Der Boykott-Bewegung BDS wird wegen ihrer Haltung zu Israel immer wieder Antisemitismus vorgeworfen, zuletzt auch von der Mehrheit im Bundestag. Dagegen wehren sich Aktivisten nun vor Gericht.
Am Donnerstag wird sich das Berliner Verwaltungsgericht mit einem auch in der Linken umstrittenen Beschluss befassen. Es geht um den Antrag »Der BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen«. Er wurde von den Bundestagsfraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen gemeinsam getragen und am 17. Mai 2019 verabschiedet. Der Beschluss richtet sich gegen die »Boycott, Divestment and Sanctions«-Bewegung (BDS). Sie ruft zum Boykott gegen Israel, israelische Waren und Dienstleistungen, israelische Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Sportler*innen auf. »Der allumfassende Boykottaufruf führt in seiner Radikalität zur Brandmarkung israelischer Staatsbürger*innen jüdischen Glaubens. Dies ist inakzeptabel und scharf zu verurteilen«, heißt es in dem Beschluss. Die den Antrag tragenden Parteien bezeichnen die Argumentationsmuster und Methoden der BDS-Bewegung als …
Union schließt sich rechter Kampagne gegen die Amadeu-Antonio-Stiftung an, unter Merkels Willkommenskultur wurde das Asylrecht drastisch verschärft
„Wir Bayern müssen, wenn die Geschichte es erfordert, notfalls die letzten Preußen werden.“ Dieses wenig bekannte Bekenntnis von Franz Josef Strauß findet sich auf der Homepage der CSU-Bundesabgeordneten Iris Eberl[1]. Sie könnte dort auch an das Bonmot ihres politischen Lehrmeisters erinnern, dass rechts von der CSU nur die Wand sein soll.
Eberl praktiziert diesen Grundsatz sehr genau, wenn sie sich im CSU-Organ Bayernkurier unter der Überschrift: „Meinungsfreiheit – Wir können nicht den Bock zum Gärtner machen“[2] gegen eine Unterstützung der Amadeu-Antonio-Stiftung[3] ausspricht. Die hat sich mit ihrer Förderung einer demokratischen Gesellschaft den Hass aller Rechten auf sich gezogen[4]. Eberl ist da nur eine besonders eifrige Kämpferin gegen eine angeblich linke Meinungsdiktatur.
Rechte Kampagne gegen die Amadeu Antonio Stiftung
„Wie kann es sein, dass in unserem demokratischen Rechtsstaat die Definitionshoheit darüber, was im politischen Diskurs erlaubt ist und was daraus verschwinden muss, einer linken Aktivistengruppe überlassen wird?“ Schon die Fragestellung zeigt, dass Eberl wenig Berührungsängste mit dem rechten Rand hat. Daher lässt sie sich auch von der rechtskonservativen Wochenzeitung Junge Freiheit mit der Forderung an Bundesinnenminister Heiko Maas zitieren[5], die Kooperation mit der Amadeu-Stiftung zu beenden und die finanzielle Förderung zu überprüfen.
Nun ist Eberl damit weder in der CSU noch in deren Schwesternpartei CDU isoliert. So wird im Bayernkurier beklagt, dass durch die Förderung der Amadeu Stiftung „Staatsknete an Linksextremisten“ fließe. Da brauchen die zahlreichen Pegida-Redner, die derlei in den letzten Monaten immer wieder behauptet haben, also nur aus einer den Regierungsparteien nahe stehenden Zeitung zitieren. Neben Eberl haben auch zahlreiche weitere Politiker von CSU und CDU in den letzten Monaten Stimmung gegen die Stiftung verschärft.
Aktueller Stichwortgeber ist der selbsternannte Anti-Stasi-Kämpfer aus Hamm, Hubertus Knabe, der sich wohl nicht zufällig Kahanes Stasi-Akte noch einmal angesehen hat. Sie hat allerdings ihre Tätigkeit für die Stasi nie verschwiegen, aber auch ihren Bruch mit der DDR deutlich gemacht. Wenn Knabe nun titelt „Stasi-IM als Netzspionin?“[6] erweist er sich als Stichwortgeber einer rechten Kampagne[7], die bereits seit Monaten im Gange ist und das Fragezeichen einfach weglässt.
Der Politologe Samuel Salzborn hat in einem wissenschaftlichen Gutachten[8] die rechte Kampagne gegen die Stiftung und dabei auch die Rolle der Union gut beschrieben. Dass nun auch die Junge Union auf dem CDU-Bundesparteigtag den Antrag „Staatliche Förderung der Amadeu-Antonio-Stiftung stoppen!“[9] einbrachte und dieser beschlossen[10] wurde, ist also nur konsequent. Es zeigt, dass die rechte Kampagne in der sogenannten Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Gefordert wird eine Überwachung durch den Verfassungsschutz und eine Wiedereinführung der Extremismusklausel.
Erstaunlich sind hingegen die Reaktionen aus Medien und Politik, die den Eindruck erwecken, da hätten einige Rechte den Parteitag gekapert. Größere Aufmerksamkeit bekam der Beschluss zur Ablehnung der Doppelten Staatsbürgerschaft, der schließlich auch eine knappe Mehrheit bekam. Auch hier zeugt die Reaktion zumindest von einem Kurzzeitgedächtnis. Ist schon vergessen, dass der hessische Ministerpräsident Roland Koch vor knapp 15 Jahren mit seiner Ablehnung gegen die damals von rot-grün geplante doppelte Staatsbürgerschaft Wahlkampf machte und gewann? Er initiierte eine rechtlich unverbindliche, aber politisch sehr wirksame Unterschriftenaktion, an der sich vom ersten Tag an auch die extreme Rechte beteiligte.
Dass der Beschluss auf dem CDU-Parteitag ein überraschender Rechtsruck ist, der die Union politisch isoliert, hat wenig mit der Realität zu tun. Es wird sich zeigen, ob sie mit solchen Beschlüssen nicht nach dem Vorbild von Koch Wahlen gewinnen kann. Dann würden auch die Stimmen der Vertreter von SPD und Grünen, die sich jetzt empört geben, ganz anders klingen. Wenn die dann überhaupt noch gebraucht werden zur Regierungsbildung.
Manche halten sogar eine absolute Mehrheit der Union bei den nächsten Bundestagswahlen für nicht unwahrscheinlich. Da könnte eine Arbeitsteilung gute Hilfestellung ergeben. Weil sich Merkel verbal von dem Beschluss zur Ablehnung der doppelten Staatsbürgerschaft distanziert, bleibt sie weiterhin ein Bezugspunkt für manche Liberale und Linke. Um die Basis vor der Wahl der AfD abzuhalten, wird der Beschluss auch gegen Merkels Bekundungen im Wahlkampf eine Rolle spielen.
Doch wie die linksliberalen Merkel-Unterstützer beharrlich darüber hinweggesehen haben, dass die Kampagne gegen die Amadeu Stiftung von Unionspolitikern munitioniert wird, wollen sie sich auch eine andere Fama nicht ausreden lassen: Dass Deutschland unter Bundeskanzlerin Merkel das Land der Willkommenskultur für Geflüchtete ist. Diese Überzeugung haben nicht nur Rechte aller Couleur, die dagegen Sturm laufen und Merkel zum Feindbild erklären. Auch bis weit ins linke Milieu gilt Merkel als das freundliche Gesicht Deutschlands, die sich für die Rechte der Migranten einsetzt.
Ein ganz anderes Bild zeichnet die aktuelle Ausgabe der Publikation „Cilip – Bürgerrechte und Polizei“ mit dem Schwerpunktthema „Überwachung, Verdatung und Sanktionen. Die neuen Maßnahmen gegen Geflüchtete“[11]. Das Heft widmet sich in 10 Kapiteln den massiven Verschärfungen des Asylrechts, die die Regierungskoalition seit Herbst 2015 im Windschatten der Debatten über die Willkommenskultur durchgesetzt hat.
Der Cilip-Mitherausgeber Heiner Busch sieht in den Bedrohungsszenarien, die nicht nur von ultrarechten Kreisen verbreitet wurden, einen wichtigen Grund, dass diese Gesetzesverschärfungen ohne relevanten Widerstand möglich wurden. Busch zitierte den Staatsrechtler Udo Di Fabio, der in seinem im Januar 2016 für die bayerische Landesregierung erstellten Gutachten[12] schrieb: „Kann ein Staat die massenhafte Einreise von Menschen in sein Territorium nicht mehr kontrollieren, ist ebenfalls seine Staatlichkeit in Gefahr.“ Solche Sätze lieferten nicht nur der bayerischen Staatsregierung[13], sondern allen rechten Gegnern der Flüchtlinge die passenden Stichworte. Sie liefern auch die Rechtfertigung, für die verschärfte staatliche Gewalt gegen Geflüchtete und Migranten.
Keine Obergrenze für Maßnahmen gegen Geflüchtete und Migranten
„Eine Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen mag verfassungswidrig sein, aber eine Obergrenze für symbolische Gesetzgebung mit habhaften, gar gewaltsamen Folgen für die davon Betroffenen ist vorerst nicht in Sicht“, lautet das ernüchternde Fazit[14] von Heiner Busch über die von vielen so hochgelobte Flüchtlingspolitik von Merkel.
Im aktuellen Cilip-Heft gibt es für diesen Befund zahlreiche Beispiele im Detail. So beschreibt das Vorstandsmitglied des Komitees für Grundrechte und Demokratie[15], Christoph Schröder, wie seit Sommer 2015 die Polizei zahlreiche Aufgaben der Asyl- und Sozialbehörden übernommen hat. Was als Ausnahmesituation angesichts des Andrangs der Geflüchteten gerechtfertigt wurde, ist längst zum Normalzustand geworden Die Folge der Verpolizeilichung der Flüchtlingsarbeit bedeutet auch eine Einschränkung der Rechte für die Menschen: „Die zahlreichen Polizisten übertrugen die Arbeitsstrukturen und Organisationsformen aus dem Polizeialltag auf das Flüchtlingsmanagement“, so Schröder.
Der Mitarbeiter des Bayerischen Flüchtlingsrats[16], Stefan Dünnwald, bezeichnet die in dem Bundesland eingerichteten Ankunfts- und Rückführungszentren[17] für Menschen aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten als Orte der Ausgrenzung und der Rechtlosigkeit.
Der Referent für Innenpolitik bei der Linksfraktion Dieter Burczyk zeigte am Beispiel von zwei neuen Gesetzen, wie die Geflüchteten zum riesigen Datenpool für viele Behörden werden. Der ebenfalls als Referent für die Linkspartei arbeitende Matthias Monroy beschreibt, wie mit Verweis auf angebliche Schleusertätigkeiten die Befugnisse von Polizei und V-Leuten in den letzten Monaten massiv ausgeweitet wurden. Dabei wird auf die Ermittlungen im Ausland besonderer Wert gelegt. Ein wichtiger Kooperationspartner für die verdeckten Ermittler ist nach wie vor die Türkei, wo der V-Leute Einsatz für Festnahmen sorge
Die Berliner Rechtsanwältin Anja Lederer ging in ihren Beitrag[18] auf die 2016 beschlossenen Verschärfungen im Ausweisungsrecht ein. Es diene der Disziplinierung der Menschen ohne deutschen Pass und sanktioniere Handlungen, die nach dem Strafrecht nicht verfolgt würden“, so ihr Fazit.
Wenn Rechte die Einheitsfeier in Dresden stören, darf nicht vergessen werden, dass ihre Wurzeln in den Herbst 1989 reichen
Der Grünenpolitiker Matthias Oomen[1] hat mit einem Scherz nicht nur die rechte Szene, sondern alle deutschen Patrioten aufgebracht. Dabei hat er den Fund einer Fliegerbombe mit den Worten kommentiert: „DD Fliegerbombe. Das lässt ja hoffen Do! It! Again!“
Damit erinnerte er an den Slogan „Bomber Harris do it again“, mit dem in den 1990er Jahren antideutsche Antifas gegen die deutschen Verhältnisse anstänkern wollten. Damals gehörte der Publizist Jürgen Elsässer zu den Unterstützern der Parole. Dafür muss er bei seinen jetzigen politischen Gesinnungsgenossen wohl noch Abbitte leisten, schließlich greift[2] er in seinem Querfrontmagazin Compact jetzt Oomen besonders heftig dafür an, dass er noch an eine Zeit erinnert, wo die Kritik an Deutschland noch zu den Medienereignissen gehörte. Das hat sich mittlerweile geändert. Im Jahr 2016 gab es auch in Dresden vom Bündnis „Nationalismus ist keine Alternative“[3] organisierte Proteste gegen die Einheitsfeier und ihre rechten Kritiker.
Wenn zivilgesellschaftliche Organisationen vom fehlenden Anstand statt von Rassismus sprechen
Doch medial wurden die Pöbeleien einiger hundert Rechter aus dem Umfeld der zerstrittenen Pegida-Bewegung wahrgenommen, die Merkel, Gauck und andere geladenen Gäste als Volksverräter beschimpften und mit Trillerpfeifen auspfiffen. Während selbst das zivilgesellschaftliche Bündnis Atticus[4], statt von Rassismus und rechten Populisten zu sprechen, nur monierte, dass Respekt und Anstand immer weniger Geltung besitzen würden, erwähnte[5] die Zeit immerhin, wer auch am 3. Oktober die eigentlichen Opfer deutscher Patrioten waren: „Ein dunkelhäutiger Mann, der zum Gottesdienst wollte, wurde mit „Abschieben“-Rufen empfangen.“ Schon im Vorfeld der turnusmäßig rotierenden Einheitsfeierlichkeiten wurde diskutiert[6], ob es klug ist, diese in Dresden, der Stadt von Pegida, zu begehen oder abzusagen. Besonders nach den Anschlägen gegen eine Moschee und ein Kongresszentrum, die zunächst linken Gruppen untergeschoben werden sollten, wurde die Kritik am Austragungsort Dresden lauter.
Einheitsfeier selber ist das Problem und nicht nur der Ort
Doch selbst die Gegner dieses Ortes stellten nicht die Einheitsfeierlichkeiten in Frage, sondern beeilten sich zu betonen, dass man eigentlich niemand das Feiern vermiesen soll. Genau darin liegt das Problem.
Am 3.Oktober wird nämlich genau jene „Wir sind ein Volk-Bewegung“ gefeiert, die im Herbst 1989 mit schwarzrotgoldenen Fahnen und Deutschland-Deutschland-Rufen von Sachsen ausgehend die Straßen und Plätze der ehemaligen DDR überrollten. Schon damals waren die wenigen Menschen, die nicht ins deutsche Reinheitsgebot passten, beispielsweise Vertragsarbeiter aus Vietnam, Angola oder Mozambique, zur Zielscheibe der deutschen Patrioten geworden.
Opfer dieser deutschen Patrioten wurden auch schnell die Kräfte in der DDR-Opposition[7], die gegen die autoritäre SED-Herrschaft auf die Straße gingen und für eine demokratische DDR, aber nicht für eine Wiedervereinigung kämpften. Das Wort von den Wandlitzkindern machte schnell die Runde, weil manche dieser Oppositionellen aus Familien kamen, die nach dem 2. Weltkrieg in der DDR eine neue Republik aufbauen wollten.
Die Patrioten wurden im Herbst 1989 nicht nur mit Fahnen und Infomaterial aus der BRD gesponsert. Daran beteiligten sich auch rechte Parteien wie die Republikaner, die durchaus als AfD-Vorläufer gelten können. Aber auch die Unionsparteien hatten ein großes Interesse, in Ostdeutschland eine nationalistische Bewegung aufzubauen, die statt einer erneuerten DDR den schnellen Anschluss an die BRD favorisieren.
Seit Ende Oktober 1989 wird dafür systematisch Stimmung gemacht. Dafür gehen die Unionsparteien das Bündnis mit der ultrarechten Deutschen Sozialen Union[8] ein, von deren Kadern der ersten Stunde sich viele in weiteren rechten Kleinstgruppen und heute in der AfD wiederfinden.
Wenn am 3. Oktober die deutsche Einheit gefeiert wird, dann wird auch der Sieg über die DDR-Opposition gefeiert, die genau diese Einheit abgelehnt hatte. Der Runde Tisch der DDR hatte unter maßgeblicher Federführung dieser Gruppen den BRD-Parteien verboten, sich in den Wahlkampf für die Volkskammer im März 1990 einzumischen. Von allen BRD-Parteien wurde dieser Beschluss ignoriert.
Wenn heute oft behauptet wird, die Einheitsfeiern wären eine Sache der DDR-Opposition, wird nur deutlich, wie gründlich die deutschen Patrioten gesiegt haben. Sie haben die Geschichte der DDR-Opposition der ersten Stunde und ihrer Ziele weitgehend verdrängt. Allerdings muss auch erwähnt werden, dass sich manche von ihnen dem Sog zur Einheit nicht versagten konnten oder wollten und stillschweigend ihre ursprünglichen Ziele revidierten. Doch es gibt noch immer kleine Gruppen der DDR-Opposition, die an den Ursprungszielen festhalten[9]. Für sie ist der 3. Oktober kein Feiertag, sondern der Endpunkt einer Niederlage.
Nährboden für neuen Rechtsterrorismus lag auch im Vereinigungspathos
Der Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn[10] hat in einem Gastbeitrag[11] für die Zeitschrift Kontext die Entwicklungen der Rechten in den frühen 1990er Jahren mit der aktuellen Situation verglichen und kommt zu einem alarmierenden Befund:
Analysiert man die historische Konstellation, dann drängen sich Parallelen zu den frühen 1990er-Jahren und einer innenpolitischen Entwicklung auf, in der der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) entstand und mindestens zehn Morde und eine Reihe weiterer Straftaten begangen hat. Dieser Blick zurück zeigt: Die Situation heute ist in mancherlei Hinsicht noch bedrohlicher – und die Entstehung neuer rechtsterroristischer Netzwerke mehr als wahrscheinlich.Samuel Salzborn
Samuel Salzborn
Dabei geht Salzborn auch auf die Verantwortung des „Vereinigungspathos“ für das damalige rechte Klima ein und bezieht sich dabei auf die Arbeiten[12] des Sozialwissenschaftlers Wolfgang Kreutzberger.
Geprägt von einem, so Kreutzberger, „Vereinigungspathos“, zeigten sich die Maßnahmen gegen Rechtsextremismus nicht nur pädagogisch weitgehend hilflos, sondern die Justiz operierte auch strafrechtlich mit vergleichsweise milden Urteilen gegen rassistische Gewalttäter, obgleich es auch zu neuen Vereinigungsverboten kam. Wesentliche Rahmenbedingungen waren hierbei auch, dass im Kontext der deutschen Einheit die Toleranz für rassistische Gewalttaten in der Bevölkerung zunahm und überdies mit den Stimmen fast aller Parteien das Asylrecht drastisch eingeschränkt wurde.Samuel Salzborn
Samuel Salzborn
Es ist also völlig verfehlt, die „unpolitische Einheitsfeier“ und ihre rechten Pöbler als Gegensätze zu sehen. Nur im Unterschied von vor 26 Jahren organisieren sich die Rechten heute nicht mehr unter dem großen Dach der Allianz für Deutschland[13] mit ihrem ultrarechten Flügel, der DSU, sondern haben längst eigenständige Ziele und Strukturen.
Wahlrechtsänderung schafft neue Beteiligungsrechte für Deutsche, die längst nicht mehr in Deutschland leben
Während 1,8 Millionen Menschen, die in Deutschland leben, als Migranten das Wahlrecht vorenthalten wird, dürfen Auslandsdeutsche abstimmen – auch wenn sie seit Jahrzehnten nicht mehr in Deutschland leben.
Bei den Bundestagswahlen am 22. September kommt erstmals eine Änderung des Wahlrechts zum Tragen, die bisher in der Öffentlichkeit kaum beachtet wurde. Der Kreis der wahlberechtigten
Auslandsdeutschen wurde erweitert. Dabei handelt es sich um deutsche Staatsbürger, die seit Jahrzehnten dauerhaft im Ausland leben. Sie konnten bisher an Bundestagswahlen teilnehmen, wenn sie vor ihrem Wegzug mindestens drei Monate ununterbrochen in Deutschland gelebt haben und ihre Migration nicht länger als 25 Jahre zurückliegt. Dagegen hatte ein 1982 in Belgien geborener deutsche Staatbürger geklagt, der nie in Deutschland gelebt hat und dem deshalb das Wahlrecht zum Bundestag verweigert worden war. Im Juli 2012 gab das Bundesverfassungsgericht dem Kläger Recht. Es sei nicht generell zu beanstanden, dass der Gesetzgeber das Wahlrecht an der Dauer des Aufenthalts in Deutschland abhängig mache. Die Dreimonatsregelung sei allerdings willkürlich, urteilte das Gericht und forderte eine Änderung des Gesetzes.
Nach der neuen Regelungen, die bei der Bundestagswahl erstmals zur Anwendung kommt, können Auslandsdeutsche, die vor Jahrzehnten Deutschland verlassen haben und sich dort nicht mehr aufhielten, auch dann wählen, wenn sie „aus anderen Gründen persönlich und unmittelbar Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland erworben haben und von ihnen betroffen sind“.
Der Gießener Politologe Samuel Salzborn sieht in dieser Reform in demokratiepolitischer Hinsicht einen Rückschritt. Unter der Hand sei hier eine Regelung eingeführt worden, die das Abstammungs- und Schicksalsprinzip wieder salonfähig mache, von dem man sich im Jahr 2000 doch eigentlich verabschiedet hatte. Die von der damaligen rotgrünen Regierung verfochtene Reform des Staatsbürgerschaftsrechts sollte auch seit Jahrzehnten in Deutschland lebenden Einwanderern mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten ermöglichen. Dagegen liefen die CDU/CSU und verschiedene rechte Parteien Sturm. Der damalige hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) reagierte mit einer Unterschriftensammlung gegen die doppelte Staatsbürgerschaft. Bis heute bleiben viele in Deutschland lebende Einwanderer vom Wahlrecht ausgeschlossen. Wie die Bundesabgeordnete der Linkspartei Sevim Dagdelen in einer Pressemitteilung schreibt, sind davon 1, 8 Millionen Nicht-EU-Bürger, die oft schon seit Jahrzehnten in Deutschland leben, betroffen. Dagdelen fordert wie zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen, dass in Deutschland mitbestimmen können muss, wer dauerhaft hier lebt. Die Wahlrechtsänderung geht nun in eine andere Richtung. Während Menschen, die nie, nur sehr kurz oder lediglich vor geraumer Zeit einmal in Deutschland gelebt haben und inzwischen dauerhaft in einem anderen Staat leben aber einen deutschen Pass haben, über die Zusammensetzung des Bundestags mitentscheiden können, bleiben Nicht-EU-Bürger davon ausgeschlossen, obwohl sie seit Jahrzehnten in Deutschland legen. „Abstimmung durch Abstammung“ bringt Salzborn dieses Wahlmodus auf den Begriff.
Während 1,8 Millionen Menschen, die in Deutschland leben, kein Wahlrecht haben, dürfen Auslandsdeutsche, die nie hier lebten, wieder mitbestimmen
Die letzte Phase des Wahlkampfs hat begonnen und schon hoffen manche, dass diese Phase bald abgeschlossen ist und die Plakate wieder aus dem Straßenbild verschwinden. Selbst eine wahlkampfplakatfreie Zone [1] in der Berliner Innenstadt wurde von der Taz bereits in die Diskussion gebracht. Dabei wird oft vergessen, dass zahlreiche in Deutschland lebende Menschen gar nicht wählen dürfen. In einer Presseerklärung [2] beziffert die Abgeordnete der Linkspartei Sevim Dagdelen [3] die Zahl der in Deutschland lebenden Nicht-EU-Bürger von 1,8 Millionen. Sie dürfen in Deutschland nicht wählen, obwohl sie dort seit Jahren leben.
Dagdelen stelle die Forderung auf, dass in Deutschland mitbestimmen können muss, wer dauerhaft hier lebt. „Wahlrecht für Alle“, lautet auch die Forderung der Berliner Stadtteilinitiative Nachbarschaftshaus Urbanstraße, die am Wochenende auf dem Festival gegen Rassismus [4] einen Workshop [5] zu dem Thema veranstalteten. Union und FDP konnten sich schon aus eigennützigen Gründen für die Forderung nicht begeistern.
Trägt das Wahlrecht zur Integration bei?
Diese Parteien konnten in Migrantenkreisen auf wenig Unterstützung zählen, weil sie auch nicht als deren Interessenvertreter auftraten. Doch eine nichtrepräsentative Telefonumfrage des Dortmunder Forschungsinstituts Futureorg [6] kommt zu dem Schluss, dass die Unionsparteien bei Deutschtürken zulegen, während Grüne und SPD an Zustimmung einbüßen. Die Auslassungen des SPD-Mitglieds Sarrazin habe dabei ebenso eine Rolle gespielt wie die Unterstützung Grüner Spitzenpolitiker für die vom Gezipark ausgehenden Proteste in der Türkei. Es ist einleuchtend, dass Anhänger der türkischen AKP-Regierung nicht begeistert sind, wenn die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth in Istanbul den Schulterschluss mit seinen Kritikern übt. Erstaunlich war eher, dass Anhänger der konservativen AKP-Regierung überhaupt die Grünen gewählt haben. Dabei sind zahlreiche von deren Wertvorstellungen eher im rechten Lager aufgehoben.
So machen die Zahlen von Futureorg, sollten sie sich bei weiteren Vorstellungen bestätigen, deutlich, dass das Wahlrecht zur Integration von nicht in Deutschland geborenen Menschen beiträgt. Allerdings müssen die Ergebnisse des Instituts auch kritisch gesehen werden, weil dort von hochqualifizierten Migranten die Rede ist und so Nützlichkeitsrassismus Vorschub geleistet wird, der Menschen aus anderen Ländern dann Rechte zugesteht, wenn sie vermeintlich dem deutschen Standort nützen. Doch die Tendenz der Ergebnisse ist einleuchtend. Die Deutschtürken wählten zunächst mit den Grünen und der SPD Parteien, die ihnen mehr Partizipation versprachen. Hatten sie das Wahlrecht erreicht, entschieden sie sich für die Parteien, die ihren sonstigen politischen Ansichten am nächsten kamen – und da ist für die große Mehrheit der AKP-Anhänger die Union sicher eine Option. Dieser Trend dürfte sich verstärken, wenn Parteigründungsversuche wie das bei diesen Wahlen antretende Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit [7], dem gute Kontakte zur türkischen Regierung nachgesagt werden, im Promillebereich bleiben werden. Die CDU hat schon auf darauf reagiert und stellt vermehrt konservative Deutschtürken bei den Wahlen auf.
Die Übernahme der Forderung nach einem Wahlrecht für Alle ist allerdings bei der Union nicht zu erwarten. Eher dürfte das Konzept des modernistischen Flügels der Partei darin besehen, bestimmte Gruppen von Einwandern Partizipationsmöglichkeiten zu geben und andere weiter auszuschließen. Der noch einflussreiche traditionelle Flügel dürft schon mit solchen zaghaften Reformansätzen Probleme haben.
Rückkehr zum ethnischen Staatsbürgerrecht
Während also viele Menschen, die seit Jahren in Deutschland leben, weiter vom Wahlrecht ausgeschlossen sind, dürfen bei der Bundestagswahl Auslandsdeutsche [8] mit abstimmen, obwohl sie dauerhaft im Ausland leben und auch nicht vorhaben, nach Deutschland zurückzukehren. Sie müssen nur „persönlich und unmittelbar Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland erworben haben und von ihnen betroffen“ sein, wie es §12 Absatz 2 Satz 1 Ziffer 2 des Bundeswahlgesetzes [9] heißt. Diese wenig beachtete Regelung wurde eingeführt, nachdem das Bundesverfassungsgericht eine Änderung des Wahlrechts in diesem Punkt angemahnt hatte. Der an der Universität Gießen lehrende Politikwissenschaftler Samuel Salzborn kritisiert [10] diese Regelung als eine Rückkehr zum auf ethnischer Abstammung basierenden Staatsbürgerschaftsrecht, von dem sich die rotgrüne Bundesregierung 2000 eigentlich verabschieden wollte. „Aus der Perspektive eines ‚Demos‘-Konzepts, das nicht auf die ethnische Zusammensetzung des Wahlvolks Bezug nimmt, sondern auf die Menschen, die im Staatsgebiet leben, ist die neue Fassung nicht begründbar. Sie erlaubt schließlich Menschen, die nie, nur sehr kurz oder lediglich vor geraumer Zeit einmal in Deutschland gelebt haben und inzwischen dauerhaft in einem anderen Staat leben, über die Frage zu entscheiden, wie sich dieses Land künftig politisch ausrichtet“, so Salzborn. Er gibt damit den Verfechtern des Konzepts Wahlrecht für Alle wichtige Argumente in die Hand. Es ist nicht verwunderlich, dass im Wahlkampf die Rückkehr zum Abstammungsprinzip bei der Abstimmung auch von den Grünen und den Linken nicht thematisiert wird. Schließlich will keine Partei auf die Stimmen der Auslandsdeutschen verzichten.