An den konkreten Anlässen für die Sperren zeigt sich, dass sie in Deutschland oder Großbritannien keine strafrechtliche Relevanz haben
„Wir haben etwas entfernt, was Du gepostet hast“ oder „Konto gesperrt“ – solche Meldungen hat der Referent für Gewerkschaftsfragen bei der Rosa Luxemburg Stiftung[1], Florian Wilde[2] immer wieder über seinem Facebook-Account erhalten. Die Gründe sind beliebig. Allerdings ist auffällig, dass die Anträge von der türkischen Justiz kommen und die von ihr inkriminierten Texte und Bilder in Deutschland nicht strafrechtlich relevant sind.
So kassierte Wilde eine siebentägige Sperre bei Facebook, weil er Fotos aus einer Dokumentation über eine türkeikritische Demonstration in Hamburg gepostet hat. Dabei habe er nach vorherigen Sperren schon darauf geachtet, dass Symbole der kurdischen Arbeiterpartei PKK oder Forderungen nach der Freilassung von deren Vorsitzenden Öcalan nicht unter dem geposteten Material waren. Das waren schließlich die Gründe für die vorigen Sperren.
Das macht auch deutlich, wie disziplinierend sie wirken. Doch übersehen hatte er, dass für die türkische Justiz neben der kurdischen Nationalbewegung auch diverse linke Parteien und Gruppierungen relevant sind und sie verfolgt werden. Obwohl die im Unterschied zur PKK in Deutschland nicht verboten sind, führt Facebook auf Zuruf von türkischen Behörden die Internetsperre durch. Für die Nutzer gibt es kaum Möglichkeiten, sich davor zu schützen, betont Wilde.
Türkeikritische Dokumentationen auf Facebook sind kaum möglich
„Da es von Facebook keine Listen gibt, aus denen hervorgeht, was genau verboten ist und was nicht, sind Fotodokumentationen zu türkeikritischen Demonstrationen in Deutschland auf Facebook unmöglich geworden,“ resümiert er. Das ist schließlich auch das Ziel der türkischen Justiz und der Regierung.
So viel freiwillige Kooperation von Facebook ist natürlich besonders vorteilhaft für die türkische Regierung. Damit kann sie auch außerhalb der Türkei bestimmen, welche Inhalte die Facebook-Nutzer zu sehen bekommen. Nun ist Wilde kein Einzelfall.
Viele Menschen, die sich mit der kurdischen Sache oder mit der türkischen Demokratiebewegung befassen, sind ebenfalls mit solchen Facebook-Sperren konfrontiert. Dazu gehört der in München lebende Student Kerem Schamberger[3] , der seine Facebook-Sperren dokumentierte[4].
Von den Sperren sind nicht nur Facebook-Nutzer in Deutschland betroffen. Eine britische Journalistin hat sich ausführlich[5] mit dem Thema befasst.
Kann die Internetgemeinde Facebook nicht unter Druck setzen?
„Wir reagieren auf berechtigte Ansprüche im Zusammenhang mit strafrechtlichen Fällen. Jede einzelne Anfrage, die wir erhalten, wird auf ihre rechtliche Relevanz geprüft“, schreibt[6] Facebook zur Praxis des Sperrens. Nun zeigt sich an den konkreten Anlässen für die Sperren, dass sie in Deutschland oder Großbritannien keine strafrechtliche Relevanz haben.
Es werden also die restriktiven Bestimmungen der Türkei zur Grundlage für die Sperren gemacht. Allerdings ist es keineswegs überraschend, dass Weltkonzerne, genauso wie viele Regierungen sehr gut mit unterschiedlichen diktatorischen Regimen, kooperieren. Sie verkaufen Abhörtechnik an solche Länder und kooperieren mit den Repressionsorganen. Nun stellt sich trotzdem die Frage, ob eine große weltweit agierende Internetgemeinde Facebook nicht mit einer konkreten Forderung unter Druck setzen kann.
Der Konzern müsste aufgefordert werden, einsehbare überprüfbare und an den Menschenrechten orientierte Kriterien für die Sperren zu entwickeln und auch einzuhalten. Es wäre auch eine Probe aufs Exempel, ob die vielzitierte Internet-Gemeinde sich in einer menschenrechtlichen Frage koordinieren und entsprechend handeln kann. Gerade in einem Land, wo wochenlang über den Fall Böhmermann diskutiert wird, müsste es doch einfacher sein, einen solchen Druck aufzubauen.
Es ist allerdings bemerkenswert, dass kaum Medien über die Facebook-Sperren im Interesse des Erdogan-Regimes berichten. Hier geht es schließlich tatsächlich um den politischen Kampf, um Menschenrechte, und nicht um ein unpolitisches Gedicht und einen sich damit profilierenden Journalisten.
Vor acht Jahren hatten Bahnarbeiter die Schließung des Ausbesserungswerkes in der Schweizer Stadt Bellinzona verhindert. Nun steht es erneut vor dem Aus.
Das Städtchen Bellinzona im Schweizer Kanton Tessin steht für den erfolgreichen Kampf gegen eine Werkschließung. 2008 hatten 400 Beschäftigte der Schweizer Bundesbahn (SBB) das von der Schließung bedrohte Ausbesserungswerk besetzt. Die große Unterstützung in der Region und die Entschlossenheit der Beschäftigten führten nach Jahren zum Erfolg: Die SBB nahm die Pläne zurück. In einer 2013 abgeschlossenen Vereinbarung verpflichtete sie sich, für ein mit den Vorjahren vergleichbares Auftragsvolumen zu sorgen. Zudem sollte dem Werk eine größere Autonomie eingeräumt werden.
Nur eingehalten hat die SBB die Abmachung nicht, moniert Gianni Frizzo. Der UNIA-Gewerkschafter war 2008 als Stimme des Widerstands über die Schweiz hinaus bekannt geworden. Ein neuer Arbeitskampf scheint wahrscheinlich, nachdem die SBB ein Ultimatum der Belegschaft ignoriert hatte. Bis zum 15. April sollte das Unternehmen mit konkreten Maßnahmen beweisen, dass sie die Vereinbarungen künftig umsetzen wird.
In der vergangenen Woche diskutierten die Beschäftigten auf einer Vollversammlung die weiteren Schritte. Die Belegschaftsvertreter sind aus dem 2013 geschaffenen Kompetenzzentrum ausgetreten, in dem strittige Fragen einvernehmlich geklärt werden sollten. Außerdem wurde die Tessiner Regierung aufgefordert, die SBB zur Einhaltung ihrer vertraglich vereinbarten Verpflichtungen aufzufordern. Die Versammlung endete mit einer lautstarken Demonstration.
Acht Jahre nach dem letzten Streit gibt sich Frizzo kämpferisch: »Der Ball liegt bei der SBB. Auf unserer Seite gibt es eine große Entschlossenheit«, beantwortete der Gewerkschafter die Frage eines Fernsehreporters, ob die Beschäftigten von Bellinzona auch Kampfmaßnahmen außerhalb ihres Betriebs vorbereiten. Konkret wollte der Journalist wissen, ob während der Einweihungsfeier des neuen Gotthard-Tunnels am 1. Juni Proteste geplant sind. Frizzo ließ das offen. Deutlicher wurde Ivan Cozzaglio, der 2008 Mitglied des Streikkomitees war. Der Metallkeil, mit dem damals die Zufahrtsgleise zugeschweißt worden waren, passe perfekt auf die Schienen des Alpen-Transit, erklärte er.
»Die Unterstützung in der Region für die Forderungen der Beschäftigten ist unverändert groß«, erklärt Uwe Krug gegenüber »nd«. Der in der GDL organisierte Bahnbeschäftigte aus Berlin hatte im März eine Versammlung in Bellinzona besucht. Krug bezweifelt aber, dass ein Arbeitskampf wie 2008 heute in Bellinzona möglich ist. Die Basis der kämpferischen Beschäftigten habe sich kaum erweitert. Zudem sei die Solidarität in der Schweizer Bevölkerung bisher sehr gering. Es gebe einen Konkurrenzkampf unter den Ausbesserungswerken, so Krug.
Gewerkschafter im europäischen Ausland hingegen verfolgen die Entwicklung um Bellinzona mit großem Interesse – in mehreren Ländern gibt es Informationsveranstaltungen.
Vom Dilemma der Freihandelsgegner angesichts der Präsidentenwahlen in den USA und des VW-Skandals
Der US-Präsident ist auf Abschiedstour in Europa und der deutsche Außenminister Steinmeier erklärt[1] in den Medien: „Es kann sehr schnell kommen, dass wir Obama nachtrauern.“ Doch wer ist dieses Wir?
Zumindest die Kräfte innerhalb der Regierungskoalition, die sich den deutschen Aufstieg an der Seite oder zumindest in Kooperation mit den USA vorstellen, sind damit gemeint. Denn Obama hat immer deutlich gemacht, dass er Deutschland als Führungsmacht in der EU anerkennt. Allein Obamas Agenda für seine Abschiedstour als Präsident in Europa macht das deutlich. Denn in Hannover ist nicht nur ein Ort für eine kurze Stippvisite. Es soll gleich einen kleinen Gipfel von Regierungsvertretern geben, die Deutschlands Machtanspruch verdeutlichen sollen.
Leere Drohungen Obamas in London
Es ist auch ein Affront gegen Großbritannien, wo Obama vor allem als der Staatsmann auftrat, der Ratschläge in Sachen EU-Mitgliedschaft erteilte und dabei Ankündigungen machte, die er nicht einlösen kann. Wenn er beispielsweise erklärt, dass es für Großbritannien nach einen EU-Austritt keine privilegierten Beziehungen mit den USA geben wird und sich das Land bei Verhandlungen hinten anstellen muss, können Brexit-Befürworter darauf verweisen, dass Obama genau hier unglaubwürdig ist.
Schließlich hätte er zumindest darauf hinweisen müssen, dass das für seine Amtszeit gilt und die läuft in wenigen Monaten aus. Seine möglichen Nachfolger aber haben sich darauf nicht festgelegt. Und so könnte sich die Drohung sogar als Pluspunkt für die Brexit-Gegner erweisen. Die können darauf verweisen, dass es eine leere Drohung aus Gefälligkeit gegenüber dem britischen Premierminister Cameron ist.
Sie stellt aber gleichzeitig Obamas Glaubwürdigkeit an diesem Punkt in Frage. Käme das Statement am Anfang von Obamas Amtszeit, wäre es tatsächlich eine ernstzunehmende Drohung für die Brexit-Befürworter gewesen, aber nicht bei einem Präsidenten auf Abschiedstour. Die Brexit-Befürworter in Großbritannien und in anderen europäischen Ländern werden also nicht zu denen gehören, die Obama nachtrauen. Doch wie steht es mit den zahlreichen TTIP-Kritikern in Deutschland und Europa?
Trump – Hoffnung für TTIP-Gegner?
Erst am vergangenen Samstag sind in Hannover in Hannover in Vorfeld des Obama-Besuchs wieder mehrere Zehntausende[2] auf die Straße gegangen. Doch sie sind in einen Dilemma. Denn eigentlich müssen sie das Ende der Obama-Administration begrüßen. Denn es scheint zurzeit fast so, als wäre er noch der letzte Garant, dass das TTIP-Abkommen überhaupt ratifiziert wird. Angesichts der ökonomischen Entwicklung ist die Stimmung in der Bevölkerung der USA längst nicht mehr freihandelsfreundlich, was sich auch in den Statements der Präsidentenanwärter widerspiegelt.
Ein konservativer TTIP-Gegner war seit jeher der US-Bewerber Trump, der auch seinen Wahlkampf ganz stark auf den Widerstand gegen das Abkommen aufbaut. Seine Präsidentschaft würde ziemlich sicher das Aus für TTIP bedeuten. Die rechten TTIP-Gegner, die es in allen Ländern gibt, machen ihre Sympathie mit Trump auch deutlich. Doch die Mehrheit der organisierten TTIP-Kritiker in Deutschland kommt eher aus der linken und gewerkschaftlichen Ecke. Sie haben in zentralen Fragen keine Sympathie mit den Positionen von Trump.
Sie würden sich sicher eher eine Präsidentschaft von Bernie Sanders wünschen, jenes US-Sozialdemokraten, der innerhalb der Demokratischen Partei noch immer der lange Zeit als gesetzt geltenden Hillary Clinton die Kandidatur streitig macht. Doch dass sich Sanders am Ende durchsetzt, ist ziemlich unwahrscheinlich. Es ist dagegen sehr wahrscheinlich, dass Clinton am Ende Präsidentschaftskandidaten der Demokraten wird. Ihre Haltung zu TTIP ist widersprüchlich.
Lange Zeit gehörte sie wie Obama zu den Befürwortern des Abkommens. Erst als die Stimmung in der Bevölkerung der USA dem Freihandel gegenüber kritischer wurde und ihr innerparteilicher Konkurrent Sanders auch wegen seiner TTIP-Ablehnung punktete, distanzierte sich auch Clinton halbherzig davon – ein Exempel jenes Opportunismus, der Clinton immer wieder vorgeworfen wird. Es ist daher ziemlich wahrscheinlich, dass die Präsidentin Clinton den Freihandelsvertrag nicht scheitern lassen wird und den neuerlichen Schwenk dann damit begründet, dass er nun schon ausverhandelt ist.
Nun ist eine Konstellation Trump versus Clinton bei den Präsidentschaftswahlen nicht unwahrscheinlich. Für die Mehrheit der organisierten TTIP-Gegner auch in Deutschland entsteht so eine paradoxe Situation. Sie müssten eigentlich auf einen Erfolg von Trump hoffen, der am ehesten den TTIP-Vertrag beerdigt, obwohl sie in vielen anderen Punkten mit ihm nichts zu tun haben wollen. Gestärkt würden auf jeden die rechten und rechtspopulistischen Freihandelsgegner, die dann realpolitisch argumentieren können, dass eine Präsidentschaft Trumps garantiert TTIP beerdigt.
Volkswagen-Affäre: Die Rechte der Verbraucher in den USA
In einer Zeit, in der in vielen Protestbewegungen solidarische, auf Egalität aller Menschen ausgerichtete Positionen, umkämpft oder auch ganz in der Minderheit sind, sind solche Positionen natürlich auch heute schon in der Bewegung gegen den Freihandel, die historisch immer auch reaktionäre Züge trug, vertreten. Mit einer Kandidatur von Trump aber hätte sie eine realpolitische Komponente, so wie sich Gegner einer liberalen Flüchtlingspolitik auf einen Erfolg der FPÖ bei den Präsidentschaftswahlen in Österreich berufen können.
Wir haben ja gerade erlebt, dass in den USA die Rechte der Verbraucher und übrigens die Umwelt besser, effizienter geschützt wird als in Deutschland
Neben diesem strategischen Dilemma sind die der TTIP-Gegner auch durch den VW-Skandal argumentativ in die Defensive geraten. Denn ein Großteil der TTIP-Gegner warnt recht undifferenziert vor Verschlechterungen für Verbraucher, Lohnabhängige etc., wenn die Verträge in Kraft treten. Dabei wurde gern übersehen, dass es beispielsweise beim Verbraucherschutz in den USA teilweise gesetzliche Rechte gibt, die auch für die EU ein Fortschritt wären. Das hat sich jetzt beim VW-Skandal gezeigt.
Selbst wirtschaftsnahen FDP-Politiker fällt auf, dass VW-Kunden in den USA rechtlich besser gestellt sind. Der niedersächsische Wirtschaftsminister Jürgen Bode wurde von einem Journalisten des Deutschlandfunk gefragt[3]: „Warum ist es eigentlich unmöglich, dass auch die deutschen Kunden so wie in den USA mit etwa 4.500 Euro entschädigt werden?“
Bode antwortet:
Das ist nicht unmöglich. Es ist scheinbar eine bewusste Entscheidung von Volkswagen, in Deutschland und Europa Kunden zweiter Klasse haben zu wollen, und ich bin schon überrascht, dass die Vertreter der Landesregierung im Aufsichtsrat auch auf Nachfrage erklärt haben, dass sie diese Position stützen.
Dass es sich dabei um unterschiedliche Verbraucherrechte in den USA und Deutschland handelt, erwähnt Bode natürlich nicht. Der ehemalige grüne Bundesumweltminister Jürgen Trittin erwähnt diese Unterschiede zumindest in seinem Deutschlandfunk-Interview[4].
Wir haben ja gerade erlebt, dass in den USA die Rechte der Verbraucher und übrigens die Umwelt besser, effizienter geschützt wird als in Deutschland. In Deutschland haben wir eine Kommission eingesetzt durch Herrn Dobrindt, von der man lange nicht wusste, wer da drinsitzt und nun feststellt, die gibt es zwar, aber was die rausbekommen haben, das ist bis heute der Öffentlichkeit vorenthalten worden.
Müsste das nicht ein Umdenken bei dem Teil der TTIP-Kritiker bewirken, die keine Option in einer Präsidentschaft Trumps oder eines anderen konservativen Freihandelsgegners sehen? Wieso wird nicht die Forderung erhoben, dass dort, wo die Verbraucher- und Umweltrechte in den USA fortschrittlicher als an der EU sind, sich die Unterhändler an diesen orientieren sollen?
Darüber hinaus machen die Dilemmata der TTIP-Kritiker deutlich, was schon Karl Marx beschäftigte[5]: eine Kritik am Freihandel, die den Kapitalismus nicht mit einbezieht, ist in der Regel eher konservativ als fortschrittlich. Zudem ist der Streit um den Freihandel immer eine Auseinandersetzung unterschiedlicher Kapitalfraktionen in den jeweiligen Ländern gewesen, die natürlich für ihre Argumentation immer das Wohlergehen der Subalternen heranzog
Die Schweiz spielte keine unwichtige Rolle in der Geschichte der linken ArbeiterInnenbewegung. Die Zimmerwalder-Konferenz von 1915, zu der die sozialistischen GegnerInnen des 1. Weltkriegs zusammen kamen, ist ein bekanntes Beispiel. Kaum bekannt ist hingegen, dass die Schweiz vor über 40 Jahren auch eine wichtige Rolle in der europäischen Vernetzung der linken Betriebsintervention gespielt hat.
Anfang der 1970er Jahre wurde in Zürich ein internationales Koordinationsbüro für die länderübergreifende Unterstützung von Streiks und Arbeitskämpfe aufgebaut. Getragen wurde es von Gruppen der radikalen Linken, die durch den Aufbruch nach 1968 entstanden sind und sich weder der sozialdemokratischen noch der traditionskommunistischen Richtung zuordneten. Neben dem Pariser Mai 1968 war auch der italienische Herbst 1969 für diese Linke ein wichtiger Bezugspunkt. Denn in Italien beteiligten sich viele ArbeiterInnen im ganzen Land an Betriebsbesetzungen, Streiks und militanten Demonstrationen. Dort war der Funke des revolutionären Aufbruchs tatsächlich übergesprungen, von den Hochschulen auf die Fabriken. Linke AktivistInnen sowie kämpferische ArbeiterInnen aus vielen europäischen Ländern verfolgten die Entwicklung mit grossem Interesse. «In der historischen Forschung zu den Streikbewegungen und Arbeitskämpfen der 1960er und 1970er ist die internationale Zusammenarbeit von Strömungen und Gruppen, die sich an diesen Auseinandersetzungen in der Fabrik orientieren, noch wenig beachtet worden», schreibt der Berliner Historiker Dietmar Lange in der aktuellen Ausgabe von Arbeit – Bewegung – Geschichte, Zeitschrift für historische Studien.
Die Prophezeiung des heraufziehen den Postfordismus
Das Schwerpunktthema lautet «Linke Betriebsintervention, wilde Streiks und operaistische Politik 1968 bis 1988». Dietmar Lange, der gemeinsam mit Fabian Bennewitz, Ralf Hoffrogge und Axel Weipert die Zeitschrift herausgibt, forscht seit längerem zur Geschichte der linken Betriebsinterventionen der 1960er und 1970er Jahre. Dabei hat er auch einen Bericht über eine Internationale ArbeiterInnenkonferenz im April 1973 ausgegraben, die in Paris stattgefunden hat. Sie wurde wesentlich von dem Zürcher Koordinationsbüro vorbereitet und widmete sich den Klassenauseinandersetzungen in der Automobilindustrie. Anwesend ArbeiterInnen aus den wichtigsten Automobilkonzernen wie BMW, VW, Fiat, Opel, Alfa Romeo, Renault und Citroen. Aus der Schweiz waren Beschäftigte von Saurier vertreten. Auch verschiedene Linke aus Deutschland, Frankreich, Italien und Grossbritannien nahmen an der Konferenz teil. Aus der Schweiz waren AktivistInnen der Gruppe Klassenkampf nach Paris gekommen, die sich aus einer maoistisch orientierten Jugendbewegung in der italienischen Schweiz entwickelt hatte und Anfang der 70er Jahre ihren Einfluss auf die deutschsprachige Schweiz ausdehnte. Mitte der 70er Jahre löste sich die Gruppe auf. In dieser Zeit war die linke Betriebsintervention in eine Krise geraten geraten
und auch das Zürcher Koordinierungsbüro stellte die Arbeit ein. Die Vorbereitung der Pariser Konferenz war ihre wichtigste Arbeit. «Nur kurze Zeit nach der Konferenz in Paris vollzog ein Grossteil der beteiligten Gruppen einen Richtungswechsel oder löste sich auf», schreibt Dietmar Lange. In einem Interview mit dem Arzt und Historiker Karl Heinz Roth, der damals an der linken Betriebsintervention beteiligt war, spürt Lange den Gründen für den schnellen Zusammenbruch der transnationalen Solidaritätsarbeit nach, der zu einem langen Abschied der linken Bewegung vom Proletariat führen sollte. Roth erinnert sich an warnende Stimmen auf der Konferenz, die berichteten, wie durch Konzernstrategien das Konzept des kämpferischen Massenarbeiters untergraben wurde. «Diese Prophezeiung des heraufziehenden Postfordismus stand als Menetekel an der Wand des Kongresses», so Roth. Er begründet auch, warum das Koordinierungsbüro, dass neben der Gruppe Klassenkampf auch von der Berner und St. Gallener Ortsgruppen der Proletarischen
Front getragen wurden, in der Schweiz errichtet wurde: «Die Standortwahl lag nicht nur aus geographischen Gründen nahe, sondern hatte mit der damals leider noch sehr seltenen Mehrsprachigkeit der schweizerischen Genossinnen und Genossen zu tun». Parallelen zu heutigen Auseinandersetzungen
Das Koordinierungsbüro habe sich zum Ziel gesetzt, die Selbstorganisation der am meisten marginalisierten Sektoren der europäischen ArbeiterInnenklasse zu fördern. Das ist eine sehr aktuelle Zielsetzung. Schliesslich gibt es zurzeit eine linke Betriebsintervention bei Amazon. Es gab bereits mehrere Treffen von Beschäftigten von Amazon-Werken in Deutschland und Polen. Deshalb weckt das Schwerpunktthema der Zeitschrift Arbeit – Bewegung – Geschichte nicht nur historisches Interesse. Die HerausgeberInnen weisen darauf hin, dass sich «in den hier publizierten Texten zahlreiche Aspekte finden, die Parallelen zu heutigen Auseinandersetzungen aufweisen». Nelly Tügel untersucht in ihren Beitrag, wie der Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) auf gewerkschaftliche
Aktivitäten von ArbeitsmigrantInnen in Westdeutschland reagierte, die oft noch Klassenkampftraditionen einbrachten, die in Deutschland durch den Nationalsozialismus ausgelöscht worden waren. «Zum einen erging die Aufforderung an die Einzelgewerkschaften, jeweils einen Kollegen zu benennen, der in einen der Abteilung Organisation unterstellten Unterausschuss für die Betreuung ausländischer Kollegen entsandt werden sollte. Zum anderen wurde beschlossen, Materialen über die kommunistische und faschistische Unterwanderung durch ausländische Arbeitnehmer zusammenzustellen und allen Bundestagsabgeordneten zuzustellen». Sehr empfehlenswert sind auch die Beiträge in der Zeitschrift, die sich nicht mit dem Schwerpunktthema befassen. Auch dabei wird deutlich,
dass die Schweiz in der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung eine wichtige Rolle spielte. So berichtet die Historikerin Miriam Sachse von einem Symposium, das sich mit der internationalen sozialistischen Frauenkonferenz 1915 in Bern befasste. Dabei betonte die Präsidentin der Schweizer Robert Grimm Gesellschaft, Monika Wick aus Zürich, dass die Konferenz, die in klarer Opposition zum sozialdemokratischen Kurs des Burgfriedens stand, auch männliche Unterstützer hatte. Dazu gehörte in der Schweiz Robert Grimm.
Arbeit – Bewegung – Geschichte.
Zeitschrift für historische Studien, Heft
1/2016, 230 Seiten, Bezug: www.metropolverlag.de
Sigmar Gabriel in Ägypten: „Ich finde, Sie haben einen beeindruckenden Präsidenten“
„Ich finde, Sie haben einen beeindruckenden Präsidenten“. Diesen Satz wird Bundeskanzlerin Merkel bei ihrer Türkei-Visite wohl kaum auf dessen Präsidenten Erdogan gemünzt äußern. Doch Vizekanzler und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel, der mit einer großen Wirtschaftsdelegation in Ägypten weilte[1] , ließ sich die Phrase vom beeindruckenden ägyptischen Präsidenten entlocken.
Dass al-Sisi gegen eine demokratisch gewählte Regierung putschte, hat Gabriel wie ein großer Teil der sogenannten westlichen Welt dem Präsidenten nie übelgenommen. Schließlich war es eine Regierung der Moslembrüder, und da werden schon mal beide Augen zugedrückt, wenn dann demokratische Grundrechte beseitigt werden. Dass im Anschluss ein Massaker an größtenteils gewaltfrei demonstrierenden Gegnern des Putsches verübt wurde, ist ebenso vergessen wie die Massenfestnahmen von Oppositionellen jeglicher Couleur.
Unter al-Sisi ist Ägypten wesentlich repressiver als zu Zeiten von Sadat und Mubarak. Doch tote ägyptische Oppositionelle sind in der europäischen Öffentlichkeit kein Thema. Erst als ein italienischer Doktorand, der zur Geschichte der ägyptischen Gewerkschaftsbewegung arbeitete, vor einigen Wochen ermordet wurde, wurde in manchen Medien der ägyptische Staatsterror zum Thema. Gabriel blieb bei seinen Lob für al-Sisi ganz in der Tradition der deutschen Außenpolitik. Staatsterror und Diktatur waren nie ein Hinderungsgrund für ein gutes Verhältnis zu Deutschland.
Wichtig war, ob es ein Diktator ist, der die gemeinsamen Werte verteidigt oder nicht. Der Schah von Persien gehörte lange Zeit zweifelsfrei zu den Diktatoren, die gemeinsame Werte gemeinsam mit der Bonner Politik verteidigten. Daher war das Verhältnis zwischen deutschen und iranischen Politikern sehr innig.
So war es nur konsequent, dass auch satirische Kritik an den großen Freund von Westdeutschland unterbunden wurde. Ein Künstler wurde für eine Karikatur des iranischen Diktators Reza Pahlavi nach jahrelangem Prozess zu einer Geldstrafe verurteilt[2] Grundlage war übrigens der gleiche Paragraph 103, der nun beim Böhmermann-Erdogan-Konflikt plötzlich in die Schlagzeilen geraten ist.
Auch die argentinische Militärjunta stand in den 1970er Jahren auf Seiten des Westens und so sorgte auch der damalige Bundesaußenminister Genscher dafür, dass die Kritik an den verschwundenen Oppositionellen möglichst klein gehalten wird, selbst wenn sie wie im Fall von Elisabeth Käsmann[3] und Klaus Zieschank[4] deutsche Staatsbürger[5] waren.
„Er mag ein Schweinehund sein, aber er ist unser Schweinehund“
Für Politik und Justiz war damals klar, der Schah oder die lateinamerikanische Generale mögen keine großen Freunde der Menschenrechte sein, aber sie standen bedingungslos auf Seite des Wesens. Da galt die in den USA gültige Devise. „Er ist ein Schweinehund sein, aber er ist unser Schweinehund.“ Nach dieser Devise werden auch heute noch die Regenten in den verschiedenen Teilen der Welt sortiert. Deswegen ist das Lob von Gabriel für den ägyptischen Diktator eigentlich Regierungsalltag.
Ungewöhnlich ist, dass er sich nun dafür rechtfertigen muss, weil die Erdogan-Debatte doch zeitlich so dicht dran liegt. Da fragen sich manche Journalisten, warum die SPD in der Erdogan-Debatte Merkel den Kotau vor einen Diktator vorgeworfen hat. Da wird dann schon mal angemerkt, dass im Vergleich zum ägyptischen Amtskollegen Erdogan noch als autoritärer Demokrat durchgehen kann.
Nur sagt niemand, warum hier scheinbar unterschiedlich gewichtet wird. Während der ägyptische Präsident, wie einst der Schah[6], sich nur mit Unterstützung aus dem Ausland an der Macht halten kann und die Unterstützung im Inland nur schwach ist, kann sich Erdogan auf eine eigene Machtbasis, die islamisch geprägte neue Bourgeoisie, in der Türkei stützen. Diese Machtbasis gibt ihm auch die Möglichkeit wesentlich unabhängiger gegenüber den unterschiedlichen Akteuren im Ausland zu agieren.
So ist eben Erdogan kein Erfüllungsgehilfe von Deutschland oder anderer Staaten. Er und die hinter ihm stehenden Kräfte haben eine eigene politische Agenda, die sich in wesentlichen Punkten von den Interessen der EU und Deutschlands unterscheiden. Also kann er nicht als „unser Schweinehund“ gelten. Erdogan wurde vielmehr von verschiedenen europäischen Politikern bedeutet, er solle die Migranten von der Festung Europas fernhalten und sich sonst gefälligst nicht in die Politik der EU-Staaten einmischen. Dass Erdogan sich in diese Rolle nicht fügen will, ist ein zentraler Grund für den Streit der letzten Tage.
Diktator oder Vorbild eines illiberalen Herrschers
Nun sind es nicht nur Politiker wie Gabriel, die hier in öffentliche Widersprüche geraten, wenn sie einmal lautstark die Meinungsfreiheit für Böhmermann verteidigen und im nächsten Moment den ägyptischen Diktator loben. Auch in rechten Kreisen weiß man nicht so recht, ob man Erdogan als islamistischen Diktator verdammen soll, der jetzt sogar noch in Deutschland mitbestimmen will, was erlaubt ist, oder ob man ihn nicht als Vorbild eines illiberalen Herrschers eigentlich loben müsste.
Wäre Erdogan kein Moslem, würde er sicher auch bei der AfD und Pegida als großes Vorbild hingestellt wie Putin und der ungarischen Ministerpräsidenten Orban. Denn auch in Erdogans Herrschaftsbereich gilt, was man an Russland und Ungarn in rechten Kreisen so lobt. Dort gilt noch die traditionelle Geschlechterordnung, Kinder und Jugendliche haben zu gehorchen und vor den Obrigkeiten hat man Respekt zu zeigen. Dass auch auf religiöse Zucht und Ordnung geachtet wird, ist den Rechten auch sehr angenehm.
Nur vertritt Erdogan eben eine Religion, die die Rechten zum Feindbild erkoren haben und so müssen sie ihn nach außen zumindest verdammen. Doch der von Taz lancierte Aprilscherz, dass die AfD Erdogan nach Berlin zur Wahlkampfunterstützung einlädt[7], wurde zunächst in rechten Kreisen durchaus ernst genommen und stieß auch nicht gleich auf Ablehnung.
Zudem müssen die Rechten nun mit einem Böhmermann fremdeln, der für sie als liberaler Kunst für vieles steht, was sie hassen. Der neurechte Publizist Jürgen Elsässer hat das rechte Dilemma im Streit Böhmermann/Erdogan benannt:
Politisch gesehen sind mir Böhmermann und Erdogan fast gleich unsympathisch. Der eine ist Arsch, der andere ist ärscher. Aber ich werde den Teufel tun, mich über ihr Gemächt oder ihre sexuellen Vorlieben auszulassen, und würde Genderboy Böhmermann dringend empfehlen, nicht aus dem Glashaus heraus mit Steinen zu werfen.
Dass Elsässer und Erdogan den gleichen Anwalt haben und der auch den Holocaustleugner David Irving[8] verteidigt hat, hat seinen Grund eben nicht einfach darin, dass es ein bekannter Anwalt ist. Es gibt linke und rechte Szeneanwälte.
So kann auch an einem Detail wie der Anwaltswahl manchmal besser als in der Polemik im politischen Alltagsgeschäft deutlich werden, welche politischen Kräfte eigentlich mehr miteinander zu tun haben, als es auf den ersten Blick scheint.
Am Samstag fand in Berlin die erste „Nuit Debout“-Aktion statt
Einige Besucher dachten zunächst an eine Theateraufführung, als sie im am Samstagabend am Mariannenplatz in Berlin-Kreuzberg ca. 90 Menschen sahen, die mit den Armen und Händen Zeichen gaben. Doch schnell stellte sich heraus, dass es sich um keine Kunstperformance, sondern um eine politische Aktion handelte. Es waren vor allem in Berlin lebende Franzosen, die die „Nuit Debout“-Aktionen auch in Deutschland etablieren wollen.
In Frankreich besetzten in den letzten Wochen vor allem junge Menschen Nacht für Nacht die Plätze verschiedener Städte, um gegen eine Arbeitsmarktreform zu protestieren, die zu massiven Einschränkungen für die Rechte der Lohnabhängigen führt. Im Grunde ist es eine französische Version der Agenda 2010 und soll zur weiteren Flexibilisierung des Arbeitsmarktes führen.Die Opposition gegen dieses Gesetz ist sehr groß. Die Gewerkschaftenund Studierendenverbände haben sich ebenso wie verschiedene Jugendorganisationen und selbst Teile der sozialdemokratischen Regierungspartei dagegen ausgesprochen.
Ein Hauch von Aufbruchsstimmung
Die „Nuit Debout“-Aktionen bedeuten nicht nur eine Zuspitzung der Proteste. Es ist dadurch auch eine Aufbruchsstimmung entstanden, die nun auch in Berlin lebende Franzosen mobilisiert hat. Auf der Kundgebung, für die über Facebook geworben [1] wurde, lasen die Teilnehmer eine Erklärung der Protestierenden in Frankreich vor. Mehrere Redner betonten, wie wichtig die „Nuit Debout“-Aktionen aktuell in Frankreich sind („Nuit debout“-Proteste, eine neue Opposition? [2]).
Lange Zeit sah es so aus, als gäbe es eine immer unbeliebtere Regierung und den ultrarechten Front National als scheinbar einzig wahrnehmbare Opposition. Eine linke Opposition hingegen schien kaum noch existent. Das habe sich durch „Nuit Debout“ geändert. „So ist es gelungen, wieder Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit in den öffentlichen Diskurs zu bringen“, berichtete eine Frau. Auch die teilweisen militanten Auseinandersetzungen zwischen Teilen der „Nuit Debout“-Bewegung und der Polizei habe bisher nicht zu einer Spaltung geführt.
Noch ist die Bewegung in Frankreich am Wachsen. Große Aktionen sollen dort Ende April und Anfang Mai stattfinden. Für den 6. und 7 Mai sind in Frankreich zentrale Aktionen geplant [3], und am 15. Mai wird sogar zu einem globalen Aktionstag [4] in Solidarität mit den Aktionen in Frankreich mobilisiert. Noch ist noch abzusehen, wann und wie schnell die neue soziale Bewegung ihre größte Ausdehnung erreicht hat und dann wieder an Kraft und Einfluss verliert.
Dass bisher auch die Spaltungsversuche nach den militanten Auseinandersetzungen der Bewegung keinen Abbruch getan haben, zeigt, dass sie vielleicht doch nicht ganz so kurzlebig ist. Es muss sich zeigen, ob sich auch weiter Lohnabhängige daran beteiligen und ob es gar zu Streiks kommt. Aber früher oder später wird auch „Nuit Debout“ ihren Zenit überschritten haben.
Beginn einer sozialen Bewegung?
Das muss aber nicht bedeuten, dass sie dann ganz von der Bildfläche verschwindet. In Spanien, wo die Bewegung der Empörten für einige Monate politisches Aufsehen erregte, haben sich nach dem Ende der Platzbesetzungen viele Aktivisten verstärkt der Organisierung am Arbeitsplatz gewidmet. Das zeigte sich auch bei den Solidaritätsstrukturen in Berlin. Aus der Bewegung der Empörten entstanden Initiativen, die sich mit ihrer eigenen Arbeitssituation in Berlin beschäftigten. So entstanden Organisationen wie die Migrant Strikers [5], wo sich italienische Arbeitsmigranten tummeln, und das Oficina Precaria [6], wo Beschäftigte aus Spanien organisiert sind.
Sie wären ohne die M31-Bewegung und ihre Unterstützer nicht entstanden. Sie haben mit der Thematisierung ihrer konkreten Arbeitsverhältnisse in Deutschland den Schritt von der Unterstützung von Aktionen in ihren Heimatländern zur Selbstorganisierung in Deutschland gemacht. Eine wichtige Aktion war dabei ein Spaziergang [7] durch das prekäre migrantische Berlin am 1. März. Im Rahmen eines internationalen Aktionstages [8] gegen ein Europa der Grenzen und der Prekarität gingen in europäischen Städten Arbeitsmigranten gemeinsam mit anderen prekär Beschäftigten auf die Straße. In Berlin wurden unter anderem die besonders ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse im Gastronomiesektor thematisiert, wo viele italienische Arbeitsmigranten beschäftigt sind. Die spanischen Kolleginnen und Kollegen thematisierten die besonderen Verhältnisse im Pflegebereich, weil dort Menschen mit spanischen Hintergrund beschäftigt sind.
Es wäre möglich, dass nun auch die französischen Expats in Berlin und anderen Städten, die sich bisher oft politisch noch nicht betätigt hatten, durch ihre Solidarisierung mit den Protesten in Frankreich motiviert werden, ihre hiesigen Arbeits- und Lebensverhältnisse zu politisieren.
Beim aktuellen Böhmermann-Hype sollte auch ein Journalismus kritisiert werden, dem es in erster Linie um Krawall und weniger um Inhalte geht
Vor 40 Jahren fühlten sich manche kritischen Menschen besonders mutig und verfolgt, wenn sie aus der SPD ausgeschlossen werden sollten. Das war in den 1960er und 1970er Jahren nicht schwer.
Ein Ausschlussverfahren bekam man schon, wenn man sich an den Ostermärschen oder anderen politischen Aktivitäten beteiligte, die dem SPD-Vorstand nicht behagten. Auch die Unterzeichnung des Aufrufs des Komitees für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit konnte einen SPD-Ausschluss nach sich ziehen. Denn dort waren ja auch Kommunisten vertreten und mit denen durfte das gemeine SPD-Mitglied auf keinen Fall kooperieren, zumindest wenn sie politisch so marginal waren, wie in Westdeutschland.
Die vielen Meldungen mehr oder weniger bekannter linker Publizisten, Gewerkschafter und Aktivisten zogen bald Spott nach sich. Die wollen wohl ein SPD-Ausschlussverfahren ehrenhalber, wurde manch einem nachgesagt, die sich besonders bemühten, beim SPD-Vorstand für Aufmerksamkeit zu sorgen. Wenn heute jemand einen SPD-Ausschluss vermelden wollte, würden viele mit einem Gähnen reagieren. Andere würden den Betreffenden beglückwünschen und ihn fragen, was ihn überhaupt in die Partei getrieben hat. In einer Zeit, wo ein Parteibuch, ein sozialdemokratisches zumal, eher auf Misstrauen stößt, muss man sich heute schon mehr einfallen lassen, um Gegenstand einer Solidaritätskampagne zu wehren.
„Ich habe keine ihrer Sendungen gesehen, aber ich finde Sie gut“
Jan Böhmermann ist da schon auf den richtigen Weg. Als typischer Vertreter des postmodernen Eventjournalismus weiß er sich in Szene zu setzen. Da muss ein mit rassistischen Stereotypen durchsetztes Gedicht herhalten und schon bekommt er Solidaritätsbriefe von Menschen, die seine Arbeit bisher als Gossenjournalismus bezeichnet hätten und selber vor Gericht klagen würden, wenn sie Gegenstand einer solchen Form von Schmähung würden.
Der Aufsichtsratsvorsitzende der Springer AG Matthias Döpfner ist dafür ein gutes Beispiel. Die Welt veröffentlichte seinen Offenen Brief[1], der so beginnt:
Lieber Herr Böhmermann, wir kennen uns nicht, und ich habe leider auch bisher Ihre Sendungen nicht sehen können. Dennoch wende ich mich in einem offenen Brief an Sie, denn es ist aufschlussreich, welche Reaktionen Ihre Satire ausgelöst hat. Ein Kristallisations- und Wendepunkt.
Deutlich könnte man nicht zum Ausdruck bringen, um was es bei dem ganzen Hype um diesen Eventjournalismus geht. Man will politisch auf der richtigen Seite sein, wenn man sich jetzt mit Böhmermann solidarisiert, obwohl man mit ihm und seiner Arbeit bisher nichts zu tun haben wollte und sie auch politisch abgelehnt hat.
Die Raabisierung des Journalismus
Die Gründe für diese Distanz sind vielfältig. Sicher spielen auch politische Gründe eine Rolle. Aber es gibt auch gute Gründe, unabhängig vom Inhalt, Journalismus a la Böhmermann kritisch zu sehen. Er mag, wie bei der Satire um den Stinkefinger des griechischen Ministers Varofakis, manchmal auch kritische Inhalte damit verbinden.
Doch letztlich geht es um einen Event, der mit mehr oder weniger Krawall verbunden ist. Die Inhalte sind austauschbar, mal lacht der Linke, mal die Rechte und immer steht die Person im Mittelpunkt. Schon Stefan Raab stand an der Schnittstelle zwischen Eventmarketing und Journalismus und Böhmermann und andere sind da nur die Fortsetzung.
Allerdings will die Selbstvermarktung auch gekonnt sein und da ist Böhmermann ein Meister. Deswegen war es auch nur noch peinlich, dass selbst ein Didi Hallervorden vom Böhmermann-Hype profitieren und ebenfalls Erdogan beleidigen wollte (Hallervorden: „Erdogan, zeig mich an!“[2]). Am Ende war er selber der Blamierte. Diese Art von Journalismus lebt von Event und Krawall.
Die Kehrseite ist jener Wohlfühljournalismus, der im Zeitalter vom Label Corporate Publishing um sich greift. Journalismus soll gute Nachrichten verbreiten und den Wohlfühlfaktor der Lesenden erhöhen. In manchen Artikeln wird gleich in jeden zweiten Satz das Wort toll eingearbeitet, wenn es auch nur um den Bericht über einen Kongress geht. Die Ausbreitung solcher Journalismusformen, die die Leser nicht mehr mit den Zuständen auf der Welt überfordern wollen, ist die Krise der Medienwirtschaft.
Da die alten Bezahlmodelle nicht mehr funktionieren, werden neue Formen erprobt. Vom Stiftungs- und Spendenjournalismus über Mitglieder-bzw. Leserfinanzierung bis hin zum Internetbezahlmodellen reichen die Modelle. Wie kritisch ein solcher Journalismus noch ist, war auch Thema auf der Linken Medienakademie[3] Anfang April in Berlin.
Tatsächlich zeigt sich aber, dass Wohlfühl- und Eventjournalismus ein Ergebnis dieses Umbruchs in der Medienlandschaft sind. Damit werden bestimmte Leserinteressen befriedigt. Gemeinsam ist ihnen, dass es nicht um kritische Reflexion mit der Welt geht, sondern um die eigene kleine Welt der jeweiligen Zielgruppen der Medien. Da platze dann auf einmal die Realität in der Welt rein und daraus wurde dann der Böhmermann-Hype.
Die Debatte gehört in die Gesellschaft, nicht ins Feuilleton
Von den Verfassern einer Solidaritätserklärung an Böhmermann, die gestern in der Zeit veröffentlicht[4] und von zahlreichen Künstlern unterzeichnet wurde, ist anzunehmen, dass zumindest einige schon mal seine Sendung gesehen haben.
Zunächst ist die Überschrift „Liebe Regierung, jetzt mal ruhig bleiben“ sympathisch. Tatsächlich wäre es ein gutes Ergebnis des Böhmermann-Hypes, wenn die Sonderregelungen abgeschafft werden, die Staatchefs einen besonderen Schutz vor Beleidigungen bieten sollen und das in der Vergangenheit oft getan haben.
Allerdings muss das dann für alle gelten, auch für Joachim Gauck. Dass die sich beleidigt Fühlenden dann immer noch als Privatpersonen Anzeige erstatten können, was Erdogan auch schon gemacht hat, ist ihnen unbenommen und gehört auch zu ihren Recht. Daher ist es irreführend, wenn es in dem Aufruf heißt, die Debatte gehöre nicht in den Gerichtssaal. Zudem ist es verwunderlich, dass sie ins Feuilleton verbannt und damit entpolitisiert werden soll. Schließlich ist in vielen Feuilletons zu lesen, was in den Innenpolitik- und Wirtschaftsteilen der Zeitungen nie veröffentlicht würde.
Mit der Forderung, die Debatte soll wieder ins Feuilleton gesperrt werden, bekennt man sich dazu, nicht gesellschaftlich wirken zu wollen. Wir machen nur Kunst und keine Politik, lasst uns gefälligst diese Spielwiese, ist die Aussage. Dagegen müsste die Forderung stehen, dass die Debatte in die Gesellschaft gehört und dass es dabei nicht nur um Kritik in Richtung der türkischen Regierung gehen muss. Es sollte auch über die Funktion eines krawalligen Eventjournalismus à la Böhmermann diskutiert werden, der sich, wenn es Ernst wird, auf seinen Spielplatz Feuilleton zurückziehen will. Diese Gelegenheit haben kritische Journalisten in der Türkei und Kurdistan und vielen anderen Ländern in der Regel nicht. Sie werden verhaftet, angeklagt und verschwinden über Jahre in Gefängnissen. Die meisten derjenigen, die jetzt mit Offenen Briefen an Böhmermann wieder eine Gelegenheit finden, ihren Namen in der Öffentlichkeit zu lesen, findet man in der Regel nicht, wenn es um Solidarität für die wirklich vom türkischen Regime Verfolgen geht
Liebe Böhmermann-Freunde, jetzt mal ruhig bleiben
Beim ganzen Hype um Böhmermann wird das gerne vergessen. Dabei könnte doch die Causa Böhmermann sogar als Experiment gesehen werden, wie Erdogan sich um die vielzitieren westlichen Werte bemüht. Schließlich ist nicht bekannt, dass er zu einer Fatwah gegen ihn aufgerufen hat, sondern er beschreitet den Rechtsweg und unterscheidet sich damit nicht von vielen anderen, die in ähnlicher Situation ebenso reagieren würden.
Die Aufregung der letzten Tage ist also schwer zu verstehen. Man könnte daher einen Satz aus dem in der Zeit abgedruckten Brief der Böhmermann-Freunde auch auf sie selbst und ihr Umfeld münzen: „Jetzt mal ruhig bleiben.“ Vor allem sollte auch mal reflektiert werden, welche politischen Kräfte den Böhmermann-Hype nutzen, um ihre politischen Zwecke voranzutreiben. Dazu gehören all jene, für die Türkei sowieso in Europa nichts zu suchen hat und die wieder nach einen Prinz Eugen rufen, der „die Türken“ vertreibt.
Wenn der rechtsliberale belgische Politiker Guy Vorhofstadt mit dem Satz zitiert[5] wird: „Wir haben Sultan Erdogan schon den Schlüssel zu Europas Toren gegeben, nun laufen wir Gefahr, ihn auch unsere Redaktionen und Medien kontrollieren zu lassen“, dann verwendet er Kernelemente dieses rechtspopulistischen Diskurses.
Tatsächlich haben die europäischen Instanzen die Türkei bekniet, dass sie ihnen die Migranten fernhält. Wenn der Torwächter dann aber noch Rechte beansprucht, die nur der Herrschaft gebühren, dann greifen manche wieder zu einer Rhetorik, als stünden die Türken vor Wien.
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz warnt vor einer Implosion der EU
Ein „progressives Europa mit sozialer Gerechtigkeit“ forderten am Montag der griechische Ministerpräsident Tsipras und sein portugiesischer Kollege António Costa. In den Medien [1] wurde davon gesprochen, dass es eine Erklärung von zwei „linksgerichteten Regierungen“ war.
Nun war vor einem Jahr Tsipras mit einer linkssozialdemokratischen Syriza angetreten und hatte dafür auch den Wählerauftrag bekommen, die Austeritätspolitik zu beenden. Nach einem mehrmonatigen Kampf musste Tsipras vor allem vor dem Druck von „Deutsch-Europa“ kapitulieren. Die griechische Regierung machte nun deutlich, dass sie das Austeritätsprogramm weiterhin ablehnt. Aber sie war bereit, es umzusetzen.
Es gab eine Spaltung innerhalb von Syriza, ein Großteil der Basisaktivisten wandte sich enttäuscht von der Regierung ab. Auch die Hoffnungen, die parlamentarischen und außerparlamentarischen Linken mit dem Kampf der griechischen Regierung gegen die Austeritätspolitik verknüpft hatten, waren verflogen. Hier begann die Umorientierung von einer Politik der sozialen Gerechtigkeit zu Abschottung und Entsolidarisierung, wie sie der Aufstieg der Rechtspopulisten in vielen europäischen Ländern charakterisierte.
Doch wenn die Verantwortlichen von „Deutsch-Europa“ gedacht hätten, nun wären die Themen, die Syriza nach ihrem Wahlerfolg im letzten Jahr auf die Agenda gebracht hatten, endgültig erledigt, haben sie sich getäuscht.
An der gemeinsamen griechisch-portugiesischen Erklärung ist vor allem bemerkenswert, dass der portugiesische Regierungschef ein Sozialdemokrat ist, dessen Regierung allerdings seit einigen Monaten von dem Linksblock und der Kommunistischen Partei unterstützt wird.
Sie haben sich auf ein Regierungsprogramm geeinigt, das in den Grundzügen auch das fordert, wofür Syriza im letzten Jahr stand: ein Ende der Austeritätspolitik und ein sozialeres Europa. Die Kooperation der ungleichen und lange Zeit verfeindeten politischen Parteien ist erst vor dem Hintergrund der griechischen Erfahrungen möglich geworden.
Die Erpressung der griechischen Regierung wurde auch als Folge von deren Isolierung gesehen. Sowohl innerhalb Europas als auch in Griechenland hatte sie wenig Kooperationspartner. Diesen Fehler wollten die Linksparteien in Portugal nicht machen.
Auch in Spanien und Italien gibt es große Mehrheiten für die Grundsätze der griechisch-portugiesischen Regierung, auch wenn es dort bisher keine entsprechenden Regierungen gibt. Auch daran wird deutlich, dass die Forderungen in südeuropäischen Ländern noch mobilisierungsfähig sind.
Vor einem neuen Countdown zwischen Griechenland und der EU?
Doch es sind nicht nur diese bilateralen Erklärungen, die in Brüssel für Unruhe sorgen. Am vergangenen Freitag waren Vertreter der EU, der Europäischen Zentralbank und des IWF in Athen, um zu kontrollieren, ob die griechische Regierung weitere Fortschritte bei der Umsetzung des Austeritätsprogramms gemacht hat.
Dabei gab es sowohl zwischen der griechischen Regierung und den unterschiedlichen Kontrolleuren als auch innerhalb der unterschiedlichen Institutionen Auseinandersetzungen. Zur Frage, ob Griechenland eine Staatspleite droht, berichtet der Spiegel [2]:
„Das könnte immer noch passieren. Derzeit hängt alles von den weiteren Verhandlungen ab. Im Juli laufen Kredite des IWF und der EZB an Athen im Volumen von gut 2,7 Milliarden Euro aus. Wenn die Gläubiger bis dahin kein Geld nachlegen, wird es eng für Griechenland.“
Dass damit die alte, die EU spaltende Krise wieder auf der Agenda stünde, wird hingegen nicht erwähnt. Als Wikileaks dann noch Gesprächsprotokolle des IWF veröffentlichte [3], in denen offen ausgesprochen wurde, dass man auch der gezähmten Syriza-Regierung nicht traut und auch Vorschläge entwickelte, wie man den Druck auf die Athener Regierung weiter erhöhen kann, wurden Reminiszenzen an den Druck der Institutionen auf Athen wach.
Allerdings zeigen die geleakten Protokolle auch die Uneinigkeit der Institutionen. Das sind Widersprüche, die die Athener Regierung vielleicht ausnutzen kann. Zudem dürfte auch die Degradierung Griechenlands als Abschiebebahnhof für Migranten und die unsolidarische Haltung verschiedener EU-Staaten die Bereitschaft der griechischen Regierung auf einen neuen Kotau vor den Institutionen gedämpft haben.
Während der Türkei für ihre Beteiligung beim Deal bei der Rücknahme der Migranten neben Geld auch viele weitere Vergünstigungen zugesagt wurden, gibt es für das EU-Mitglied Griechenland keinerlei Konzessionen. Angesichts der langjährigen türkisch-griechischen Querelen dürfte sich die EU damit in Griechenland viele Sympathien verscherzt haben.
Es gibt dort heute sicher mehr Menschen, als noch vor einen Jahr, die auch zu einen Austritt aus der EU oder zumindest aus der Eurozone bereit wären, wenn der Druck aus Brüssel erneut steigt. Eine Mehrheit dürfte allerdings auch jetzt nicht für einen Abschied von der EU stimmen.
Auch in der Ukraine wächst die Ernüchterung über die EU
Doch auch an einer anderen Baustelle, in welche die EU in den letzten Jahren viel investierte, wächst die Ernüchterung über Brüsseler Politik. Die Rede ist von der Ukraine, wo seit mehr als einem Jahrzehnt beständig zwei Blöcke gegenüberstehen. Einer will die Kooperation mit Russland ausbauen, der andere sucht das Bündnis mit der EU.
Eine Politik der Neutralität, bei guten Kontakten zu beiden Seiten, könnte vielleicht das fragile innere Gleichgewicht bewahren. Doch die Maidan-Proteste gegen eine korrupte Regierung waren eskaliert, nachdem führende EU-Vertreter, unter anderem der damalige deutsche Außenminister, sich offen für die radikale prowestliche Fraktion aussprachen und dabei auch die Kooperation mit Ultrarechten zumindest in Kauf nahmen.
Dabei muss allerdings betont werden, dass der prorussische Block keineswegs progressiver ist und ebenfalls ultrarechte Kräfte einschließt. Doch in großen Teilen der ukrainischen Politik ist die Euphorie über die EU längst verflogen. Schließlich war der Preis für die einseitige Positionierung ein Konflikt mit Russland und der Verlust der Krim. Zudem stellt sich längst heraus, dass die Kappung alter wirtschaftlicher und politischer Kontakte zum russischen Nachbarn politisch und wirtschaftlich ein Desaster ist.
Mit dem aufpolierten Popanz des ukrainischen Nationalismus, inklusive seiner offen faschistischen Elemente wird nun versucht, die prowestliche Orientierung beizubehalten. Doch es gibt deutliche Anzeichen, dass die Kräfte, die zumindest einen Ausgleich mit Russland suchen, wieder an Ansehen in der Ukraine gewinnen. Sie hatten bei einigen regionalen Wahlen Erfolge.
Politberater aus den USA und der EU warnten in der letzten Zeit vor vorgezogenen Neuwahlen in der Ukraine, weil sie eine Niederlage der pro-EU-Kräfte befürchten. Das Szenario ist nicht neu. Schon einmal siegte die prowestliche orangene Revolution, deren Protagonisten sich zerstritten, und wenige Jahre später siegte der Block, der auf einen Ausgleich mit Russland setzt. Jetzt könnte sich ein solches Szenario wiederholen.
Dass in Holland in einem Referendum das Übereinkommen zwischen der EU und der Ukraine abgelehnt wurde, spielte dabei noch keine Rolle. Doch das Ergebnis könnte die Gegner einer weiteren Annäherung an die EU natürlich bestärken. Es zeigt sich daran, dass die Opfer, die die Ukraine aus Sicht der prowestlichen Kräfte für ihre Positionierung gebracht hat, nicht beachtet wurden.
Die Ergebnisse des holländischen Referendums haben sehr unterschiedliche Ursachen, es gab ein rechtspopulistisches und ein linkes Nein. Doch eins wird deutlich: Die Zeiten, in denen der Ukraine in vielen EU-Staaten wegen ihres angeblichen Freiheitskampfes gegen Russland scheinbar die Sympathien zufliegen, sind vorbei, wenn es sie je gegeben hat.
Fliehkräfte: Schulz warnt
Eine EU, die vor jedem Referendum über ein beliebiges Thema zittern muss, ob es zu den nötigen Mehrheiten kommt, verliert weiter an Vertrauen und Respekt. Auch das könnte in Staaten wie der Ukraine die Kräfte stärken, die sich für einen Austausch mit Russland stark machen.
Schon wird in Brüssel vor den Folgen eines Austritts Großbritanniens aus der EU gewarnt. Das könnte die Fliehkräfte in der EU verstärken. Andere Länder könnten sich daran ein Beispiel nehmen, warnte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. Dann könnte die EU-Krise mit voller Wucht zurückkehren.
Selbst der nicht zu Pessimismus neigende Martin Schulz warnt [4] vor einer Implosion der EU. Es gibt ja bereits ein historisches Vorbild: das Ende des nominalsozialistischen Blocks.
AfD-Abgeordnete von Storch trennt sich von den Konservativen, Pretzell taktiert noch
Die Europaabgeordnete Beatrice von Storch [1] hat sich der rechtspopulistischen Fraktion „Europa der Freiheit und der direkten Demokratie“ [2] im Europaparlament angeschlossen. Sie freue sich und gehe gern diesen Schritt, „der ein Signal ist, insbesondere so kurz vor dem britischen Referendum über den Verbleib in der EU“, erklärte [3] Parlamentarierin.
Bisher war sie Mitglied der rechtskonservativen Frqaktion der „Europäischen Konservativen und Reformer [4].“ Dort waren sie und ihr Parteikollege Marcus Pretzell zunehmend isoliert. Ihr Fraktionsausschluss war beschlossene Sache.
Die AfD ist „zunehmend radikal, rassistisch, unerträglich“
Wie zerrüttet der Umgang innerhalb der Fraktion war, zeigt eine Stellungnahme von Arne Gericke von der ultrakonservativen Familienpartei, der ebenfalls in der Fraktion der Konservativen und Reformer Unterschlupf gefunden hat. Er erklärte [5] gegenüber Spiegel-Online, dass von Storch mit ihren Übertritt einen sicheren Ausschluss in der nächsten Woche zuvor gekommen sei. Gericke sagt, die AfD sei“ zunehmend radikal, rassistisch, unerträglich“.
Stein des Anstoßes für den innerfraktionellen Streit waren die umstrittenen Äußerungen über den Schusswaffengebrauch gegen Migranten an der Grenze. Doch auch die Rechtskonservativen sind nicht für eine humane Flüchtlingspolitik bekannt und nach rechts weit offen. Schließlich gehört der Fraktion auch die nationalkonservative Regierungspartei PIS an.
Der eigentliche Grund für das Zerwürfnis liegt schon länger zurück. Es ist der Machtverlust der wirtschaftsliberalen Rechtskonservativen um Lucke innerhalb der AfD. Die hatten vor der Europawahl, um die Partei regierungsfähig zu halten, den Eintritt in die Fraktion der Konservativen und Reformer durchgesetzt. Der rechte AfD-Flügel hatte schon damals einen Anschluss an die Eurogegner befürwortet. Nach der Spaltung der AfD hatte sich die Fraktionsmehrheit hinter Lucke und seine Anhänger gestellt. Die neue AfD-Mehrheit, die Pretzell und von Storch nun im EU-Parlament repräsentiert, war in der Minderheit.
Der Wechsel ist daher nur konsequent und wird an der AfD-Basis sicher auf Zustimmung stoßen. Schließlich ist der britische EU-Gegner Nigel Farage dort wesentlich beliebter als der Chef der Torys. Auch Pretzell hatte sich für Farage schon zu einer Zeit stark gemacht, als die Mehrheit um Lucke von diesen Kontakten noch nichts wissen wollte. Daher ist erstaunlich, dass Pretzell den Fraktionsübertritt nicht mit vollzogen hat. Er will in der Fraktion der Konservativen bleiben, hat er erklärt.
Da sein Ausschluss nächste Woche wahrscheinlich ist, kann es auch ein abgekartetes Spiel sein. Er lässt sich ausschließen, um dann doch noch von Storch in die Fraktion der EU-Gegner zu folgen. Wenn nicht, ist das auch ein Zeichen, dass sich selbst die beiden übriggebliebenen AfD-EU-Abgeordneten nicht einmal auf eine gemeinsame Fraktion einigen können.
Es ist natürlich auch denkbar, dass Pretzell sich der noch weiter rechts stehenden Fraktion der „Europa der Nationen und Freiheiten“ [6] wechselt. Mit einem der dort aktiven Politiker, dem FPÖ-Vorsitzenden Strache, hat Pretzell gute Kontakte. Da allerdings manche in der AfD nicht ganz so weit rechtsaußen stehen wollen, gäbe es da wohl innerparteiliche Dispute.
Doch jenseits solcher geschmäcklerischen Diskussionen, sollte man nicht übersehen, dass es zwischen den rechten Fraktionen genügend Gemeinsamkeiten gilt. So ist der holländische Rechtsaußen-Wilders bei sämtlichen Fraktionen der europäischen Rechten angesehen. Seine wichtige Rolle in der Fraktion „Europa der Nationen und Freiheiten“ ist da kein Hinderungsgrund. Es gibt natürlich auch unter den Rechtsaußenfraktionen, wie überall in der Politik, persönliche Animositäten und langjährige politische Differenzen. Doch in den Kernfragen ist man sich einig. Dazu gehört auch die Unterstützung eines Brexits bei der EU-Abstimmung in Großbritannien.
Wie bei so vielen anderen Themen auch ist in der Öffentlichkeit kaum bekannt, dass es auch Stimmen für einen linken Brexit [7] in und außerhalb von Großbritannien gab. Doch in weiteren Teil der Öffentlichkeit dominiert das Bild einer Linken, die das gegenwärtige EU-Projekt unterstützen. Dann können sich die unterschiedlichen Rechten noch mehr als die eigentliche Opposition gerieren.
AfD gegen Russlandsanktionen und TTIP
In diesen Zusammenhang kann die AfD den Fraktionswechsel der EU-Parlamentarierin auch nutzen, um die Distanz zu den regierenden Konservativen deutlich zu machen.Von Storch verwies in ihrer Erklärung zum Fraktionsübertritt darauf, dass ihr neuer politischer Zusammenhang auch Sanktionen gegen Russland und eine neue Blockbildung durch den TTIP-Verträge ablehnt. Damit deutet sie schon an, dass sich auch in diesen Fragen die AfD profilieren will.
Bisher waren die konsequentesten TTIP-Kritiker auf parlamentarischer Ebene die Linkspartei, mit vielen Abstrichen die Grünen, während die SPD aus wahltaktischen Gründen mal die Verträge kritisierte, um sie später wieder für unverzichtbar zu erklären.Es gab schon immer auch eine rechte TTIP-Kritik, die nun mit der AfD auch eine Stimme bekommt. Für linke Kritiker sowohl des Freihandelsabkommens als auch der Sanktionen gegen Russland müsste das noch mehr eine Herausforderung sein, eine eigene Kritik zu formulieren, die nicht von rechts vereinnahmt werden kann.
Das Buch ermöglicht vielseitige Einblicke in kurdische Kämpfe rund um Rojava – auf allen Ebenen.
Der Kampf um die kleine Grenzstadt Kobanê in der Provinz Rojava hat vor einigen Monaten auch hierzulande der schon tot geglaubten internationalen Solidarität neue Impulse gegeben. Allein in Berlin sammelten nicht nur zwei Bündnisse Geld „Waffen für Rojava“: Zahlreiche Clubs und Veranstaltungslokalitäten schlossen sich zum Bündnis „Nachtleben für Rojava“ zusammen, um zivile Projekte in der syrischen Provinz zu unterstützen.
Der Kampf der YPG-Einheiten brachte nicht nur dem sogenannten Islamischen Staat (IS) die erste wichtige Niederlage. Er zeigte einer Linken, die sich von dem Ende des Nominalsozialismus noch immer nicht erholt hat, dass die viel beschworene andere Welt nicht nur eine Floskel ist. Mittlerweile hat das Interesse an Rojava zumindest in Deutschland wieder nachgelassen. Es ist eine gute Zeit, um ein erstes Resümee zu ziehen. Der Politwissenschaftler Ismail Küpeli hat im Verlag Edition Assemblage kürzlich unter dem Titel „Kampf um Kobanê“ ein Buch herausgegeben, das diesen Anspruch einlöst. 16 Autorinnen und Autoren schreiben über sehr unterschiedliche politische und soziale Aspekte, die mit dem Kampf um Kobanê im Zusammenhang stehen.
Leider gehört gleich der erste Aufsatz des Sozialökonomen Sebahattin Topçuoğlu nicht zu den stärksten Beiträgen des Buchs. Schließlich konzentriert er sich in seinem kurzen Einblick in die kurdische Geschichte auf die Historie der „großen Männer“, statt die Kämpfe der unteren Klassen in den Blick zu nehmen.
Auch was der Autor zur aktuellen Situation schreibt, ist höchst zweifelhaft. So schreibt er über Abdullah Öcalans Vorstellungen von Selbstverwaltung und Feminismus:
„Die Ideen Öcalans werden unter anderem auch deshalb international in linksgerichteten Kreisen diskutiert, weil sie sich klar gegen Kapitalismus und Nationalstaat positionieren. In Bezug auf Staatlichkeit nehmen seine Ideen zum Teil unrealistische bzw. utopische und anarchistische Züge an“ (S. 22).
So bleib Topçuoğlu am Ende der nun wahrlich nicht besonders analytische Gedanke: „Kurd_innen waren die Verlierer des 20. Jahrhunderts in der Region. Das 21. Jahrhundert bietet ihnen nun die Möglichkeit, bei der Neugestaltung der Region als Gewinner_innen hervorzugehen“ (S.23). Informativer ist der Beitrag von Ulf Petersen, der die auch in linken Kreisen häufig verbreitete Behauptung wiederlegt, dass die PYD (die kurdische „Partei der Demokratischen Union“) sich nicht an der Opposition gegen das Assad-Regime beteiligt habe. Dabei habe diese sich nur geweigert, das Regime auch um den Preis einer islamistischen Herrschaft zur stürzen. „Seit dem Kampf um Kobanê 2014/15 ist allerdings deutlich geworden, dass die PYD und die Selbstverwaltung wirklich einen eigenen Weg gehen“, (S.28) schreibt Petersen.
Der Kampf der Frauen geht nicht um westliche Werte
Eine Stärke des Buches besteht darin, dass die große Mehrheit der AutorInnen aus Türkei und Kurdistan kommen und daher sehr wichtige Detailinformationen vermitteln, die in der Diskussion hierzulande kaum bekannt sind. Das gilt beispielsweise für den Aufsatz der Soziologin Dinar Direkt, die sich mit der Rolle der Frauen in Rojava befasst und dabei eine scharfe Kritik an einer romantisierenden Berichterstattung vieler Medien äußert:
„Indem die Frauen als mysteriöse Amazonen erotisiert werden, werden sie dem kapitalistischen Wertesystem entsprechend politisch sterilisiert und vermarktet. Doch in Anbetracht der radikal-demokratischen politischen Ziele der in Rojava kämpfenden Frauen, ist es fraglich, ob der Mainstream und seine Modezeitschriften, die den Kampf kurdischen Frauen nun für ihre eigenen Zwecke aneignen, auch die Gedanken dieser mutigen Kämpferinnen zu unterstützen bereit sind. Immerhin steht die Ideologie, die diese Frauen antreibt, auf der Terrorliste der Türkei, USA und EU“ ( S. 38).
Direkt erinnert auch daran, dass der Kampf der Frauen in Kobanê in einer längeren Tradition steht.
„Erst wenn man sich mit der Position und den organisatorischen Praktiken der PKK befasst, ist es möglich, die Massenmobilisierung der Frauen in Kobanê zu verstehen. Sie ist nicht aus dem Nichts entstanden, sondern beruht auf bestimmten Prinzipien und betrachtet sich als die Weiterführung der Tradition, die die Frauen der PKK angefangen haben“ (S. 47).
Direk kritisiert auch eine Position, wie sie in feministischen Kreisen zu hören ist. Demnach kämpfen die Frauen in Rojava, um einer patriarchalen Gesellschaft zu entkommen. Für die Soziologin wird damit oft vergessen, dass die Frauen klare politische Positionen haben, die sie zu ihren Kampf motivieren. Allerdings kann eine Frau sich eine feministische Perspektive in der Auseinandersetzung mit der patriarchalen Gesellschaft, in der sie lebt, erarbeitet haben. Scharf zurückweist Direk auch die These, mit den feministischen Bezügen würden die Frauen in Rojava um westliche Werte kämpfen. Die Autorin erinnert daran, dass die kurdischen TheoretikerInnen der Frauenbefreiung sich explizit gegen den westlichen Feminismus wenden, den sie als ungenügend und unvollständig bezeichnen.
Der Wissenschaftler Lokman Turgut geht in seinem kurzen Abriss über die Geschichte der PKK bis in die späten 1960er Jahre zurück, als Versammlungen des Osten, in verschiedenen Städten stattfanden. Diese Versammlungen, die 1967 in verschiedenen kurdischen Städten organisiert wurden. Einberufen wurden sie von linken kurdischen Gruppen. Thematisiert wurde die Unterentwicklung der Osttürkei. Gefordert wurde die politische und ökonomische Gleichheit mit den anderen Teilen des Landes.
Damals wurde erstmals in größerem Umfang thematisiert, dass Kurdistan eine türkische Kolonie ist. Diese Ansätze spielten in verschiedenen linken Gruppen, die es in den 1970er Jahren in der Türkei und Kurdistan gab, und später dann auch in der PKK, eine wichtige Rolle. Die kurz zusammengefasste Übersicht über die Vorgeschichte der PKK könnte LeserInnen dazu ermutigen, hier weiter zu forschen. Bisher gab es auch in PKK-nahen Kreisen oft nur eine etwas mythologische Geschichtsschreibung, die mit dem Beginn des bewaffneten Kampfes 1984 begann, als ein Großteil der türkischen Linken von der Militärdiktatur ermordet, verfolgt, ins Gefängnis geworfen oder ins Exil getrieben worden war.
PKK eine stalinistische Organisation?
In seiner Zusammenfassung geht Turgut mit einer auch in Teilen der hiesigen Linken häufig bemühten PKK-Rezeption hart ins Gericht. „Die Bewertung der PKK als stalinistische oder marxistisch-leninistische Organisation, oder Versuche sie durch ihre jeweiligen einzelnen Ziele zu beschreiben, würde es verfehlen, die PKK umfassend und treffend einzuordnen“ (S. 64). Einige Seiten später vertritt der Journalist Christian Jakob in seinem Aufsatz über die PKK in den ersten zwei Jahrzehnten nach ihrer Gründung folgende Klassifizierung: „eine kurdisch-nationalistische, autoritäre, zentralistische Kaderpartei“. Allerdings betont Jakob, wie zahlreiche andere AutorInnen, dass die PKK später einen Bruch mit autoritären Politikvorstellungen vollzogen hat, die wesentlich von Öcalan vorangetrieben wurden, der wiederum von den Ideen des Anarchisten Muray Bookchyn beeinflusst ist. Die Lesart von der autoritären, ja stalinistischen PKK hatte sich bereits vor mehr als 30 Jahren in großen Teilen der außerparlamentarischen Linken in der BRD durchgesetzt. So stehen sich in dem Buch zwei Positionen gegenüber. Kurdische und türkische Linke, sehen schon in der Politik der frühen PKK viele Elemente enthalten, die die Politik bis heute bestimmen. Deutschsprachige Linke betonen den Bruch zwischen der stalinistischen und der libertären Phase. Hier spielt sicher die notwendige Kritik an autoritären oder stalinistischen Politikmodellen eine Rolle. Aber ein anderer Aspekt darf dabei nicht vernachlässigt werden. Die außerparlamentarische Linke der BRD kann sich über die sicher notwendige Zerstörung von Diskursen kaum andere Aktionsfelder vorstellen. Wie aber mehrere AutorInnen in dem Buch gut darstellen, war das Ziel der PKK ein Bruch mit dem Kolonialstatus in Kurdistan, aber auch eine innerkurdische Revolution, die sich gegen die eigene Bourgeoisie richtete. Ein solches Ziel setzt auch eine gewisse politische Organisierung voraus, die schnell als autoritär kritisiert werden kann. Es sollte aber nicht vergessen werden, dass auch bewaffnet kämpfende anarchistische Verbände wie die FAI in der spanischen Revolution keine basisdemokratischen Strukturen hatten.
Auch die Journalistin Hanna Wettig begründet in ihrem ansonsten informativen Aufsatz über die syrische Opposition in einer Fußnote, warum sie den Begriff Rojava in ihren Text nicht verwendet.
„Die Eigenbezeichnung ‚Rojava‘ wird hier nicht benutzt, da es sich nach Ermessen der Autorin nicht um eine Eigenbezeichnung der kurdischen Bevölkerung handelt, sondern um einen von der PYD in die politische Debatte eingeführten Begriff. Kurdinnen und Kurden, die sich jenseits der PYD politisch engagieren, benutzen diesen Begriff nicht oder nur spöttisch, einige lehnen ihn vehement ab“ (S. 126).
Nun hat Wettig aber nicht ausgeführt, wie hoch der Teil der Bevölkerung ist, die diesen Terminus ablehnt. Allerdings ist es auch ein Pluspunkt des Buches, das es eben auch solch kritische Beiträge neben Aufsätzen stehen lässt, die sehr eindeutig für den politischen Prozess in Rojava Partei ergreifen. Die LeserInnen haben so die Möglichkeit, sich selber ein Bild zu machen. Zudem hat die Geschichte von gesellschaftlichen Umbrüchen und Revolutionsversuchen gezeigt, dass eine kritiklose Betrachtungsweise schnell zu Enttäuschungen und oft zum Rückzug aus dem politischen Engagement führt. Eine Solidarität, die um diese Probleme weiß, die schon von Beginn an auch den kritischen Blick auf die eigene Seite wirft, ist heute notwendig. Das von Küpeli herausgegebene Buch kann einen Beitrag dazu leisten. Allerdings hätte man sich noch ein Kapitel gewünscht, dass die fortdauernde Repression gegen linke kurdische Strukturen in Deutschland noch einmal thematisiert. Neben der Türkei ist Deutschland mit dem PKK-Verbot das Land, das bis heute die kurdische AktivistInnen heftig bekämpft und kriminalisiert.
Zum Buch
Ismail Küpeli (Hg.) 2015:
Kampf um Kobanê. Kampf um die Zukunft des Nahen Ostens.
Edition Assemblage, Münster.
ISBN: 978-3-942885-89-8.
168 Seiten. 16,80 Euro.
Zum transnationalen Streiktag am 1.März gab es Aktionen in mehreren europäischen Ländern.
«Take a Walk on the Workerside» lautete das Motto eines Spaziergangs durch die prekäre Arbeitswelt in Berlin am 1.März. Organisiert wurde er von den «Migrant Strikers», einer Gruppe von italienischen Arbeitsmigranten in Berlin, den «Oficina Precaria», in der sich Kolleginnen und Kollegen aus Spanien koordinieren, und der Berliner Blockupy-Plattform, die in den letzten Jahren die Proteste gegen die Europäische Zentralbank (EZB) und die Eurokrise koordinierte.
Der Aktionstag am 1.März wurde von europäischen Basisgewerkschaften und linken Gruppen bei einem Treffen Mitte Oktober 2015 in Poznan beschlossen, bei dem über transnationale Kooperation im Arbeitskampf beraten wurde (siehe SoZ 12/2015).
Der Schwerpunkt der Aktionen lag in Spanien, Italien und Polen. Die polnische anarchosyndikalistische Arbeiterinitiative IP organisierte in mehreren Städten Kundgebungen gegen Zeitarbeitsfirmen, auf denen die dort praktizierten prekären Arbeitsbedingungen angeprangert wurden. «Wir fordern die gleichen Löhne, die gleichen Rechte und die gleichen Verträge für alle. Ob wir das durchsetzen können, hängt nicht nur von den Managern ab. Wenn wir zusammen agieren, können wir ein Wort bei der Organisation unserer Arbeit mitreden», hieß es im Aufruf der IP. Dort wurde auch auf den Kampf bei Amazon Bezug genommen und eine transnationale Perspektive gefordert. Die IP hat im Amazon-Werk in Poznan zahlreiche Beschäftigte organisiert.
In Deutschland gab es am 1.März nur in wenigen Städten Aktionen. In Dresden organisierte die FAU eine Diskussionsrunde zum Thema «Verteidigung des politischen Streiks» auf einem öffentlichen Platz. In Berlin war der Spaziergang durch die prekäre Arbeitswelt die zentrale Aktion. Startpunkt war die Mall of Berlin, die zum Symbol von Ausbeutung migrantischer Arbeit, aber auch des Widerstands dagegen wurde. Seit 15 Monaten kämpfen acht rumänische Bauarbeiter um den ihnen vorenthaltenen Lohn für ihre Arbeit auf der Baustelle (siehe SoZ 2/2015). Eine weitere Station war ein Gebäude der Berliner Humboldt-Universität. Dort sprach ein Mitglied einer studentischen Initiative, die sich für einen neuen Tarifvertrag für studentische Hilfskräfte einsetzt, über die prekären Arbeitsbedingungen im Wissenschaftsbetrieb.
An dem Spaziergang beteiligten sich auch Beschäftigte des Botanischen Gartens der FU Berlin mit einem eigenen Transparent mit Verdi-Logo. Sie sorgten in den letzten Wochen für Aufmerksamkeit, weil sie gegen die Outsourcingpläne der Unileitung kämpfen. Dazu hat sich ein Solikreis gebildet, an dem Studierende verschiedener Berliner Hochschulen beteiligt sind. In den letzten Wochen organisierte Ver.di zwei Warnstreiks im Botanischen Garten.
Es wurden am 1.März also Beschäftigte mit unterschiedlicher Gewerkschaftsorganisation angesprochen, die sich gerade in Auseinandersetzungen um Arbeitsbedingungen oder Löhne befinden. In Berlin will das kleine Vorbereitungsteam weiterarbeiten. Die nächste Aktion ist am 1.Mai geplant.
Das EU-Abkommen mit der Türkei steht in einer Tradition, die zeigt, dass es für Europa Wichtigeres gibt als Menschenrechte
Am 4.April wurde die zwischen der EU und der Türkei vereinbarte Übereinkunft zur Flüchtlingsrückführung erstmals umgesetzt [1]. Warnungen von zahlreichen Menschenrechtsorganisationen [2], aber auch von UN-Organisationen wurden ignoriert. Denn für den Großteil der verantwortlichen Politiker, einschließlich der bis weit ins linke Milieu mit Lob bedachten Bundeskanzlerin Merkel, ist das Abkommen dann ein Erfolg, wenn die Zahlen der Migranten in Kerneuropa zurückgehen.
Der Verweis auf die vorenthaltenen Menschenrechte schlägt schon deshalb fehl, weil diese Rechte schon lange keine große Rolle mehr in der Flüchtlingsfrage spielen. Es ist dem vielfältigen Widerstand der Migranten zu verdanken, dass die Umsetzung des Abkommens schon am zweiten Tag ins Stocken geriet, weil sie Asylanträge gestellt haben, die dann erst noch abgelehnt werden müssen, was wohl eher eine bürokratische Formsache als ein echter Schutz der Menschen ist.
Dass das EU-Türkei-Abkommen sich in die Politik der europäischen Flüchtlingsabwehr der vergangenen Jahre einreiht, wurde am Montagabend auf einer von der Zeitschrift Bürgerrechte & Polizei/ CILIP [3] organisierten Veranstaltung deutlich. Sie stand unter dem bezeichnenden Motto „Europas Staatsgewalten gegen Migration“.
Dort hat Cilip-Redakteur Heiner Busch deutlich gemacht [4], dass das Ziel der EU schon seit Jahren die Flüchtlingsabwehr [5] ist und nicht die Wahrung der Menschenrechte von Geflüchteten. Auch ein Geflüchteter, der in verschiedenen Netzwerken aktiv ist, erklärte: „Der Vertrag der EU mit der Türkei ist nur die Fortsetzung des jahrelangen Kampfes der EU gegen Geflüchtete.“
Zahlreiche afrikanische Diktaturen als Schutzraum für die Festung Europa
So hat die Vereinbarung der EU mit der Türkei viele Vorläufer. Mit zentralen nord- und westafrikanischen Staaten hat die EU ähnliche Vereinbarungen geschlossen, welche die Migranten stoppen sollen. Vor dem sogenannten arabischen Frühling hat auch Libyen unter Gaddafi für einige Zeit die Rolle des Grenzwächters gespielt. Wobei man Berichten von in dieser Zeit in Libyen lebenden Migranten, die sich später in den Gruppen Lampedusa Berlin [6] und Lampedusa Hamburg [7] organisiert hatten, entnehmen kann, dass ihr Leben unter Gaddafi in Lybien wesentlich besser war als danach und auch besser als in vielen von der EU hofierten nordafrikanischen Ländern, einschließlich Marokko aktuell.
Die Menschenrechte wurden in den meisten der Grenzwächterstaaten nicht sonderlich ernst genommen und EU störte sich nicht daran. Daher ist es auch nicht besonders verwunderlich, dass bei den EU-Türkei-Vereinbarungen die diktatorischen Momente in der türkischen Innenpolitik kein Hinderungsgrund waren. Die Referenten bei der Cilip-Veranstaltung beklagten eine historische Amnesie, die den aktuellen Deal zwischen EU und Türkei zum Sündefall der EU stempeln und die Vorgeschichte unterschlagen.
Remember 06.Februar 2014
Ein Grund dafür ist das Fehlen eines gemeinsamen europäischen Gedächtnisses, das sich der Gewalt gegen Migranten bewusst ist. Es sei daher auch nicht gelungen, gemeinsame europäische Gedenktage zu etablieren. So ist in Spanien der 6. Februar 2014 für Flüchtlingsorganisationen und Antirassismusgruppen ein solcher Gedenktag. In Deutschland ist der Termin kaum bekannt.
An diesem Tag hatten Migranten versucht, die Grenze der spanischen Enklave Ceuta zu überwinden. Die spanische Polizei schoss auf die Menschen und tötete mindestens 14 Migranten [8]. Bis heute ist keiner der verantwortlichen Polizisten strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden. Doch die Flüchtlingsorganisationen und die Angehörigen der Getöteten geben ihren Kampf um Gerechtigkeit nicht auf.
Spätestens im Jahr 2017 wollten sie erneut die Initiative ergreifen, um die Verantwortlichen für das Blutbad im Jahr 2014 zur Verantwortung zu ziehen. Schon Jahre vorher war bekannt geworden, dass die spanische Polizei immer wieder brutal gegen Migranten vorgeht. Die Grenze zwischen Spanien und Marokko wird auch der tödliche Zaum von Melilla [9] genannt.
Grenzsicherung statt Menschenrettung
Am Beispiel des Programms Mare Nostrum, das wesentlich von der italienischen Regierung getragen und finanziert wurde, zeigte Heiner Buch die Grundlage der EU-Flüchtlingspolitik auf. Mare Nostrum hatte die Rettung der Menschen in den Mittelpunkt gestellt und war darin auch sehr erfolgreich Es lief aus, weil außer Italien kein weiterer EU-Staat sich an der Finanzierung beteiligen wollte.
Danach lag der Fokus wieder bei der Grenzsicherung und Flüchtlingsabwehr. Diesem Ziel dient auch das Abkommen mit der Türkei. Daher kann man der EU nicht vorwerfen, sie habe nicht eine klare Agenda in der Flüchtlingspolitik. Das Gerede über den europäischen Sündenfall erweist sich dagegen als inhaltslose Phrase.
Die Bundeswehr sucht mit „starken Antworten“ nach Mitarbeitern und hat unter dem Motto „Bunte Vielfalt nicht nur im Schuhregal“ auch Frauen im Visier
Auf Litfaßsäulen, in Zeitungen und auf Häuserwänden findet sich nicht nur Werbung für Reisen und Handys. Auch die Bundeswehr ist unter die Werbeträger gegangen. Seit die Wehrpflicht abgeschafft wurde, will sie via Werbung neue Mitarbeiter gewinnen. Daher präsentiert sich die Bundeswehr als Arbeitgeber[1].
Dort wird der Verantwortliche für die neue Kampagne mit den sinnigen Namen Dirk Feldhaus so zitiert. „Junge Menschen fragen heute immer mehr nach dem Sinn ihrer Arbeit und was ihnen diese neben einem Einkommen eigentlich bringt. Darauf haben wir in der Bundeswehr starke Antworten.“ Allerdings sind vor allem junge Menschen angesprochen, die schon das neoliberale Leistungsdenken verinnerlicht haben. Denn Feldhaus erinnert daran: „Kaum ein anderer Arbeitgeber bildet ein so breites Aufgabenspektrum ab und fordert zugleich so viel von seinen Arbeitnehmern.“ Dass der Job sogar das eigene Leben kosten könnte, braucht dann nicht extra erwähnt zu werden.
Da man in der Bundeswehr natürlich mit der Zeit geht, gehören auch Frauen zu der Zielgruppe der Bundeswehr-Werbung. Unter dem Motto „Bunte Vielfalt nicht nur im Schuhregal“[2] soll gezeigt werden, dass die Bundeswehrstiefel durchaus neben bunten Stöckelschuhen stehen können. Dabei kann der Bundeswehr zumindest Ehrlichkeit nicht abgesprochen werden. So wird gleich am Anfang klargestellt, dass es der Bundeswehr nicht um Frauenemanzipation geht, wenn sie Frauen für mehr weibliche Bundewehrmitarbeiterinnen werben lässt.
Die Bundeswehr braucht Nachwuchs. Seit der Aussetzung der Wehrpflicht muss sie sich wie ein ziviler Arbeitgeber auf dem Markt behaupten und um Nachwuchskräfte werben. Dabei setzt sie gezielt auch auf qualifizierte, junge Frauen, denn ihr Anteil in den Streitkräften soll größer werden.
Diese Offenheit soll natürlich einerseits den Kritikern den Wind aus den Segeln nehmen. Das Argument, dass es der Bundeswehr nur um ihren Nachwuchs geht, brauchen sie gar nicht zu bemühen, wenn sie genau zum Ausgangspunkt ihrer Werbung macht. Damit kann ihr eben auch nicht mehr vorgeworfen werden, sie verberge ihre Interessen hinter Phrasen von Emanzipation. Zudem wissen die Menschen, die die Bundeswehrwerbung koordinieren, dass sie damit ihre Zielgruppe eher verprellen würden. Es sind sicher nicht die Frauen, für die Emanzipation wichtig ist, die sich bei der Bundeswehr bewerben.
Bundeswehr-Werbung nicht modern genug?
Wie in großen Unternehmen schreibt auch Generalleutnant Born von der Personalabteilung beim Verteidigungsministerium den Frauen, „ganz eigene Qualitäten und Stärken von denen wir als Bundeswehr gerne mehr profitieren möchten“ zu. Interessant ist dann auch, wie die Geschlechterrollen bei der Werbung funktionieren. Für die allgemeine Erklärung ist ein Mann zuständig. Gezielt angesprochen werden sollten Frauen für den Arbeitgeber Bundeswehr allerdings von schon aktiven Soldatinnen. “ Frauen werben Frauen“ lautete das Motto, schließlich wissen Frauen am besten, was Frauen wollen, heißt es auf der Bundeswehr-Homepage. Die Kampagne wurde in Medien wie dem Spiegel[3] ein antiquiertes Frauenbild vorgeworfen.
Die Kampagne suggeriert zwei Dinge: Frauen werden nicht wegen ihrer Fähigkeiten gesucht, sondern weil sie gut aussehen. Zweitens: Frauen interessieren sich nur für Schuhe, Kleider und ihr Aussehen. Sie sind immer auch als Mutter im Einsatz. Und: Frauen sind nicht im normalen Arbeitsalltag, in der Normalität mit Männern und anderen Frauen abgebildet. Hinzu kommt: Dass auch um einen Dienst an der Waffe geworben wird, dass Frauen auch Panzer fahren oder Kampfjets fliegen, davon findet sich in der Kampagne nichts. Die Werber scheinen sich bemüht zu haben, dass dieser Gedanke bei der Betrachterin möglichst gar nicht erst aufkommt. Die Bundeswehr als Wellnessveranstaltung.Spiegel
Spiegel
Doch fraglich ist, ob sich die Bundeswehrwerber bei der Klientel wirklich blamiert haben, wie das Magazin unterstellt. Vielleicht sollen ja gerade Frauen mit einen eher konservativen Rollenbild angesprochen werden? Außerdem erschöpft sich die Spiegel-Kritik darin, sie erreiche mit ihrer zu konservativen Kampagne nicht das weibliche Reservoire in Gänze aus, weil sich ja Frauen mit modernen Rollenbildern nicht angesprochen fühlen könnten. Das ist nun keine Kritik an der Bundeswehr, sondern im Gegenteil ein Aufruf auf einen noch erweiterten Zugriff.
Bundeswehr-Werbung mit Binnen-I und auf Umweltschutzpapier?
Nun ist die Frage wahrscheinlich für die Bundeswehr-Werbeabteilung, die über einige Geldmittel verfügt[4] so irrelevant nicht. Schließlich druckte auch die linksliberale Taz Bundeswehrwerbung und da könnte eine geschlechtersensible Sprache und Darstellung den gewünschten Erfolg erhöhen.
Vielleicht sollte auch noch auf ökologische Aspekte eines Jobs bei der Bundeswehr hingewiesen werden Allerdings hat die Mehrheit der kritischen Taz-Leser nicht etwa das große Binnen-I- in den Anzeigen vermisst, sondern sieht den angeblich antimilitaristischen Grundkonsens des Blattes verletzt[5]. Sollte es den je gegeben haben, dürfte der aber spätestens der Vergangenheit angehören, seit Kommentatoren Militäreinsätze in Jugoslawien und anderswo befürworteten.
Einem antimilitaristischen Grundkonsens verpflichtet sind eher die unbekannten Menschen, die in den letzten Monaten verstärkt, Bundeswehrwerbung sabotieren[6]. Die Aktionen reichen von Farbattacken auf Bundeswehrplakate[7] bis zur Kreierung eigener Plakate, die den kritisierten Werbeproduktenähneln[8]. Manchmal sind Original und Kopie auf den ersten Blick zu erkennen, aber es gibt auch Plakate, die für Irritationen sorgen.
Es gibt Bundeswehrgegner die auf Aufklärung setzen und auf Blogs[9] Argumente liefern, warum die Bundeswehr ihrer Meinung nach kein Arbeitgeber wie jeder andere ist. Oft wird allerdings nur mitgeteilt, dass ein Bundeswehr-Plakat entfernt wurde. Erst vor wenigen Tagen haben sich unbekannte Bundeswehrgegner zu einer solchen Aktion in mehreren Berliner Stadtteilen bekannt[10].
Die Vielfalt der Aktionen gegen die Bundeswehr-Werbung, die unter dem Schlagwort Adbusting zusammengefasst wird, zeigt, dass hier ein ganz neues Aktionsfeld für Bundeswehrkritiker entstanden ist. Es wird seit Jahren festgestellt, dass die Ostermärsche, die auch letzte Woche in vielen Städten Abrüstung forderten, Schwierigkeiten haben, junge Menschen anzusprechen Die Gründe sind vielfältig. Manchen sind die Aktionen zu traditionell. Manche wollen da nicht neben Menschen mitlaufen, die das russische Militär nicht genau so kritisieren, wie das der USA. Doch die Adbusting-Aktionen machen auch deutlich, dass sich längst neue Felder einer Militarismuskritik im Allgemeinen und einer Bundeswehrkritik im Konkreten aufgetan haben.
„Während physische Folter Kennzeichen von Diktaturen ist, charakterisiert Isolationshaft Staaten mit demokratischen und rechtsstaatlichen Verfassungsgrundsätzen. Europäische und lateinamerikanische Länder haben die Praxis der Isolationshaft von der BRD übernommen“, schreibt der Publizist Niels Seibert.
Spanien baute bereits in den 1980er Jahren Isolationsgefängnisse à la Stammheim. Auch dort war die Einführung der Isolationshaft von teilweise heftigem Widerstand der Gefangenen begleitet. In Deutschland führten Gefangene der RAF, aber auch anderer linken Gruppen lange Hungerstreiks gegen die Isolationshaft durch. Daneben gab es außerhalb der Gefängnisse linke Bündnisse, die den Kampf gegen die „Isolationsfolter“ genannten Haftbedingungen führten. Staatliche Stellen begegneten diesen Initiativen mit massiver Repression. Es reichte in den 1970er und 1980er Jahren schon,…
Seit die türkische Regierung wiederr verstärkt mit Militär und schweren Waffen gegen die Bevölkerung in Kurdistan vorgeht, wächst auch unter Oppositionspolitiker*innen und bei zivilgesellschaftlichen Gruppen in Deutschland die Kritik an denWaffenexporten aus der BRD an das Land am Bosporus. So schreibt die antimilitaristische Initiative Aufschrei: „Die deutsche Bundesregierung genehmigte laut der CAAT-Datenbank zwischen 2001 und
2012 Rüstungsexporte in die Türkei im Wert von fast zwei Milliarden Euro.Deutschland lieferte damit in diesem Zeitraum von allen europäischen Ländern die meisten Kriegswaffen an die Türkei. “ Der Umfang der Waffenlieferungen hat sich seitdem nicht verringert. So wichtig es ist, den deutsch-türkischen Waffenexport zu thematisieren und zu kritisieren,so verwunderlich ist es, dass ein anderer Repressionsexport aus Deutschland in die Türkei kaum mehr erwähnt wird. Dabei können davon auch viele Oppositionelle betroffen sein, wenn sie, was häufig vorkommt, verhaftet werden und manchmal für längere Zeit in den Gefängnissen der Türkei verschwinden. Dann kann es ihnen passieren, dass sie mit einem besonderen deutschen Exportprodukt unfreiwillige Bekanntschaft machen: denIsolationsgefängnissen.
Stammheim am Bosporus
Vor mehr als 15 Jahren war das Thema dieses Isolationshaftexports in kleinerenTeilen der Linken in Deutschland ein Thema. Es gab zahlreiche Delegationen in die Türkei, an denen auch ehemalige politische Gefangene aus der BRD sowie Jurist*innen teilnahmen. Es war die Zeit,als in der Türkei die so genanntenF-Typ-Zellen gegen den heftigen Widerstand Tausender politischer Gefangener eingeführt wurden. Die offizielle Begründung basierte darauf, dass in den altenGefängnistypen Mafiastrukturen entstanden seien, durch die Leib und Leben der Gefangenen akut gefährdet wären. Die neuen Isolationszellen sollten dagegen Schutz bieten. Die Gefangenen dagegen befürchteten, durch die Isolation mehr als bisher den Foltermethoden der Gefängnisaufsicht zu unterliegen. Der Berliner Rechtsanwalt Volker Gerloff, der vom 14. bis 17. September 2001 an einer Delegationsreise in die Türkei teilnahm,die sich über die F-Typ-Zellen informierte, hatte Gelegenheit, Einblick in das Handbuch der türkischen Gefängniswärter*innen zu nehmen. Dort ist zu lesen: „Terroristen [politische Gefangene] sollen nicht miteinander kommunizieren. Dennwenn ein Terrorist nicht kommuniziert,dann stirbt er wie ein Fisch an Land“. Die sinnliche Wahrnehmung der Häftlingewird auf ein Minimum begrenzt. Diemenschlichen Sinne liegen brach, wodurch eine enorme psychische und physische Belastung erzeugt wird. Genau diese Erfahrungen mussten politische Gefangene aus unterschiedlichen linken Zusammenhängen der BRD bereits in den1970er Jahren machen. Damals einte der Kampf gegen „Isolationsfolter“ weite Teile der breitgefächerten Linken.
aus. Sonderausgabe der Roten Hilfe zum Tag des politischen Gefangenen 2016