Nazis müssen Stinkefinger ertragen


JUSTIZ Gericht stellt Verfahren gegen bekannte Anti-Nazi-Aktivistin wegen Beleidigung ein
Den Rechten den Mittelfinger zeigen wollen in diesen Tagen viele. Zumindest bei I bleibt das auch straffrei. Sie hatte sich am 31. Januar an Protesten gegen eine Kundgebung der rechtsextremen NPD in Blankenfelde im Landkreis Teltow-Fläming beteiligt. Als Zeichen der Missbilligung hatte sie ihren Mittelfinger in Richtung des rechten Aufmarschs in die Höhe gestreckt. Einer der Teilnehmer erkannte offenbar die bekannte 1945 geborene Anti-Nazi-Aktivistin und erstattete daraufhin Anzeige.
Strafbefehl über 450 Euro
Mensah-Schramm erhielt wegen Beleidigung einen Strafbefehl über 450 Euro. Dagegen legte sie Widerspruch ein. Eigentlich
sollte an diesem Donnerstag vor dem Amtsgericht Zossen darüber verhandelt werden, ob das Strecken eines Mittelfingers – sprich des Stinkefingers – in Richtung einer rechten Kundgebung strafbar ist. Doch einen Tag vorher stellte die Richterin das Verfahren ein und sagte den Termin ab. Man habe dies „wegen geringem Verschulden und fehlendem öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung entschieden, teilte eine Sprecherin des Gerichts am Mittwoch mit. Martin Vesely vom Verein Opferperspektive aus Potsdam sieht die Einstellung als Erfolg. Er kann nicht verstehen, warum es überhaupt zum Strafbefehl gekommen ist. Es sei klar, dass nach einer Anzeige ermittelt werden muss. Dass aber das Verfahren nicht bereits in der Anfangsphase eingestellt wurde, sei ein Rätsel. „Betroffene rechter Gewalt müssen teilweise jahrelang auf die prozessuale Verfolgung der Gewaltstraftaten warten. Eine Frau, die für ihr langjähriges zivilgesellschaftliches
Engagement gegen rechte Propaganda sogar mit dem Göttinger Friedenspreis ausgezeichnet wurde, sollte dagegen wegen einer Lappalie einer Strafverfolgung ausgesetzt werden“, sagte Vesely der taz. Die seit 1969 in Berlin lebende Irmela Mensah-Schramm entfernt
seit Mitte der 80er Jahre in der gesamten Republik Neonaziaufkleber. Dafür wurde sie vielfach gelobt und ausgezeichnet, geriet aber immer wieder ins Visier von Neonazis, die sie bedrohten und auch körperlich attackierten.
aus taz-Berlin: 29.10.2015
Peter Nowak

Radikale Kritik in Zeiten von Pegida

Der eigene Tee

Einst produzierten sie für Unilever, seit einem Jahr für sich. Besuch bei den Teerebellen im südfranzösischen Gémenos

Der alte Wärter überzeugt sich gewissenhaft, dass die Einlass begehrende Gruppe angemeldet ist und alle ein Besucherformular ausgefüllt haben. Erst dann öffnet er das Tor. Die Besucher müssen sich weiße Kittel und Überschuhe anziehen, bevor sie das Gelände der Teebeutelfabrik Fralib in Gémenos am Rande von Marseille betreten dürfen. Seit dort die Belegschaft gegen den Mutterkonzern Unilever gewonnen hat, ist die kleine Fabrik zum Symbol dafür geworden, dass man auch einen Weltkonzern in die Knie zwingen kann.

Im Jahr 2011 wollte Unilever die Produktionsstätte der bekannten Teemarke Lipton Elephant von Frankreich nach Polen verlagern. Doch er hatte die Rechnung ohne die Arbeiter gemacht. Die besetzten die Fabrik und forderten die Rücknahme des Schließungsbeschlusses. Zunächst wurden sie vom Management und der französischen Politik belächelt. Doch nach 1336 Tagen waren es die Arbeiter, die lachen konnten. Der Konzern gab nach – und zahlte den Rebellen mehrere Millionen Euro. »Nach fast vier Jahren Konflikt musste man einen Ausweg finden, damit beide Seiten ihren Weg unabhängig voneinander fortsetzen können«, begründete Unilever Frankreich die Einigung. Die Belegschaft konnte in Eigenregie weiter produzieren und bekam von Unilever eine Starthilfe von 20 Millionen Euro für die Gründung einer Genossenschaft.

Nach den aufreibenden Kämpfen und rauschenden Siegesfeiern hat der nicht immer einfache Alltag einer selbstverwalteten Fabrik in einem kapitalistischen Umfeld Einzug gehalten. Die Firma, die heute Scop Ti heißt, muss sich auch ohne Chef am Markt behaupten. Für die Beschäftigten bedeutet das zuweilen Sonderschichten. Ein Dutzend Kollegen stehen um eine Maschine und lassen Kartons mit Teebeuteln immer wieder über das Fließband laufen. Konzentriert versuchen sie, den Fehler zu finden, der dafür sorgt, dass die Verpackungen von der Maschine eingedrückt werden. »Solche Probleme haben wir häufig und wir müssen die selber lösen«, sagt Henri Soler mit Stolz in der Stimme. Der Endvierziger hält auch nach dem Ende der Besetzung an seinen egalitären Idealen fest. Gern hätte er einen Einheitslohn für alle Beschäftigten eingeführt, doch der Antrag wurde von der Mehrheit der knapp 80köpfigen Belegschaft abgelehnt. Es könne nicht sein, so das Gegenargument, dass ein junger Kollege, der gerade erst in der Fabrik angefangen hat und sich wenig für die Selbstverwaltung engagiert, genau so viel verdient wie ein Beschäftigter mit jahrelanger Erfahrung, der sich in verschiedenen Kommissionen an der Selbstverwaltung der Fabrik beteiligt. Soler bedauert die Entscheidung, doch sein Engagement ist ungebrochen. Schließlich hängt davon der Erfolg der gesamten Firma ab.

Scop Ti will europaweit Großmärkte mit Tee beliefern, auch in Deutschland. Dafür mussten die Arbeiter Abstriche an ihren Vorstellungen machen. Eigentlich sollten die Tees ohne Aromastoffe auskommen, weil sie bei Unilever erlebt hatten, wie die Qualität darunter leidet. Doch schnell merkten sie, dass sie vor allem im Bereich der Supermärkte Kunden verlieren würden. Daher wird ein Teil des Sortiments weiter mit Zusatzstoffen geliefert.

Auf dem Fabrikgelände sind die Jahre der Besetzung heute noch gegenwärtig. Che Guevara prangt an der Wand gegenüber dem Eingang, eine Ausstellung am Eingang des Betriebs informiert über die Geschichte des Arbeitskampfes. Dort sind auch einige Teekartons mit den Aufdrucken aus den Besetzungstagen zu sehen, die Kunden darüber aufklärten, dass die Teebeutel in einer selbstverwalteten Fabrik hergestellt werden.

Die Zukunft sieht nicht schlecht aus für die widerständigen Arbeiter. Der französische Präsident stattete der Kooperative im Sommer einen Besuch ab, seit wenigen Monaten ist ihre eigene Marke auf dem Markt. Der Name: 1336.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/989363.der-eigene-tee.html

Peter Nowak

„Die Angst wegschmeißen“

Labournet.tv erinnert in ihrem jüngsten Film an den Zyklus der Arbeitskämpfe in der norditalienischen Logistikbranche.

Seit 2011 kämpfen in Italien meist migrantische ArbeiterInnen in der Logistikbranche für reguläre Arbeitsbedingungen. In vielen großen Unternehmen ist es ihnen gelungen, durch entschlossenes Vorgehen die Einhaltung der nationalen Standards zu erzwingen und sich gegen die VorarbeiterInnen, die Leiharbeitsfirmen, die Polizei, die großen Gewerkschaften und die großen Medien durchzusetzen. Sie waren auch deshalb erfolgreich, weil sie auf die eigene Kraft vertrauten und auch in scheinbar aussichtslosen Situationen die Konfrontation mit den Bossen nicht scheuten. Durch ihre entschlossene Haltung erreichten sie es, dass sich große Teile der radikalen Linken aus Mailand und anderen norditalienischen Städten mit ihnen solidarisieren und ihre Aktionen unterstützen. Der Arbeitskampf hat die bisher rechtlosen ArbeiterInnen mobilisiert. Eine zentrale Rolle dabei spielt die Basisgewerkschaft Sindicato Intercateoriale Cobas (S.I. Cobas).

„Vor zwei Jahren hatte unsere Gewerkschaft in Rom drei Mitglieder. Heute sind es dreitausend“, erklärt Karim Facchino. Er ist Lagerarbeiter und Mitglied der italienischen Basisgewerkschaft S.I. Cobas. Der rasante Mitgliederzuwachs der Basisgewerkschaft ist auch eine Folge der Selbstorganisation der Beschäftigten. „Wir haben keine bezahlten Funktionäre, nur einen Koordinator, doch sein Platz ist nicht am Schreibtisch eines Büros, sondern auf der Straße und vor der Fabrik“, betont Facchino. Er war im Mai 2014 Teilnehmer einer Delegation italienischer GewerkschafterInnen und UnterstützerInnen aus der außerparlamentarischen italienischen Linken, die hierzulande über den erbittert geführten Arbeitskampf informierte, der fast vier Jahre andauerte. Zwei Monate vorher hatte eine Delegation von S.I. Cobas auf einem Treffen europäischer BasisgewerkschafterInnen über den Kampf der LogistikarbeiterInnen in Italien berichtet. Bei dem kleinen Team von labournet.tv hatte er dort deren Interesse geweckt. Die VideoaktivistInnen fuhren mehrmals nach Norditalien, führten zahlreiche Interviews mit den Beschäftigten und stellten sich auch die Frage, wie es dazu kam, dass sie so lange und kompromisslos ihren Arbeitskampf führten. So ist ein Film entstanden, der zeigt, wie Menschen sich verändern, wenn sie zu kämpfen beginnen. „Wir haben die Angst weggeschmissen“, erklärte ein Beschäftigter, der dem Film den Titel gab.„Die Angst wegschmeißen – Die Bewegung der LogistikarbeiterInnen in Italien“ liefert Dokumente eines Arbeitskampfs in Norditalien, der bisher in Deutschland kaum bekannt war.„Mafia verschwinde“, rufen die Jugendlichen und schwenken Fahnen der Antifaschistischen Aktion und der Gewerkschaft S.I. Cobas. Es ist eine Szene des mehrjährigen Arbeitskampfes. Eine Stärke des Films besteht darin, dass die unterschiedlichen Beteiligten am Arbeitskampf zu Wort kommen. Junge Männer aus Nordafrika, die durch den Arbeitskampf erstmals für ihre Rechte kämpften, berichten mit Stolz in der Stimme, dass sie diese Erfahrung für ihr Leben geprägt habe. Nüchterner formulieren mehrere Frauen, wie der Streik ihr Leben verändert hat. Sie sind nicht mehr bereit, die Verhältnisse einfach hinzunehmen, sondern erwehren sich auch der patriarchalen Zustände, denen sie ausgesetzt sind. Im Film kommt immer wieder die Rolle der Gewerkschaft S.I. Cobas zur Sprache, ohne die der Kampf nie hätte begonnen werden können. „Hier sind die Erfahrungen von langjährigen linken Aktivisten und die Wut der Logistikarbeiter zusammengekommen,“ formulierte es eine am Streik beteiligte Kollegin.Der langjährige S.I. Cobas-Aktivist Roberto Luzzi spricht im Film auch über die Grenzen der gewerkschaftlichen Kämpfe. „Hier können wohl Erfahrungen gesammelt werden, aber für eine Veränderung der Gesellschaft sind auch politische Organisationen notwendig“, erklärte er. Besonders die Jugend, die in ihren Leben oft noch keine Arbeitskämpfe kennengelernt habe, mache durch die Beteiligung am Arbeitskampf die Erfahrung, dass die kämpfende Arbeiterbewegung noch existiert, betont Luzzi. Die KollegInnen mussten Ende August auch wieder die Erfahrung machen, dass die Kapitalseite entschlossen ist, die Errungenschaften rückgängig zu machen. Mehrere der Beschäftigten, die im Film Interviews gegeben haben, wurden entlassen, einem migrantischen Gewerkschafter droht die Abschiebung.Der Film ist von einer Grundsympathie für die Streikenden geprägt und am Ende denkt man an den Amazon-Streik. Roberto Luzzi war Ende März und Anfang April 2015 für einige Tage in Deutschland und berichtete über den Arbeitskampf in Italien. Dabei besuchte er auch streikende Amazon-KollegInnen in Leipzig. Bei vielen von ihnen setzt sich nach den monatelangen Kämpfen die Erkenntnis durch, dass ein Arbeitskampf gegen einen multinationalen Konzern wie Amazon nur durch die transnationale Solidarität der Beschäftigten gewonnen werden kann. Der Film kann dadurch, dass er einen bisher weitgehend unbekannten Arbeitskampf in der europäischen Nachbarschaft bekannt macht, dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Er könnte auch Argumente für die KollegInnen liefern, die auch für undokumentierte Beschäftigte das Recht auf Mitgliedschaft in einer DGB-Gewerkschaft durchsetzen wollen. Bei S.I. Cobas ist diese Praxis selbstverständlich. Dem Film1 ist eine weitere Verbreitung zu wünschen.

[1] Der Film kann kostenlos heruntergeladen werden auf der Onlineplattform de.labournet.tv/video/6796/die-angst-wegschmeissen

Erschienen in: Direkte Aktion 231 – Sept/Okt 2015

https://www.direkteaktion.org/231/die-angst-wegschmeissen

Peter Nowak

Autonome Theorien – Theorien der Autonomen?

Sie gelten als der militante Flügel sozialer Bewegungen und als Subkultur. Es existiert aber auch eine lebendige Theorieproduktion, die mehr bietet als die blosse Befürwortung von Militanz. In Robert Foltins Buch werden jene Theorien vorgestellt, die in autonomen Szenen diskutiert werden und am Beispiel konkreter sozialer Kämpfe wird das Spannungsverhältnis von selbstbezüglicher Subkultur und Massenwirksamkeit ebenso angesprochen wie jenes von Spontanität und Organisation.

Die Zeiten sind vorbei, als die Autonomen zumindest in den deutschsprachigen Ländern die Medien bestimmten und diverse Polizei- und Verfassungsschutzbeamte auf Trapp hielten. Als militanter Arm der sozialen Bewegung verschiedener Länder wurden sie besonders vor bestimmten Grossdemonstrationen zum Popanz aufgebaut. Doch in der letzten Zeit ist es ruhig um die Autonomen geworden. Selbst die revolutionären 1. Mai-Demonstrationen in Berlin, die als letztes autonomes Grossereignis gelten, sind in der letzten Zeit scheinbar befriedet. Zumindest ist das die Einstellung der meisten MedienbeobachterInnen. Sie haben Autonome fast ausschliesslich mit Strassenmilitanz gleichgesetzt. Politische Inhalte, gar Theorien der autonomen Bewegung, waren für einen Grossteil der MedienvertreterInnen nie von Interesse. Das konnte auch im Vorfeld der revolutionären 1. Mai-Demonstrationen in Berlin immer gut beobachtet werden. Bei den immer sehr gut besuchten Pressekonferenzen bemühten sich die an der Demo beteiligten Organisationen immer wieder politische Inhalte zu vermitteln, die JournalistInnen interessierte jedoch nur die Frage, ob und wann es wieder zur Randale kommt.

Zwischen Subkultur und Revolution

Der Wiener Journalist und langjährige politische Aktivist Robert Foltin hingegen beschäftigt sich in dem im Mandelbaum-Verlag herausgegebenen Buch nun im Schnelldurchgang mit den Theorien der Autonomen. Bereits im Vorwort  beschreibt Foltin in der ersten Person das  Theoriefeld in dem es im Buch geht. «In der Zeit, in der ich politisiert wurde, ab Mitte der 70er Jahre, ging das Intermezzo der neoleninistischen Dominanz der linksradikalen Szene zu Ende. Unsere Theorie war geprägt von der Abgrenzung zum Marxismus-Leninismus. Wir bewegten uns in einer Subkultur, als Markenzeichen trugen wir damals lange Haare und kifften, wollten aber ebenso eine soziale und politische Revolution. Wir interessierten uns für den Feminismus und die Schwulen-/Lesbenbewegung und kritisierten den Fetisch Proletariat».  In den folgenden Kapiteln widmete sich Foltin in Kurzform den verschiedenen historischen und theoretischen Strängen, die auf die autonome Theorieproduktion auf unterschiedliche Weise Einfluss  hatte. Der Anarchismus in den verschiedenen Fassungen spielt dabei natürlich eine entscheidende Rolle, aber auch der Operaismus und der Rätekommunismus hatten einen wichtigen Einfluss auf die autonome Theorieproduktion. So erinnert der historisch bewanderte Foltin an die kurze Geschichte der «Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschland» (KAPD) in den frühen Jahren der Weimarer Republik, die eine Art autonome Fraktion der kommunistischen Bewegung gewesen war und zeitweise sogar die KPD an Mitgliedern überflügelte. Dass kommunistische Theorien durchaus auch Einfluss in der autonomen Bewegung hatten, schrieb der anarchistische Autor Horst Stowasser bereits 2007: «Inhaltich vertritt die autonome Bewegung ein Gemisch aus alt-kommunistischen Avantgardeanspruch und einem anarcho-spontanistischen Kult der direkten Aktion».

Autonome und Kommunismus

Foltins Verdienst ist es, dass er  in seinem Buch den Anteil vor allem dissidenter kommunistischer  Theorien für die autonome Bewegung sehr ausführlich darlegt. Er tritt damit der häufigen Vorstellung entgegen, dass die Autonomen nur eine besondere Spielart des Anarchismus sind und waren.  Foltin erinnert ausführlich an operaistische Ansätze, aber auch an die breite Rezeption, die  historische Schriften wie «Die andere Arbeiterbewegung» hatten, die von Karl Heinz Roth und Elisabeth Behrens 1974 herausgegeben wurde. Foltin kommentiert die Schrift so: «Die andere Arbeiterbewegung ist trotz vieler Schwächen ein Meilenstein in der Geschichtsschreibung der autonomen Kämpfe und wurde in den 70er Jahren viel diskutiert. Die Beschreibung ist zwar etwas schematisch – auf der einen Seite stehen die sozialdemokratischen FacharbeiterInnen und als Kontrast dazu die rebellischen unteren Segmente der Klasse». Foltin versucht die Thesen des Buches auf die Frühphase der Weimar  Republik anzuwenden, indem er schreibt, dass die zweite Welle der Kämpfe 1920 und 1921 von dieser anderen ArbeiterInnenbewegung  getragen wurden, während die erste Welle von den in Rätebewegungen organisierten FachbarbieterInnen dominiert wurde.

Doch Historiker der Rätebewegung wie Axel Weipert und Rolf Hoffrogge widersprechen dieser Sicht und sehen in den historischen Quellen keinen Unterschied zwischen den Trägern der ersten und zweiten Revolutionsphase. Die Theorien der anderen ArbeiterInnenbewegung könnten gerade in einer Zeit wieder eine grössere Rolle spielen, in der es Streiks auch in Bereichen gibt, die von den grossen Gewerkschaften nicht erreicht werden. Zunehmend sind es gerade die ExponentInnen dieser anderen ArbeiterInnenbewegung, die heute Arbeitskämpfe führen.

Die Autonomen heute

Foltin geht auch auf die kleinen Erfolge von Basisgewerkschaften wie der «Freien Arbeiter Union» (FAU) ein, die durchaus zum autonomen Politikfeld gehört. Der Feminismus und der Antirassismus kommen in Foltins Buch vor, doch es wird nicht recht der Stellenwert ersichtlich, den diese Ansätze in der autonomen Theorie und Praxis hatten. Foltin geht auch kritisch auf den Antiimperialismus ein, verwirft ihn aber nicht rundweg. Viel schärfere Kritik erfahren die sogenannten antideutschen Politikansätze, die von Foltin allerdings auch nicht einer differenzierten Betrachtung unterzogen worden sind. In dem letzten Kapitel geht Foltin auf das Konzept der Multitude ein, dass vor rund 15 Jahren von Antonio Negri  verfasst und in der autonomen Bewegung intensiv diskutiert wurde. Doch mittlerweile muss man auch fragen, welchen Einfluss die Multitude-Rezeption auf die konkrete politische Praxis der autonomen Bewegung hatte. Darauf geht Foltin leider nicht ausführlicher ein.  So bleibt man trotz der vielen interessanten Anregungen in dem Buch, am Schluss doch etwas ratlos nach dem letzten Kapitel zurück. Dort wird kurz auf die Syriza in Griechenland und die «Interventionistische Linke» (IL) und das Ums-Ganze-Bündnis in Deutschland eingegangen. Diese beiden linken Bündniskonstellationen gehören zur postautonomen Linken. Viele ihre  Gründer und   Mitglieder  gehörten in den 80er Jahren zur autonomen Bewegung und beteiligten sich in den 90er Jahren an den Debatten über eine Zukunft jenseits der autonomen Event- und  Jugendkultur. Hier hätte man sich in dem Buch einige weiterführende Gedanken  gewünscht. Ein guter Abschluss des Buches wären etwa einige provokative Thesen zur Frage, ob die autonome Bewegung noch eine Zukunft hat, gewesen.

«Autonome Theorien – Theorien der Autonomen?» von Foltin Robert. Erschienen 2015 im Mandelbaum Verlag, Wien.

aus Vorwärts/Schweiz 27/28 2015, 23.10. 2015

http://www.vorwaerts.ch

Peter Nowak

Eine Baumbesetzung ist gleich Hausfriedensbruch

PROZESS  A100-GegnerInnen vor Gericht, weil sie sich gegen das Autobahnprojekt wehrten

Vier A100-GegnerInnen mussten sich am Montag wegen Hausfriedensbruch vor dem Amtsgericht Tiergarten verantworten, weil sie sich mit einer Baumbesetzung gegen das Autobahnprojekt wehrten. Das Gelände an der Neuköllner Grenzallee war am 3.Februar 2014 von
einem großen Polizeiaufgebot geräumt worden. Den größten Raum nahm jedoch die Befragung des A100-Projektleiters im Senat für
Stadtentwicklung und Umwelt, Arne Huhn, ein, der den Strafantrag gegen die A100-Gegner-Innen unterzeichnet hatte. Bei seiner Befragung spielte ein Brief des damaligen Senators für Stadtentwicklung und heutigen Regierenden Bürgermeisters, Michael Müller, an die grünen Mitglieder des Abgeordnetenhauses Dirk Behrend und Harald Moritz eine Rolle. Dort hatte Müller betont, dass der Senat nicht gegen alle Personen, die auf dem geräumten Grundstück angetroffen worden waren, Strafantrag stellt. Eine Rücknahme der Anzeige, die zur Einstellung des Verfahrens führen würde, lehnte Huhn aber ab. In einer Erklärung nannte der Angeklagte Peter Schwarz den Bau der A100 eine „Politik für die Interessen der Auto- und Immobilienindustrie“. Mit der Anklage versuche der Senat, KritikerInnen des Projekts zu kriminalisieren. Schwarz verwies darauf, dass für den Weiterbau  der A100 bereits mehrere Wohnhäuser in der Beermannstraße in Treptow abgerissen werden, obwohl laut Senat Geflüchtete in den Gebäuden untergebracht werden sollten. Am 11. November wird der Prozess fortgesetzt. UnterstützerInnen der Angeklagten rufen zu einer regen Teilnahme auf, weil zu dem Termin auch
zwei BaumbesetzerInnen – deren Verfahren eingestellt wurden –, als ZeugInnen geladen sind. Sollten sie die Aussage verweigern, könnte ihnen Beugehaft drohen.
aus Taz-Berlin  vom 27.10.2015
Peter Nowak

Mieter und Künstler stellen die Wohnungsfrage

Mit der Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt wird deutlich, dass der kapitalistische Verwertungszwang das größte Hindernis für alternative Wohnmodelle darstellt

Der türkische Teekocher mit dem Aufkleber der Kreuzberger Stadtteilinitiative Kotti & Co. gehört zum Inventar des Protest-Gececondo[1], das die Mieter im Mai 2012 am Kottbuser Tor errichtet haben. Nun findet sich der Teekocher auch im Haus der Kulturen der Welt[2]. Dort wurde im Rahmen der Ausstellung „Wohnungsfrage“[3], die am 22.Oktober eröffnet wurde, die Protesthütte nachgebaut.

„Das HKW hat uns die Möglichkeit gegeben, mit dem Architekten Teddy Cruz und der Wissenschaftlerin Fonna Forman[4] aus San Diego eine Antwort auf die Frage des Wohnens zu suchen. Sehr schnell waren wir uns einig, dass die Frage des Wohnens niemals nur eine räumliche /architektonische ist, sondern immer auch eine politische und eine ökonomische Frage“, erklärt Sandy Kaltenborn von Kotti & Co gegenüber Telepolis.

Im Rahmen der Ausstellung wird die temporäre Hütte nicht nur im HKW zu sehen sein. Vom 6. bis 8. November wird sie neben der Protesthütte am Kottbuser Tor aufgebaut. Dort wird auch die 50minütige Filminstallation „Miete essen Seele auf“[5] von Angelika Levi[6] zu sehen sein, in der die Geschichte des sozialen Wohnungsbaus in Kreuzberg verarbeitet wird.

Auch die Senioren der Stillen Straße[7], die 2012 mit der Besetzung[8] ihres von Schließung bedrohten Treffpunkts in Pankow für Aufmerksamkeit sorgten, sind Kooperationspartner der Ausstellung. Gemeinsam mit ihnen entwickelte das Londoner Architekturbüro Assemble die Installation Teilwohnung[9]. So ist ein Wohnkomplex entstanden, der im Erdgeschoss kollektiv genutzte Gemeinschaftsräume und Werkstätten beherbergt. Die anderen Etagen sind den privaten Räumen der Bewohner vorbehalten.

„Der Entwurf ermöglicht ein gemeinsames und zugleich selbstbestimmtes Wohnen von Menschen jeden Alters und stellt damit einen Gegenentwurf zu den isolierten Wohnanlagen dar „, betont einer der Architekten.

Mietenkämpfe, wenn der kapitalistische Verwertungszwang wegfällt

In der Eröffnungsansprache benannte der Intendant des HKW Bernd Scherer die Faktoren, die die Verbreitung solcher menschenfreundlichen Alternativen behindern. „Wohnungen werden nicht nur gebaut, um darin zu wohnen, sondern um Geld anzulegen und mit den wachsenden Preisen und Mieten zu spekulieren“, benannte er eine Situation, die heute Mieter mit geringen Einkommen leidvoll erfahren.

In der Ausstellung wird an Beispielen aus verschiedenen Teilen der Welt gezeigt, wie Wohnungen für die Allgemeinheit errichtet werden können, wenn der kapitalistische Verwertungszwang zurückgedrängt ist. So zeigt der Dokumentarfilm „Häuser für die Massen“ wie in Portugal nach der Nelkenrevolution 1974 die Mieter- und Stadtteilbewegung SAAL[10] Teil eines allgemeinen gesellschaftlichen Aufbruchs wurde. Hier wird deutlich, mit welcher Begeisterung, Menschen, die jahrzehntelang marginalisiert worden waren, die individuelle und gesellschaftliche Befreiung in die eigenen Hände nahmen.

Das Künstlertrio Lisa Schmidt-Colinet, Florian Zeyfang und Alexander Schmoeger dokumentiert die Geschichte des Wohnungsbaus in Kuba seit der Revolution. Im Zentrum stehen die aus Arbeitern bestehenden Microbrigaden[11], die mit Material von der Regierung ihre eigenen Wohnungen und daneben auch kommunale Gebäude wie Schulen und Krankenhäuser errichten. In dem Film werden auch aber die Probleme benannt, die durch den Mangel an Rohstoffen nach dem Ende des nominalsozialistischen Lagers, aber auch die dirigistische Politik der kubanischen Regierung entstanden sind.

Die Menschen wollen an der Basis entscheiden und nicht bevormundet werden, sagt in dem Film ein kubanischer Architekt. Sie wollen sich auch nicht von scheinbar objektiven Marktgesetzen unterwerfen. Das ist eine Erkenntnis, die sich aus der hochinteressanten Ausstellung gewinnen lässt. Es ist bemerkenswert, dass schon im Ausstellungstitel, aber auch in den Texten der Zusammenhang zwischen den Problemen um die Mieten und dem Kapitalismus hergestellt wird. Friedrich Engels Schrift „Zur Wohnungsfrage“[12] klingt im Titel an.

Der Intendant des HKW spricht die Grenzen an, die eine Wohnungspolitik für viele Menschen im Kapitalismus hat. Dieser Aspekt ist deshalb besonders zu würdigen, weil auch viele Menschen, die sich positiv auf die aktuelle Mieterbewegung beziehen, den Zusammenhang zum Kapitalismus nicht herstellen.

Das wurde am Abend der Ausstellungseröffnung[13] bei der Vorstellung des Buches „Der Kotti“ von Jörg Albrecht[14] im „postpostmodernen Büro für Kommunikation WestGermany“[15] deutlich. Bei dem Autor, der in der Vergangenheit ebenfalls mit der Mieterinitiative Kotti & Co kooperierte, kam das Wort Kapitalismus nicht vor.

Mietrebellen forschen über ihre Geschichte

Kürzlich ist in Berlin die Ausstellung „Kämpfende Hütten“[16] zu Ende gegangen. Dort haben sich ehemalige Hausbesetzer, heutige Mietrebellen und Wissenschaftler mit der über 150jährigen Geschichte der Berliner Mieterbewegung befasst. An die Blumenstraßenkrawalle[17] gegen eine Zwangsräumung 1872 wurde ebenso erinnert, wie an die von dem Historiker Simon Lengemann erforschten Mieterräte[18] , die unter dem Motto „Erst das Essen, dann die Miete“[19] in der Endphase der Weimarer Republik die Mietzahlungen kürzten, um überhaupt überleben zu können.

Bei der Ausstellung wurde aber auch deutlich, dass selbst über die jüngere Geschichte der Mieterbewegung heute wenig bekannt ist. So informieren Dokumente über die Ende der 60er bis Anfang der 70er Jahren aktive Mieterbewegung im Westberliner Märkischen Viertel[20] und über den ebenso vergessenen Anteil, den Migrantinnen und Migranten an der Westberliner Hausbesetzerbewegung der 80er Jahre hatten. Es ist auf jeden Fall ein Zeichen des Selbstbewusstseins der aktuellen Mieterbewegung, wenn sie mit Künstlern kooperiert und sich ihrer Geschichte vergewissert.

Peter Nowak

http://www.heise.de/tp/artikel/46/46360/1.html

Anhang

Links

[1]

http://kottiundco.net/2015/10/21/die-wohnungsfrage-stellen/

[2]

http://www.hkw.de

[3]

http://www.hkw.de/de/programm/projekte/2015/wohnungsfrage/ausstellung_wohnungsfrage/wohnungsfrage_ausstellung.php

[4]

http://www.uctv.tv/shows/The-Urbanization-of-Happiness-and-the-Decline-of-Civic-Imagination-with-Fonna-Forman-and-Teddy-Cruz-The-Good-Life-25953

[5]

http://www.weltfilm.com/de/filme/in-produktion/miete-essen-seele-auf

[6]

http://de-de.facebook.com/angelika.levi

[7]

http://stillestrasse.de/

[8]

http://stillestrasse10bleibt.blogsport.eu/

[9]

http://assemble.io/docs/Installation.html

[10]

http://www.uncubemagazine.com/sixcms/detail.php?id=14819803&articleid=art-1415705429622-e8121177-d0d5-4a97-831e-41091b148093#!/page24

[11]

http://www.florian-zeyfang.de/microbrigades-variations/movie/

[12]

http://gutenberg.spiegel.de/buch/zur-wohnungsfrage-5094/1

[13]

http://www.berlinonline.de/nachrichten/kreuzberg/buchvorstellung-das-kotti-ist-tot-es-lebe-vielleicht-bald-nichts-mehr-69994

[14]

http://www.fotofixautomat.de/

[15]

http://www.westgermany.eu/

[16]

http://kaempfendehuetten.blogsport.eu/

[17]

http://www.bmgev.de/mieterecho/archiv/2014/me-single/article/blumenstrassenkrawalle-anno-1872.html

[18]

http://haendewegvomwedding.blogsport.eu/?p=828

[19]

http://www.berlinstreet.de/ackerstrasse/acker33

[20]

http://www.trend.infopartisan.net/trd0413/t020413.html

Verschieden und vereint

Wirtschaft & Soziales: Im polnischen Poznan trafen sich Aktivist_innen zu einer internationalen Streikkonferenz

Die westpolnische Stadt Poznan geriet im Sommer in die Schlagzeilen, weil dort Beschäftigte eines Amazon-Werks für das Angleichen von Löhnen und Arbeitsbedingungen an die Verträge in anderen europäischen Ländern protestierten und sich zugleich mit den Streiks bei Amazon in Deutschland solidarisierten. (ak 607) Am ersten Oktoberwochenende trafen sich in Poznan etwa 150 Aktivist_innen aus ganz Europa, um sich über die Möglichkeiten eines transnationalen sozialen Streiks auszutauschen. Hintergrund des Treffens ist die Einschätzung, dass der wesentlich von Deutschland ausgehenden Austeritätspolitik nicht nur mit Blockaden und Großdemonstrationen begegnet werden kann. Kämpfe am Arbeitsplatz ebenso wie der Widerstand gegen Zwangsräumungen und die Vertreibung aus den Stadtteilen sind wichtige Alltagskämpfe, die Menschen fern von Events politisieren und mobilisieren. Ein Ansatz, der bereits Schule gemacht hat. So wurde am 31. Mai 2014 im Rahmen der europäischen Blockupy-Aktionstage der Geschäftsbetrieb von Bekleidungsläden auf der Frankfurter Zeil lahmgelegt. Dabei sollten die schlechten Arbeitsbedingungen der Beschäftigten ebenso thematisiert werden wie die internationalen Ausbeutungsverhältnisse der Bekleidungsindustrie. An diesem Tag kooperierten die Aktivist_innen auch mit der Belegschaft einer Filiale, die für höhere Löhne streikte. Am Rande der Blockupy-Demonstration in diesem Jahr in Frankfurt am Main und auf einem Nachbereitungstreffen in Berlin tagte die AG Arbeitskämpfe des Blockupy-Bündnisses. Mit dem Treffen in Poznan weiteten die Aktivist_innen die Diskussion über Ländergrenzen hinaus aus und legten einen Schwerpunkt auf die Verhältnisse ins Osteuropa.
In den Arbeitsgruppen standen die Aspekte des sozialen Streiks im Mittelpunkt. Ein wichtiges Merkmal ist die Selbstorganisation der Beschäftigten, die Gewerkschaften zwar unterstützen, aber nicht anleiten sollen. Das Konzept des sozialen Streiks umfasst, dass der Arbeitskampf nicht auf den Betrieb begrenzt bleibt. Ein Beispiel gab ein vor einigen Wochen entlassener Mitarbeiter der Lebenshilfe Frankfurt am Main, wo Beschäftigte für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen kämpften. An einer Protestkundgebung während eines Gartenfests der Lebenshilfe beteiligten sich neben den DGB-Gewerkschaften GEW und ver.di auch die Freie Arbeiter Union (FAU). Im Anschluss gab es eine Demonstration durch den Stadtteil Bornheim, wo auch der Zusammenhang von Hartz IV, Niedriglohn, Mietschulden und Zwangsräumungen thematisiert wurde. Solche Beispiele von sozialen Streiks häufen sich.

Hoffnung auf einen transnationalen Sozialstreik
Die Kämpfe von Migrant_innen prägten die Konferenz. Den Anfang machte ein aktueller Bericht von der kroatisch-ungarischen Grenze. In einem Akt staatlich organisierter Fluchthilfe öffneten sich für unzählige Migrant_innen die Grenze, teilweise wurden sie bis nach Österreich oder Deutschland gefahren. Angesichts dieser Erfolge diskutierten die Teilnehmer_innen die Frage, ob die Migrationsbewegungen den Kämpfen gegen Austerität neuen Schwung geben können. Doch nicht nur an den territorialen Grenzen der EU sind migrantische Kämpfe zentral: Die Streiks in der Logistikbranche Norditaliens trugen Migrant_innen und auch die zu ihrer Unterstützung besetzten Häuser werden insbesondere von Arbeitsmigrant_innen und ihren Familien bewohnt. In Frankreich besetzten Migrant_innen diesen Sommer Leiharbeitsfirmen wie Adecco, Randstad und Manpower und die spanische 15-M Bewegung gründete bereits in fünf europäischen Städten sogenannte Oficinas Precarias. Hier finden prekarisierte Arbeiter_innen Unterstützung, um sich gegen Überausbeutung und die zunehmende Verwehrung sozialer Rechte zu wehren. »Wo zuvor die Grundrechte der Freizügigkeit bestanden, ist nun die Rede von Privilegien, von Rechten auf der Basis von Verdiensten am Arbeitsmarkt, welche zur Bedingung für den längerfristigen Aufenthalt und den Zugang zu sozialen Leistungen gemacht werden«, so Nicola von den Berlin Migrant Strikers.
Am Ende des Treffens stand fest, dass ein transnationaler Streik nicht ohne die Kämpfe der Migration denkbar ist, nicht zuletzt weil die derzeitigen kapitalistischen Verhältnisse auf die Regulation von Mobilität angewiesen sind.
Der Versucheines transnationalen Streiks muss sicherlich von dem Paradox ausgehen, dass wir alle von Prekarisierung und Ausbeutung betroffen sind, dennoch unterschiedliche Probleme und Forderungen haben. »Gerade die Frage der sozialen Leistungen wird heute genutzt, um Hierarchien zwischen Migranten und Staatsbürgern, zwischen neuen und alten Migranten, zwischen EU-externen und internen Migranten zu schaffen«, so Paola von der Gruppe Precarious (Dis)Connections aus Bologna. Daraus ergeben sich zwei zentrale Herausforderungen: Es könne nicht nur um die Arbeiter_innen gehen, die eine Aufenthaltsgenehmigung in der Tasche haben, betonte Paola. Eine weitere Herausforderung bestehe darin, nicht nur Arbeitskämpfe, sondern das Soziale insgesamt zu repolitisieren, damit Streiks unter den neoliberalen Verhältnissen wieder eine gesellschaftliche Kraft entwickeln, wie Tomas von der Interventionistischen Linken bemerkte.
Schon im Vorfeld des Treffens stand der Vorschlag im Raum, den Prozess des transnationalen sozialen Streiks um eine gemeinsame politische Plattform von vier Forderungen herum aufzubauen: europäischer Mindestlohn, europäisches Grundeinkommen, europäische Sozialleistungen und Mindestaufenthaltserlaubnis für Migrant_innen in der EU. Diese Forderungen blieben umstritten: Manchen erschienen sie zu reformistisch, anderen zu utopisch, einigen zu eurozentrisch. Dennoch vereinbarten die Aktivist_innen, zum 1. März 2016 mit vereinten Kräften zu einem europaweiten Migrant_innen-Streik zu mobilisieren. Zudem soll die Karawane von Amazon-Arbeiter_innen zwischen Standorten in Italien, Frankreich, Deutschland und Polen unterstützt werden, falls sich die Arbeiter_innen im Februar für diese Aktion entscheiden. Für nächstes Jahr ist ein weiteres transnationales Sozialstreiktreffen geplant.
Peter Nowak ist freier Journalist und Aktivist aus Berlin.
Lisa Riedner ist Migrationsforscherin und betreibt mit der
Initiative Zivilcourage ein temporäres workers center in München.

ak 609 vom 20.10.2015

https://www.akweb.de/

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Italienische Übersetzung des Artikels:

Differenziato e connesso. Sul meeting transnazionale di Poznan

di PETER NOWAK e LISA RIEDNER

Nowak Rieder PoznanPubblichiamo la traduzione italiana dell’articolo di Peter Nowakgiornalista freelance e attivista di Berlino – e Lisa Riedner – ricercatrice nel campo delle migrazioni e attivista presso un temporary workers center della Initiative Zivilcourage di Monaco. L’articolo è comparso sul n. 609 della rivista «Analyse & Kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis» il 20 ottobre 2015.

La scorsa estate la città polacca di Poznan è salita alla ribalta per la protesta dei lavoratori di Amazon, che hanno rivendicato un adeguamento dei propri salari e delle proprie condizioni di lavoro ai contratti esistenti negli altri paesi europei, esprimendo solidarietà con gli scioperi dei lavoratori di Amazon in Germania.

Nel primo week-end di ottobre circa 150 attivisti/e provenienti da tutta l’Europa, si sono incontrati a Poznan per confrontarsi sulle possibilità di uno sciopero sociale transnazionale. Alla base dell’incontro c’è la considerazione che non sia possibile fronteggiare la politica di austerità intrapresa dalla Germania solo attraverso blocchi e grandi manifestazioni. Lotte importanti sono anche le battaglie che quotidianamente si svolgono sul posto di lavoro o le resistenze contro gli sfratti e le espulsioni dai quartieri. Queste lotte, infatti, riescono a mobilitare e politicizzare le persone che le grandi manifestazioni non riescono ad attrarre. Si tratta di un approccio che ha già fatto scuola. Già il 31 maggio 2014, durante le Blockupy-Aktionstage, fu bloccata l’attività di tutti i negozi di abbigliamento nella Frankfurter Zeile [la via commerciale] a Francoforte. Ciò serviva a denunciare le pessime condizioni di lavoro dei dipendenti e i rapporti di sfruttamento nell’industria tessile. Durante questa giornata, attivisti e attiviste hanno cooperato con i lavoratori di un negozio che scioperavano per l’aumento di salario. Quest’anno, poi, nel corso della tre giorni di Blockupy a Francoforte e durante un incontro di preparazione a Berlino si è riunito il gruppo di lavoro «Lotte del lavoro» della coalizione di Blockupy. Durante l’incontro a Poznan, inoltre, attivisti e attiviste hanno allargato la prospettiva della discussione, andando oltre i confini dei propri Stati e mettendo l’accento sui rapporti con l’Europa dell’Est.

Tema centrale dei gruppi di lavoro sono stati i diversi aspetti dello sciopero sociale. Un aspetto molto importante è quello dell’auto-organizzazione dei lavoratori, che dovrebbe essere sostenuta, ma non guidata, dai sindacati. L’idea dello sciopero sociale è che le lotte del lavoro non devono rimanere confinate nelle singole aziende. Un esempio è rappresentato dal licenziamento, qualche settimana fa, di un dipendente della Lebenshilfe di Francoforte, i cui lavoratori stavano lottando per un salario più alto e migliori condizioni di lavoro. In una manifestazione di protesta, svoltasi durante una festa della Lebenshilfe, si è vista la partecipazione della Freie Arbeiter Union (FAU), accanto ai sindacati DGB – Gewerschaften dei GEW e Ver.di. Alla fine dell’evento, si è svolta una manifestazione nel quartiere di Bornheim, in cui è stata tematizzata la relazione tra Hartz IV, bassi salari, affitti arretrati e sfratti. Queste forme di sciopero sociale sono in aumento.

La speranza di uno sciopero sociale transnazionale

L’incontro di Poznan è stato caratterizzato dalle lotte dei migranti. Uno degli interventi di apertura ha raccontato quanto avvenuto di recente sul confine croato-ungherese. Attraverso un’azione della Fluchthilfe –  organizzata a livello statale – si sono aperte le frontiere per molti migranti, che sono in parte riusciti a raggiungere l’Austria e la Germania. A partire dalla capacità dei migranti di mettere in questione i confini, i partecipanti al meeting di Poznan si sono chiesti se i movimenti dei migranti possano dare un nuovo impulso alle lotte contro l’austerità. Le lotte dei migranti, infatti, non sono rilevanti solo ai confini dell’Europa. Nell’Italia settentrionale sono stati i migranti che hanno portato avanti gli scioperi nel settore della logistica e preso parte insieme alle famiglie all’occupazione delle case in supporto agli scioperi. In Francia quest’estate i migranti hanno occupato gli immobili delle società di lavoro interinale come Adecco, Randstad e Manpower e il movimento spagnolo 15M ha fondato già in 5 città europee le cosiddette Oficinas Precarias. Qui i lavoratori precari trovano sostegno nella lotta contro l’intensificazione dello sfruttamento e la crescente sottrazione di diritti sociali. «Dove prima c’erano diritti fondamentali di libera circolazione, ora si parla di privilegi, di diritti basati sui guadagni nel mercato del lavoro, diritti che diventano la condizione per un soggiorno a lungo termine e per l’entrata nel welfare sociale», come dice Nicola dei Berlin Migrant Strikers.

Al termine dell’incontro è risultato chiaro che uno sciopero transnazionale non è pensabile senza le lotte dei migranti, non da ultimo per il fatto che il capitalismo contemporaneo dipende dal governo della mobilità. L’esperimento di uno sciopero transnazionale deve sicuramente partire dal paradosso che tutti siamo colpiti dalla precarizzazione e dallo sfruttamento e che, allo stesso tempo, abbiamo problemi e rivendicazioni diversi. «Le prestazioni sociali sono oggi utilizzate per creare gerarchie tra migranti e cittadini, tra nuovi e vecchi migranti, tra migranti esterni e interni all’Europa», dice Paola del gruppo ∫connessioni Precarie di Bologna. Da ciò derivano due sfide fondamentali: non si tratta solo di far riferimento ai lavoratori con un permesso di soggiorno in tasca, dice Paola. Un’altra sfida è ripoliticizzare, oltre alle lotte del lavoro, anche il sociale nel suo complesso, in modo che gli scioperi sviluppino nuovamente una forza sociale per contrastare il neoliberalismo, come nota Thomas di Interventionistische Linke.

Già prima del meeting era stata presentata la proposta di costruire il processo dello sciopero sociale transnazionale attorno a una piattaforma politica comune con quattro rivendicazioni: salario minimo europeo, reddito di base europeo, welfare sociale e permesso di soggiorno minimo europei per migranti nella EU. Queste rivendicazioni restano ancora controverse: ad alcuni sembrano eccessivamente riformiste, ad altri troppo utopiche, ad altri ancora troppo eurocentriche. Ciononostante gli attivisti hanno concordato una mobilitazione che, unendo le forze, possa portare a uno sciopero europeo attorno alla questione del lavoro migrante il primo marzo 2016. Dovrebbe inoltre essere sostenuta la carovana dei lavoratori e delle lavoratrici di Amazon nelle diverse sedi in Italia, Francia, Germania e Polonia, se questi decidessero una mobilitazione per febbraio. Un altro meeting per lo sciopero sociale transnazionale è stato pianificato per il prossimo anno.

Differenziato e connesso. Sul meeting transnazionale di Poznan

Friede den Protesthütten, Krieg der Immobilienwirtschaft

Haus der Kulturen der Welt widmet sich mit Ausstellung und Langzeitprojekt der Frage, wie Menschen in Großstädten künftig wohnen werden

Wohnungen als Spekulationsmasse? Architekten und Aktivisten wollen kritisch beleuchten, dass das Menschenrecht auf Wohnen zunehmend der Immobilienwirtschaft überlassen wird.

Der Teekocher mit dem Aufkleber der Kreuzberger Stadtteilinitiative Kotti & Co. gehört zum Inventar des Protest-Gecekondu, das Mieter im Mai 2012 am Kottbuser Tor errichtet haben. Nun findet sich der Teekocher im Haus der Kulturen der Welt (HKW).

Dort wurde im Rahmen der Ausstellung »Wohnungsfrage«, die am Donnerstag eröffnet wurde, die Protesthütte nachgebaut. »Das HKW hat uns die Möglichkeit gegeben, mit dem Architekten Teddy Cruz und der Wissenschaftlerin Fonna Forman aus San Diego eine Antwort auf die Frage des Wohnens zu suchen. Sehr schnell waren wir uns einig, dass die Frage des Wohnens niemals nur eine räumliche oder architektonische ist, sondern immer auch eine politische und eine ökonomische Frage«, sagt Sandy Kaltenborn von Kotti & Co dem »nd«.

Im Rahmen der Ausstellung wird die temporare Hütte nicht nur im HKW zu sehen sein. Vom 6. bis 8. November wird sie neben der Protesthütte am Kottbuser Tor aufgebaut. Dort wird auch die Filminstallation »Miete essen Seele auf« von Angelika Levi zu sehen, in der die Geschichte des sozialen Wohnungsbaus in Kreuzberg verarbeitet wird.

Mit der Ausstellung experimenteller Wohnungsformate und künstlerischer Arbeiten, einer Publikationsreihe und einer internationalen Akademie will das HKW einen »Diskurs über sozialen, bezahlbaren und selbstbestimmten Wohnungsbau anregen«. Den »Andrang der Bevölkerung nach den großen Städten«, die »kolossale Steigerung der Mietspreise«, die Verdrängung der »Arbeiter vom Mittelpunkt der Städte an den Umkreis«: Die Ausstellung will sich kritisch damit auseinandersetzen, dass das Menschenrecht auf Wohnen zunehmend der Immobilienwirtschaft überlassen wird. Das Gestalten von Wohnungen, Nachbarschaften und Städten solle wieder als soziokulturelle Praxis verstanden werden.

Zu diesem Zweck werden (Film)Installationen, Bildessays oder Architekturmodelle gezeigt. Die entwickelten Wohnkonzepte werden in der Ausstellung 1:1 umgesetzt.

In der Ausstellung wird außerdem an Beispielen aus verschiedenen Teilen der Welt gezeigt, wie Wohnungen für die Allgemeinheit errichtet werden können, wenn der kapitalistische Verwertungszwang zurückgedrängt ist. So zeigt der Dokumentarfilm »Häuser für die Massen«, wie in Portugal nach der Nelkenrevolution 1974 die Mieter- und Stadtteilbewegung Teil eines allgemeinen gesellschaftlichen Aufbruchs wurde.

Auch die Senioren der Stillen Straße, die 2012 mit der Besetzung ihres von Schließung bedrohten Treffpunkts in Pankow für Aufmerksamkeit sorgten, sind Kooperationspartner der Ausstellung. Gemeinsam mit ihnen entwickelte das Londoner Architekturbüro »Assemble« die Installation Teilwohnung. So ist ein Wohnkomplex entstanden, der im Erdgeschoss kollektiv genutzte Gemeinschaftsräume und Werkstätten beherbergt. Die anderen Etagen sind den privaten Räumen der Bewohner vorbehalten. »Der Entwurf ermöglicht ein gemeinsames und zugleich selbstbestimmtes Wohnen von Menschen jeden Alters und stellt damit einen Gegenentwurf zu isolierten Wohnanlagen dar«, betont einer der Architekten.

In der einwöchigen Akademie will das Haus außerdem WissenschaftlerInnen, PraktikerInnen, KünstlerInnen und andere ExpertInnen aus unterschiedlichen Bereichen und Disziplinen zusammen bringen. Das Künstlertrio Lisa Schmidt-Colinet, Florian Zeyfang und Alexander Schmoeger beispielsweise dokumentiert die Geschichte des Wohnungsbaus in Kuba seit der Revolution. Im Zentrum stehen die aus Arbeitern bestehenden Microbrigaden, die mit von der Regierung mit Material ihre eigenen Wohnungen und daneben auch kommunale Gebäude wie Schulen und Krankenhäuser errichten.

Insgesamt stehen 18 Vorträge auf dem Programm. Andrej Holm spricht über »Staatsversagen und Marktekstase« auch das Auf und Ab der Berliner Mietskasernen wird beleuchtet.

In der Eröffnungsansprache benannte der Intendant des HKW, Bernd Scherer, die Faktoren, die die Verbreitung solcher menschenfreundlichen Alternativen behindern. »Wohnungen werden nicht nur gebaut, um darin zu wohnen, sondern um Geld anzulegen und mit den wachsenden Preisen und Mieten zu spekulieren«, benannte er eine Situation, die nicht nur in Berlin Mieter mit geringen Einkommen leidvoll erfahren.

Bis 14. Dezember. Die Akademie findet bis zum 28. Oktober statt. Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, 10557 Berlin. Programm und weitere Infos unter: www.hkw.de

https://www.neues-deutschland.de/artikel/988862.friede-den-protesthuetten-krieg-der-immobilienwirtschaft.html

Peter Nowak

Schnell geheuert, schnell gefeuert

PROTEST Migrantische Beschäftigte in der Gastronomie wehren sich gegen schlechte Arbeitsverhältnisse

Mit „zufriedenen Gästen“ wirbt das Restaurant Cancún im Internet. Doch die BesucherInnen, die sich für Samstagabend im Cancún angekündigt haben, sind keineswegs zufrieden: Die Basisgewerkschaft Freie Arbeiter Union (FAU) ruft unter dem Motto „Paradies für Touristen, die Hölle für Arbeiter“ zu einer Kundgebung auf. „Wir unterstützen einen ehemaligen Barmann“, sagte Andreas Förster von der FAU der taz. Es gehe um Lohnforderungen und Urlaubsansprüche im vier einiges im Argen liegt, wurde auch auf einer Veranstaltung deutlich, auf der am Mittwoch FAU-Mitglieder aus verschiedenen Restaurants und Bars über ihren Kampf um bessere Arbeitsbedingungen berichteten. Die Gastronomie sei ein Experimentierfeld für prekäre Arbeitsverhältnisse, weil dort besonders viele migrantische Beschäftigte arbeiten, die schnell geheuert und gefeuert werden. Gegenwehr werde erschwert, weil sich viele lieber einen
neuen Job suchen, als um eine Lohnerhöhung oder Arbeitszeitverkürzung zu kämpfen, so die Einschätzung eines gewerkschaftlich organisierten Barmanns. Berichtet wurde auch, wie eine ungewöhnliche Form  es Arbeitskampfes zum Erfolg führte: Beschäftigte von drei italienischen Pizzerien nutzten ein Konzert der linken italienischen Band Banda Bassotti im S036, um das Publikum in einer kurzen Rede über ihre schlechten Arbeitsbedingungen zu informieren. Kurze Zeit später hatten sie einen Tarifvertrag. „Der schnelle Erfolg kam zustande, weil diese Pizzerien einen Ruf zu verlieren haben“, so die Einschätzung eines FAU-Mitglieds. „Im Cancún aber können wir uns nur auf unsere gewerkschaftliche Kraft und nicht die Fürsprache einer Band verlassen“, fügt er hinzu.
Peter Nowak
■■Protestkundgebung „Paradies für Touristen, die Hölle für Arbeiter“, Samstag, 19 Uhr, vor dem Restaurant, Rathausstraße 5–13.
aus Taz-Berlin, 23.10.2015

Pegida bekämpfen, aber die Kernforderungen übernehmen

Trennung nach Religionen?

Für Hagen Berndt ist der Glaube von Flüchtlingen nicht die Ursache von Gewalt in Heimen

Hagen Berndt ist als Konfliktberater beim Forum Ziviler Friedensdienst e.V. tätig und Mitverfasser einer Stellungnahme, die sich gegen die Trennung von Geflüchteten nach Religion und Ethnie wendet. Mit ihm sprach für »nd« Peter Nowak.

In der Nacht zu Dienstag kam es in einer Berliner Flüchtlingsunterkunft zu einer Schlägerei unter Schutzsuchenden – eine von mehreren in den vergangenen Wochen. Oft werden religiöse Streitigkeiten als Auslöser ausgemacht. Worin sehen Sie die Ursachen?
Konflikte sind Teil allen menschlichen Zusammenlebens. Gewalt tritt jedoch dann auf, wenn die Beteiligten keine andere Möglichkeit sehen, ihre Interessen zu wahren oder ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Dass sich Konflikte in Flüchtlingsunterkünften immer wieder gewaltsam entladen, ist einer extremen Stresssituation geschuldet. Die Flüchtlinge haben vor oder während der Flucht dramatische Erlebnisse erfahren. Starke emotionale Angespanntheit ist verbunden mit großen Hoffnungen auf ein neues Leben. Sie leben dann auf engem Raum mit vielen Menschen. Es herrscht Konkurrenz um Raum und Ruhe, Essen, Kleidung, Chancen und Perspektiven. Rückzugsmöglichkeiten und sinngebende Beschäftigung fehlen. Der Aufenthalt in Deutschland ist nicht gesichert, vielleicht droht schon bald die Abschiebung und erneute Lebensgefahr.

Warum lehnen Sie die von manchen Politikern geforderte Trennung der Flüchtlinge nach ihrer Religion ab?
Die Konflikte verlaufen gar nicht entlang religiöser Trennlinien. Doch Konfliktakteure ziehen gerne religiöse, ethnische oder andere Zugehörigkeiten heran, um Selbst- und Feindbilder aufzubauen und eigenes Handeln zu rechtfertigen, um eigene Interessen durchzusetzen. Diese Konfliktmechanismen können aber nicht durch getrennte Unterbringung durchbrochen werden. Vielmehr würden die falschen Argumente dadurch erst akzeptiert. Ich lehne die getrennte Unterbringung auch deshalb entschieden ab, weil eine Differenzierung, um scheinbar miteinander »harmonisierende« Gruppen zu erzeugen, unmöglich ist und nicht zum Frieden beiträgt. Sie würde den Boden für neue Ressentiments bereiten, für das Gefühl der eigenen Benachteiligung bzw. der Bevorzugung anderer.

Wieso?
Getrennte Unterkünfte würden Debatten zwischen den Kommunen und in der einheimischen Bevölkerung provozieren, wer nun welche »nette« oder »problematische« Flüchtlingsgruppe zugeteilt bekommt. Sie würde außerdem die Botschaft vermitteln, dass ein friedliches Zusammenleben nicht möglich ist und dass Religion und Ethnie das Problem sind. Diese Botschaften sind falsch und hoch gefährlich. Es ist wissenschaftlich längst widerlegt, dass Religionszugehörigkeiten die Ursache von Konflikten wären. Es ist problematisch, dieses Vorurteil nunmehr von politischer Seite zu bestätigen.

Wäre es nicht für einen von Islamisten verfolgten Geflüchteten ein Schutz, wenn er nicht wieder mit Islamisten in einer Unterkunft zusammen leben muss?
Diese Frage legt nahe, dass alle Muslime Islamisten wären. Islamismus ist eine politische Ideologie, die sich der Religion bedient, um Macht auszuüben. Gerade viele muslimische Flüchtlinge zum Beispiel aus Syrien und Irak fliehen auch vor der Gewalt der Islamisten. Eine nach Religionszugehörigkeit getrennte Unterbringung nähme die Bedürfnisse vieler Flüchtlinge nicht ernst, sich von Ideologien abzugrenzen, die in ihrer Herkunftsregion zu Vertreibung und Krieg führen. Sie würde diese Menschen mit dem Segen unseres Staates erst den Islamisten ausliefern.

Welche Lösung schlagen Sie zur Beilegung der Konflikte vor?
Es muss einer Lageratmosphäre von Flüchtlingsunterkünften entgegengewirkt werden. Es gilt, ruhige Rückzugsräume und Orte der Begegnung bereitzustellen, geflüchteten Menschen ein Mindestmaß an Selbstbestimmung zu ermöglichen und persönliche Beziehungen zur einheimischen Bevölkerung zu erleichtern. Maßnahmen der Psychologischen Ersten Hilfe, um die Betroffenen emotional zu stärken, ein besonderer Schutz für Kinder und alleinstehende Frauen sowie die verbindliche Einführung von Mindeststandards zur Prävention sexualisierter Gewalt wären notwendig. Die Kompetenzen von Haupt- und Ehrenamtlichen zur gewaltfreien Konfliktbearbeitung müssen entwickelt werden. Parallel zur Sorge für die Flüchtlinge müssen die Bemühungen zur Integration sozial benachteiligter Menschen generell verstärkt werden, um deutlich zu machen, dass die Integration der Flüchtlinge nicht auf Kosten der Schwachen in unserer Gesellschaft geschieht.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/988599.trennung-nach-religionen.html

Peter Nowak

Von Amazon bis Zwangsräumung

Im polnischen Poznań diskutierten Linke, Basisgewerkschafter und Operaisten Anfang Oktober über transnationale Streiks und gemeinsame Strategien.

»Block Austerity« steht auf dem Transparent im großen Saal des Stadtteilzentrums Amarant in der westpolnischen Stadt Poznań. Etwa 150 Menschen diskutierten hier unter dem Motto »Dem transnationalen Streik entgegen« neue Ansätze der Vernetzung. Das Ziel der Konferenz ist es, über bestehende Grenzen und Regionen hinweg den Austausch zwischen Arbeits- und sozialen Kämpfen zu vertiefen. Neben klassischen Arbeitskämpfen im Betrieb soll der soziale Streik zudem die Auseinandersetzung um Miete und Wohnraum umfassen.

Zu den Organisatoren gehörten Initiativen wie die Angry Workers aus Großbritannien und Aktivisten sozialer Zentren Italiens. In Deutschland hatten vor allem die Interventionistische Linke und das Blockupy-Netzwerk für die Teilnahme an der Konferenz geworben.

Dass Poznań in letzter Zeit in den Fokus sozialer Initiativen aus ganz Europa gerückt war, ist vor allem der Inicjatywa Pracownicza (IP, Arbeiterinitiative) zu verdanken. Die polnische anarchosyndikalistische Gewerkschaft hatte im Spätherbst vergangenen Jahres zahlreiche Beschäftigte des am Rande der Stadt eröffneten Zentrums des Internethändlers Amazon organisiert. Im Juni initiierte die IP erstmals eine gemeinsame Solidaritätsaktion mit den streikenden Amazon-Beschäftigten in Deutschland und Mitte September tauschten sich etwa 30 Amazon-Beschäftigte, vor allem aus Polen und Deutschland, in Poznań über die Koordinierung transnationaler Arbeitskampfstrategien aus. Bei vergangenen Streiks in Deutschland wurden Bestellungen häufig an polnische Versandzentren weitergeleitet.

Mitglieder der operaistischen Angry Workers berichteten von ihrer Arbeit in Warenhäusern im Londoner Osten. Im Unterschied zu gewerkschaftlichen Ansätzen geht es den Angry Workers vor allem darum, von den Problemen der Beschäftigten und ihrem Umgang damit zu erfahren und Konflikte auch zuzuspitzen. Eine gewerkschaftliche Repräsentation lehnt die Gruppe aber ab. In ihrer Zeitung Workers Wild West berichten sie regelmäßig über lokale Konflikte an Arbeitsplätzen und werben für Kooperation.

Heiner Köhnen vom deutschen Zweig des basisgewerkschaftlichen Netzwerkes TIE betont im Gespräch mit der Jungle World, man habe in den vergangenen 15 Jahren gute Erfahrungen bei der Stärkung basisgewerkschaftlicher Ansätze gerade in multinationalen Konzernen gemacht. Das weltweite Netzwerk beschäftigt sich unter anderem mit Forschung zu sozialen Bewegungen, Arbeitsorganisation und -kämpfen und bietet Schulungen für Betriebsräte an. Es orientiere sich in der Gewerkschaftsfrage an den Interessen der Beschäftigten, doch zu seinen Grundsätzen gehöre die Förderung von Selbstorganisation, auch gegen Gewerkschaftsapparate, so Köhnen.

Mit Blick auf Brasilien berichtet er, dass ein von mehr als 11 000 Beschäftigten geführter kämpferischer Streik mit einer korporatistischen Lösung beendet wurde. Comanagement sei aber nicht nur ein Problem der traditionalistischen Gewerkschaftspolitik. Probleme der Organisierung seien auch auf die Umstrukturierung der Arbeitsprozesse zurückzuführen. So seien für die Kontrolle im Arbeitsprozess oft nicht mehr Chefs oder Vorarbeiter, sondern scheinbar unabhängige Marktmechanismen verantwortlich. Da fehle der Gegner, an dem sich Konflikte entzünden und radikalisieren könnten. »Es ist attraktiv, sich als Teil eines Teams oder einer Betriebsfamilie zu verstehen. Von diesem Druck zum Korporatismus können sich auch Kollegen nicht freimachen, die als linke Gewerkschafter dagegen angetreten sind«, sagt Köhnen. Es geht um die Frage, inwieweit durch die Änderungen der Arbeitsorganisation forcierte Bedingungen dem Handeln basisorientierter und hierarchiefreier Gewerkschaften Grenzen setzen.

Zahlreiche Konferenzteilnehmer aus Deutschland sind durch die Blockupy-Proteste für Arbeitskämpfe und gewerkschaftliche Themen sensibilisiert worden. Ein Berliner Blockupy-Mitglied betont: »Die wesentlich von Deutschland ausgehende Austeritätspolitik kann nicht nur mit Blockaden und Großdemonstrationen bekämpft werden.« Politisiert und mobilisiert werden die Menschen durch »wichtige Alltagskämpfe«, wie etwa Konflikte am Arbeitsplatz und Widerstand gegen Zwangsräumungen und Vertreibung aus Stadtteilen.

Am 31. Mai vergangenen Jahres wurde im Rahmen der europäischen Blockupy-Aktionstage der Geschäftsbetrieb von Bekleidungsläden auf der Frankfurter Zeil einen Tag lang lahmgelegt, dabei wurden die schlechten Arbeitsbedingungen der Beschäftigten ebenso thematisiert wie die internationalen Ausbeutungsverhältnisse in der Bekleidungsindustrie. Damals kooperierten die Protestierenden auch mit der Belegschaft einer Filiale, die an jenem Tag für höhere Löhne streikte. Doch die Zusammenarbeit mit den Beschäftigten war zeitlich begrenzt, ein längerfristiger Kontakt entstand nicht.

Der Aufruf zum europäischen Generalstreik, der 2013 vom außerparlamentarischen M31-Netzwerk initiiert worden war, sollte genau diese Vernetzung auf transnationaler Ebene weiter vorantreiben. Die Initiative war unter dem Eindruck eines großen Streiks in verschiedenen südeuropäischen Ländern entstanden und dann wieder versandet. Das mag vor allem daran gelegen haben, dass die Kontakte zu potentiell kämpferischen Belegschaften bei den Initiatoren des Aufrufs zu wenig ausgeprägt waren.

Ein zentrales Merkmal vieler derzeitiger Kämpfe ist die Selbstorganisation der Beschäftigten, die von Gewerkschaften teilweise unterstützt, aber nicht angeleitet wird. Ein Beispiel für diese neuen Kämpfe ist der Konflikt der Beschäftigten mit der Lebenshilfe Frankfurt/Main. Seit Sommer vergangenen Jahres kämpfen sie für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen bei der Pflege und Betreuung behinderter Menschen. Vor einigen Wochen wurde Paul L., ein gewerkschaftlich aktiver Mitarbeiter, entlassen. In einer der Arbeitsgruppen berichtete er in Poznań über den Arbeitskampf bei der Lebenshilfe als Beispiel für einen sozialen Streik. Bei einer Protestkundgebung Mitte September während eines Fests der Lebenshilfe waren Symbole der DGB-Gewerkschaften GEW und Verdi ebenso vertreten wie die schwarzroten Fahnen der Freien Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union (FAU). Anschließend gab es eine Demonstration durch den Stadtteil Bornheim, wo außerdem auf den Zusammenhang von Hartz IV, Niedriglohn, Mietschulden und Zwangsräumungen hingewiesen wurde. Das Beispiel zeigt, dass in kleineren Betrieben oder Belegschaften soziale Streiks oft einfacher möglich und schneller realisierbar sind als in Großbetrieben.

Doch gerade kleinere Streiks sind schwieriger auf ein internationales Niveau zu heben. Initiativen wie das Euromarsch-Netzwerk, das bereits seit fast 20 Jahren europaweit gegen Prekarisierung aktiv ist, nehmen sich dieses Problems an.

Die Schaffung einer politischen Plattform wurde in Poznań kontrovers diskutiert. Vier Grundforderungen – nach einem europäischen Mindestlohn, einem europäischen Grundeinkommen, europäischen Sozialleistungen und einer Mindestaufenthaltserlaubnis für Geflüchtete – sind die inhaltliche Basis des Bündnisses. Konkrete Pläne gibt es bereits für einen transnationalen Migrantenstreik am 1. März 2016 und eine noch nicht länderübergreifende Amazon-Karawane, für die bisher kein Termin feststeht. Unklar sind auch noch Ort und Datum der nächsten europaweiten Blockupy-Aktionstage.

http://jungle-world.com/artikel/2015/42/52833.html

Peter Nowak

Es geht nicht um die Abfindung


NEUKÖLLN MieterInnen luden zur Begehung dreier von Abriss bedrohter Genossenschaftshäus

„Wiedervermietung sofort“ stand auf einem Transparent, das am Samstagmittag an einem Balkon in der Heidelberger Straße 15–18 in Neukölln hing. Rund 40 Menschen hatten sich zur Hausbegehung eingefunden. Sie wollten damit die 12 verbliebenen Mietparteien unterstützen. Die Genossenschaft  (WBV) hatte im März 2015 den Abriss der 1960 errichteten Gebäude beschlossen. Er sei kostengünstiger als eine Sanierung, lautete die Begründung. Am Samstag zeigte sich, dass ein Teil der MieterInnen den
Auszug weiterhin strikt ablehnt. Es geht nicht um die Abfindung NEUKÖLLN MieterInnen luden zur Begehung dreier von Abriss bedrohter Genossenschaftshäuser. „Die WBV hat uns eine Umsatzwohnung und 2.000 Euro angeboten. Darauf lasse ich mich nicht ein. Ich will in der Wohnung bleiben, die ich mir eingerichtet habe“, erklärte Mieter Norbert Sandmann gegenüber der taz. Er gehört zu den BewohnerInnen, die bereits bei Bekanntgabe des Abrissbeschlusses durch die WBV protestierend den Raum verlassen hatten. Auch eine 79-jährige Bewohnerin, die seit 1960 hier wohnt, ist nicht zum Umzug bereit. Es gehe ihnen nicht um eine höhere  Entschädigung, sondern um den Erhalt des Wohnraums, betonen die MietrebellInnen. Dieses Anliegen teilt die Stadtteilinitiative Karla Pappel, die die MieterInnen seit Monaten unterstützt. Sie hatte am Samstag mit zur Begehung aufgerufen. Dazu öffneten drei Mietparteien  ihre Wohnungen für Interessierte. „Wir wollen zeigen, dass die Argumente der WBV für den Abriss nicht stimmen“, erklärte eine Mieterin. Die
Genossenschaft begründet ihn mit Baufälligkeit. Die verbliebenen MieterInnen und ihre UnterstützerInnen betonen, dass mit einer Renovierung dringend gebrauchter preiswerter Wohnraum erhalten bleiben könne. Bei einem Neubau würde die Miete, die jetzt unter 5  Euro netto liegt, auf 8,50 Euro steigen. Eine Mieterin, die auch zu den Vertreterräten gehört, die in der WBV eine Aufsichtsfunktion haben, verteidigte am Samstag den Abrissbeschluss. Der Protest komme viel zu spät. Zudem hätten MieterInnen aus anderen WBV-Häusern Interesse am Einzug in den geplanten Neubau bekundet. Mitglieder der Initiative „Genossenschaft von unten“ monierten, dass sich mit der WBV eine Genossenschaft an der Vernichtung preiswerten Wohnraums beteilige und die MieterInnen gegeneinander
ausspiele.
Taz-Berlin,19.10.2015
Peter Nowak

„Die Konflikte verlaufen nicht nach religiösen oder ethischen Trennlinien“

Hagen Berndt über Konflikte in Flüchtlingsunterkünften

Es gibt Politiker und sogenannte besorgte Bürger, die Unterkünfte von Geflüchteten unter Dauerbeobachtung nehmen und Betragensnoten für die Bewohner verteilen. Falls es dann tatsächlich mal zu von manchen sehnsüchtig erwarteten Auseinandersetzungen in den Unterkünften kommt, reagieren sie mit dem Gestus, wir haben es ja immer schon gesagt. Diese Menschen passen nicht hier.

Ein scheinbar auch für die Geflüchteten vorteilhafter Vorschlag wird von Politikern verschiedener Parteien in die Diskussion gebracht, nämlich die Trennung der Geflüchteten nach Religion und Ethnie. Doch Wissenschaftler und Publizisten, die sich mit dem Thema Flucht und Migration beschäftigten, lehnen diese Vorschläge eindeutig ab.

„Eine nach religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit getrennte Unterbringung von Flüchtlingen ist politisch wie gesellschaftlich inakzeptabel“, heißt es in einer Stellungnahme[1] zahlreicher Fachleute. Zu den Initiatoren gehört Hagen Berndt[2]. Er ist als Konfliktberater beim Forum Ziviler Friedensdienst e.V.[3] tätig und Mitverfasser der Stellungnahme[4], die sich gegen die Trennung von Geflüchteten nach Religion und Ethnie wendet.

Die Forderung, Geflüchtete nach Religionen zu trennen, wird von verschiedenen Politikern getroffen. Warum lehnen Sie eine solche Trennung ab?

Hagen Berndt: Die Konflikte in den Flüchtlingsunterkünften verlaufen gar nicht entlang religiöser Trennlinien. Doch Konfliktakteure ziehen gerne religiöse, ethnische oder andere Zugehörigkeiten heran, um Selbst- und Feindbilder aufzubauen, Unterstützung zu mobilisieren und eigenes Handeln zu rechtfertigen, um eigene Interessen durchzusetzen. Diese Konfliktmechanismen können aber nicht durch getrennte Unterbringung durchbrochen werden. Vielmehr würden die falschen Argumente dadurch erst akzeptiert. Ich lehne die getrennte Unterbringung auch deshalb entschieden ab, weil eine Differenzierung, um scheinbar miteinander „harmonisierende“ Gruppen zu erzeugen, unmöglich ist und nicht zum Frieden beiträgt. Sie würde den Boden für neue Ressentiments bereiten, für das Gefühl der eigenen Benachteiligung bzw. der Bevorzugung anderer.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Hagen Berndt: Sie würde Debatten zwischen den Kommunen und in der einheimischen Bevölkerung provozieren, wer nun welche „nette“ oder „problematische“ Flüchtlingsgruppe zugeteilt bekommt. Sie würde außerdem die Botschaft vermitteln, dass ein friedliches Zusammenleben nicht möglich ist und dass Religion und Ethnie das Problem sind: Werden die Religionen und Ethnien getrennt, ist das Problem „gelöst“. Diese Botschaften sind falsch und hoch gefährlich. Die Annahme ist wissenschaftlich längst widerlegt, dass Religionszugehörigkeiten die Ursache von Konflikten wären. Es ist problematisch, dieses Vorurteil nunmehr von politischer Seite zu bestätigen.

In den letzten Wochen gab es immer wieder Meldungen von Auseinandersetzungen in Unterkünften von Geflüchteten auf Grund von religiösen Streitigkeiten. Worin sehen Sie die Ursachen?

Hagen Berndt: Konflikte gehören zum menschlichen Zusammenleben. Gewalt tritt jedoch dann auf, wenn die Beteiligten keine andere Möglichkeit sehen, ihre Interessen zu wahren oder ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Dass sich Konflikte in Flüchtlingsunterkünften immer wieder gewaltsam entladen, ist einer extremen Stresssituation geschuldet. Die Flüchtlinge haben vor oder während der Flucht dramatische Erlebnisse erfahren. Starke emotionaler Angespanntheit ist verbunden mit großen Hoffnungen auf ein neues Leben. Sie leben dann auf engem Raum mit vielen Menschen aus aller Welt. Es herrscht Konkurrenz um Raum und Ruhe, Essen, Kleidung, Chancen und Perspektiven. Rückzugsmöglichkeiten und sinngebende Beschäftigung fehlen. Der Aufenthalt in Deutschland ist nicht gesichert, vielleicht droht schon bald die Abschiebung und erneute Lebensgefahr.

Haben die Konflikte in Flüchtlingsunterkünften zugenommen oder nur der Blick darauf?

Hagen Berndt: Gewalt – insbesondere sexualisierte Gewalt – in Sammelunterkünften ist nichts Neues, in den letzten Wochen wurde nur häufiger darüber berichtet. Nach der großen Hilfsbereitschaft wurde erwartet, dass Flüchtlinge sich dankbar erweisen. Aber grundlegende menschliche Bedürfnisse lassen sich nicht verdrängen und ihre Befriedigung ist unveräußerliches Menschenrecht.

Wäre es nicht für einen von Islamisten verfolgten Geflüchteten ein Schutz, wenn er nicht wieder mit Islamisten in einer Unterkunft zusammen leben muss?

Hagen Berndt: Diese Frage legt nahe, dass alle Muslime Islamisten wären. Islamismus ist eine politische Ideologie, die sich der Religion bedient, um Macht auszuüben. Gerade viele muslimische Flüchtlinge aus Syrien fliehen auch vor der Gewalt der Islamisten. Eine nach Religionszugehörigkeit getrennte Unterbringung nähme die Bedürfnisse vieler Flüchtlinge nicht ernst, sich von Ideologien abzugrenzen, die in den Konflikten ihrer Herkunftsregionen zu Gewalt, Unterdrückung, Vertreibung und Krieg führen. Sie würde diese Menschen mit dem Segen unseres Staates erst den Islamisten ausliefern.

Es gibt Versuche von in Deutschland lebenden Islamisten, Geflüchtete zu werben. Wie soll damit umgegangen werden?

Hagen Berndt: Berichte der Sicherheitsbehörden zeigen, dass diese Versuche nicht sehr erfolgreich sind. Es wäre auch erstaunlich, wenn Menschen, die vor dem Wahnsinn im Nahen Osten geflohen sind, sich hier dafür erwärmen könnten. Das Mobilisierungspotenzial für Islamisten liegt vielmehr in sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen und unter entsprechend ideologisierten Studenten.

http://www.heise.de/tp/druck/mb/artikel/46/46291/1.html

Links

[1]

http://ello.co/stellungnahme_fluechtlingspolitik

[2]

http://www.hagenberndt.de/

[3]

http://www.forumzfd.de/

[4]

http://www.forumzfd.de/Stellungnahme_Fluechtlinge