Samstag deutlich. »Wir sind von der anderen Seite und wollen nicht, dass die Asylanten hier wohnen«, sagte eine jüngere Frau, die gerade ihren Einkauf erledigte, als sie die Demonstration sah. Auch in unmittelbarer Nähe des Festivalgeländes hatten sich einige Bewohner versammelt und machten ihre Ablehnung deutlich.

Für Schneider ist das aber kein Grund, gleich alle Anwohner Buchs als fremdenfeindlich abzustempeln. So wurden Anwohner ausdrücklich eingeladen, das Festival zu besuchen. Einige nahmen die Gelegenheit gerne wahr und besuchten zum Beispiel die Theateraufführung »Asylmonologe«, die sehr anschaulich das Schicksal von Geflüchteten darstellte.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/974477.von-schuelern-fuer-alle.html

Peter Nowak

„Wir haben es mit einer Krise der sozialen Reproduktion zu tun“

Gabriele Winker über die "Care Revolution" und warum die Sorge-Arbeit im Kapitalismus zunehmend ein Problem darstellt

Die Sozialwissenschaftlerin Gabriele Winker[1] lehrt und forscht an der TU Hamburg-Harburg und ist Mitbegründerin des Feministischen Instituts Hamburg[2] sowie des bundesweiten „Netzwerks Care Revolution“. Im vergangenen Jahr war sie Mitorganisatorin der Aktionskonferenz Care Revolution[3] in Berlin, bei dem verschiedene im Bereich sozialer Reproduktion tätige Gruppen und Personen zusammenkamen. Im März ist im Transcript-Verlag ihr Buch „Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft“[4] erschienen.

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Berlin: Mall of Shame

Rumänen vor Gericht

«Sie haben die Arroganz der Macht, doch sie haben nicht mit unserer Bereitschaft zum Widerstand gerechnet. Was das Aufgeben betrifft, da haben sie bei uns keine Chance.»
Die knapp 200 Demonstrationsteilnehmer brechen in Applaus aus, als Janko E. spricht. Er gehört zu einer Gruppe von rumänischen Arbeitern, die seit über sechs Monaten um ihren Lohn kämpfen (siehe SoZ 2/2015 berichtete). Am 26.April hatte die FAU deshalb zu einer Demonstration aufgerufen. Ein Stundenlohn von 6 Euro sowie Kost und Logis war ihnen versprochen worden. Der Betrag liegt bedeutend unter dem im Baugewerbe gültigen Mindestlohn. Aber selbst dieser wurde den Bauarbeitern vorenthalten.
Im Oktober 2014 wandten sie sich deshalb zunächst an den DGB Berlin Brandenburg. Das im dortigen Gewerkschaftshaus angesiedelte «Beratungsbüro für entsandte Beschäftigte» nahm Kontakt mit dem Generalunternehmer der Baustelle, der Firma Fettchenhauer Controlling & Logistic, auf und schrieb Geltendmachungen. Außer Abschlagszahlungen, die nur einen Bruchteil des vorenthaltenen Lohnes ausmachten, konnten die Bauarbeiter auf diesem Weg allerdings nichts erreichen. Sie hatten weder Arbeitsverträge noch Gewerbescheine – das macht die Durchsetzung ihrer Ansprüche schwierig. Einige nahmen die Abschlagszahlungen und unterzeichneten zudem eine vom Unternehmen vorbereitete Erklärung, wonach sie auf weitere rechtliche Schritte verzichten würden. Andere beharrten darauf, ihren vollen Lohn zu erhalten und wollten weiter gehen. Erst nachdem sich die verbliebenen Bauarbeiter an die FAU wandten, begann die Öffentlichkeitsarbeit. «Mall of Berlin – auf Ausbeutung gebaut», lautete die Parole. Der von der FAU kreierte Begriff «Mall of Shame» hat mittlerweile im Internet Verbreitung gefunden.
Der gesellschaftliche Druck hat bislang aber nicht ausgereicht, damit der Generalunternehmer und seine Subunternehmen die ausstehenden Löhne bezahlen. Dabei handelt es sich um einige tausend Euro. Für die Unternehmen sind es Beträge aus der Portokasse. Für die betroffenen Bauarbeiter und ihre Familien in der Heimat ist das Geld existenziell.

Erster Erfolg vor Gericht
Anfang April errangen zwei der Bauarbeiter einen juristischen Etappensieg. Das Berliner Arbeitsgericht bestätigte die Forderungen von Nicolae Molcoasa und Niculae Hurmuz. Das beklagte Subunternehmen war nicht zur Verhandlung erschienen und hatte auch keinen Anwalt geschickt. So musste das Gericht der Klage stattgeben. Doch wenige Tage später ging ein Anwalt des Unternehmens in Berufung; die Arbeiter müssen nun weiter auf ihren Lohn warten.
Trotz aller Schwierigkeiten betonen die betroffenen Arbeiter, wie wichtig es für sie war, gemeinsam mit der FAU um ihren Lohn zu kämpfen. Nur ein Teil der Betroffenen kann die Auseinandersetzung jetzt noch in Berlin führen. Andere mussten wieder nach Rumänien zurück oder haben in einer anderen Stadt Arbeit gefunden.
Die Kollegen, die bis heute durchgehalten haben, berichten auch über die vielen Schwierigkeiten. Als sie den Kampf begannen, hatten sie weder Geld noch Unterkunft. Die FAU kümmerte sich um Essen und Obdach. Wenn sie auch nach sechs Monaten Kampf noch immer auf ihren Lohn warten müssen, so haben sie doch schon einen wichtigen Erfolg errungen: Sie haben deutlich gemacht, dass ausländische ArbeiterInnen in Deutschland nicht rechtlos sind und sich wehren können.
Denn der Fall der rumänischen Bauarbeiter ist keine Ausnahme. «Es gibt viele solcher Fälle. Nur leider sind die Betroffenen nur selten in der Lage sich zu wehren», meint eine Mitarbeiterin von Amaro Faro, einer Organisation von in Berlin lebenden Romajugendlichen. Das Leben von vielen Arbeitsmigranten aus Osteuropa sei von ständiger Verunsicherung geprägt. Das erstrecke sich nicht nur auf die Löhne und Arbeitsbedingungen, Sie würden in den Jobcentern benachteiligt, seien oft von medizinischer Versorgung ausgeschlossen und müssen wegen rassistischer Diskriminierung am Wohnungsmarkt oft in teuren Schrottimmobilien wohnen. Zudem fehlt es den Betroffenen oft an Kontakten zu Organisationen und Initiativen, die sie im Widerstand unterstützen können.
Mittlerweile ist die Foreigners Sektion der FAU ein Anlaufpunkt für Kollegen aus den verschiedenen Ländern geworden, die in Deutschland um ihren Lohn oder um bessere Arbeitsbedingungen kämpfen.

Berlin: Mall of Shame

Peter Nowak

Home Office ist Grund für Kündigung

Unternehmenssitz in den eigenen vier Wänden: Gewobag geht gegen Mieter vor

Wohnungsmieter werfen der Gewobag vor, für Vertragskündigungen gezielt danach zu suchen, wer im Home Office arbeitet. Grundlage ist ein Gerichtsurteil des BGH. Mieterverbände empfehlen, sich beraten zu lassen.

Viele Wohnungen stehen leer in der Schönhauser Allee 103 im Berliner Stadtteil Pankow. Seit drei Jahren ist das Haus im Besitz der Wohnungsbaugesellschaft Gewobag. »Mittlerweile sind von 32 Wohnungen nur noch acht bewohnt«, erklärt Christoph Baumgarten. Er gehört zu den Mietern, die bleiben wollen. Für seinen Onlinehandel hat er jetzt extra einen Büroplatz gemietet. Bisher hat er Bestellungen von zu Hause über seinen Computer erledigt. Die Gewobag hat ihn wegen gewerblicher Nutzung seiner Wohnung abgemahnt und hatte vor Gericht Erfolg. Auch Baumgartens Wohnungsnachbar Frank Volm wurde wegen gewerblicher Nutzung seiner Wohnung abgemahnt. Er betreibt einen Reparaturservice und hat zu Hause auf seinen Computer gelegentlich Rechnungen geschrieben. Dem Vermieter wurde die Heimarbeit bekannt, weil sie auf Internetseiten gelistet war. Baumgarten hatte auf seiner Internetseite seine Wohnadresse als Unternehmenssitz angegeben. Volms Reparaturservice war mit seiner Wohnadresse ohne sein Wissen auf Internetportalen zu finden.

Beide Mieter werfen der Gewobag vor, gezielte Internetrecherche zu betreiben, um Abmahn- und Kündigungsgründe zu finden. Ein Sprecher der Gewobag wies den Vorwurf zurück, dass dafür extra Anwälte beauftragt worden seien. »Unsere Mitarbeiter haben festgestellt, dass die Mieter ihre Wohnung als Unternehmenssitz im Internet bewerben«, erklärte er.

Das juristische Vorgehen des Unternehmens machte ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Juli 2013 möglich (BGH vom 31. Juli 2013 – VIII ZR 149/13Ö). »Bei geschäftlichen Aktivitäten freiberuflicher oder gewerblicher Art, die nach Außen in Erscheinung treten, liegt eine Nutzung vor, die der Vermieter einer Wohnung ohne entsprechende Vereinbarung grundsätzlich nicht dulden muss«, urteilte das Gericht. Damit wich es von der bisherigen Rechtssprechung ab, die Heimarbeit in einer Wohnung erlaubte, wenn kein Kundenbetrieb stattfand und keine Mitarbeiter beschäftigt waren.

Kritisiert wird das Urteil von Mieterverbänden und Anwälten: »Der BGH hat den Vermietern damit in unverantwortlicher Weise einen neuen Hebel in die Hand gegeben, um unliebsame Mieter loszuwerden«, erklärte der Fachanwalt für Mietrecht Christoph Müller. Die Gewobag bestreitet, dass sie Mieter vertreiben will.

Doch auffällig ist, dass eine weitere Mieterin eines Gewobag-Hauses ihre Wohnung wegen Heimarbeit zu verlieren droht. Martina Lannatewitz wohnt seit 30 Jahren in einer Dreizimmerwohnung in der Raumerstraße 11. Sie ging an die Öffentlichkeit, als bekannt wurde, dass ihre Wohnung nach einer Modernisierung statt 284 Euro kalt 632 Euro kosten sollte. Eine Mietsteigerung von 120 Prozent konnte sie sich nicht leisten. Lannatewitz wurde ebenfalls wegen ihrer Heimarbeit für eine Agentur abgemahnt. Weil sie mit ihrer Wohna-dresse weiterhin im Internet zu finden war, hat die Gewobag jetzt Räumungsklage eingereicht. Fachanwalt Müller rät daher, eine Abmahnung auf keinen Fall zu ignorieren. Mieterverbände empfehlen Betroffenen, sich rechtzeitig beraten zu lassen. Auch die Politik wäre in diesem Fall gefragt. Schließlich nimmt die Zahl der Menschen zu, die von zu Hause aus arbeiten. Viele können sich die Miete für einen getrennten Arbeitsplatz gar nicht leisten. Zudem würde eine verstärke Anmietung von Arbeitsplätzen das Wohnungsproblem nur verschärfen. Schließlich ist die Vermietung von Büros, die nur zeitweise benutzt werden, für viele Hauseigentümer attraktiver als die Vermietung von Wohnungen.

Peter Nowak

Hartz IV für Millionen ein Dauerzustand…

Pegida im Betrieb

Ein Kommentar von Peter Nowak

„So weisen Sie den Betriebsrat in die Schranken“, lautet ein Motto auf einer Homepage, die für Praxis-Seminare von Schreiner und Partner wirbt. Dort werden Führungskräfte der Wirtschaft im Klassenkampf von oben geschult. Die Justiz ist dabei ein wichtiges Instrument und hoch bezahlte Rechtsanwälte sind darauf spezialisiert, Beschäftigte aus den Betrieben heraus zu drängen, die sich für eine kämpferische Interessenvertretung stark machen. Union Busting heißt der Fachbegriff, der in der letzten Zeit hierzulande bekannter wurde. Auf einer Tagung am 14. März in Hamburg hatten sich Betroffene aus der gesamten Republik mit ArbeitsrechtlerInnen und Aktiven aus Solidaritätsgruppen getroffen.

Jessica Reisner von der aktion./.arbeitsunrecht aus Köln, die in den vergangenen Monaten einen wichtigen Beitrag zu den Protesten gegen Union Busting geleistet hat, zog am Ende der Tagung ein vorsichtig optimistisches Fazit. Seminare, in denen der juristische Kampf gegen GewerkschafterInnen gelehrt wird, würden öffentlich zunehmend kritisiert. Tatsächlich gab es in mehreren Städten kleinere Kundgebungen vor solchen Seminarorten. Am Vortag der Hamburger Tagung startete auch erstmals die Aktion „Schwarzer Freitag“. Am 13. März war das Familienunternehmen Neupack, dessen Management noch immer einen engagierten Betriebsrat durch Kündigung loswerden will, Adressat eines Negativpreises. Künftig soll immer dann, wenn der Freitag auf einen dreizehnten fällt, die Firma diese negative Auszeichnung bekommen, die sich beim Union Busting besonders hervorgetan hat.Eine Erkenntnis der Tagung lautete, die beste Waffe gegen die Union Buster sei eine solidarische Belegschaft, die notfalls auch die Arbeit niederlegt, wenn KollegInnen gemaßregelt werden. „Pegida im Betrieb“ sieht der Berliner Arbeitsrechtler Daniel Weidmann als größtes Hindernis für eine solche Solidarität. So bezeichnete er MitarbeiterInnen, die engagierte KollegInnen als UnruhestifterInnen, die den Betriebsfrieden stören, denunzieren.

Erschienen in: Direkte Aktion 229 – Mai/Juni 2015

https://www.direkteaktion.org/229/pegida-im-betrieb

Peter Nowak

Gabriele Winker im Gespräch über die »Care Revolution«

»Die Selbstsorge kommt zu kurz«

Die Sozialwissenschaftlerin Gabriele Winker lehrt und forscht an der TU Hamburg-Harburg und ist Mitbegründerin des Feministischen Instituts Hamburg sowie des bundesweiten »Netzwerks Care Revolution«. Im vergangenen Jahr war sie Mitorganisatorin der Aktionskonferenz »Care Revolution« in Berlin, bei dem verschiedene im Bereich sozialer Reproduktion tätige Gruppen und Personen zusammenkamen. Im März ist im Transcript-Verlag ihr Buch »Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft« erschienen. Mit Winker sprach die Jungle World über die Krise sozialer Reproduktion und die entstehende Care-Bewegung.

Im März 2014 fand in Berlin die erste Konferenz zur »Care Revolution« statt. Was ist seither geschehen?

Die Care Revolution nimmt einen grundlegenden Perspektivwechsel vor. Das ökonomische und politische Handeln soll nicht weiter an Profitmaximierung, sondern an menschlichen Bedürfnissen, primär der Sorge umeinander ausgerichtet sein. Eine Gesellschaft muss sich also daran messen lassen, inwieweit sie grundlegende Bedürfnisse gut und für alle Menschen realisieren kann.

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Unschönes Schöneberg

In Berlin-Schöneberg haben Anwohner als Ursache der Probleme im Stadtteil kürzlich zugezogene Roma ausgemacht. Diese leben in einem heruntergekommenen, überteuert vermieteten Wohnhaus und werden von Schlägertrupps drangsaliert.

Die Angst geht um im Berliner Stadtteil Schöneberg. Seit einigen Wochen leben dort, in der Grunewaldstraße 87, Roma aus osteuropäischen Ländern. In der Einladung zu einem Nachbarschaftstreffen Ende Mai waren Rassisten explizit ausgeschlossen. Doch in manchen Redebeiträgen der ungefähr 30 Mieter, die in der Gegend rund um die Grunewaldstraße wohnen, schwang ein Hauch von Pegida im gutbürgerlichen Schöneberg mit. Von »Problemanwohnern« war die Rede und von denen, »die sich nicht an unsere Gewohnheiten anpassen«.

Ein Mann verteilte auf dem Treffen Telefonnummern der Polizei und ermunterte seine Zuhörer, sie sollten lieber einmal zu oft dort anrufen. Ein anderer Mann schlug vor, selbst zu kontrollieren, wer die Häuser betrete. Ein gewisses Maß an Versachlichung brachten ein Mitglied eines Schöneberger Stadtteilvereins und eine Mitarbeiterin von Sibyll Klotz (Die Grünen), der Schöneberger Stadträtin für Gesundheit, Soziales und Stadtentwicklung, in die Debatte. Sie erinnerten daran, dass die Bewohner der Grunewaldstraße 87 überwiegend legal in Deutschland lebten und mehrheitlich gültige Mietverträge für die Wohnungen abgeschlossen hätten. Die Probleme rührten auch daher, dass die Neumieter oft aus armen Verhältnissen kommen, was mit den Lebensgewohnheiten im gutbürgerlichen Schöneberg kollidiere. Als sich einige Mieter über angebliche Ladendiebstähle der Kinder ihrer neuen Nachbarn echauffierten, erinnerte die Mitarbeiterin der Stadtteilinitiative daran, dass Ladendiebstahl in den Siebzigern auch unter unangepassten Jugendlichen in Deutschland nicht selten war und dafür sogar der Begriff »Einklaufen« kreiert worden sei. Einige Anwesende schimpften über »Gutmenschengerede« und verließen das Treffen.

Wenige Tage später kamen acht Mieter aus der Grunewaldstraße 87 in den Räumen von Amaro Foro, einem Jugendverband für Roma und Nichtroma, in Neukölln zu Wort. Sie berichteten über unzumutbare Wohnbedingungen und ihre Angst vor Schlägertrupps, die der Hauseigentümer bezahle. Mitte Mai seien diese das erste Mal aufgetaucht und hätten die Mieter zum sofortigen Verlassen ihrer Wohnungen aufgefordert. Für den Fall einer Weigerung hätten sie mit Schlägen, der Entführung der Kinder und der Vergewaltigung der Frauen gedroht. Auch Stadträtin Sibyll Klotz sprach im Tagesspiegel von »Armutsausbeutung« und »einem Vermieter mit krimineller Energie«. Doch von der Polizei und der Politik fühlen sich die Mieter im Stich gelassen. Sie hätten Anzeige gestellt und sogar die Namen von mutmaßlichen Tätern genannt. Zudem hätten sie gefordert, dass der Trupp das Haus nicht mehr betreten dürfe. »Die Polizei ist nicht auf unserer Seite«, sagte eine Mieterin, alle anderen stimmten ihr zu.

Unterstützung erhalten die Mieter überwiegend von Amaro Foro. Merdjan Jakupov, der Vorstandsvorsitzende der Organisation, sagte zur Situation in der Grunewaldstraße: »Die hinzugezogenen rumänischen Familien sind nicht dafür verantwortlich, dass ihnen ohne eine Chance auf dem Berliner Wohnungsmarkt stark überbelegter Wohnraum in sehr schlechtem Zustand und völlig überteuert vermietet wird. Die Wohnungen haben zum Teil kein Wasser, keinen Strom und vor allem keine Toiletten.«

In Gesprächen mit den Familien habe sich zudem herausgestellt, dass einige Personen um ihren Lohn geprellt wurden. Diese hätten aber weder Zeit noch Energie, um für die Auszahlung des Gelds zu kämpfen. Näheres zu diesen Fällen ist bislang nicht bekannt. Die Personen wären aber nicht die ersten, denen es so erginge. Auch rumänischen Bauarbeitern des Einkaufszentrums »Mall of Berlin« werden die Löhne vorenthalten. Eine Mitarbeiterin von Amaro Foro sagte Mitte Mai in einer Rede auf der Solidaritätsdemonstration für die Arbeiter: »Viele Betroffene leben, arbeiten und wohnen in solch prekären Verhältnissen, dass sie nicht für ihre Rechte wie ausstehenden Lohn kämpfen können.« Doch im Gespräch mit den Mietern der Grunewaldstraße 87 blitzte auch Kampfbereitschaft auf. »Wenn es einen erneuten Räumungsversuch gibt, verlassen wir alle das Haus und bauen unsere Zelte in einem Park oder vor dem Bezirksamt auf«, sagte ein Mieter unter zustimmendem Nicken der anderen.

http://jungle-world.com/artikel/2015/23/52068.html

Peter Nowak

Wenn Heimarbeit zum Kündigungsgrund wird

Der Bundesgerichtshof hat mit einer veränderten Rechtsprechung die Kündigung von Mietern erleichtert, die von zu Hause aus arbeiten

Viele Klingelschilder sind ohne Namen in der Schönhauser Allee 103 im Berliner Stadtteil Pankow. Das Haus wechselte in den letzten Jahren mehrmals seinen Besitzer. Seit 3 Jahren gehört es der Wohnungsbaugesellschaft Gewobag. „ Schon kurz danach wurde die Mieterberatung Prenzlauer Berg bei uns im Haus aktiv. Die wurden bald nur noch Entmietungsberatung genannt, berichtet ein Bewohner gegenüber MieterEcho Online. Er schildert den Ablauf so: „Der Vortrag in den Räumen der Mieterberatung Prenzlauer Berg war sehr ernüchternd. Zunächst wurde uns mitgeteilt, dass uns der Milieuschutz ohnehin nicht helfen würde, da alle Maßnahmen innerhalb der Möglichkeiten der Modernisierungsmaßnahmen ausgereizt wurden. Dann begann das bekannte Programm: Druck, viele ungebetene Telefonate und immer wieder Drohungen, dass das Sozialplanverfahren eingestellt werden würde, wenn die Mieter nicht unterschreiben.“
Mittlerweile sind von 32 Mietparteien noch 8 übrig. Gegen die Verbliebenen nutzt die Gewobag nun aller rechtlichen Mittel. Zwei wurden abgemahnt, weil sie von ihrer Wohnung aus Computerarbeiten erledigen. Der Mieter Christoph Baumgarten betreibt einen Online-Handel mit Akkus. Sein Hauptlager hat er in Köln. Von seiner Wohnung bearbeitet er Bestellungen am Computer. Auf seiner Internetseite hatte er als Firmensitz die Schönhauser Allee 102 angegeben. Das war für die Gewobag ein Grund für eine Abmahnung wegen unerlaubter gewerkschaftlicher Nutzung. Baumgartens Nachbar Frank Volm wurde abgemahnt, weil er als Kleinunternehmer einen Reparaturservice betreibt und von seiner Wohnung gelegentlich Rechnungen ausstellt. Ohne sein Wissen sei er auf Portalen wie “Meine Stadt“ mit seiner Wohnadresse aufgeführt worden. Die Mieter werfen der Gewobag Bespitzelung vor. Das Unternehmen weist den Vorwurf zurück, dass über die Mieter eine Internetrecherche durchgeführt wurde. „Unsere Mitarbeiter haben festgestellt, dass die Mieter ihre Wohnung als Unternehmenssitz im Internet bewerben“, heißt es dort. Sie spricht von Zweckentfremdung einer Wohnung. Dass aber würde voraussetzen, dass die Wohnung ausschließlich zu gewerblichen Zwecken genutzt wird. Doch Frank Volm und Christoph Baumgarten können nachweisen, dass sie dort wohnen. Das kann auch Martina Lannatewitz nachweisen Sie lebt seit 30 Jahren in einer Dreizimmerwohnung in der Raumerstraße 11. Auch dieses Haus gehört der Gewobag. Nach einer Modernsierung sollte die Miete bei Frau Lannatewitz um über 120 Prozent von 284 Euro kalt auf 632 Euro steigen. Die Mieterin wehrte sich und ging an die Öffentlichkeit. Weil die Gewobag herausgefunden hat, dass auch Frau Lannatewitz für eine Agentur von ihrem Computer arbeitet, wurde sie ebenfalls wegen gewerblicher Nutzung abgemahnt. Weil die Mieterin weiterhin mit ihrer Privatadresse im Internet zu finden ist, hat die Gewobag mittlerweile eine Räumungsklage eingeleitet.

Vermieterfreundliche Rechtssprechung

Dabei nutzt die Gewobag eine vermieterfreundliche Rechtssprechung bei der Frage der gewerblichen Tätigkeit in der eigenen Wohnung. Bisher fanden die Gerichte eine berufliche Nutzung unproblematisch, solange man keine Mitarbeiter beschäftigt und keine Kunden empfängt. Im Jahr 2013 hielt der Bundesgerichtshof die Kündigung eines Mieters für berechtigt, der in seiner Wohnung einen Hausmeisterservice betrieb (BGH vom 31. Juli 2013 –VIII ZR 149/13Ö). „Bei geschäftlichen Aktivitäten, freiberuflicher oder gewerblicher Art, die nach Außen in Erscheinung treten, liegt eine Nutzung vor, die die der Vermieter einer Wohnung ohne entsprechende Vereinbarung grundsätzlich nicht dulden muss“, urteilte der BGH. Eine solche rechtliche Verschlechterung der Mieter, zu einer Zeit, in der die Zahl der Berufe, die vom häuslichen PC erledigt werden wächst, ist unverständlich. Die Gewobag ist sicher nicht der einzige Haubesitzer, der die rechtlichen Möglichkeiten, die ihm hier in die Hand gegeben wurden, ausgiebig ausnutzt.

http://www.bmgev.de/mieterecho/mieterecho-online/heimarbeit-als-kuendigungsgrund.html
Peter Nowak