Köthen oder die neue Bescheidenheit der Antifaschisten

Die Rechte mobilisiert zu rechten Demos in Köthen – doch allseits gibt es Entwarnungen, weil keine Hitlergrüße zu sehen sind

In den letzten Tagen gab es in Köthen verschiedene rechte und neonazistische Demonstrationen, nachdem infolge einer Auseinandersetzung mit zwei afghanischen Männern ein 22-jähriger Deutscher an einem Herzinfarkt gestorben ist [1]. Doch beschäftigt in den letzten Tagen Politik und Medien fast nur eine Frage: Wird Köthen ein neues Chemnitz?

Der CDU-Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff, verneint, [2]und Franz Josef Wagner schreibt in der Bild-Zeitung in seiner Brief-Kolumne an Köthen gar von einer „Stadt der Hoffnung“ [3], weil sich die Einwohner angeblich nicht von Rechten instrumentalisieren ließen. Da merkt man, wie inhaltlos dieser Kampf gegen rechts geworden ist.

So wird schon als Erfolg gefeiert, wenn zwei Tage hintereinander rechte Demonstrationen durch Köthen zogen, aber kein Hitlergruß zu sehen war. Dafür war aber vielleicht eher das große Polizeiaufgebot in der Stadt verantwortlich, das samt Wasserwerfer in der Stadt positioniert ist. Vielleicht hat in Köthen auch die rechte Taktik besser als in Chemnitz funktioniert.

Dort wurde schließlich auch von Neonazis die Parole ausgegeben: Heute sind wir Volk und nicht Gesinnung und lassen den rechten Arm unten. Das klappte damals nicht überall. So kann gesagt werden, dass Köthen für die Rechte durchaus ein Mobilisierungserfolg war, was auch David Begrich vom zivilgesellschaftlichen Verein Miteinander [4] im Interview mit dem Deutschlandfunk [5] bestätigte.

Er sei überrascht und erschrocken gewesen, wie schnell es der Neonaziszene gelungen sei, 2.500 Menschen auf den Straßen in Köthen zu mobilisieren. Dort wurden offen neonazistische Reden gehalten. Der AfD gelang es wiederum, auf einer eigenen Demonstration auch Teile der Köthener Bevölkerung zu erreichen. Eigentlich wäre eine solche rechte Mobilisierung für die Antifa-Szene ein Grund für höchste Aufregung und die Organisierung von Gegenaktionen.

Doch nach Chemnitz wird es schon als großer Erfolg gefeiert, wenn die rechten Demos ohne NS-Symbole über die Bühne gehen und keine Videos zu sehen sind, auf denen Menschen von Rechten tatsächlich oder vermeintlich gejagt werden.

Herzversagen kann sehr wohl mit den Auseinandersetzungen zu tun haben

Anlass der rechten Aufmärsche war der Tod eines 22-Jährigen während einer Auseinandersetzung mit zwei afghanischen Migranten. In der Pressemeldung der Polizei [6] heißt es:

Nach dem vorläufigen, mündlich übermittelten Obduktionsergebnis ist der 22-jährige Köthener einem akuten Herzversagen erlegen, das nicht im direkten kausalen Zusammenhang mit den erlittenen Verletzungen steht. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt werden die Ermittlungen nunmehr wegen des Verdachts der gefährlichen Körperverletzung gegen den 18-jährigen Tatverdächtigen geführt. Gegen den 20-jährigen Tatverdächtigen wird wegen des Anfangsverdachts der Körperverletzung mit Todesfolge ermittelt. Entsprechende Haftanträge werden durch die Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau am zuständigen Amtsgericht in Dessau-Roßlau gestellt.

Polizeidirektion Sachsen-Anhalt Ost

Hier wird zum Ausdruck gebracht, dass der Mann zwar nicht an Verletzungen bei der Auseinandersetzung starb, aber nicht, wie es in einigen Pressemeldungen wiedergegeben wurde, dass die Auseinandersetzungen nichts mit dem Tod zu tun haben. Daher sind ja auch beiden Migranten in Untersuchungshaft genommen worden.

Der Köthener Fall erinnert an den Tod von Dominik Brunner 2009, der sich einmischte, als zwei migrantische Jugendliche Schüler in einer S-Bahn belästigten, sich dann mit den Tätern eine körperliche Auseinandersetzung lieferte und schließlich an einem Herzstillstand starb [7]. Obwohl auch er nicht an den durch die Schläge hervorgerufenen Verletzungen, sondern an einem Herzstillstand starb, wurden die Schläger wegen Mordes verurteilt.

Einer ist mittlerweile entlassen, der andere muss seine Haftstrafe bis nächstes Jahr verbüßen [8]. Der Tod des erfolgreichen bayerischen Unternehmers Brunner sorgte bundesweit bei bürgerlichen Medien und Politikern für Aufsehen [9]. Mittlerweile erinnert eine Stiftung [10] an das Engagement des Mannes.

Die weiteren Ermittlungen in Köthen müssen nun zeigen, wie die Auseinandersetzung abgelaufen ist. Nur sollte der Rekurs auf den Fall Brunner noch mal deutlich machen, dass allein dadurch, dass der Tod nicht durch die Schläge, sondern durch einen Herzinfarkt erfolgte, die beiden Männer noch nicht entlastet sind.

Auch über die Rolle von Migranten reden

Das weltoffen-liberale Lager konzentrierte sich beim Fall Köthen vor allem auf die Frage nach einem „zweiten Chemnitz“ und man schien dann erleichtert, dass das Opfer einem Herztod und nicht einem Messerstich zum Opfer gefallen ist. Doch man sollte auch über die beiden Männer aus Afghanistan reden, die sicher nicht freiwillig nach Köthen gekommen sind, sondern dort leben mussten, weil sie im Ausländeramt dazu verpflichtet wurden.

Arbeiten durften sie nicht und so blieben sie unter sich. Hier entwickelten sich Konflikte, wie wir sie auch in vielen anderen Städten beobachten. Es bilden sich Männergruppen, die in bestimmten Konstellationen für sich und andere gefährlich werden können. So geschehen in Frankfurt/Oder, als eine Gruppe syrischer Migranten einen Club überfiel [11], in dem sie lange Zeit ohne Diskriminierungen verkehrten.

Der Oberbürgermeister der Linken, Rene Wilke, erwägt Maßnahmen zur Abschiebung dieser Gruppe [12]. Nur so könne er die Integrationsmaßnahmen für die Mehrheit der Migranten in der Stadt gegenüber der Bevölkerung verteidigen, erklärt Wilke. Man muss ihm zugutehalten, dass er in der Diskussion die für den Überfall und andere Straftaten Verantwortlichen klar benennt und betont, dass sie nicht für „die Flüchtlinge“ oder eine bestimmte Nationalität stünden.

Trotzdem muss man fragen, warum statt Strafen wie bei deutschen Staatsbürgern das Mittel der Abschiebung gewählt werden soll. Das sollte wirklich nur in absoluten Notfällen wie bei dem Islamisten Sami A . zur Anwendung kommen, wo sich die Richter mit ihrer Rückkehrforderung bisher zum Glück nicht durchsetzen konnten [13].

Eine Leipziger Erklärung konnte Vorbild sein

Es wäre auch für eine Linke wichtig, sich in die Debatte über den Umgang mit diesen toxischen Männergruppen einzulassen und sie nicht den Rechten zu überlassen oder nur dann aktiv zu werden, wenn, wie beim linksalternativen Club Conne Island in Leipzig [14], die eigene Einrichtung betroffen ist.

Die Leipziger schrieben vor zwei Jahren in einer viel diskutierten [15] Erklärung [16]:

Gruppen umherziehender Männer gehören wohl zu den meistgehassten und – unter Umständen -gefürchteten Menschengruppen vieler Frauen, Lesben, Schwulen und Transgender auf der ganzen Welt. Egal ob die Betreffenden Syrer, Connewitzer, Ghanaer, Eilenburger, Leutzscher oder Russen sind, haben sie leider in erschreckend vielen Fällen eines gemein: Es kommt zu sexistischen Kommentaren – egal ob abfällig oder vermeintlich bewundernd – und nicht selten auch zu Handgreiflichkeiten gegenüber Frauen, die ihren Weg kreuzen. Gesellen sich zu Selbstüberschätzung und mangelhaftem Sozialverhalten dann noch Alkohol und/oder andere Drogen, laute Musik und die unübersichtliche Situation im Club, wird für Frauen der ausgelassene Tanzabend schnell zum Spießrutenlauf.

Aus: Ein Schritt vor, zwei Schritte zurück, Conne Island

Natürlich gab es neben sicher berechtigter Kritik an mancher Formulierung der Erklärung und der Frage, warum die Migranten nicht frühzeitig mit in die Arbeit des Clubs eingebunden wurden, auch aberwitzige Rassismusvorwürfe gegen die Verfasser. Doch heute, wo die in dem Papier beschriebenen toxischen Männergruppen in vielen Städten der Republik auftreten, könnte das Papier aus Leipzig die Diskussionsgrundlage für einen linken Umgang damit sein.

Fakt ist und bleibt, dass sexistische Übergriffe, mackerhaftes Auftreten, antisemitisches, rassistisches und anderweitig diskriminierendes Verhalten im Conne Island nicht geduldet werden und jede Person, die sich nicht an unsere Regeln hält, des Eiskellers verwiesen wird – ungeachtet seiner/ihrer Herkunft.

Aus: Ein Schritt vor, zwei Schritte zurück, Conne Island

In einer linken Grundsatzerklärung könnte man das etwas allgemeiner formulieren: „Sexistische Übergriffe, mackerhaftes Auftreten, antisemitisches, rassistisches und anderweitig diskriminierendes Verhalten werden bei keiner Person geduldet, ungeachtet seiner/ihrer Herkunft.“

Diese Erklärung sollte in verschiedene Sprachen übersetzt und verteilt werden, in typisch deutschen Eckkneipen ebenso wie vor Spätverkäufen oder den Treffpunkten migrantischer Männer. Das wäre ein Anfang, um Diskussionen über toxisches Verhalten von Männergruppen verschiedener Herkunft anders als die Rechten zu behandeln, aber auch nicht so zu tun, als gebe es das Problem nicht.

URL dieses Artikels:

Peter Nowak

http://www.heise.de/-4160579
https://www.heise.de/tp/features/Koethen-oder-die-neue-Bescheidenheit-der-Antifaschisten-4160579.html

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Wieder-ein-junger-deutscher-Mann-im-Streit-mit-Migranten-gestorben-4158465.html
[2] https://www.welt.de/politik/deutschland/article181479220/Koethen-Minister-wollen-neue-Erkenntnisse-nach-Tod-von-22-Jaehrigem-bekannt-geben.html
[3] https://www.bild.de/politik/kolumnen/kolumne/post-von-wagner-liebes-koethen-stadt-der-hoffnung-57178182.bild.html
[4] http://www.rechte-gewalt-sachsen-anhalt.de/pat_in/magdeburg-david-begrich-arbeitsstelle-rechtsextremismus-bei-miteinander-e-v/
[5] https://www.ardmediathek.de/radio/Fazit-Kultur-vom-Tage/Ereignisse-in-K%C3%B6then-2-Fragen-an-David/Deutschlandfunk-Kultur/Audio-Podcast?bcastId=42945138&documentId=55887224
[6] http://www.presse.sachsen-anhalt.de/index.php?cmd=get&id=897276&identifier=d159aaa520a27e5c8e0194e0f20cee26
[7] https://www.shz.de/deutschland-welt/panorama/wende-im-fall-brunner-starb-er-am-herzinfarkt-id2360576.html
[8] https://www.tz.de/muenchen/stadt/thalkirchen-obersendling-forstenried-fuerstenried-solln-ort43351/muenchen-vorzeitige-entlassung-von-markus-s-abgelehnt-keine-gnade-fuer-moerder-von-dominik-brunner-10058386.html
[9] https://www.heise.de/tp/features/Muenchner-Urteile-gegen-Zivilcourage3382688.html
[10] https://www.dominik-brunner-stiftung.de/
[11] https://www.rbb24.de/studiofrankfurt/politik/2018/09/angriff-frankfurt-oder-hilfe-ausweisen-fluechtlinge-stellungnahme-woidke.html
[12] https://www.moz.de/landkreise/oder-spree/frankfurt-oder/artikel9/dg/0/1/1678853/
[13] https://www.heise.de/tp/features/Der-Fall-Sami-A-und-der-Streit-zwischen-Justiz-und-Politik-4141055.html
[14] http://www.lvz.de/Leipzig/Lokales/Conne-Island-ist-in-der-Realitaet-angekommen
[15] https://www.heise.de/tp/features/Migranten-im-autonomen-Wohnzimmer-3351582.html
[16] https://www.conne-island.de/news/191.html

Mit dem Verfassungsschutz gegen die AfD?

Während die meisten aus dem weltoffenen Lager längst ihren Frieden mit dem VS gemacht haben, macht VS-Präsident Maaßen deutlich, dass er kein Partner im Kampf gegen Rechts sein kann

Man stelle sich vor nach der einer linken Demonstration mit starker Beteiligung autonomer Gruppen würden sich Politik und Medien über linke Gewalt echauffieren. Und dann würde der Bundesinnenminister sagen, er könne die Anliegen der Demonstranten verstehen und könnte sich sogar vorstellen, selbst daran teilzunehmen, wenn er nicht im Amt wäre. Doch natürlich würde er nicht zusammen mit den ganz Radikalen demonstrieren. Und dann würde sich noch der Chef des Verfassungsschutzes zu Wort melden und sagen, Polizisten seien auf der Demonstration nicht gejagt worden und Videos, die solche Szenen zeigen, könnten gefälscht sein.

Wäre so ein Szenario vorstellbar? Bestimmt nicht. Doch nach Chemnitz ist genau das passiert. Seehofer warnte vor den Radikalen, konnte aber die Mehrheit der Demonstranten verstehen und sich auch vorstellen, mit zu demonstrieren, wenn er nicht in Amt und Würden wäre. Fast müsste man schon befürchten, dass Seehofer, sollte er doch noch sein Amt verlieren, aus Rache für Merkel bei Pegida mitmachen würde. Und Maaßen, der links immer und überall Gefahren und Gefährder sieht, gibt sich gegen Rechts ganz entspannt und zweifelt die Echtheit eines Videos an, auf denen die Jagd auf nichtdeutsch aussehende Menschen in Chemnitz zu sehen ist. Die Dresdner Justiz hält das Video hingegen für echt.

Wie Maaßen rechte Theorien übernimmt

Bemerkenswert ist auch, wie stark sich Maaßen auf der rechten Seite aus dem Fenster lehnt. Er hätte sagen können, dass es noch offene Fragen zu dem Video gibt, die noch der Prüfung harren. Doch seine im Tagesspiegel zitierten [1] Aussagen waren andere.

Über das Video, das Jagdszenen auf ausländische Menschen nahe des Johannisplatzes in Chemnitz zeigen soll, sagte Maaßen: „Es liegen keine Belege dafür vor, dass das im Internet kursierende Video zu diesem angeblichen Vorfall authentisch ist.“ Nach seiner vorsichtigen Bewertung „sprechen gute Gründe dafür, dass es sich um eine gezielte Falschinformation handelt, um möglicherweise die Öffentlichkeit von dem Mord in Chemnitz abzulenken“. Da stellen sich schon einige Fragen. Eigentlich müsste man doch erwarten, dass die Echtheit des Videos angezweifelt wird, weil dafür Belege vorliegen, die dann bitte auch genannt werden sollten. Wer hat vor Maaßen die Echtheit des Videos mit welchen Argumente angezweifelt? Und warum macht sich der VS-Präsident auch noch Gedanken über die Motive der nicht belegten Fälschung. Nämlich, dass von der Tötung eines deutschen Staatsbürgers durch Migranten abgelenkt werden soll.

Mittlerweile haben sich zwei Afghanen bei der Polizei gemeldet, die auf dem Foto als Opfer rechter Attacken zu sehen sein sollen. Sollte sich das bestätigen, wäre zumindest erwiesen, dass Maaßen hier voreilig oder bewusst die Rechten begünstigende Fakenews verbreitete. Seine Kritiker sollten, wenn sie sich dazu äußern, den Sachverhalt genau prüfen. Schließlich ist es keineswegs ausgeschlossen, dass auch auf Seiten des weltoffenen Lagers Videos oder Fotos mit falschen Angaben verbreitet werden. Ob wegen mangelnder Überprüfung oder bewusst, kann dann offen bleiben. Solche Methoden sind ja nicht auf ein bestimmtes politisches Lager beschränkt.

Mord und Totschlag?

Dass Maaßen dann von Mord in Chemnitz sprach, obwohl gegen die Verdächtigen wegen Totschlag ermittelt wird, dürfte im Alltagsbewusstsein keine große Rolle spielen. Doch juristisch ist der Unterschied zwischen Mord und Totschlag sehr relevant. Im einschlägigen Paragraphen [2] heißt es: „Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft.“

Im Alltagsbewusstsein wird oft gemutmaßt, dass eine Anklage nach Totschlag statt nach dem Mordparagraphen eine Begünstigung der Täter bedeutet, wenn es sich dann noch um Migranten handelt, ist das rechte Weltbild wieder intakt. Da ist es schon ein Politikum, wenn der Jurist Maaßen den Unterschied zwischen Mord und Totschlag mit seinem Statement verwischt. Es wäre allerdings auch wünschenswert, wenn die Justiz transparent erklärt, wieso sie wegen Totschlag und nicht wegen Mord ermittelt.

Es ist daher schwer verständlich, warum sich das weltoffen-liberale Lager so über den geleakten Haftbefehl eines der in Chemnitz Tatverdächtigen echauffiert hat Mit der illegalen Veröffentlichung machte der zuständige Justizbeame wahrscheinlich aus falschen Gründen das Richtige. Erst bei der Verurteilung des Mörders von Mia aus Kandel hatte man den Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt und auch die Urteilsbegründung nicht öffentlich gemacht, weil man aufgrund des Zweifels für den Angeklagten nach Jugendrecht geurteilt hat. Der Angeklagte hatte unterschiedliche Geburtsdaten angegeben. Dabei wäre es gerade bei solch umstrittenen Urteilen, die ja immer „im Namen des Volkes“ ergehen, wichtig, wenn die interessierte Öffentlichkeit auch das Hintergrundwissen in die Hand bekommt, um sich selber ein Urteil darüber zu bilden, ob das Urteil berechtigt ist.

Es wäre gerade für Linke eine wichtige Aufgabe, eine solche Transparenz zu fordern. Schließlich gehörte Kritik an der Justiz als Teil der repressiven Staatsapparate einmal zu den Kernaufgaben einer staatskritischen Linken. Heute sehen große Teile dieser ehemaligen Linken in der Justiz fast das letzte Bollwerk von Demokratie. Damit überlassen sie den Rechten nun neben der Medien- auch die Justizkritik, die dann natürlich vor allem Ressentiments bedienen.

Verfassungsschutz ist kein Partner gegen Rechts

Doch nicht nur die Justiz, auch der Verfassungsschutz wird von einer Staatsschutzlinken, hier ist der Begriff sehr treffend, mittlerweile als Mittel gegen Rechts gesehen. Dass führende SPD-Politiker schon seit Längerem fordern, der VS müsse die AfD beobachten, ist nicht verwunderlich. Schließlich ist für sie Staatschutz seit gut 100 Jahren ein besonderes Anliegen. Die Grünen aber wollten noch vor 2 Jahrzehnten alle Geheimdienste abschaffen.

Von der Forderung hatten sie sich als Realpolitiker mehr und mehr verabschiedet. Doch mit der Selbstaufdeckung des NSU konnte man von einigen grünen Politikern Statements hören, die zumindest Reminiszenzen an die alte Kritik an den Geheimdiensten anklingen ließen. Schließlich war bei der Geschichte des NSU nicht das Problem, dass dort Verfassungsschutzmitarbeiter nicht beobachteten. Das eigentliche Problem war, dass sehr viele Verfassungsschutzmitarbeiter ganz nah dran waren am NSU und wohl nicht nur zur Beobachtung. Noch immer ist die These nicht wiederlegt, dass die NSU-Terrorgruppe schneller aufgedeckt worden wäre, wenn nicht so viele VS-Mitarbeiter so nah dran gewesen wäre.

Man hätte das migrantische Wissen [3] nutzen können. Migranten sind bereits 2006 unter dem Motto „Kein 10. Opfer“ [4] auf die Straße gegangen. Für sie war der rechte Hintergrund der Mordserie längst klar, als die staatlichen Organe die Opfer und ihre Angehörigen noch verdächtigten.

Doch solche Erfahrungen über die Rolle von VS und Rechte spielen heute scheinbar keine Rolle, wenn gerade Grüne in vielen Bundesländern eine Beobachtung der AfD durch den VS fordern. Die Linkspartei argumentiert größtenteils noch dagegen und verweist dabei auf die Rolle der Geheimdienste beim NSU. Es wird sich zeigen, wann sich der erste Realpolitiker der Linken den Grünen und der SPD anschließen und ebenfalls den Einsatz des VS gegen die AfD fordern.

Vielleicht sorgen die Äußerungen von Maaßen dafür, dass diese Bestrebungen gebremst werden. Man kann ihm fast dankbar sein, wenn er noch mal verdeutlicht hat, dass Staatsapparate wie Verfassungsschutzämter strukturell rechts und keine Partner im Kampf gegen die AfD sein können. Die Staatsschutzlinke will solche Erkenntnisse natürlich nicht wahrhaben und fordert umso schneller und lauter Maaßens Rücktritt. Für sie geht es um eine Personalie und nicht um eine Struktur. Sie fordern Maaßens Kopf, damit sie weiter den VS als Partner im Kampf gegen die AfD anpreisen können.

„Die hatten nur die Russen“

Nicht nur an der Frage des Umgangs mit repressiven Staatsapparaten zeigt sich, dass nicht wenige Kritiker der rechten Demonstrationen in Chemnitz in ihren politischen Schlussfolgerungen gar nicht so weit entfernt von ihnen sind. So kommentierte die ultrakonservative dänische Tageszeitung, Jyllands-Posten, die wegen der Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen sowohl von Säkularen als auch von Rechten aus aller Welt gelobt wurde, die Ereignisse in Chemnitz mit einer besonderen Sichtweise auf die deutsche Geschichte [5]:

Anders als die Westdeutschen hatten die Ostdeutschen keine freundliche Besatzungsmacht, die ihnen nach dem Krieg Demokratie und Pluralismus beibringen konnte. Die hatten die Russen.

Jyllands-Posten
Die Diagnose, dass man von den Russen besetzt war, dürfte auch bei den Rechten in Chemnitz und anderswo auf Zustimmung stoßen. Schließlich braucht man nicht zu erwähnen, dass die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion überfiel und dort Millionen Menschen ermordete, dass die Rote Armee und ihre Verbündeten mit großen Opfer den Krieg in das Land zurücktrug, vom dem er mit Unterstützung großer Teile der Bevölkerung ausgegangen war und so die Welt von der NS-Herrschaft befreite. Danach hatten die Ostdeutschen keinen Führer mehr, aber wohl die Russen, da sind sich viele besorgte Bürger in Deutschland mit großen Teilen ihrer Kritiker im In- und Ausland einig.

Peter Nowak

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https://www.heise.de/tp/features/Mit-dem-Verfassungsschutz-gegen-die-AfD-4158330.html

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.tagesspiegel.de/politik/streit-um-video-aus-chemnitz-spitze-der-unionsfraktion-gegen-vorverurteilung-von-maassen/23007898.html
[2] https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__212.html
[3] https://rdl.de/beitrag/nsu-komplex-rassismus-und-migrantisches-wissen-interview-mit-ayse-g-le-frn-73549
[4] https://www.nsu-watch.info/2014/01/kein-10-opfer-kurzfilm-ueber-die-schweigemaersche-in-kassel-und-dortmund-im-maijuni-2006/
[5] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1099098.zu-chemnitz.html

Die kapitalistischen Verwertungszwänge sind die „Mutter aller Probleme“, nicht die Migration

Warum die Aufstehen-Bewegung trotz vieler berechtigter Kritik eine positive Rolle haben kann

Horst Seehofer hat es wieder getan. Indem er die Migration zur „Mutter aller Probleme“ erklärte, lieferte er nicht nur eine weitere Kampfansage an Merkel, wie der Publizist Albrecht von Lucke in seinem engagierten Deutschlandfunk-Interview erklärte [1].

Das eigentliche Problem besteht darin, dass er diese Kampfansage auf dem Terrain und mit den Themen der AfD führt. Es sind Bewegungen wie Pegida und Parteien wie die AfD, die alle politischen Erscheinungen auf die Migration zurückführen. Es ist daher eine Bestätigung dieser Bewegungen, wenn nun Seehofer deren Welterklärungsmodelle übernimmt. Er bedient die rechte Klientel, in dem er auf deren ideologischem Terrain bleibt und mit dafür sorgt, dass weiterhin die Migration das zentrale Thema bleibt. Davon profitieren rechte Grupperungen.

Dabei geht es nicht darum, dass nun die Politiker unter Umständen auch harsche Worte über die AfD finden. Das hat der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki [2] ebenso getan, wie der sächsische Ministerpräsident Kretschmar. Doch beide haben auch zentrale Erklärungsmuster der AfD übernommen, Kubicki, wenn er die Ursache für die rechten Aufmärsche in Chemnitz und anderswo in der angeblichen Grenzöffnung von Merkel 2015 sieht. Dabei übernimmt er schon rechte Denkmuster dadurch, dass er von einer Grenzöffnung fabuliert, die gar nicht stattgefunden hat.

Tatsächlich geht es den Kritikern darum, dass 2015 die in der EU offenen Grenzen nicht mit Panzer und Wasserwerfer gegen die Migranten verteidigt wurde. Zudem gab Kubicki so den rechtslastigen, häufig als akademischen Pegida-Versteher [3] apostrophierten Werner Patzelt die Gelegenheit, Kubicki und selbst Seehofer noch einmal von rechts zu überholen. „Wenn er damit gemeint hat, dass die Flüchtlingspolitik die Wurzel für dieses Übel ist, dann hat er Recht“, erklärte Patzelt. Hat Seehofer die Migration als Mutter aller Probleme bezeichnet, unternahm Patzelt die semantische Verschärfung, in dem er von der Mutter aller Übel sprach.

Jagdszenen oder Hetzjagd auf Chemnitzs Straßen?

Auch der sächsische Ministerpräsident bestätigt mit seiner Erklärung, dass es keine Hetzjagden und Pogrome in Chemnitz gegeben hat, die Rechten. Dabei muss man allerdings hinzufügen, dass durch manche alarmistischen Beiträge des liberal-weltoffenen Lagers die Rechten auch eher bestärkt wurden.

Es waren, worauf Albrecht von Lucke in seinem Deutschlandfunk-Interview hinwies, gut organisierte rechte Aufmärsche. Da wurde auch dafür gesorgt, dass die beim Trauermarsch anwesenden Neonazis den rechten Arm unten lassen mussten. Sie wurden vorher von ihren Führungsleuten entsprechend instruiert: „Heute sind wir Volk, nicht Gesinnung“, lautete das Motto. Also Nazis dürfen schon dabei sein, sie sollen sich nur nicht als solche zeigen.

Nun wird in den Medien diskutiert, ob in Chemnitz Jagdszenen [4] oder eine Hetzjagd [5] stattgefunden hat. Tatsächlich ist die Semantik gerade bei einer Thematik wichtig, bei der den Rechten vorgeworfen wird, mit der Sprache hetzen und spalten zu wollen. Doch all diese Beiträge bleiben auf dem Terrain der Rechten – und sie können davon profitieren, selbst wenn die sich kritisch zur AfD und ihrem Umfeld äußern.

Warum Initiativen wie Aufstehen gerade jetzt wichtig sein könnten

Dabei ginge es darum, das Diskursfeld der Rechten zu verlassen und andere Themen in die Debatte zu werfen, die durch das rechte Themensetting erfolgreich verdrängt werden. Hier könnte die kürzlich gegründete Initiative Aufstehen [6] eine positive Rolle spielen. Denn dort ist eben nicht die Migration, sondern die soziale Spaltung das zentrale Problem.

Das ist natürlich eine derart beliebige Aussage, dass sie von Teilen der CDU ebenso unterschrieben werden kann wie von einem großen Teil der Reformlinken. Dass nun vor allem von den Grünen und der SPD Politiker dabei sind, die in ihrer Partei nichts oder nichts mehr zu sagen haben, könnte auch darauf hindeuten, dass es sich um eine von vielen Initiativen handelt, die nach ihrer Gründung bald wieder vergessen sind. Oder wer redet noch über die mit viel publizistischem Aufwand vom ehemaligen griechischen Finanzminister Yaroufakis initiierte DIEM-Bewegung?

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Aufstehen wie in den frühen 1990er Jahren die Komitees für Gerechtigkeit am Ende damit enden, dass auf den Listen der Linken einige Parteilose kandidieren. Aber das ist nicht das Entscheidende. Aufstehen wird keine Revolution anführen und das ist auch gar nicht das Ziel.

Aber es gibt auch einen positiven Moment der Gründung, nämlich dass die politische Diskursebene gewechselt wurde. Es handelt sich hier nicht um eine linke Debatte, sondern um eine, in der Linke mitdiskutieren und Akzente setzen können, ganz im Gegensatz zur Migrationsdebatte, in der sogar gegenüber den Rechten kritische Beiträge auf deren Terrain verbleiben. Bei der Aufstehen-Debatte könnte man auch den Gedanken einbringen, dass es nicht um die Erörterung einer sozialen Frage gehen kann, sondern um die Frage, ob sich die Mehrheit der Menschen den Kapitalismus noch leisten kann und will.

Dann wären wir auf einer Diskursebene, die sowohl Liberale als auch Rechte aller Couleur meiden wie der Teufel das Weihwasser. Denn dann müssten sie sich ja die Frage gefallen lassen, warum sie in Deutschland eine staatlich geförderte Verarmungspolitik vorantreiben, die Stefan Dietl in dem kürzlich im Unrast-Verlag erschienenen Buch „Prekäre Arbeitswelten“ [7] knapp und prägnant beschreibt.

Wie sehr auch die AfD ein solches Thema vermeidet, wurde auf einer Konferenz zur Zukunft der Rente im brandenburgischen Neuenhagen deutlich. Aktuell streiten in der AfD Marktradikale und völkische Nationalisten, wie hoch der Anteil des Sozialstaats dabei sein soll. Der dort als Parteiunabhängiger eingeladene Jürgen Elsässer warnte davor, dass sich die AfD an der Rentenfrage zerstreite, und wusste Rat. Die Partei solle weniger auf das Materielle schauen, sondern die Debatte auf die Sicherheit lenken. Viele Senioren würden unter den Veränderungen der modernen Gesellschaft leiden. Und wenn eine Partei dann die gute alte Zeit vor 50 oder auch 80 Jahren beschwört, sind sie schon zufrieden auch mit wenig Rente.

Hier zeigte Elsässer deutlich, welche Rolle die Diskurse über Law and Order, Kriminalität und Einwanderung haben. Niemand redet dann mehr davon, warum in einer Gesellschaft, in der die Produktivkräfte so weit entwickelt sind, dass ein schönes Leben für alle keine Utopie mehr sein müsste, Menschen allen Alters Flaschen sammeln müssen. Die Rechten aller Parteien reden dann von angeblichen Geldern, die Migranten bekommen. Aber nicht die Migranten, sondern die Politiker aller Couleur haben die gesetzlichen Grundlagen für die Altersarmut geschaffen, unter anderen durch die Schaffung eines Niedriglohnsektors, der natürlich auch Minirenten erzeugt.

Wie das Kapital in der Mietenpolitik den Klassenkampf von oben führt

Oder gehen wir auf das Feld der Mietenpolitik. Es ist noch keine zwei Wochen her, da bekamen wir einen sehr plastischen Anschauungsunterricht im Klassenkampf von oben auf dem Feld der Mieten- und Wohnungspolitik. Der Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums empfahl Marktwirtschaft pur und forderte ein Ende der sowieso wirkungslosen Mietpreisbremse. Freie Fahrt für die Investoren hieß die Devise. Der Taz-Kommentator Martin Reeh fand die passenden Worte [8]:

Krisenzeiten bieten stets Chancen, die Gesellschaft zu verändern. Die hohe Arbeitslosenquote und das Loch in den Rentenkassen wurden in den nuller Jahren genutzt, um das vergleichsweise egalitäre deutsche Sozialmodell zu zerstören. Nun steht der noch immer relativ egalitäre Wohnungsmarkt zur Disposition.

Martin Reeh

Er benennt auch, wie der weitere Umbau der Gesellschaft im Sinne der Kapitalbesitzer vorangetrieben wird und wer darunter leidet:

Je mehr das Wohnungsthema in den Fokus gerät, desto deutlicher wird, dass es auch um einen ideologischen Kampf geht: Liberalen gilt der Mieter als der neue Hartz-IV-Empfänger – als einer, der es nicht geschafft hat, sich eine Eigentumswohnung zuzulegen. Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt schrieb diese Woche, in den Szenekiezen Berlins liege der Mieteranteil jenseits der 95 Prozent. „Armselig“ nannte Poschardt das. Liberalen gilt der Mieter als der neue Hartz-IV-Empfänger – als einer, der es nicht zu einer Eigentumswohnung gebracht hat. Dabei könnten gerade Liberale Mietverhältnisse als Ausdruck von Freiheit verstehen – als Möglichkeit, sich relativ schnell nach eigenen Wünschen zu verändern. Das Berlin, das Poschardt so liebt, wäre ohne einen großen Anteil an günstigen Mietwohnungen nicht denkbar. Auch bundesweit hat die Wirtschaft von günstigen Mieten profitiert. Der Umzug für einen neuen Job fiel dadurch wesentlich leichter.

Martin Reeh

Nun könnte man fragen, wo bleiben die Demonstrationen vor dem Bundeswirtschaftsministerium, aus dessen Hause ja die Empfehlungen kamen? Warum gehen aus Protest [9] gegen den am 21.9. geplanten Wohnungsgipfel von Heimatminister Seehofer nicht Zehntausende auf die Straße? Ein Grund liegt daran, dass die Rechten mit dem Diskursfeld Migration diese Themen in den Hintergrund gedrängt haben.

Wo über Zuwanderung, über die, die dazu gehören und die angeblich nicht mal das Existenzminimum verdient haben sollen, geredet wird, geraten die Kapitalverbände und ihre Hand- und Kopflanger aus dem Blick, die beim Umbau zum marktgerechten Staat dann freie Hand haben. Wenn nun Seehofer die Migration zum zentralen Problem erklärt, trägt er ganz bewusst dazu bei, dass über die Zumutungen des Kapitalismus nicht mehr geredet wird.

Wenn nur noch über Diskriminierung und nicht mehr über Ausbeutung geredet wird

Aber auch ein Teil des sich selbst als weltoffen bezeichnenden Lagers hat kein Interesse daran. Das wird auch an Reaktionen dieses Lagers auf die Aufstehen-Initiative deutlich.

So erklärte der Jusovorsitzende Kevin Kühnert der Deutschen Presse-Agentur, der Aufruf umschiffe politische Fragen, etwa einen Konflikt zwischen Verteilungspolitik und Identitätspolitik, bei der es um gesellschaftliche Bedürfnisse bestimmter Gruppen gehe. Haltungsfragen auszuklammern und erstmal in einem Online-Forum zu diskutieren ist aber nicht basisdemokratisch, sondern beliebig, so seine Kritik.

Kühnert gehört wie viele im Umfeld von SPD und Grünen zu denen, die nur noch über Diskriminierung, nicht mehr aber über Ausbeutung reden wollen. Damit argumentieren sie im Einklang mit Kapitalverbänden, für die Diversity und Vielfalt Standortvorteile sind, höhere Löhne und Senkung der Arbeitsstunden hingegen nicht. In den USA hat man schon wesentlich länger Erfahrungen, wie man mit dem Diskurs über kapitalkonforme Antidiskriminierungsmaßnahmen von kapitalistischer Ausbeutung schweigen kann. Der Journalist Bernhard Pirkl führt [10] in der Jungle World in die US-Debatte ein:


Kritik an affirmative action kommt aber auch von der amerikanischen Linken. Das Geschwisterpaar Barbara [11] und Karen Fields [12] etwa argumentiert [13], dass Antidiskriminierungsmaßnahmen dazu führten, dass mit ihrer Art der Thematisierung sozialer Disproportionalität die ökonomische Ungleichheit als Faktor aus dem Blick geriete. Auf das Bildungssystem bezogen lautet ihr Argument: Die Änderung der Zusammensetzung der Studentenschaft in den Hochschulen lässt die Grundstruktur der Ungleichheit im Bildungssystem nicht nur intakt, mehr noch, der Diskurs um diversity lässt diese Ungleichheit als selbstverständliche erscheinen. Die Frage, warum überhaupt Knappheit an Studienplätzen und Jobs besteht, werde erst gar nicht gestellt, wenn nur über deren Verteilung gestritten werde, was eine gewisse Folgerichtigkeit habe, denn anders als race sei class, das Reden über Klassen, in der amerikanischen Gesellschaft stark tabuisiert.

Bernhard Pirkl

Die Kritik an einer kapitalgenehmen Antidiskriminierungspolitik bedeutet nicht, dass eine Politik der Stärkung (empowering) von Minderheiten falsch ist, sondern dass sie nicht mehr nach der Melodie des Kapitals spielen soll. Zudem soll neben Diskriminierung wieder über Ausbeutung geredet werden, wobei eben wichtig zu betonen ist, dass kapitalistische Ausbeutung nicht einfach an andere Unterdrückungsformen aneinandergereiht werden kann:


Der amerikanische Literaturwissenschaftler Walter Benn Michaels hat auf einen grundlegenden Fehler dieser methodischen, additiven Symmetrierung hingewiesen, der darin besteht, dass dabei kaschiert wird, dass die Analysekategorie class einer anderen Logik gehorcht als Identitätskategorien wie race und gender beziehungsweise sexuelle Orientierung: Erkennt man die normierenden Disziplinartechniken, die zur Demütigung von beispielsweise Homosexuellen beitragen, als illegitim oder beseitigt sie sogar, dann bedeutet dies auch das Ende des Stigmas und damit perspektivisch auch der Unterdrückung. Behandelte man nun Klasse – wie es in der Theorie des „Klassismus“ auch tatsächlich geschieht – analog dazu als ein Problem der Diskriminierung einer Identität, so muss man feststellen, dass arme Menschen auch ohne das Stigma Armut unterdrückt bleiben.

Bernhard Pirkl

Wenn jetzt Teile des weltoffenen liberalen Lagers die Aufstehen-Bewegung mit dem gar nicht überprüfbaren Argument diskreditieren wollen, die wäre bei der zivilgesellschaftlichen Bewegung in und um Chemnitz nicht dabei gewesen, könnte man zurückfragen. Wann habt ihr einen Streik unterstützt oder Erwerbslose auf das Amt begleitet?

Wenn es Aufstehen gelingt, einen neuen Diskurs über Ungleichheit ohne Ethnisierung zu etablieren, hätte sie ihre Aufgabe erfüllt. Den Satz, die Mutter aller Probleme in Deutschland wie in der Welt ist die kapitalistische Konkurrenzgesellschaft, kann man von Seehofer nicht erwarten. Aber es liegt an denen, die sich an der Debatte beteiligen, auch an denen, die wie der Autor, bestimmt nicht Teil dieser Sammlungsbewegung werden wollen, ob sich ein solches Motto gegen die Seehofers, Gaulands etc. durchsetzen kann.

Peter Nowak

URL dieses Artikels:
http://www.heise.de/-4156950
https://www.heise.de/tp/features/Die-kapitalistischen-Verwertungszwaenge-sind-die-Mutter-aller-Probleme-nicht-die-Migration-4156950.html

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.deutschlandfunk.de/von-lucke-ueber-seehofer-das-ist-die-kampfansage-an-die.1939.de.html?drn:news_id=922038
[2] https://www.focus.de/politik/deutschland/wegen-satz-wir-schaffen-das-kubicki-gibt-merkel-mitschuld-fuer-chemnitz-krawalle-politik-experte-gibt-ihm-recht_id_9525637.html
[3] https://www.heise.de/tp/news/Ist-Patzelt-Pegida-Erklaerer-oder-versteher-2542334.html
[4] https://www.freiepresse.de/chemnitz/chemnitz-darum-sprechen-wir-nicht-von-hetzjagd-artikel10299149
[5] https://www.deutschlandfunk.de/von-lucke-ueber-seehofer-das-ist-die-kampfansage-an-die.1939.de.html?drn:news_id=922038
[6] https://www.aufstehen.de/
[7] https://www.unrast-verlag.de/component/content/article/79-pressestimmen/3106-neues-deutschland-ueber-prekaere-arbeitswelten
[8] http://www.taz.de/!5527891/
[9] http://berlin.zwangsraeumungverhindern.org/
[10] https://jungle.world/artikel/2018/34/race-class-confusion
[11] https://www.pbs.org/race/000_About/002_04-background-02-02.htm
[12] https://www.versobooks.com/authors/1740-karen-e-fields
[13] https://www.versobooks.com/books/1645-racecraft

Proletarier aller Länder …

Italiens Basisgewerkschaft Si Cobas verbindet Antirassismus und Klassenkampf

Seit wenigen Monaten ist die italienische Rechtsregierung an der Macht und unter dem Innenminister Matteo Salvini von der rechten Lega Nord streitet die »Orbanisierung« des Landes rapide voran. Sein harter Kurs gegen Geflüchtete scheint dem Rechtspolitiker Zustimmung bei den Wähler*innen zu bringen, die Proteste sind schwach.

Dennoch gibt es auch in Italien Kräfte, die sich gegen den Rechtsruck stellen. Dazu zählt die Basisgewerkschaft SI Cobas, die am 24. September zu einer internationalen antirassistischen Versammlung nach Bologna einlädt. Die Gewerkschaft hat dabei ein sehr ambitioniertes Ziel, das sie in der Einladung zu dem Treffen so formuliert. »Wir sind für den Aufbau einer antirassistischen Front in Europa, die den Rassismus auf dem sozialen und gewerkschaftlichen Feld bekämpft, indem sie die Einheit der einheimischen und eingewanderten Arbeiter*innen im Kampf stärkt«. Neben diesem großen Ziel werden auch die kleinen Schritte nicht vergessen. Die rechtliche Gleichstellung der Migrant*innen ist die zentrale Forderung, die nach Ansicht von Si Cobas im Interesse aller Arbeiter *innen ist, egal aus welchem Land sie kommen.

Für die Gewerkschaft ist das antirassistische Engagement eine Klassenfrage. »Die Eingewanderten sind in ihrer übergroßen Mehrzahl Proletarier*innen, Lohnarbeiter*innen oder Arbeitssuchende, sie sind in jedem Land ein wichtiger Teil der Arbeiter*innenschaft.«

Wenn es in dem Aufruf heißt, dass migrantische und einheimische Arbeiter*innen nur in gemeinsamen Kämpfen ihre Lage verbessern können, kann die Gewerkschaft SI Cobas auf langjährige eigene Erfahrungen verweisen. Sie organisiert die Arbeitskämpfe in der Logistikbrache Norditaliens. Dort konnten die größtenteils migrantischen Beschäftigen Lohnerhöhungen und eine Minderung der Arbeitshetze erreichen. In der letzten Zeit macht auch die Organisierung von migrantischen Erntearbeiter*innen Fortschritte, die oft unter menschenunwürdigen Bedingungen in Zeltlagern in der Nähe ihres Arbeitsplatzes untergebracht sind.

An den Organisierungsprozessen sind neben SI Cobas weitere Basisgewerkschaften beteiligt. Anders als in Deutschland gibt es in Italien keine Einheitsgewerkschaft, was die Positionierung zu gesellschaftlichen Fragen erleichtert. Aber auch in Deutschland hat sich der ver.di-Gewerkschaftsrat unter dem Motto »Menschen zu retten, darf kein Verbrechen sein« mit den zivilgesellschaftlichen Initiativen der Seenotrettung solidarisiert. Gemeinsame Arbeitskämpfe von Migrant*innen und Einheimischen gibt es allerdings zu selten. Die Aufnahme von mehreren hundert Migrant*innen bei ver.di-Hamburg war ein wichtiger Akt, fand aber leider keine Nachahmung.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1099704.proletarier-aller-laender.html

Peter Nowak

Stimme gegen Unterdrückung


Bertold Cahn war Anarchist und Syndikalist. Nun wird er mit einem Stolperstein geehrt

Ich bin „Berthold Cahn – geboren im Mai 1871 in Langenlonsheim bei Bad Kreuznach, ermordet 1942 im Konzentrationslager Sachsenhausen“. Diese Angaben stehen auf einem kürzlich vor Wadzeckstraße 4 in der Nähe vom Berliner Alexanderplatz verlegten Stolperstein für einen Mann, der lange Zeit dort wohnte und zwischen 1910 und 1933 zu den bekanntesten Berliner Anarchisten gehörte. „Wie wenige andere hat er in dieser Zeit seine Stimme gegen Unterdrückung und für soziale Gerechtigkeit erhoben“, erklärte der Politologe Erik Natter bei der Verlegung des Stolpersteins.
Cahn trat als Redner auf anarchistischen und syndikalistischen Veranstaltungen mit teilweise Tausenden BesucherInnen auf. Am 1. Mai 1924 stand er bei der Protestveranstaltung gegen die Verfolgung der Anarchisten in der Sowjetunion mit den bekannten AnarchistInnen Rudolf Rocker und Emma Goldman auf der Bühne des Berliner Lehrervereinshauses. Der Autodidakt, der nie eine Universität besucht hatte, publizierte in zahlreichen libertären und syndikalistischen Publikationen. So war er Herausgeber und Redakteur der Freien Generation und des Freien Arbeiters sowie Verfasser zahlreicher Artikel im Syndikalist. Dort kritisierte er die damals auch in großen Teilen der Arbeiterbewegung populären Euthanasie-Konzepte. Früh engagierte er sich auch gegen den Nationalsozialismus, von dem er als Anarchist und Jude doppelt bedroht war. Schon 1933 wurde Berthold Cahn nach einer Razzia in seiner Wohnung, bei der man staatsfeindliche Flugblätter fand, verhaftet und zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Anschließend wurde er in ein Konzentrationslager eingelie- fert, wo er 1942 ermordet wurde.

Kein Intellektueller
Jahrelang wurde fälschlicherweise behauptet, er sei bereits 1938 umgekommen. Fast hätten die Nazis es geschafft, Cahn aus der Geschichte zu streichen. Es ist der Berliner Gustav-Landauer Initiative zu verdanken, Cahn dem Ver- gessen entrissen zu haben. Sie setzt sich für ei- nen Gedenkort für den nach der Niederschlagung der Münchner Räterepublik von Soldaten ermordeten Anarchisten Landauer in Berlin ein. „Wir sind bei dem Studium libertärer Publikationen immer wieder auf Cahn gestoßen“, erklärt Erik Natter, der in dieser Initiative mitarbeitet. Bisher sei es nicht gelungen, Verwandte von Cahn ausfindig zu machen.
Cahn war kein Intellektueller. Wegen seines anarchistischen Engagements verlor er oft die Arbeit, lebte zeitweise am Rande des Existenzminimums. Das hielt ihn nicht von seinem gewerkschaftlichen Engagement ab. So versuchte er im Verband der „Hausdiener, Packer, Packerinnen und Geschäftskutscher Berlin“ die besonders schlecht bezahlten Beschäftigten zu organisieren. Seine politischen Aktivitäten trugen ihm schon vor 1933 diverse Haftstrafen ein.

Die Broschüre von Erik Natter über das Leben von Berthold Cahn wird am 7. September in der Bibliothek der Freien im Haus der Demokratie in der Greifswalder Straße vorgestellt.

aus Taz vom 7.9.2018
Peter Nowak

Die brutale Realität der Psychiatrie

Außerparlamentarische Gruppe kritisiert die Forensik des Klinikverbundes Bremen als menschenunwürdig

»Wir behandeln Menschen, die aufgrund einer psychischen Erkrankung in erheblichem Maße straffällig geworden sind. Durch die Behandlung sollen sie wieder in die Lage versetzt werden, zukünftig straffrei zu leben.« Mit diesen Worten stellt der Klinikverbund Bremen seine Dienstleistungen auf dem Gebiet der Forensik vor. Klingt auf den ersten Blick nicht weiter schlimm. Zivilgesellschaftliche Gruppen fordern jedoch die Schließung der Forensik. Sie kritisieren, die dortigen Maßnahmen verletzten die Menschenrechte der Patient*innen.

Mitte August hatte die Bremer Gesundheitsdeputation, eine Arbeitsgruppe mit Vertretern von Senat und Bürgerschaft, zu einer Sondersitzung eingeladen. Ziel war, über den Stand der 2013 von der Bremer Bürgerschaft beschlossenen Psychiatrie-Reform zu debattieren. Kritiker*innen meldeten sich auf dem Bremer Marktplatz während des Treffens lautstark zu Wort. »Wir haben den krassen Widerspruch zwischen dem von Politik- und Medizinbetrieb gezeichneten Ideal-Bild einer angeblich menschenfreundlichen, fortschrittlichen Psychiatrie in Bremen und der brutalen Realität, die Psychiatrisierte tatsächlich erleben, deutlich gemacht«, erklärte Julia Benz von der Psychiatriekritischen Gruppe Bremen gegenüber »nd«.

Die Arbeit der außerparlamentarischen Initiative sorgt in Bremen für Aufsehen bei Medien und Politik. »Gegründet hatten wir uns, nach dem eine uns bekannte Person in die Fänge der Bremer Wegschließ-Maschinerie geriet«, sagte Benz. Was diese Person wie auch die Aktivist*innen selbst erfuhren hätten, sei der Motor des Engagements gewesen. Anfang 2017 berichteten verschiedene Medien über Klagen von Patient*innen der Forensik. Ihre Vorwürfe: Man habe sie tagelang an ihre Betten fixiert und zwangmedikamentiert, anstatt geeignete Therapiemaßnahmen durchzuführen.

Die Berichte über entwürdigende Bedingungen auf der Akutaufnahmestation des Klinikums Bremen-Ost führten zu Nachfragen, auch der Bürgerschaftsfraktionen von LINKEN, SPD und den Grünen. Nachdem im Mai 2017 ein 31-Jähriger in der Forensik im Klinikum-Ost an Herzstillstand starb, wuchs die Kritik an den Zuständen noch weiter.
Derzeit ist das Thema jedoch wieder aus den Schlagzeilen. »Es gab weder personelle Konsequenzen, noch ermittelt Polizei und Staatsanwaltschaft objektiv«, sagte Benz. Auch der Umgang mit den Patient*innen sei kein anderer als vorher. Daher setzen die Aktivistin und ihre Mitstreiter*innen statt auf die die Skandalisierung von spektakulären Einzelfällen auf die bundesweite Kooperation von psychiatriekritischen Initiativen, wie der Irrenoffensive und dem Bundesverband der Psychiatrieerfahrenen.

Die Gruppe knüpft damit an ein lange weitgehend vergessenes Arbeitsfeld des gesellschaftlichen Aufbruchs von 1968 an. Theoretische Kritik an der Psychiatrie und die praktische Organisierung von Psychiatriebetroffenen waren ein wesentlicher Bestand von diesem gewesen. Der Regisseur Gerd Kroske hatte jüngst mit seinem Film »Der SPK-Komplex« an diese Geschichte am Beispiel des Sozialistischen Patient*innenkollektivs aus Heidelberg erinnert.

Am Ende des Film betont Kroske, dass eine psychiatriekritische Bewegung heute kaum vorhanden, aber noch immer nötig wäre. Dass dieser Befund für Bremen nicht zutrifft, erklärt Julia Benz mit regionalen Gründen. »Bremen bricht einige Rekorde in Bezug auf Krankenhausbetten pro Einwohner und bei Zwangseinweisungen.« Doch sie verweist darauf, dass auch bundesweit die Tendenz zunimmt, abweichendes Verhalten zu psychiatrisieren. Der Fall von Gustl Mollath sei nur eines von vielen Beispiele. Der Nürnberger wurde in Bayern von Gerichten seit 2006 mehrmals in die Psychiatrie eingewiesen. Erst nach acht Jahren entließ man ihn als Justizopfer nach einem Wiederaufnahmeverfahren.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1099462.forensik-die-brutale-realitaet-der-psychiatrie.html

Peter Nowak

Alles für alle

Lexikon der Bewegungssprache

Auf dem rechtskonservativen Internetblog »Tychis Einblick« wird vor »der Phrase mit der großen Durchschlagkraft« gewarnt. Gemeint ist die Parole »Alles für alle«. Drei Worte, die sich in der außerparlamentarischen Linken seit jeher einer großen Beliebtheit erfreut. Der Ursprung der Parole reicht weit zurück in die Geschichte. Bereits im ausgehenden Mittelalter hatten sich sozialrevolutionäre Bewegungen, meistens häretische Christ*innen, das Motto »Omnia sunt communia« – »Alles gehört allen« auf ihre Fahnen geschrieben Es waren die Zapatist*innen aus Südmexiko, die mit ihren Aufstand 1994 dem alten sozialrevolutionären Motto zu neuer Popularität vor allem in der globalisierungskritischen Bewegung verholfen hatten. In den vergangenen Jahren wurde die Parole allerdings auch von der Werbeindustrie gekapert. »Alles für alle« soll Kund*innen in die bunte Warenwelt der Discounter locken. Der Zusatz »und zwar umsonst«, der auf linken Demonstrationen meistens auch skandiert wird, lässt man in der Werbung natürlich weg. Doch auch in linken Zusammenhängen hat man längst erkannt, dass die Parole vor allem einen Widerspruch – Verarmung in der Warenwelt – ausdrücken soll. Die Formulierung von Gegenkonzepten hingegen ist viel schwieriger. Sie lässt sich nicht mal eben in drei Worte fassen.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1099465.lexikon-der-bewegungssprache-alles-fuer-alle.html

Peter Nowak

Riot und Neoliberalismus

Warum die Aufstandsstrategie keine linke Perspektive bietet, ,linke Gewerkschaftsarbeit aber sehr wohl

Seit dem G20-Gipfel 2017 wird auch in Deutschland wieder verstärkt über Riots und Straßenmilitanz diskutiert. Nur bleibt der Großteil der Debatte…

„Riot und Neoliberalismus“ weiterlesen

Metoo: Kummerkasten von Mittelstandsfrauen oder neues feministisches Kampffeld?

Es handelt sich nicht um ein Mittelschichtsproblem, gerade Frauen mit wenig oder geringem Einkommen sind am stärksten auch von der sexuellen Unterdrückung betroffen

Welchen politischen Stellenwert hat eigentlich gesellschaftliche Liberalität – Feminismus, Antirassismus, LGBTI-Rechte, das gesamte Paket? Wo ist das auf der politischen Skala einzuordnen?“ Diese Frage [1] stellte die Publizistin und Kulturwissenschaftlerin Isolde Charim kürzlich in der Taz. Dort stellt sie fest, dass diese Werte nicht nur von der politischen Rechten, sondern auch von Teilen der Linken infrage gestellt würden.

Von linker Seite sehen sich aber die unterschiedlichen Phänomene, die wir unter gesellschaftlicher Liberalisierung zusammenfassen, auch massiven Angriffen ausgesetzt. Da werden sie als „Feigenblatt“ des neoliberalen Kapitalismus bezeichnet, hinter dem die wahren Ausbeutungsverhältnisse nur umso ungenierter betrieben werden. Als „Herrschaftsideologie einer globalisierten Klasse“. Als Klassenkampf der „neuen Mittelschichten“ gegen „die da unten“. Die Liste ließe sich fortsetzen. Klar ist, dass diese Kritik auch die Antriebsenergie jener ist, die nun #aufstehen wollen.

Isolde Charim

Nun sind unter den Zielen, der von Charim angesprochenen Aufstehen-Bewegung [2] tatsächlich keine explizit feministischen Ziele benannt. Nicht einmal die aktuell vieldiskutierte Abschaffung [3] des Paragraphen 219 , der jede Werbung für Abtreibungen verbietet und die Ärzte, die diese Dienstleistung anbieten, kriminalisiert, wird dort erwähnt. Das ist eine kritikwürdige Leerstelle, ebenso, wenn statt Kampf gegen Rassismus der politisch falsche Begriff Fremdenhass genannt wird.

Sahra Wagenknecht und die Me-Too-Debatte

Schon vor einigen Monaten hat sich die Aufstehen-Initiatorin Sahra Wagenknecht despektierlich über die Me-Too-Kampagne geäußert [4]:

Wenn wirtschaftliche Abhängigkeit ausgenutzt wird, um Frauen oder auch Männer zu belästigen, ist das eine üble Geschichte. Das gibt es mit Sicherheit auch im Bundestag, und dagegen muss mehr getan werden. Etwas anderes ist es, wenn solche Abhängigkeiten nicht existieren. Natürlich werde auch ich mal blöd angebaggert, aber da kann ich doch selbstbewusst Grenzen setzen, und muss mich nicht über Twitter ausweinen. Als Abgeordnete kann man sich wehren. Schlimm ist es, wenn man sich wegen finanzieller Abhängigkeit oder Angst um den Arbeitsplatz nicht wehren kann. Beide Situationen sollte man nicht miteinander vermengen.

Sahra Wagenknecht

Schnell machte in den sozialen Netzwerken die Meldung die Runde, nun habe sich Wagenknecht auch noch gegen feministische Kämpfe positioniert. In der Frankfurter Rundschau wurde ihr gar vorgeworfen [5], sie würde patriarchale Machtstrukturen nicht anerkennen und sei mit ihrer Position nicht weit von der konservativen Publizistin Birgit Kelle, die das Buch „Dann mach doch die Bluse zu“ herausgegeben hat.

Doch diese Kritik wird Wagenknecht nicht gerecht. Es ist nicht anzunehmen, dass sie mit der Formulierung „selbstbewusst Grenzen setzen“, das gemeint hat. Zudem wurde sie direkt nach sexistischer Anmache im Parlament gefragt und darauf hat sie geantwortet. Gleichzeitig hat sie klar erklärt, dass sie hier in einer privilegierten Position ist und auf die verwiesen, die sich wegen finanzieller Abhängigkeiten oder Angst um den Arbeitsplatz nicht so wehren können. Kritisieren könnte man, dass Wagenknecht hier keine konkreten Vorschläge macht, wie sich gerade diese Frauen wehren können. Das könnte beispielsweise die Einrichtungen von Rätinnen und Räten gegen sexistische Diskriminierung nicht nur, aber auch am Arbeitsplatz sein. Sie könnten in größeren Betrieben aber auch auf Stadtteilebene eingerichtet werden, weil ja solche sexistischen Angriffe dort genau so häufig vorkommen.

Betroffen sind in der patriarchalen Gesellschaft davon vor allem aber nicht nur Frauen. Wir haben bei der Me-Too-Debatte auch erfahren, dass auch Männer in bestimmten Branchen von Frauen unter Druck gesetzt werden. Auch für sie sollten diese Räte natürlich offen sein. Vorbild könnten die Gleichstellungsbeauftragen sein, die es seit den 1980er Jahren in vielen Verwaltungen und auch in größeren Betrieben gab.

Vom digitalen Kummerkasten zu Räten

Das wäre eine Weiterentwicklung der Me-Too-Bewegung, die vielerorts sehr viel gelobt, aber wenig kritisiert wurde. Dabei müsste es ein Allgemeinplatz sein, dass Kritik der Motor einer Bewegung und fehlende Kritik mittelfristig Stillstand heißt. In der Interviewpassage konnte man Wagenknechts despektierliche Äußerung, sich nicht ausweinen zu müssen, als eine solche Kritik verstehen.

Tatsächlich trägt dieser Ausdruck wenig dazu bei, dass die Betroffenen, die mit ihren Erfahrungen an die Öffentlichkeit gegangen sind, einige Schritte weitergehen. Denn tatsächlich wäre eine Me-Too-Bewegung als digitaler Kummerkasten kein Instrument der Gegenmacht. Es ist auch deutlich, dass die im Neoliberalismus zum Dogma erhobene Individualisierung hier voll reinschlägt. Es ist eben offensichtlich, dass alle Betroffene als Einzelne reden, dann sicher unterstützt werden, aber ein kollektiver Prozess nicht stattfindet, wie er sich noch vor Jahrzehnten in Streiks gegen Niedriglöhne für Frauen beispielsweise bei Pierburg [6] ausdrückte.

Da hilft es auch nicht, wenn von Behshid Najafi von einer Selbstorganisation migrantischer Frauen [7] nun nach Me Two, Me Three und Me Four gefordert [8] wird. Die zur Begründung genannte Mehrfachbetroffenheit von unterschiedlichen Unterdrückungsformen bei migrantischen Frauen ist vorhanden, aber sie nur in eigenen Erzählungen nebeneinanderzustellen, trägt nicht dazu bei, die Vereinzelung zu überwinden und zu gemeinsamen Kämpfen zu kommen.


Frauen mit wenig Einkommen am meisten betroffen

Es darf eben nicht dabei stehen bleiben, sich nur die unterschiedlichen Geschichten von Unterdrückungserfahrungen zu erzählen, es kommt darauf an, diese Unterdrückungen abzuschaffen. Da wird auch sehr schnell deutlich, dass es sich nicht um ein Mittelschichtsproblem handelt. Im Gegenteil, gerade Frauen mit wenig oder geringem Einkommen, sind am stärksten auch von der sexuellen Unterdrückung betroffen. Um da was zu ändern, müssen eben auch gesellschaftliche Strukturen in Frage gestellt werden.

Einige Beispiele dazu wurden auf einer Tagung der Berliner Mietergemeinschaft [9] zum Thema Bauen, Bauen, Bauen – sozial und kommunal [10] genannt, die hier dokumentiert [11] ist. Dort ging es auch um die unterschiedlichen Folgen der Wohnungsnot. Dora Zimmermann vom Verein Wildwasser [12] befasste sich mit den Auswirkungen für Mädchen und Frauen. So seien junge Frauen gezwungen, mit Brüdern unter einem Dach zu leben, die deren Leben überwachen und reglementieren wollen. Frauen falle es auch wegen der Wohnungsnot viel schwerer, sich von gewalttätigen Männern zu trennen. Das ist nur eines von vielen Beispielen, wie sexuelle Unterdrückung mit anderen Ausbeutungsmechanismen zusammenfällt. Das legt nahe, dass es auch nur gemeinsam bekämpft werden kann. Und es stellt sich dann die Frage, ob Me Too es schafft, vom digitalen Kummerkasten zu einer Plattform der Organisierung zu werden.

URL dieses Artikels:
http://www.heise.de/-4153174
https://www.heise.de/tp/features/Metoo-Kummerkasten-von-Mittelstandsfrauen-oder-neues-feministisches-Kampffeld-4153174.html

Peter Nowak

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.taz.de/Archiv-Suche/!5528111&s=&SuchRahmen=Print/
[2] https://www.aufstehen.de/
[3] https://www.sexuelle-selbstbestimmung.de/10127/gute-argumente-fuer-eine-streichung-von-%c2%a7-219a-stgb-fakten-statt-ideologie/
[4] https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/parteien/id_83083940/sahra-wagenknecht-im-interview-die-spd-schafft-sich-ab-.html
[5] http://www.fr.de/politik/meinung/kommentare/metoo-die-ignoranz-der-frauen-a-1431518
[6] http://www.labournet.de/politik/gw/geschichte/wilder-streik-das-ist-revolution-der-streik-der-arbeiterinnen-bei-pierburg-in-neuss-1973
[7] https://agisra.org/index.php?de_home
[8] http://www.taz.de/Archiv-Suche/!5527564
[9] https://www.bmgev.de
[10] https://www.bmgev.de/politik/bauen-bauen-bauen.html
[11] http://zweischritte.berlin/post/175450818498/bauen-bauen-bauen
[12] http://www.wildwasser-berlin.de/

DER KAMPF DER JASIC-ARBEITER*INNEN IM CHINESISCHEN SHENZEN

Arbeiter*innen der Shenzener Schweißgerätefabrik Jasic wehren sich gegen Gängelung und wollen eine Gewerkschaft gründen. Als der Staat zurückschlägt, entwickelt sich eine übergreifende Solidaritätsbewegung in China und darüber hinaus.

„Eine Gewerkschaft zu gründen ist kein Verbrechen. Unterstützt die Jasic-Arbeiter*innen von Shenzen“, ruft Shen Mengyu mit lauter Stimme. Um sie stehen Polizist*innen. Einige Männer und Frauen, die der Frau zuhören, applaudieren und am Ende singen sie eine Strophe der Internationale. Das Videos dieser Szenen verbreitete sich schnell über die sozialen Medien und die junge Frau mit der Brille und den langen schwarzen Haaren wurde zum Beispiel einer jungen Generation in China, die sich auch von Polizei und anderen Repressionsorganen des staatskapitalistischen Regimes nicht mehr einschüchtern lässt. Doch die Repressionsorgane haben mal wieder gezeigt, wie sie mit selbstorganisierten Arbeiter*innenprotesten umgehen. Am 11. August 2018 wurde Shen Mengyu von zwei Männern in Zivil in ein Auto gezerrt und ist seitdem verschwunden. Zunächst behauptete die Polizei, sie sei von ihrer Familie entführt worden. Die Version ließ sich nicht mehr aufrecht erhalten, als bekannt wurde, dass die Frau von der Polizei festgehalten werde. Wenige Tage später wurde ein weiterer Unterstützer der Jasic-Arbeiter*innen entführt. Er konnte allerdings nach wenigen Tagen entkommen und ist nach Shenzen zurückgekehrt.

CHINESISCHE STAATSGEWERKSCHAFT GEGEN SELBSTORGANISIERTE ARBEITER*INNENPROTESTE

In der Shenzener Schweißgerätefabrik Jasic wehrten sich Arbeiter*innen gegen ein Strafsystem, das selbst nach chinesischem Recht illegal ist. Beschäftigte bekamen Lohnabzüge, wenn sie zu spät kamen, wenn sie Essen in die Fabrik mitbrachten, wenn sie mit ihren Kolleg*innen sprachen oder wenn ihre Betriebsuniform nicht vollständig war. Gegen diesen Kasernenhofmethoden in der Fabrik wehrten sich die Beschäftigten und wollten eine Gewerkschaft gründen. Dabei beachteten sie genau die gesetzlichen Grundlagen für eine Gewerkschaftsgründung in China. Dort sind Gewerkschaften nur legal, wenn sie Teil des Allchinesische Gewerkschaftsverbands (AFCTU) sind. Der Vizepräsident der Staatsgewerkschaft AFCTU von Shenzen war mit der Gewerkschaftsgründung zunächst einverstanden. Doch die Jasic-Manager*innen waren von Anfang an dagegen und machten deutlich, dass sie eine Gewerkschaft keinesfalls zulassen wollen. Mehrere von ihnen sind auch in der Provinzregierung aktiv und nutzten ihren Einfluss. Plötzlich distanzierte sich auch der staatsnahe AFTCTU von der Gewerkschaftgründung und organisierte später bei Jasic eine gelbe Gewerkschaft. So konnte das Regime behaupten, dass es ja eine Gewerkschaft gebe. Derweil entließ man im Juli 2018 mehrere der Gewerkschaftsgründer*innen. Doch diese ließen sich von dieser chinesischen Form des Union-Busting nicht einschüchtern. Sie kamen jeden Tag zur Fabrik, um ihre Arbeit anzubieten, wurden aber vom Sicherheitsdienst nicht eingelassen. Am 27. Juli 2018 wurden schließlich siebenunzwanzig Arbeiter*innen, ihre Familien und Unterstützer*innen, wegen Unruhestiftung verhaftet. Vierzehn von ihnen befinden sich noch immer im Gefängnis.

AUSSERBETRIEBLICHE SOLIDARITÄT STÄRKTE ARBEITER*INNEN DEN RÜCKEN

Doch die Repression mobilisierte Studierende in ganz China. Kommiliton*innen von sechzehn Universitäten setzten ihre Namen unter einen Solidaritätsappell mit den Jasic-Anbieter*innen. Hunderte Studierende kamen nach Shenzen, um die Beschäftigten vor Ort zu unterstützen. Auf öffentlichen Plätzen und in Parks informierten sie über deren Kampf, kritisierten die Repression und riefen zur Solidarität auf. Die Kurzkundgebungen wurden meistens mit dem Absingen der Internationale beendet. Die Unterstützung wuchs. Selbst einige ältere Mitglieder der Kommunistischen Partei Chinas beteiligten sich an den Protesten. Für sie steht der aktuelle Turbokapitalismus Chinas im Widerspruch zu den maoistischen Idealen. Doch Shen Mengyu wurde zum Gesicht der Proteste. Sie hat Mathematik und Ingenieurwissenschaften studiert und war bereits wegen Gründung eines Arbeiter*innenkomitees in einer anderen Stadt entlassen worden. Ihre Entführung konnte den Protest nicht beenden. Weiterhin harrten hunderte Studierende in Shenzen aus. Sie kündigten an, die Stadt nicht zu verlassen, bis alle Arbeiter*innen und Unterstützer*innen freigelassen sind. Doch Ende August wurden sie von der Polizei verhaftet. Sie werden festgehalten, bearbeitet, in ihre Heimatorte deportiert, zwangsweise in ihre Heimatorte deportiert. Man will Friedhofsruhe in Shenzen schaffen und verhindern, dass die Arbeiter*innen in anderen Fabriken auf die Idee kommen, autonome Gewerkschaften zu gründen.

INTERNATIONALE SOLIDARITÄT MIT DEN JASIC-ARBEITER*INNEN

Lange Zeit war außerhalb von Shenzen nichts von dem Kampf der Jasic-Arbeiter*innen bekannt. Es war unabhängigen Solidaritätsstrukturen zu verdanken, dass sich das änderte. Im deutschsprachigen Raum hat Bärbel Schönafinger von der Plattform labournet.tv viel dazu beigetragen. Die von ihr mit deutschen Untertiteln versehenen Videos sorgten für Solidarität in verschiedenen Städten.

Mittlerweile hat auch die internationale Solidarität begonnen. Auf dessen Webseite stellt Labournet.de einen Musterbrief an die chinesische Botschaft bereit, in dem Gewerkschafter*innen die Freilassung aller im Jasic-Konflikt Verhafteten fordern:

Wir, als Aktive in Gewerkschaften und linken Organisationen in der BRD, können darin nichts, aber auch gar nichts Unrechtes sehen – über ihre Organisation und ihre Vertretung müssen Kolleginnen und Kollegen weltweit, unabhängig vom gesellschaftlichen System, das Recht haben, selbst zu entscheiden

In Berlin haben sich an einer Protest- und Solidaritätskundgebung vor der chinesischen Botschaft am 29. August 2018 auch FAU-Kolleg*innen beteiligt. Am 30. August 2018 informierten sich einige Kolleg*innen auf einer Informationsveranstaltung im Berliner FAU-Lokal. Es ist wichtig, dass die Solidarität mit den Jasic-Arbeiter*innen und ihren Unterstützer*innen jetzt nicht nachlässt. Das Kalkül der Manager und ihres Staates darf nicht aufgehen. Alle Verhafteten müssen freigelassen, die Kriminalisierung beendet werden. Denn die Gründung einer Gewerkschaft ist kein Verbrechen.

MEHR INFOS

https://www.scmp.com/…/chinese-maoists-join-students-fight-…
https://www.reuters.com/…/chinas-student-activists-cast-

Dozens Arrested After Worker Protests In Shenzhen


https://de.labournet.tv/jasic-arbeiterinnen-kaempfen-fuer-eine-echte-gewerkschaft

aus Direkte Aktion, 2. September 2018

Peter Nowak

………………………………………………………………………………………………………………………………………………..
Solidaritätserklärung der FAU-Berlin

Der Kampf der Jasic-Arbeiter*innen im chinesischen Shenzen

Solidarität mit den chinesischen Jasic-Arbeiter*innen und ihren
Unterstützer*innen!
Der Kampf der Jasic-Arbeiter*innen im chinesischen Shenzen
Im Zusammenhang mit dem Versuch von Arbeiter*innen, in der Schweißgerätefabrik Jasic im chinesischen Shenzen eine Gewerkschaft aufzubauen, hat sich eine sehr zugespitzte Situation von Repression und eine ungewöhnliche Solidaritätsbewegung für die kämpfenden Arbeiter*innen entwickelt.

Im Juli waren sieben Arbeiter entlassen worden, weil sie versucht hatten, eine Gewerkschaft aufzubauen. Die Proteste gegen die Entlassungen gingen den ganzen Monat über weiter und am 27. Juli wurden schließlich 29 Arbeiter*innen, Familienangehörige und Unterstützer*innen mit viel körperlicher Gewalt festgenommen und abgeführt.

Von den 29 Festgenommenen wurden 15 am 12. August entlassen. Sie
berichten, dass sie während ihrer Haft misshandelt und bedroht wurden.
Der Kampf um die Freilassung der verbleibenden Kolleg*innen geht weiter,
ebenso wie der Kampf der Arbeiter*innen für eine echte und repräsentative Gewerkschaft.

Seit diesen Verhaftungen haben Gruppen von mutigen Protestierenden vor der Polizeistation die Freilassung ihrer Kolleg*innen verlangt. Tausende Universitätsstudent*innen haben einen offenen Brief unterschrieben, in dem sie sich mit den Jasic Arbeiter*innen solidarisieren.

Die Repression hat schließlich staatsterroristische Züge angenommen, als am 11. August 2018 die Aktivistin Shen Mengyu entführt wurde. Mittlerweile wurden auch ca. 50 studentische Unterstützer*innen in Shenzen festgenommen, die meisten wurden in ihre Heimatorte deportiert. Auch in Peking wurden Unterstützer*innen der Jasic-Arbeiter*innen verhaftet.

Am 29. August berichteten Kolleg*innen von labournet.tv über den Kampf der Jasic-Arbeiter*innen, die Solidaritätsbewegung und die Staatsrepression.

Wir fordern die Freilassung aller im Zusammenhang mit dem Kampf der Jasic-Arbeiter*innen Verhafteten, die Einstellung aller repressiven Maßnahmen gegen sie und solidarisieren uns mit dem ihrem Kampf für eine Gewerkschaft, in der sie ihre Interessen vertreten kann.

Eine Gewerkschaftsgründung ist kein Verbrechen!

Hoch die transnationale Solidarität des Proletariats!

Mehr Infos:
https://www.reuters.com/article/us-china-labour-protests-insight/chinas-student-activists-cast-rare-light-on-brewing-labor-unrest-idUSKBN1L0060

Dozens Arrested After Worker Protests In Shenzhen


labournet.tv hat vor ein paar Tagen ein Videos mit deutschen Untertiteln
dazu veröffentlicht: https://de.labournet.tv/videos/jasic

https://berlin.fau.org/news/der-kampf-der-jasic-arbeiter-innen-im-chinesischen-shenzen

Ist Rassismus oder Ausländergewalt in Chemnitz das Problem?

Die Ereignisse der letzten Woche zeigten auch die fatale Schwäche einer linken Position

„Giffeys Besuch führt sie als erstes zu dem Tatort“, titelt Die Welt [1] über den Chemnitz-Besuch der Bundesfamilienministerin, die als erstes Mitglied der Bundesregierung in die sächsische Stadt gereist ist, seit sie im Brennpunkt steht. Doch was war die Ursache? Und was ist der Tatort?

Darüber tobt seit einer Woche der Streit, nicht nur in den Medien und sozialen Netzwerken, sondern auch auf Chemnitz Straßen. Das zeigte sich auch beim Giffey-Besuch: Im Welt-Artikel war der Tatort die Stelle in der Brückenstraße, wo ein Mann nach einer Messerattacke verblutet ist.

In anderen Meldungen wurde hervorgehoben, dass die Ministerin die Stadt besuchte, die in den vergangenen Tagen wegen rechter Demonstrationen in die Schlagzeilen geraten ist. Tatsächlich hat sich beides in den letzten Tagen in Chemnitz zugetragen. Doch seit einer Woche tobt der Streit, was das zentrale Problem in Chemnitz ist.

Von der Bürgerrechtlerin zur rechten Bürgerin

Da stehen sich zwei Lager gegenüber, die nicht so einheitlich sind, wie es den Anschein hat. Da ist das konservativ-nationalistische Lager, das die Grenzen in Deutschland dicht machen will und sich durchaus eine Art Orbán-Regierung für Sachsen wünscht. Dort sind Grenzen dicht und der christliche Bezug wird dort nicht über die Bergpredigt und das Kirchenasyl, sondern über das sogenannte „christliche Abendland“ definiert, das sogar bei manchen Ex-Linken heute auf Sympathie stößt.

Innerhalb dieses national-konservativen Spektrums tummeln sich Personen aus verschiedenen rechten Zirkeln. Erklärte Neonazis sind dabei aber nicht die Mehrheit. Manche, wie der PI-News Autor Michael Stürzenberger, der einen prowestlichen Rechtskonservatismus im Sinne der CSU unter F.J. Strauß mit einer klaren Islamfeindschaft kombiniert, bezeichnet die offenen Neonazis als „Linksnationalisten“ und fordert sie auf, ihre eigene Demonstrationen zu organisieren.

Andere aus dem rechtskonservativen Lager haben keine Probleme, mit offenen Neonazis zu demonstrieren. So setzt sich mit den Ereignissen in Chemnitz nur eine Entwicklung fort, die nicht erst 2015 mit der Zunahme der Migration einsetzte.

Seit mehr als 10 Jahren demonstrieren sogenannte konservative Bürger gemeinsam mit organsierten Neonazis gegen den Bau einer Moschee wie in Berlin-Heinersdorf, gegen Flüchtlingsunterkünfte und dann eben bei den Montagsdemonstrationen und Pegida.

Eigentlich aber reicht die Kooperation zwischen Neonazis und rechten Bürgern bis in den Herbst 1989 zurück, als aus der Parole der linken DDR-Opposition „Wir sind das Volk“ das nationalistisch „Wir sind ein Volk“ geworden ist.

Zwei der bekannten Bürgerrechtlerinnen, die heute die Sorgen der rechten Bürger teilen, sind Vera Lengsfeld [2] und Angelika Barbe [3]. Doch wie sie sehen auch andere ehemalige DDR-Bürgerrechtler in Pegida und Co. eine Fortsetzung der Demonstrationen vom Herbst 1989 in der DDR und meinen das positiv. Das hat Vera Lengsfeld in ihrer in national-konservativen Kreisen viel diskutierten Medienschelte „Die Hetze gegen das Volk“ [4] klar formuliert:

Den Anfang machte Bild mit einer Berichterstattung, die alle Regeln eines seriösen Journalismus verletzt. „Rechte ziehen durch Chemnitz“, titelt das Blatt und zieht dann vom Leder: 1000 Menschen, darunter viele Rechte, hätten sich am Sonntagnachmittag versammelt. Sie skandierten „Wir sind das Volk“. Der Ruf der Friedlichen Revolution von 1989 wird so en passant zum „rechten“ Slogan erklärt.

Vera Lengsfeld

Damit blamiert sie allerdings die vielen Grünen und Linksliberalen, die die DDR-Bürgerrechtler als die neuen Demokraten missverstanden hatten und jeglichen Vergleich mit den Rechten als SED-Propaganda bekämpften.

Es waren nur wenige schlaue Linke auch in der BRD, wie der Konkret-Herausgeber Hermann L. Gremlitza [5], die von Anfang an nicht an die Erzählung von den großen Demokratiepotentialen der Bürgerrechtsbewegungen in der DDR glaubten und das völlig unabhängig davon, wie man das DDR-System einschätzte.

Daher ist es umso erstaunlicher, dass manche ehemals deutschlandkritische Linke wie der Rote Salon Leipzig [6] in dem Bemühen, Anschluss an die liberale Moderne zu finden, fast all ihre früheren Erkenntnisse dementieren und sowohl den Anschluss der DDR als auch den Jugoslawienkriege nachträglich verteidigen.

Weltoffen für den Wirtschaftsstandort Deutschland oder für die Menschenrechte?

Aber auch das sogenannte liberal-weltoffene Lager, das sich im Streit um die Interpretation der Ereignisse von Chemnitz in der letzten Woche den Rechten entgegenstellte, ist keineswegs homogen. Da finden sich viele, denen es um den Erhalt von Menschenrechten geht, manche sehen hierin die Voraussetzung für weitergehende linke Utopien.

Doch auch Wirtschaftsliberale, die wissen, dass die deutsche Wirtschaft schon mittelfristig Arbeitsplätze braucht, heißen natürlich Migranten willkommen. Da wird auch schon geklagt, dass die Negativpresse über Chemnitz die Bewerbung zur Europäischen Kulturhauptstadt 2025 [7] gefährden könnte.

Einer derjenigen, der diese Bewerbung unterstützt, wird in der Taz als parlamentarischer Vertreter des weltoffenen Chemnitz bezeichnet: der Unternehmer Lars Fassmann [8]. Fassmann hat auch nichts dagegen, als Gentrifizierer bezeichnet zu werden, was dann in der Taz als „Räume besetzen“ [9] umschrieben wird.

Was aber nicht nur in der Auseinandersetzung um Chemnitz fehlt, ist eine linke staats- und kapitalismuskritische Position, bei der eben „weltoffen“ nicht zum Synonym für Gentrifizierung wird. Es ist dann nicht ausgeschlossen, dass es zwischen einer solchen eigenständigen antagonistischen Position und der liberalen Fraktion in bestimmten Fragen Kooperationsmöglichkeiten gibt.

Aber das würde bedeuten, dass eine Linke erst einmal eigenständig wahrnehmbar ist. Das Fehlen einer solchen Position lässt sich am Beispiel Chemnitz in den letzten Tagen gut beobachten. Da fragt die liberale Taz, die Polizeieinsätze gegen Demonstrationen sonst heftig kritisiert, warum in Chemnitz nicht Polizei aus anderen Bundesländern angefordert wurde – was inzwischen auch geschehen ist.

Linke sollten nicht die Position des Staatsschutzes übernehmen

Es ist natürlich völlig berechtigt, darauf hinzuweisen, mit welchem Polizeiaufgebot die Staatsmacht im letzten Jahr gegen eine Antifa-Demo in Wurzen [10] vorgegangen ist. Doch das kann aus einer linken und eigentlich auch aus einer liberalen Perspektive nicht dazu führen, dass nun beklagt wird, dass nicht auch in Chemnitz SEK eingesetzt wird.

Auch die Titulierung der Chemnitzer Demonstrationen als „Aufmärsche“ oder „Aufzüge“ ist zu hinterfragen. Solche Begrifflichkeiten werden in der Regel bei Demonstrationen angewandt, die den liberalen Rahmen, den die Staatsmacht wünscht, überschreiten. Dabei nehmen erst einmal Menschen mit unterschiedlicher politischer Gesinnung ein Demonstrationsrecht wahr. Es ist für eine Linke klar, dass sie sich gegen rechte Positionen auf der Straße wendet, auch mit Gegendemonstrationen und Blockaden.

Es ist aber nicht sinnvoll, sich dabei auf die Position einer Polizeibehörde zu begeben, die solche Demonstrationen möglichst ganz verhindern will. Dabei sollte man auch die Taktik der Überskandalisierung hinterfragen. Die harten Polizeieinsätze gegen linke Demonstrationen werden dadurch vorbereitet, indem wochenlang vor Gewalt gewarnt wird wie im Vorfeld von Wurzen [11].

Es sind vor allem diese rechten Bürger, die jetzt in Chemnitz auf die Straße gehen, die dann harte Hand gegen die Linke fordern. Nun sollten diese nicht den Fehler machen, eine ebenso harte Hand gegen die Rechte zu fordern. Und es ist auch noch eine illusionäre Forderung, weil repressive Staatsorgane strukturell rechts sind, was sich auch an Polizeieinsätzen gegen Punks und Unangepasste in der DDR zeigte.

Jetzt also die Staatsmacht aufzufordern, sie solle doch jetzt mal genau so hart gegen Rechte wie gegen Linke vorgehen, zeugt von der Schwäche der Linken. Da hilft es auch nicht, wenn man dann besonders drastische Begriffe für die Zustände in Chemnitz benutzt und von „Pogromen“ auf den Straßen der Stadt spricht.

Damit wird man auch den Opfern von tatsächlichen Pogromen in der Vergangenheit und Gegenwart nicht gerecht. Vor allem besteht die Gefahr, dass durch solche alarmistischen Meldungen die Sensibilität für reale Probleme sinkt. Denn manchen, die in den letzten Tagen in Chemnitz auf der Straße waren, sind solche Gedanken durchaus zuzutrauen.

Der geleakte Haftbefehl

Das Fehlen einer linken Position wurde auch bei dem geleakten Haftbefehl [12] deutlich. Was auch immer das Motiv des verantwortlichen Justizangestellten gewesen ist, im Sinne der Transparenz von staatlichen Akten ist nicht einzusehen, warum solche Dokumente geheim bleiben sollen.

Es geht dabei nicht um den Schutz des Verdächtigten, sondern um Staatsschutz. Daran sollte sich eine Linke nicht beteiligen. Die Rechte kann daraus nur Vorteile ziehen, weil scheinbar alle Anhänger des weltoffenen Lagers hier die Staatsraison verteidigen. Dabei kann mit dem Haftbefehl, die in rechten Netzwerken verbreitete Story von den 25 Messerstichen widerlegt werden können, die zur Emotionalisierung der rechten Klientel diente.

Das aber bedeutet nicht, die tödlichen Stiche irgendwie zu relativieren oder unter den Tisch zu kehren. Auch hier konnte das rechte Lager von den Fehlern der anderen Seite profitieren. Anfangs schien der Tote fast nur eine Fußnote und die rechten Demonstrationen standen im Mittelpunkt für das weltoffene Lager. Die Rechte konnte dann noch damit punkten, dass das Opfer einen kubanischen Vater hatte und man so kein Rassist sein könne.

Warum konnte die Ablehnung der rechten Demonstrationen auf Seiten der Gegner nicht verbunden sein mit einer Kritik an den zuweilen toxischen Männergruppen, die dann auch Tote in Kauf nehmen?

Dabei sollten ausdrücklich keine ethnischen Zuschreibungen gemacht werden. Die Täter handelten nicht als Syrer, Iraker etc., sondern als Individuen in konkreten Lebenssituationen. Wieweit dabei Prägungen in ihren Heimatländern, auf der Flucht oder bei ihrem Leben in Deutschland eine Rolle spielen, muss Gegenstand von weiteren Ermittlungen sein.

Zwangshomogenisierung unterschiedlicher Wirklichkeiten

Doch schon jetzt ist klar, dass die Zwangsunterbringung von Migranten an Orten, wohin sie nie wollten, solche Taten eher fördern als verhindern, weil damit auch eine Zwangshomogenisierung völlig unterschiedlicher Individuen verbunden ist, die nur eines gemeinsam haben: Dass sie aus dem gleichen Land oder der gleichen Region geflohen sind.

Die Gründe dafür sind so unterschiedlich wie ihre Lebensrealitäten. Da können ehemalige syrische IS-Kämpfer und ihre Opfer im deutschen Flüchtlingsheim zwangsweise zusammen treffen. Der Kampf gegen diese Zwangshomogenisierung der Migranten müsste ebenso Teil einer linken Praxis „nach Chemnitz“ sein wie die Abwehr der Romantisierung von Flucht und Migration, wie sie in Teilen der Refugees-Welcome-Bewegung anzutreffen war.

Jenseits von rassistischen Ressentiments und Verklärung

Der preisgekrönte Film Global Family [13], der noch bis 3.9. in der Arte-Mediathek [14] abgerufen werden kann, bietet ein solches Bild jenseits von rassistischen Ressentiments und Verklärung. Am Beispiel einer somalischen Familie wird gezeigt, wie auch innerhalb der Familie selbst gegen eine 90-Jährige Gewalt ausgeübt wird. Man will den Wunsch der alten Frau unterstützen, in Deutschland, wo einer ihrer Söhne lebt, ihre letzten Jahre zu verbringen und bekommt Wut auf die Verhältnisse, die das verhindern.

Man bekommt aber auch einen Grimm auf ihren Sohn, der lieber sein ungebundenes Leben weiterführen will, als seiner Mutter ihren Herzenswunsch zu erfüllen. Denn die Übersiedlung der Mutter nach Deutschland scheitert im Film zumindest daran, dass er keine geregelte Arbeit und auch keine geeignete Wohnung für sie nachweisen konnte.

Nun hätte man annehmen können, dass so ein Nachweis mit etwas Anstrengung hätte beigebracht werden können. Es ist nur eins von vielen Beispielen, wo man sich einen differenzierten Blick wünscht. Das ist die Voraussetzung, dass eine Linke auch wieder Mehrheiten in der Bevölkerung gewinnen kann.

Momentan ist da in Chemnitz wenig Hoffnung. Die Teile der Bevölkerung, die für eine Orbanisierung Deutschlands eintreten, sind nicht offen für linke Themen und da kann sie sich auch alle Versuche sparen.

Doch die Linke soll sich vorbereiten auf Situationen, in denen die Zumutungen der kapitalistischen Gesellschaft auch durch die Ethnisierung des Sozialen und Politischen nicht zugekleistert werden können.

URL dieses Artikels:
http://www.heise.de/-4152859
https://www.heise.de/tp/features/Ist-Rassismus-oder-Auslaendergewalt-in-Chemnitz-das-Problem-4152859.html

Peter Nowak

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.welt.de/politik/deutschland/article181372086/Familienministerin-in-Chemnitz-Giffeys-Besuch-fuehrt-sie-als-Erstes-an-den-Tatort.html
[2] https://vera-lengsfeld.de
[3] https://www.cicero.de/taxonomy/term/2653
[4] https://vera-lengsfeld.de/2018/08/28/die-hetze-gegen-das-volk/
[5] https://konkret-magazin.de/start/gremlizas-kolumne.html
[6] http://roter-salon.conne-island.de/abschied-ohne-traenen-warum-sich-die-linke-angesichts-der-krise-des-westens-so-ungeruehrt-zeigt/
[7] http://www.chemnitz2025.de/
[8] https://www.brandeins.de/corporate-publishing/sachsen-machen/der-leise-visionaer
[9] http://www.taz.de/!5529389/
[10] https://www.mdr.de/sachsen/leipzig/demo-in-wurzen-nach-ausschreitungen-100.html
[11] http://www.lvz.de/Region/Wurzen/Wurzen-zwischen-Angst-und-Resignation-Polizei-zeigt-Praesenz-vor-Antifa-Demo
[12] https://www.tagesspiegel.de/politik/sachsen-geleakter-haftbefehl-justizbeamter-stellt-sich-ermittlungen-gegen-abgeordnete/22976240.html
[13] http://www.max-ophuels-preis.de/programm/film_detail/movie-5a37dd3da1679
[14] https://www.arte.tv/de/videos/058915-000-A/global-family/

Der Enkel-Trick

Der Täter des Nationalsozialismus gedenken? Hohenschönhausen macht’s möglich.

Die Kritik an den rechtsradikalen Positionen des Berliner Historikers ist von der Meinungsfreiheit gedeckt«, kommentierte der Jura-Professor Andreas Fischer-Lescano im Juni 2016 in einem Gastbeitrag in der »Frankfurter Rundschau« eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Köln. Es hatte entschieden, dass der Lehrstuhlinhaber für die Geschichte Osteuropas an der Berliner Humboldt-Universität, Jörg Baberowski, als rechtsradikal und rassistisch bezeichnet werden darf.

Im Februar 2014, ein Jahr vor Erscheinen seines Buches Räume der Gewalt, hatte Baberowski in einem Interview mit dem »Spiegel« den revisionistischen Historiker Ernst Nolte verteidigt. Nolte »wurde Unrecht getan. Er hatte historisch Recht.« Baberowski bezog sich auf Noltes Leugnung der Singularität des Holocaust, die 1986 den Historikerstreit ausgelöst hatte. Damals warnten Fachkollegen wie Jürgen Habermas vor einem revisionistischen Trend in der Geschichtswissenschaft. Die NS-Verbrechen sollen durch aufrechnende Vergleiche mit anderen Massenverbrechen zugunsten eines einheitlichen nationalkonservativen deutschen Geschichtsbilds eingeebnet werden, so die Kritiker Noltes.

Es versteht Baberowski allerdings miss, wer ihm vorwirft, dass er Hitler und Stalin auf eine Stufe stelle: »Hitler war kein Psychopath, er war nicht grausam. Er wollte nicht, dass an seinem Tisch über die Judenvernichtung geredet wird. Stalin dagegen hat die Todeslisten voller Lust ergänzt und abgezeichnet, er war bösartig, er war ein Psychopath.« Solche Aussagen qualifizieren Baberowski für seine neue Aufgabe. Für die Gedenkstätte Hohenschönhausen koordiniert er einen »Forschungsverbund zur Erfassung und Analyse der politischen Repression in SBZ und DDR«. Er soll ein Register mit den Namen aller Opfer des Kommunismus in Deutschland erstellen.

Am 27. Juli hat das erste Arbeitstreffen dieses Forschungsverbunds stattgefunden. Das Vorhaben wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit mindestens 5,3 Millionen Euro gefördert. »Eingang in die Datenbank sollen zunächst lediglich jene Kommunismus-Opfer finden, die zwischen 1945 – der Einrichtung der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) – und 1989 inhaftiert, deportiert oder getötet wurden. Wenn wir den Opferbegriff zu weit fassen, also auch die von Zersetzungsmethoden der Stasi Betroffenen einschließen, werden es zu viele«, erläuterte der Sprecher der Gedenkstätte Hohenschönhausen, André Kockisch.

Der Opferbegriff ist allerdings weit genug gefasst, um alle NS-Täter aufzunehmen. Jeder verhaftete Nazi: ein Opfer des Kommunismus. Besonders perfide ist die Tatsache, dass die Gedenkstätte Hohenschönhausen die Datenbank der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem, in der die Opfer der Shoah namentlich verzeichnet sind, zum Vorbild für ihr Projekt erklärt hat. NS-Judenmörder, die auf dem Gebiet der SBZ verhaftet oder während der Waldheimer-Prozesse verurteilt wurden, werden mit ihren Opfern gleichgesetzt.

Die Angeklagten der Waldheimer-Prozesse konnten, nachdem die BRD-Justiz auch auf dem Gebiet der ehemaligen DDR wieder galt, ihre Rehabilitierung beantragen. Einige noch lebende Richter und Staatsanwälte der Prozesse wurden wegen Freiheitsberaubung und Rechtsbeugung angeklagt. Die für die Waldheimer-Prozesse zuständige Justizministerin Hilde Benjamin konnte einer Anklage nur entgehen, weil sie wenige Monate vor dem Fall der Mauer starb. Die Antifaschistin und NS-Verfolgte, die wesentliche Reformen im Familienrecht der DDR angestoßen hatte, war wegen ihrer kompromisslosen Verfolgung der NS-Täter zum besonderen Hassobjekt von Rechten aller Couleur geworden. Die mit ihrer Hilfe Verurteilten können nun im Register der Gedenkstätte Hohenschönhausen als Opfer des Kommunismus aufgeführt werden.

Vor einigen Wochen musste sich Hubertus Knabe, Leiter der Gedenkstätte, von Siegmar Faust, einem ehemaligen »DDR-Bürgerrechtler« und langjährigen Mitstreiter, trennen. Im Gespräch mit der »Berliner Zeitung« hatte sich Faust nicht nur zur AfD bekannt, sondern auch die Verurteilung von Horst Mahler wegen seiner notorischen Holocaust-Leugnung gerügt. Mit Blick auf die Shoah fragte Faust, ob die Zahl von sechs Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden denn »heilig« sei. Er verstehe, dass die Verbrechen der Nazi-Zeit noch heute ein Thema seien, »aber irgendwann muss das mal ein bissl aufhören. Man darf es nicht übertreiben.«

Man darf Faust Glauben schenken, wenn er sagt, dass es in Hohenschönhausen nur wenige gibt, die anders denken als er. Der Historiker Jens Gieseke, der Mitglied im Beirat der Gedenkstätte Hohenschönhausen und Historiker am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam ist, teilt diese Einschätzung. »Ich betrachte mit Sorge die wachsende Nähe der Gedenkstätte Hohenschönhausen zur AfD und ihrem Rechtspopulismus«, erklärte er der »Berliner Zeitung«. Der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete Stephan Hilsberg wirft dem Vorsitzenden des Fördervereins der Gedenkstätte Hohenschönhausen, Jörg Kürschner, AfD-Nähe vor. Er habe zudem den Beitritt des AfD-Vorstandsmitglieds Georg Pazderski in den Förderverein forciert.

In Hohenschönhausen können die Nazis von heute also bald ganz offiziell der Nazis von gestern gedenken. Von der DDR verurteilt und bestraft zu werden adelt noch jeden Kriegsverbrecher. So geht gelebter Geschichtsrevisionismus; und Ernst Nolte rotiert im Grab – vor Freude.

Peter Nowak schrieb in konkret 6/18 über die Propaganda der Polizeigewerkschaften

aus: konkret 9/18
https://www.konkret-magazin.de/hefte/id-2018/heft-92018/articles/der-enkeltrick.html

Peter Nowak

Staatlich geförderte Unsicherheit


Ein Buch über prekäre Arbeit spart nicht mit Kritik an Gewerkschafte
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»Vor 15 Jahren, am 14. März 2003, verkündete Gerhard Schröder in einer Regierungserklärung die Pläne der rot-grünen Bundesregierung zur Umstrukturierung des Sozialsystems und des Arbeitsmarktes, die später unter dem Namen Agenda 2010 bekannt werden sollten.« Mit dieser historischen Reminiszenz leitet Stefan Dietl sein kürzlich im Unrast-Verlag erschienenen Buch »Prekäre Arbeitswelten – von digitalen Tagelöhnern bis zur Generation Praktikum« ein. Schließlich war die Agenda 2010 der Schlüssel für die Prekarisierung des Arbeitsmarktes. Sie war politisch gewollt und kein unbeabsichtigter Kollateralschaden, macht Dietl immer wieder deutlich.

Leiharbeit, Werkverträge, Minijobs, Befristungen – fast 40 Prozent der Beschäftigten in Deutschland arbeiten inzwischen in derlei prekären Arbeitsverhältnissen. Für die Betroffenen bedeuten sie häufig niedrige Löhne, geringe soziale Absicherung und ständige Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes.

In seinem Buch stellt Stefan Dietl zunächst neuere Formen der Prekarität vor. Von der »kapazitätsorientierten variablen Arbeitszeit« – Teilzeitarbeit auf Abruf – bis zur Gig-Ökonomie. bei der kleine Aufträge kurzfristig an unabhängige Freiberufler oder geringfügig Beschäftigte vergeben werden, reichen die Arbeitsverhältnisse, die den Lohnabhängigen Rechte vorenthalten, die sie in den letzten Jahrzehnten erkämpft haben. Ein eigenes Kapitel widmet sich den Wanderarbeiter*innen, deren Zahl in den letzten Jahren stark zugenommen hat.

Im zweiten Teil des Buches stehen die Formen von atypischen Beschäftigungsverhältnissen im Mittelpunkt, die seit Einführung der Agenda 2010 boomen. Dabei zeigt Dietl, wie kreativ gesetzliche Bestimmungen umgangen werden. »So stellen immer mehr Unternehmen nur noch Praktikumsplätze zur Verfügung, wenn Bewerber*innen sich zuvor bescheinigen lassen, dass es sich um ein Pflichtpraktikum handelt – obwohl sie sich eigentlich um ein mindestlohnpflichtiges, freiwilliges Praktikum beworben haben.« In einem eigenen Kapitel zeigt Dietl, dass der Mindestlohn wegen seiner Ausnahmeregelungen für viele prekär Beschäftigte keine Verbesserungen bringt. Nur die Selbstorganisation der Betroffenen könne ihre Situation verbessern, betont er.

Obwohl seit Jahren bei ver.di aktiv, spart Dietl nicht mit Kritik an den Gewerkschaften. So erinnert er an die gewerkschaftlichen Vertreter*innen in der Hartz-IV-Kommission und kritisiert die Entscheidung, einen Tarifvertrag für Leiharbeiter*innen zu schließen, der dem Grundsatz gleicher Lohn für gleiche Arbeit zuwiderläuft. Auch im Umgang mit dem wachsenden Heer von Haushaltshilfen sieht Dietl Defizite. Statt auf die Organisierung der Betroffenen setze man auf staatliches Durchgreifen gegen Schwarzarbeit.

Im letzten Kapitel zeigt Dietl, wie sich Beschäftigte gegen prekäre Arbeitsverhältnisse wehren. Als herausragendes Beispiel erwähnt er einen Streik im Bremer Mercedes-Werk gegen die Einführung von Leiharbeit von 2012. Der lokale IG-Metall-Vorstand lehnte damals jede Unterstützung ab. Auch weitere Beispiele von Widerstand prekär Beschäftigter – mit Unterstützung der Basisgewerkschaft FAU, aber auch von DGB-Gewerkschaften – werden benannt und können Leser*innen Anregungen geben.

Stefan Dietl: Prekäre Arbeitswelten. Von digitalen Tagelöhnern bis zur Generation Praktikum, Unrast Verlag 2018, 72 Seiten, 7,80 Eu

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1098952.staatlich-gefoerderte-unsicherheit.html

Peter Nowak

„Aufstehen“ plus „Unteilbar“: Wegbereiter besserer Verhältnisse?

Können die beiden Reform-Bündnisse zusammen demonstrieren? Der beste Schutz gegen rechts findet nicht auf Großdemonstrationen statt

„Solidarität statt Ausgrenzung – für eine offene und freie Gesellschaft“, lautet das Motto einer für den 13. Oktober geplanten Großdemonstration [1]. Dass die Pressemitteilung dazu kurz nach den Ereignissen von Chemnitz veröffentlicht wurde, ist einerseits Zufall.

Andererseits ist Chemnitz nur Ausdruck eines gesellschaftlichen Rechtsrucks, der in dem Aufruf des Bündnisses „Unteilbar“ so benannt wird:

Es findet eine dramatische politische Verschiebung statt: Rassismus und Menschenverachtung werden gesellschaftsfähig. Was gestern noch undenkbar war und als unsagbar galt, ist kurz darauf Realität. Humanität und Menschenrechte, Religionsfreiheit und Rechtsstaat werden offen angegriffen. Es ist ein Angriff, der uns allen gilt. Wir lassen nicht zu, dass Sozialstaat, Flucht und Migration gegeneinander ausgespielt werden. Wir halten dagegen, wenn Grund- und Freiheitsrechte weiter eingeschränkt werden sollen.

Bündnis Unteilbar [2]

Das ist ein richtiger Befund. Doch die Frage ist, ob sich hier vor allem die letzten Verteidiger des Liberalen treffen, die Carole Ehmke zur Erbauung und Jan Böhmermann zum Spaß hören? Die beiden prominenten Liberalen gehören zu den Erstunterzeichnern [3] des Aufrufs des Bündnisses „Unteilbar“.

Wo bleiben die sozialen Rechte?

Am 13. Oktober will man nicht nur gegen Rassismus auf die Straße gehen, sondern auch andere Ausbeutungsverhältnisse thematisieren.

Wir treten für eine offene und solidarische Gesellschaft ein, in der Menschenrechte unteilbar, in der vielfältige und selbstbestimmte Lebensentwürfe selbstverständlich sind. Wir stellen uns gegen jegliche Form von Diskriminierung und Hetze. Gemeinsam treten wir antimuslimischem Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Antifeminismus und LGBTIQ*- Feindlichkeit entschieden entgegen.

Bündnis Unteilbar [4]

In der Tat ist es wichtig, dass in Zeiten, in denen eine rechte Hegemonie in Teilen Deutschlands Realität zu werden droht, diejenigen, die darunter als erstes zu leiden haben, auf die Straße gehen. Nur darf man aber nicht die Widersprüche bei der Addition der von den Rechten verfolgten Minderheiten ausblenden. So hat die Journalistin Birgit Gärtner in mehreren Telepolis-Beiträgen [5] aus feministischer Perspektive auf die Gewalt aufmerksam gemacht, die von moslemischen Männergruppen ausgeht [6].

Was in dem Aufruf weitgehend ausgeblendet wird, ist die soziale Unterdrückung. Schließlich muss man sich die im Aufruf erwähnten „vielfältigen und selbstbestimmten Lebensentwürfe“ auch leisten können.Viele Niedrigverdiener und Hartz IV-Empfänger mit und ohne Lohnarbeit haben damit Schwierigkeiten.

Daher wäre es sinnvoll, den Kampf gegen Rassismus, den Antifaschismus und den Antifeminismus mit dem Kampf gegen soziale Ausgrenzung und Unterdrückung zu verbinden. Es ist völlig verfehlt, hier einen Gegensatz aufzumachen, wie es in manchen linken Kreisen getan wird.

In dem Unteilbar-Aufruf wird die soziale Frage nur am Rande angeschnitten: „Man will den Sozialstaat verteidigen und für Grund- und Freiheitsrechte auf die Straße gehen“, heißt es dort knapp. Auch der Pflegenotstand und die Wohnungsnot werden erwähnt. Wie die Verteidigung des Sozialstaats aussehen soll, wird allerdings nicht weiter aufgeführt.

Hartz-IV wird nicht angesprochen und natürlich wird man dort keine Kapitalismuskritik finden, was aber bei einer solcher Bündnisbreite auch nicht zu erwarten ist. Positiv ist allerdings, dass auch sozialpolitische Gruppen wie die Tafel e.V. [7], das Erwerbslosenforum und der Deutsche Mieterbund wie auch andere, sozialpolitisch engagierte Organisationen [8]Teil des Bündnisses sind. Sinnvoll wäre es gewesen, wenn auch ein Teil ihrer Forderungen mit aufgenommen worden wären.

„Aufstehen“ und „Unteilbar“ verbinden?

Auch der Publizist Matthias Greffrath kritisierte in einem Taz-Kommentar [9], dass das Unteilbar-Bündnis sozialpolitisch nicht besonders akzentuiert ist. Er fragt sich, ob er sich entscheiden muss zwischen zwei Bündnissen – #unteilbar und #Aufstehen.

„Aufstehen“ [10] , dem Projekt von Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine, kann nachgesagt werden, dass es die soziale Frage in den Mittelpunkt stellt und dabei Unterdrückungsformen wie Rassismus und Antifeminismus so kurz abzuhandelt, wie es im Unteilbar-Bündnis mit den sozialen Themen geschieht.

Zurück zur SPD der 1960er Jahre?

Greffrath will sich nicht zwischen beiden Bündnissen entscheiden. Er sieht beide für notwendig an und wünscht sich am Ende eine SPD der 1960er Jahre zurück.

Ein Aufbruch für eine „ökumenische Linke“ tut not oder, warum nicht gleich: für eine Neugeburt der Sozialdemokratie. Jener Partei, die – nach Godesberg – auf die Teilhabe an der Wachstumsmaschine Kapitalismus setzte und deren Niedergang begann, als das Wachstum ausblieb, sich beschleunigte, als Kanzler Schmidt die ökologische Krise nicht wahrhaben wollte, und noch einmal, als sie unter dem Autokanzler Schröder – unter konstant erfolglosem Murren des linken Flügels – der neoliberalen Illusion erlag.

Matthias Greffrath, Taz

Der Taz-Kommentator vergaß nur zu erwähnen, dass die SPD schon vor 100 Jahren die Rolle als Arzt am Krankenbett des Kapitalismus eingenommen und mit Godesberg die letzten sozialistischen Wurzeln gekappt hat, was auch konsequenterweise zum Rauswurf der letzten Sozialisten führte. Sich eine solche SPD zurückzuwünschen, ist nicht nur illusionär, sondern auch politisch falsch.

Wenn man schon auf Traditionen setzt, dann bitte auf jene der Räte, die vor 100 Jahren tatsächlich eine Revolution machten, die von der SPD mit Hilfe der Freikorps niedergeschlagen wurde. Seitdem kann es keine positiven Bezüge mehr zur SPD geben. Deshalb bringt es auch wenig, die einzelnen Bündnisse wie Schachfiguren hin- und her zu schieben.

Es ist gut möglich, dass es in irgendeiner Form eine Kooperation zwischen „Unteilbar“ und „Aufstehen“ geben wird. Schließlich verstehen sich beide als Reformbündnisse. Nur sollte man sehen, welche begrenzten Wirkungen solche Großdemonstrationen haben.

Der beste Schutz gegen rechts

Einflussversuche verschiedener Parteien sorgen eher für mehr Streit. Wichtiger aber für Veränderungen im Land sind Kämpfe im Alltag, in den Tagen im Jahr, an denen es keine Großdemonstrationen gibt. In den Alltagskämpfen an Arbeitsplätzen, Universitäten, Schulen, Jobcenter entscheidet sich wahrscheinlich mehr als an den Großdemonstrationen, in welche Richtung die Gesellschaft geht.

Der beste Schutz gegen rechts ist eine konsequente Interessenvertretung. Da hat der Sozialaktivist Elmar Wigand recht, wenn er den Pilotenstreik bei Ryan-Air als Meilenstein in der transnationalen Gewerkschaftsbewegung [11] versteht.

Das heißt nicht, dass Großdemonstrationen wie am 13.10. überflüssig sind. Sie können aber nur dann gesellschaftlich etwas bewirken, wenn sie nicht ein solitäres Ereignis sind, sondern Inspirationen für diese Alltagskämpfe geben.

Peter Nowak

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[4] https://www.unteilbar.org/
[5] https://www.heise.de/tp/features/Die-oeffentliche-Hinrichtung-der-ermordeten-Irina-A-4048667.html
[6] https://www.heise.de/tp/features/Klappmesser-gibt-es-schon-fuer-2-50-Euro-4024448.html
[7] http://www.tafel.de/ueber-uns/aktuelle-meldungen/aktuelle-meldungen-2018/grossdemo-des-buendnisses-unteilbar-am-1310-in-berlin/
[8] https://www.unteilbar.org/wir/erstunterzeichnende/
[9] http://www.taz.de/!5528251/
[10] https://www.aufstehen.de/
[11] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1096996.streik-bei-ryanair-internationalismus-als-selbstverteidigung.html

Ömer Bilin HDP-Mann droht die Abschiebung

Wie das BAMF im Fall von Ömer Bilin die Zustände in der Türkei verharmlost

Tausende Oppositionelle sitzen in der Türkei in Gefängnissen. Darunter sind gewählte Mandatsträger*innen, zahlreiche Mitglieder, aber auch einfache Unterstützer*innen der linken Oppositionspartei HDP. Viele fliehen in das europäische Ausland. Dazu gehört auch Ömer Bilin. Der HDP-Unterstützer ist zunächst aus der Türkei nach Irak geflohen, wo er einige Zeit lebte. Von dort war er am 10. August 2018 mit dem Flugzeug nach Deutschland eingereist. Am Frankfurter Flughafen stellte er einen Asylantrag. Dieser Antrag wurde vor einigen Tagen vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit der Begründung abgelehnt, es gäbe keine Folter in der Türkei, daher könne dem Antragsteller auch keine Folter drohen.

In dem Bescheid des Bundesamtes wird der Regierung der Türkei bescheinigt, alle gesetzgeberischen Mittel eingesetzt zu haben, um Folter und Misshandlung in der Türkei zu unterbinden. »Diese Behauptung steht in einem so deutlichen Widerspruch zu den tatsächlichen Verhältnissen, dass sie entweder nur als zynisch oder als offene Bekundung der Zusammenarbeit mit dem Unterdrückerregime verstanden werden kann«, kritisierte Bilins Rechtsanwalt Berthold Fresenius.

Ömer Bilin habe sich im Rahmen der HDP aktiv für Demokratie und die Rechte der Kurd*innen in der Türkei eingesetzt, betonte der Jurist. Mehrere seiner Verwandten würden wegen ihrer Oppositionspolitik gegen das Erdogan-Regime verfolgt. Im Sommer 2018 sei ein Cousin, der jahrelang an verantwortlicher Stelle in der HDP aktiv war, nach Deutschland geflohen.

Fresenius listete gegenüber »nd« Gründe auf, warum sein Mandant in akuter Gefahr wäre, wenn man ihn ausliefern würde. Zwei in der Türkei festgenommene Verwandte seien bei Verhören nach Ömer Bilin befragt worden. Ihnen wurde vorgehalten, dass es sich um einen Terroristen handele. Im Jahr 2015 sei zudem in zahlreichen türkischen Zeitungen ein Lichtbild von Bilin gemeinsam mit dem Bild des Bruders des inhaftierten ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtas verbreitet worden. Beiden wurde dort die Mitgliedschaft in der kurdischen Arbeiterpartei PKK vorgeworfen. Bereits 2012 sei gegen seinen Mandanten wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung ermittelt worden, bestätigte Fresenius gegenüber »nd«. Zwei türkische Rechtsanwälte hätten bestätigt, dass es in der Türkei noch immer einen Suchbefehl gegen seinen Mandanten gebe. Im Gespräch mit »nd« monierte Fresenius auch den Umgang der Ausländerbehörde mit Ömer Bilin, der nun am Flughafen in Frankfurt festsitzt. »Mein Mandant wurde, bevor mir der ablehnende Bescheid zugestellt wurde, zwangsweise dem türkischen Konsulat vorgeführt. Dort erklärte man ihm ganz offen, er werde bei einer Ablehnung seines Asylantrages auf dem Flughafen festgenommen und gefesselt nach Ankara gebracht. Seine juristischen Mittel gegen die Ausweisung sind sehr begrenzt«, betonte der Rechtsanwalt. »Gegen eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts im Flughafen-Eilverfahren ist keine Beschwerde möglich. Es bliebe nur der Weg nach Karlsruhe – sollte die Abschiebung durch die Bundespolizei nicht sofort erfolgen.«

Doch vielleicht kann politischer Druck die Auslieferung noch verhindern. »Ömer Bilin darf kein Geschenk für Erdoğan bei dessen anstehendem Besuch in Deutschland werden«, fordern auch linke Solidaritätsgruppen.

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Peter Nowak