Für ein Nein in Griechenland aus unterschiedlichen Gründen

Manchmal hat man den Eindruck, nicht in Griechenland, sondern in Deutschland würde heute abgestimmt über die Austeritätspolitik

Einige der politischen Kräfte, die die Austeritätspolitik unterstützen, würden Griechenland gerne aus den Euro weisen. Da darüber nun Deutschland nicht abstimmen kann und ein Rausschmiss auch in den Statuten der Eurozone nicht vorgesehen ist, hoffen manche, dass ein „Nein“ zur Austeritätspolitik in Griechenland ein Ende der EU-Mitgliedschaft des Landes befördern würde.

Hoffen auf den Grexit

Zu den Anhängern dieser Lesart gehört der Publizist Jürgen Elsässer, einst Theoretiker einer antinationalen Linke, der seit einigen Jahren das Volk zu seiner Bezugsgruppe erklärt „Ich stimme mit Nein, ich stimme für Tsipras“, schrieb [1] Elsässer:

„Zum einen, weil endlich der einzig richtige Gedanke in die Praxis umgesetzt wird, dass das Volk entscheiden muss (ein Gedanke, den Wagenknecht für Deutschland aufgegriffen hat, aber – typisch für einen Volksfeind – von Augstein im obigen Kommentar verworfen wird…). Zum anderen, weil der Sieg des Nein genau das herbeiführen wird, was Tsipras eigentlich gar nicht will: den Grexit.

Ohne Annahme der Spardiktate werden die internationalen Kapitalgeber nämlich den Geldhahn für Griechenland nicht mehr aufdrehen. Es bleibt Tsipras in dieser Situation gar nichts anderes übrig, als – zunächst parallel zum Euro – eine eigene Währung einzuführen, um Gehälter, Renten, Sozialleistungen auszuzahlen. Durch den Sieg des Nein entsteht also eine Dynamik, die über die falsche Ideologie von Syriza hinaustreibt. Syriza wäre in dieser Situation auch dazu gezwungen, zur Bekämpfung der Armut im eigenen Land endlich die Vermögen der reichen Oligarchen anzutasten, also echten Sozialismus zu betreiben – anstatt den bequemen Weg zu gehen und sich das fehlende Kapital vom deutschen Steuerzahler zu besorgen.“

Ein Ende der alternativlosen Tina-Politik

Mit seinem Statement reagiere Elsässer auf eine Erklärung [2] von Jakob Augstein, der auf Spiegel-Online sein Plädoyer für ein Nein zu dem Austeritätsprogramm so begründete:

„Es geht nicht nur um die Zukunft Griechenlands. Sondern um die Frage, ob in Europa das Geld regiert. Das geht uns alle an.“

Augstein sieht in einer Mehrheit gegen die Austeritätspolitik auch ein Scheitern Merkels. Nur so würde in Europa eine relevante Strömung auch über Griechenland hinaus entstehen, die mit der scheinbar alternativlosen Politik der Austerität und des Diktates der Märkte bricht. Ein Nein in Athen würde auch kapitalismuskritischen Bewegungen in anderen europäischen Ländern wie Italien, Portugal und Spanien Auftrieb geben.

Dabei geht es nicht nur um Wahlergebnisse, sondern auch einen erneuten Aufbruch auf den Straßen und Plätzen. Schließlich soll nicht vergessen werden, dass der Wahlsieg von Syriza ohne die Bewegung der Empörten nicht möglich gewesen, die in den Jahren 2010 bis 2012 auf den großen Plätzen griechischer Straßen gegen die Politik der Austerität demonstrierten und von einem großen Polizeiaufgebot mit Tränengas und Wasserwerfern empfangen wurde. Damals gingen auch in Spanien und vielen andereneuropäischen Ländern Menschen mit ähnlichen Forderungen auf der Straße.

Dass die EU-Eliten vor einem Wideraufflammen einer solchen Bewegung große Angst haben und deswegen die Tsipras-Regierung als kurze Episode in EU-Geschichte gerne schnell verabschieden wollen, machte heute im Interview [3] mit dem Deutschlandfunk noch einmal der EU-Parlamentspräsident Martin Schulz deutlich. Dabei zeigte sich, dass der Schulterschluss zwischen Sozialdemokraten, Liberalen und Konservativen, wie wir ihn in den letzten Wochen in Deutschland beobachten konnten, auch im EU-Parlament funktioniert. Während Schulz die Korruption in Griechenland kritisiert, singt er ein Loblied auf EU-Kommissionspräsident Juncker, dem selbst die konservative Welt bescheinigt [4], dass er sich aus dem Luxemburger Korruptionssumpf nach Brüssel gerettet hat.

Mit der gleichen Chuzpe lobt sich Schulz in dem Interview selber dafür, dass er angeblich der Versuchung widerstanden habe, in Griechenland Wahlkampf zu machen. Dass er mehrmals erklärte, dass er sich einen schnellen Abgang von Tsipras wünsche, scheint für ihn kein Wahlkampf zu sein. Wenn Schulz nun erklärt: „Ich glaube, eine Reihe von Leuten in seiner Partei, die um jeden Preis einen anderen Weg gehen wollen. Sie setzen alle Dinge außer Kraft, die sie mit den europäischen Partnern vereinbart haben“, zeigt sich in wenigen Sätzen das Elend einer Sozialdemokratie, die nichts mehr hasst, als andere Wege. Damit ist Schulz nur das Abziehbild von Sigmar Gabriel, der in den letzten Wochen die Konservativen im politischen Kampf rechts überholen will.

„Politik wird durch Zwang ersetzt“

Schulz und Gabriel verweisen die Chimärevon der angeblichen Mehrheit links von der Union, die ein Bündnis mit Grünen, SPD und Linkspartei angeblich möglichwürde, auf den ihr zugehörenden Platz: als Hoffnungsprogramm für prekäre linke Akademiker, die sich einen Posten in einer der vielen Kommissionen, die angeblich das politische Feld für diese Kombination bereiten sollen, erhoffen.

Da ist in diesen Tagen sogar eine altgediente rechte SPD-Frontfrau wie Gesine Schwan schlauer. Die später vor allem als Universitätspräsidentin bekannt gewordene Schwan hatte Ende der 1980er Jahre die SPD einmal verlassen, weil sie ihre Partei für zu linkslastig hielt. Nun kritisiert sie in einem Interview [5] mit der Wochenzeitung Freitag eine EU, die die griechische Regierung auf die Einhaltung eines Austeritätsprogramms verpflichten will, das mit ihrer Wahl in Griechenland eindeutig abgewählt worden war.

„Die EU tut sich mit dem Interessenausgleich zurzeit extrem schwer. Das konnte man auch beim Flüchtlingsgipfel vergangenes Wochenende sehen, wo der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi entsetzt war über den Mangel an Solidarität unter den Mitgliedsstaaten. In der derzeitigen Situation verschweigt man da gern auch, dass Griechenland trotz seiner schwierigen Lage sehr viele Flüchtlinge aufnimmt und sich bemüht, sie menschlich unterzubringen“, moniert Schwan den Zustand des unsolidarischen Europa.

Um eine Stellungnahmezu den deutschnationalen Ausfällen von Sigmar Gabriel [6] gebeten, der über Bild verkündete, der deutsche Arbeiter werde sich nicht durch eine in Teilen kommunistische Regierung erpressen lassen, antwortete Schwan: „Ich habe ihn wissen lassen, dass ich nicht glauben kann, dass er das gesagt hat. Wenn er es aber wirklich gesagt haben sollte, schäme ich mich dafür.“

Dass hat auch schon der Wirtschaftsexperte Gustav Horn getan [7], der vor wenigen Tagen auch erklärte, erwürde aus ökonomischen Gründen heute in Griechenland mit Nein stimmen.

„Deutschland hat nie gezahlt“

Am Freitag waren in Berlin und einigen anderen Städten noch einmal außerparlamentarische Linke [8] auf die Straße gegangen, die von Gabriel nicht enttäuscht sind und sich auch nicht für ihn schämen, weil sie keine Erwartungen in ihn und seine Partei hatten und haben. Dort stand neben der Werbung für ein Oxi in Athen die Kritik an der Rolle Deutschlands nicht nur bei der Austeritätspolitik im Mittelpunkt.

Aktivisten der antinationalen Gruppen Top Berlin und Cosmonautilus [9] wurden von der Polizei eingekesselt und festgenommen, weil sie Deutschland mit „Scheiße“ in Verbindung gebracht haben. Mittlerweile wurde das inkriminierte Motto auch zu anderen Anlässen [10] verwendet. Es könnte sich eine jahrelange auch juristische Auseinandersetzung wiederholen, wie sie in den 90er Jahren beim Slime-Refrain „Deutschland muss sterben, damit wir leben können“ geführt wurde. Erst nach vielen Jahren wurde juristisch anerkannt [11], dass er unter die Kunstfreiheit fällt. Zuvor wurden immer wieder Flugblätter mit dem Slogan beschlagnahmt und Lautsprecherwägen durchsucht, wenn das Lied gespielt wurde.

Doch unabhängig vom Wortlautkönnte man auch einfach die Parole „Deutschland hat nie gezahlt“ [12] (), verwenden, mit dem der Ökonom Thomas Pickettyan einige historische Fakten, die hierzulande nicht gerne gehört werden, erinnerte. Dabei hat er noch einen für Griechenland wichtigen Fakt nicht erwähnt. Deutschland hat die im NS-Regime erpressen Darlehen [13] ebensowenig beglichen, wie Reparationen für die Verbrechenzwischen 1940 und 1944 bezahlt und noch in den 1950er Jahren die Freilassung der wenigen verurteilten Täter aus Wehrmacht und NS mit Erpressung an die griechische Regierung durchgesetzt.Im Zusammenhang mit dem griechischen Referendum wird zumindest zeitweise daran wieder erinnert.

http://www.heise.de/tp/news/Fuer-ein-Nein-in-Griechenland-aus-unterschiedlichen-Gruenden-2735302.html

Peter Nowak

Links:

[1]

https://juergenelsaesser.wordpress.com/2015/07/03/ich-stimme-mit-nein-ich-stimme-fur-tsipras/#more-7472)

[2]

http://www.spiegel.de/politik/ausland/augstein-zu-griechenland-nein-zum-referendum-kolumne-a-1041705.html

[3]

http://www.deutschlandfunk.de/griechenland-schulz-warnt-vor-nein-beim-referendum.868.de.html?dram%3Aarticle_id=324536

[4]

http://www.welt.de/debatte/kommentare/article134116041/Der-Luxemburg-Sumpf-des-jovialen-Herrn-Juncker.html

[5]

https://www.freitag.de/autoren/jan-pfaff/politik-wird-durch-zwang-ersetzt

[6]

http://www.bild.de/politik/ausland/alexis-tsipras/vize-kanzler-gabriel-macht-griechen-chefs-schwere-vorwuerfe-41350198.bild.html

[7]

http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/gustav-horn-ueber-sigmar-gabriel-es-gab-spd-chefs-die-sich-fuer-so-etwas-geschaemt-haetten/11917634.html

[8]

http://griechenlandsoli.com/2015/07/02/oxi-aktionen-in-mehr-als-einem-dutzend-deutschen-stadten/

[9]

http://cosmonautilus.blogsport.de/2015/07/03/deutschland-du-alte-scheisse/

[10]

http://www.watson.ch/!451641669

[11]

https://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rk20001103_1bvr058100.html

[12]

http://www.zeit.de/2015/26/thomas-piketty-schulden-griechenland

[13]

http://griechenlandsoli.com/2015/04/26/zuruckzahlen-deutschland-muss-endlich-seine-bestehenden-kreditschulden-an-griechenland-begleichen/

Streiks im Erziehungs- und Pflegebereich

Aus der Perspektive der Krise der sozialen Reproduktion betrachten!
Interview mit Gabriele Winker*

Die jahrelange Vernachlässigung von Investitionen in die öffentliche Daseinsvorsorge zugunsten der Profitsteigerung mündet in einen nicht mehr tragbaren Raubbau an den Kräften der dort Beschäftigten. Die meisten Streiks drehen sich derzeit um Probleme der Arbeitsüberlastung und die auch finanziell zu geringe Anerkennung der Berufe im «Dienst am Menschen». Die Sozialwissenschaftlerin Gabriele Winker sieht darin eine Krise der sozialen Reproduktion überhaupt und ordnet sie ein in die umfassende, aktuelle Krise des Kapitalismus.

Was verstehen Sie unter Care Revolution?
Das Konzept Care Revolution nimmt einen grundlegenden Perspektivwechsel vor. Das ökonomische und politische Handeln darf nicht weiter an Profitmaximierung, sondern es muss an menschlichen Bedürfnissen, primär der Sorge umeinander, ausgerichtet sein. Eine Gesellschaft muss sich also daran messen lassen, inwieweit sie grundlegende Bedürfnisse gut und für alle Menschen realisieren kann. Dazu gehört eine hervorragende soziale Infrastruktur. Nicht zuletzt um dieses hohe Gut für alle streiken die Erzieherinnen und Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter derzeit.

Was hat der aktuelle Kita-Streik mit Care Revolution zu tun?
Die Streikenden in Kitas und weiteren sozialen Einrichtungen haben nicht nur unsere grundlegende Solidarität verdient, sondern wir sollten sie auch in unserem ureigensten Interesse tatkräftig unterstützen. Erzieherinnen gehören zu den Care-Beschäftigten: Sie kümmern sich um unsere Kinder. Dies beinhaltet vielfältige anspruchsvolle Tätigkeiten, die stereotyp Frauen zugeordnet werden. Da in Familien vor allem Frauen unentlohnt für die Kindererziehung zuständig sind, wird in der Konsequenz auch der Beruf der Erzieherin schlecht entlohnt. Dies ändert sich auch derzeit nicht, obwohl es einen zunehmenden Fachkräftemangel gibt.
Nach wie vor ist der Umgang mit Technik, der männlich konnotiert ist, deutlich höher entlohnt als der mit Menschen. Das hat auch viel damit zu tun, dass Technik in der Güterproduktion und der produktionsnahen Dienstleistung profitabel eingesetzt werden kann, während aus kapitalistischer Perspektive Erziehungsarbeit nur mit Kosten verbunden ist. Dabei sind die Löhne der Beschäftigten ein wichtiger Kostenfaktor ebenso wie die Personalausstattung, die es deswegen zu reduzieren gilt.

Auf welche theoretischen Prämissen stützen Sie sich beim Konzept «Care Revolution»?
Einerseits bin ich beeinflusst von der zweiten Frauenbewegung [die der 70er und 80er Jahre]. Bereits in den 70er Jahren wurde in diesem Rahmen auch in der BRD dafür gekämpft, die nicht entlohnte Hausarbeit als gesellschaftlich notwendige Arbeit anzuerkennen. Dies führten bspw. Gisela Bock und Barbara Duden in ihrem Beitrag zur Berliner Sommeruniversität für Frauen 1977 aus. In den 90er Jahren begannen dann im US-amerikanischen Kontext Debatten um die Care-Arbeit.
Mit diesem Begriff verweist bspw. Joan Tronto sehr früh darauf, dass Menschen in ihrem ganzen Leben immer Sorge von anderen benötigen und somit nicht völlig autonom leben können, sondern ihr Leben vielmehr in interdependenten Beziehungen gestalten. Davon habe ich gelernt, dass Menschen als grundlegend aufeinander Angewiesene zu begreifen sind. Meine Vorstellung von einer solidarischen Gesellschaft, die ich als Ziel einer Care Revolution entwickele, baut deswegen auf menschliche Solidarität und Zusammenarbeit.

Wer ist Träger der neuen Care-Revolution-Bewegung?
Auffallend ist, dass es im entlohnten Care-Bereich in Bildung und Erziehung sowie Gesundheit und Pflege, aber auch im unentlohnten Care-Bereich ausgehend von Sorgearbeit in Familien viele kleine Initiativen gibt, bspw. Elterninitiativen, Organisationen von pflegenden Angehörigen, Gruppen von Menschen mit und ohne Behinderungen, Initiativen von und für Flüchtlinge, aber auch aktive Ver.di- und GEW-Gruppen sowie queer-feministische und linksradikale Gruppen, die das Thema Care aufnehmen.
Viele engagieren sich für bessere politisch-ökonomische Rahmenbedingungen, damit sie für sich und andere besser sorgen können. Alleine und vereinzelt sind sie allerdings bisher zu schwach, um im politischen Raum wahrgenommen zu werden und eine grundlegende Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen zu erreichen. Deswegen steht hinter dem Begriff Care Revolution die Idee, diese Gruppen nicht nur über den Begriff zu verbinden, sondern darüberhinaus auch gegenseitig aufeinander zu verweisen und darüber eine sichtbare Care-Bewegung zu entwickeln.

Können Sie Beispiele nennen?
In Treffen und Aktionen kommen bspw. Care-Beschäftigte in Krankenhäusern und Altenpflegeheimen mit pflegenden Angehörigen und Menschen zusammen, die aufgrund von körperlichen Einschränkungen oder Krankheiten zeitlich aufwändig für sich sorgen müssen. Wir alle können morgen von Krankheit betroffen sein und sind dann auf gute Pflege angewiesen. Und die staatliche Kostensenkungspolitik trifft nicht nur die Care-Beschäftigten in allen Bereichen gleichermaßen, sondern in der Folge auch Familien, Wohngemeinschaften und andere Lebensformen – etwa wenn Patienten «blutig» entlassen werden oder notwendige Gesundheitsleistungen für Kassenpatienten gestrichen werden.
Diese Zusammenhänge sind auch in linken politischen Zusammenhängen noch viel zu wenig präsent. Nur wenn sich etwa Erzieherinnen und Eltern oder beruflich und familiär Pflegende als gesellschaftlich Arbeitende begreifen, können sie sich auf Augenhöhe in ihren Kämpfen um ausreichende Ressourcen und gute Arbeitsbedingungen unterstützen. Dies gilt unter dem Aspekt der Selbstsorge auch für Assistenzgebende und Assistenznehmende.

Warum sind Sie der Meinung, dass das Problem der Sorgearbeit im Kapitalismus nicht gelöst werden kann?
Das Ziel kapitalistischen Wirtschaftens ist Profitmaximierung. Dies ist nur durch den Einsatz von Arbeitskraft zu erreichen, die allerdings tagtäglich und auch über Generationen hinweg immer wieder neu reproduziert werden muss. Der sich daraus ergebende Widerspruch, dass einerseits die Reproduktionskosten der Arbeitskraft möglichst gering gehalten werden sollen, um die Rendite nicht allzu sehr einzuschränken, gleichzeitig aber diese Arbeitskraft benötigt wird, ist dem Kapitalismus immanent. Grundvoraussetzung für die Aufrechterhaltung dieses widerspruchsvollen Systems ist, dass ein großer Teil der Reproduktion unentlohnt abgewickelt wird.
Mit der technologischen Entwicklung lassen sich nun zwar Güter und produktionsnahe Dienstleistungen schneller herstellen, nicht aber Care-Arbeit, zumindest nicht, ohne dass es zu einer massiven Verschlechterung der Qualität kommt. Denn Care-Arbeit ist kommunikationsorientiert und auf konkrete, einzelne Menschen bezogen und damit sehr zeitintensiv. Dies hat die Auswirkung, dass in diesem Bereich Produktivitätssteigerungen, die nicht gleichzeitig die Qualität der Care-Arbeit verschlechtern, nur begrenzt möglich sind. Es kommt zu einer Krise der sozialen Reproduktion, die ich als Teil der Überakkumulationskrise sehe.

Wie kann verhindert werden, dass viele sich doch wieder nur mit kleinen Verbesserungen begnügen?
Die sozialen Auseinandersetzungen um all die kleinen Reformschritte gilt es permanent zu verbinden mit dem Eintreten für eine Gesellschaft, in der alle – solidarisch und gemeinschaftlich organisiert – die jeweils eigenen Fähigkeiten entwickeln können.
Dies bedeutet bspw., dass bei Auseinandersetzungen um verbesserte Bildungsfinanzierung gleichzeitig die kollektive Selbstorganisation des Bildungssystems ohne Zugangsbeschränkungen eingefordert wird. Bei Aktionen von streikenden Ärzten und Pflegekräften muss darauf hingewiesen werden, dass es auch bei einer besseren Personalausstattung noch viele Menschen gibt, die grundsätzlich von der Krankenversorgung ausgeschlossen sind. Auch lassen sich all diesen politischen Auseinandersetzungen im Care-Bereich mit Forderungen nach gesellschaftlicher Teilhabe verbinden.
Wird diese Verknüpfung bei allen politischen Aktionen konsequent durchgeführt, ist Care Revolution eine Strategie, die Reformen nutzt, damit möglichst viele Menschen bereits heute sinnvoller arbeiten und besser leben können, gleichzeitig aber in diesen Auseinandersetzungen erkennen, dass letztlich darüber hinausgehende, gesellschaftliche Veränderungen erforderlich sind.
Wichtig ist also, in sozialen Auseinandersetzungen um Reformen die Perspektive anderer in den Blick zu nehmen, für die Inklusion aller Menschen einzutreten sowie eine grundlegende gesellschaftliche Teilhabe durch demokratische Strukturen einzufordern.
Diese Ziele sind ohne Rücksicht auf die Frage zu verfolgen, ob sie im Rahmen des derzeitigen politisch-ökonomischen Systems realisierbar sind. Eine solche Strategie nannte Rosa Luxemburg 1903 «revolutionäre Realpolitik».

* Gabriele Winker lehrt und forscht an der TU Hamburg-Harburg und ist Mitbegründerin des Feministischen Instituts Hamburg sowie des bundesweiten «Netzwerks Care Revolution». Im vergangenen Jahr war sie Mitorganisatorin der Aktionskonferenz «Care Revolution» in Berlin, bei der verschiedene im Bereich sozialer Reproduktion tätige Gruppen und Personen zusammenkamen (siehe SoZ 5/2014). Im März 2015 erschien im Transcript-Verlag ihr Buch Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft.

http://www.sozonline.de/2015/07/streiks-im-erziehungs-und-pflegebereich/

Interview: Peter Nowak


Solidarität mit Veit Wilhelmy!

Konkurrenz zwischen DGB-Gewerkschaften führt zur Kündigung?

Ein Solidaritätsaufruf für gekündigte Gewerkschafter ist in diesen Tagen wahrlich nicht selten. Doch der von zahlreichen Gewerkschaftern unterzeichnete Offene Brief gegen die Entlassung von Veit Wilhelmy richtet sich an den Vorstand der IG BAU (IG Bauen-Agrar-Umwelt).
Wilhelmy war seit Jahren im Rhein-Main-Gebiet als Gewerkschaftssekretär im Bereich Gebäudereinigung aktiv. Dass der IG-BAU-Vorstand Wilhelmy gleich viermal fristlos gekündigt hat, liegt nicht daran, dass er in der Mitgliederwerbung erfolglos gewesen wäre. Vorgeworfen wird ihm, dass er auch in einem Betrieb, der zur IG BCE gehört hat, Mitglieder geworben hat. Nun ist es längst kein Geheimnis mehr, dass es zwischen DGB-Gewerkschaften eine heftige Konkurrenz um die Mitglieder gibt. Dass deswegen Gewerkschaftsmitglieder gekündigt werden, ist hingegen neu.
Als weiteren Kündigungsgrund führte der IG-BAU-Vorstand gegen Wilhelmy an, er habe einen Unternehmer wegen Behinderung einer Betriebsratswahl angezeigt, ohne sich zuvor die Vollmacht vom Bundesvorstand der Gewerkschaft geholt zu haben. Aktive Gewerkschafter an der Basis würden sich oft mehr Gewerkschaftssekretäre wünschen, die auch mal unbürokratisch handeln. Beim dritten Vorwurf, Wilhelmy habe eine Kollegin zu vergünstigen Bedingungen in die Gewerkschaft aufgenommen, fragt man sich, wieviel Entscheidungsfreiheit den Sekretären eigentlich gelassen wird.
Wilhelmy ist seit Jahren über gewerkschaftliche Kreise hinaus als Initiator des Wiesbadener Appells bekannt, der das Recht auf politischen Streik in Deutschland fordert. 2009 hatte Wilhelmy auf einem Gewerkschaftstag der IG BAU gegen den Willen des Vorstands einen Antrag für ein umfangreiches Streikrecht erfolgreich durchgesetzt. Es ist unwahrscheinlich, dass die Kündigungen nichts mit diesen Aktivitäten Wilhelmys zu tun haben, wie der Vorstand der IG BAU betont. Schließlich haben auch in der Vergangenheit verschiedentlich Einzelgewerkschaften Gewerkschaftssekretären gekündigt, die sich besonders für die Rechte der Kollegen einsetzten und dafür auch bereit waren, Konflikte mit Unternehmen und der Politik in Kauf zu nehmen. Ein Beispiel dafür war 2007 die Kündigung des thüringischen Ver.di-Sekretärs Angelo Lucifero,   der ebenfalls über Gewerkschaftskreise hinaus für sein antifaschistisches Engagement bekannt war.

Solidarität mit Veit Wilhelmy!

aus: SoZ,  Juli 2015

Peter Nowak

Wer siegt im Griechenland-Poker?

Gefangene büßen zusätzlich durch Altersarmut

Organisationen und nun auch eine eigene Gewerkschaft fordern von Justizministern die Einbeziehung von Strafgefangenen in die Rentenversicherung

Fast 40 Jahre alt ist die Forderung nach einer Rentenversicherung für ehemalige Strafgefangene. Die Justizminister sind damit nun erneut konfrontiert.

Das Grundrechtekomitee führt den Resozialisierungsauftrag der Gesellschaft ins Feld: Danach sollen die Lebensbedingungen von ehemaligen Strafgefangenen weitestmöglich den üblichen Lebensbedingungen angeglichen werden. Schädlichen Folgen der Haft ist entgegenzuwirken. Martin Singe vom Komitee erinnert zudem an die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze. Diese fordern die Einbeziehung von Gefangenen in die Sozialversicherungssysteme. Trotzdem gibt es in Deutschland keine gesetzliche Rentenversicherung für Strafgefangene. Das Grundrechtekomitee, die Bundesarbeitsgemeinschaft Straffälligenhilfe (BAG-S) und weitere Organisationen der Straffälligenhilfe haben deshalb die Justizministerkonferenz aufgefordert, diesen Missstand endlich abzuschaffen.

Erneut aufgefordert, muss man sagen. Sozialstaatsgebot, Gleichheitsgrundsatz und Resozialisierungsprinzipien, die Martin Singe zur Begründung anführt, veranlassten bereits vor fast vier Jahrzehnten eine Mehrheit der Parlamentarier im Bundestag zum Handeln. Im 1976 beschlossenen und 1977 in Kraft getretenen Strafvollzugsgesetz wurde eine Regelung für die Einbeziehung von Gefangenen in die Rentenversicherung angekündigt. Als Bemessungsgröße waren 90 Prozent des Durchschnittslohns aller Versicherten angegeben. In den 70er Jahren diskutierten auch kritische Juristen, Kriminologen und Strafrichter ausführlich über die Stärkung von sozialen und politischen Rechten von Strafgefangenen. Es gab dazu einen Kongress in Bielefeld; ein Buch zum Thema im Suhrkamp-Verlag wurde mehrmals aufgelegt. Mit der Stärkung der Gefangenenrechte sollte die Leitidee der Resozialisierung vorangetrieben werden.

Doch das versprochene Bundesgesetz ist bis heute nicht erlassen worden. Zumindest ist das Thema wieder in der öffentlichen Debatte, seit das Grundrechtekomitee 2011 eine Internetpetition mit der Forderung initiierte, die Einbeziehung der Gefangenen in die Rentenversicherung endlich umzusetzen. Dass das angekündigte Gesetz so lange verschleppt wurde, liegt auch daran, dass Gefangene keine Lobby haben. Noch immer gibt es in der Öffentlichkeit Stimmen, die zu einer Freiheitsstrafe verurteilten Menschen soziale Rechte verweigern wollen.

Seit mehr als einem Jahr macht sich auch die im Mai 2014 gegründete Gefangenengewerkschaft/bundesweite Organisation (GG/BO) für die Rechte der Gefangenen stark. In einem Offenen Brief an die Bundesjustizminister wird der Ausschluss der Häftlinge aus der Rentenversicherung als politisch nicht zu rechtfertigen und juristisch zumindest fragwürdig bezeichnet. »Der durch die fehlende Rentenversicherung entstehende Schaden für die Gefangenen kommt einer Doppelbestrafung gleich. So werden sie nach Absitzen der Haftstrafe durch verminderte oder fehlende Rentenansprüche noch einmal sanktioniert und schlimmstenfalls faktisch zur Altersarmut verurteilt«, erklärt der Sprecher der GG/BO Oliver Rast gegenüber »neues deutschland«. Für die Gefangenengewerkschaft, die mittlerweile bundesweit knapp 800 Mitglieder hat, gehören Rentenversicherung und ein Mindestlohn auch im Gefängnis zusammen, um zu verhindern, dass der Weg aus dem Gefängnis direkt in die Altersarmut führt.

ttps://www.neues-deutschland.de/artikel/974886.gefangene-buessen-zusaetzlich-durch-altersarmut.html

Peter Nowak

Griechenland: „Es reicht“

»Ein Grexit würde die humanitäre Krise zuspitzen«

Der 1944 geborene Publizist und Soziologe Joachim Bischoff ist Mitherausgeber der Zeitschrift Sozialismus und Autor im VSA- Verlag. Die Jungle World sprach mit ihm über die griechische Finanzkrise und das Szenario des sogenannten Grexit, eines Ausstiegs Griechenlands aus der Euro-Zone.

Mittlerweile sorgt die Griechenland-Pleite für Satire. Hat das Thema durch die ständigen Drohungen seine Gefahr verloren?

Die Medien haben einen großen Anteil daran, dass in der Berliner Republik eine Mischung aus Ressentiments gegenüber dem griechischen Volk und erheblichem Desinteresse an den Folgen einer möglichen Insolvenz des griechischen Staates existiert. Gleichwohl hat selbst die Kampagne der Bild-Zeitung gegen weitere Zahlungen man Griechenland keinen durchschlagenden Erfolg gehabt. In der letzten Emnid-Umfrage – kurz vor der finalen Entscheidung im griechischen Drama – sprechen sich 67 Prozent für einen weiteren Verbleib Griechenlands in der Eurozone aus. Nur 27 Prozent der Deutschen sind dagegen und wollen lieber einen »Grexit«. Allerdings: Über den Kurs zur Euro-Rettung herrscht große Unsicherheit. So bestehen 41 Prozent der Deutschen darauf, dass Griechenland sämtliche vereinbarten Forderungen erfüllt. Immerhin 33 Prozent der Befragten können sich aber auch vorstellen, den Wünschen Athens ein Stück weit entgegenzukommen. Einen weiteren Schuldenschnitt befürworten nur 19 Prozent der Deutschen.

Wie sind diese widersprüchlichen Zahlen zu erklären?

Die Unsicherheit geht meines Erachtens entscheidend darauf zurück, dass trotz häufiger Berichterstattung die Zusammenhänge und Hintergründe nicht aufklärend präsentiert worden sind. Die griechische Ökonomie ist seit der großen Krise von 2008 um 26 Prozent geschrumpft. Es ist absurd, für die derzeitige Rezession die linke Koalitionsregierung von Syriza verantwortlich zu machen. Seit dem letzten Quartal 2014 schrumpft die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit erneut. Bekanntlich fand der Wechsel zu einer Anti-Troika-Politik erst Ende Januar 2015 statt. Die mögliche Pleite des griechischen Staates hat für die europäischen und politischen Eliten ihren Schrecken verloren, weil die Verflechtung der griechischen Ökonomie in die europäische Wirtschaft gering ist. Mittlerweile haben die privaten Investoren und Banken ihr Engagement in Griechenland stark zurückgefahren. Die Wertverluste einer möglichen Insolvenz tragen im Wesentlichen öffentliche Gläubiger. Die Verluste von rund 80 Miliarden Euro für Deutschland gehen zu Lasten der Steuerzahler.

Über den »Grexit« diskutieren nicht nur Neoliberale, sondern auch Linke kontrovers. Wäre der Ausstieg aus dem Euro für die griechische Regierung ein Befreiungsschlag?

Die griechische Regierung und eine große Mehrheit der Wahlbevölkerung sieht in einem Hinausdrängen des Landes aus der Euro- Zone eine schwere politische Niederlage mit gefährlichen Folgewirkungen. Eine repräsentative Befragung von Anfang Juni besagt, dass sich 74 Prozent der Befragten für den Verbleib in der Euro- Zone aussprechen, nur 18 Prozent würden lieber zur griechischen Drachme zurückkehren. Für die Griechen würde mit einem Hinausdrängen aus der Euro- Zone eine erneute schwere sozio-ökonomische Anpassungsphase einsetzen. Mit Sicherheit würde sich der wirtschaftliche Schrumpfungsprozess verschärfen. Der Zusammenbruch des Gesundheitssystems zeigt, dass die Rückwirkungen der gebeutelten Wirtschaft auf andere Bereiche der Gesellschaft erhebliche negative Folgen hätten. Außerdem werden die Probleme der Bewältigung der Fluchtbewegung für Griechenland noch drückender. Und die geopolitische Konstellation des Nato-Mitglieds Griechenland gegenüber der Türkei und den gescheiterten Staaten in Nahost wirft weitere Probleme auf.

Die Wirtschaftskolumnistin Ulrike Herrmann stellte in der Taz die These auf, dass es Griechenland mit der Drachme nach anfänglichen Schwierigkeiten sogar besser gehen könnte als jetzt. Teilen Sie diese Einschätzung?

Die Argumente für eine ökonomisch-politische Rekonstruktion Griechenlands nach einer erneuten Durststrecke sind nicht überzeugend. Alle Befürworter einer Rückkehr Griechenlands zu einer eigenen Währung und einem nationalstaatlich geprägten Wirtschaftsraum gehen davon aus, dass zunächst eine deutliche Abwertung der Drachme von 20 bis 30 Prozent zu verarbeiten wäre. Auch abgesehen von den komplizierten Umschuldungsprozeduren müssten viele Wirtschaftsabkommen neu justiert werden. Ein möglicher Vorteil ist die zügige Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit im Tourismus. Griechenland könnte einen noch größeren Anteil im Bereich touristischer Dienstleistungen zu Lasten der Türkei, Spaniens und Italiens gewinnen. Aber da kaum mehr ein relevanter Exportsektor in der griechischen Wirtschaft existiert, wären die Folgen einer Abwertung auf längere Zeit negativ. Im Grundsatz sehen auch viele Befürworter eines Grexit die eintretende Notlage; da sich die humanitäre Krise zuspitzen würde, müsste Griechenland auf längere Zeit aus dem europäischen Raum unterstützt werden, ohne, dass diese Hilfe zu einer wirtschaftlichen Rekonstruktion und einer selbsttragenden Ökonomie führte.

Zu den Vorschlägen, wie ein Grexit verhindert werden könnte, zählt auch die Einführung eines digitalen Euro. Sehen Sie hierin eine Alternative?

Das Kernproblem in Griechenland ist nicht die Verbesserung des Geld- und Kreditsystems, sondern wie der Schrumpfungsprozess in der Realökonomie beendet werden kann und wie über die Erneuerung des öffentlichen und privatkapitalistischen Kapitalstocks eine Erholung eines sozialökologisch geprägten Wachstums eingeleitet werden kann.

Der linke Flügel von Syriza schlägt eine härtere Haltung gegenüber der Gläubigerländern und Institutionen und die Verstaatlichung der Banken vor. Die Kommunistische Partei Griechenlands will gar einen totalen Bruch mit EU und den Troika-Institutionen aus EZB, EU-Kommission und Internationalem Währungsfonds (IWF). Wären solche Vorschläge prak­tikabel?

Keine Frage, ein Bruch mit dem europäischen Binnenmarkt, ein Austritt aus der Euro -Zone und mindestens eine Aussetzung der Mitgliedschaft in der Nato könnten durch verschiedene Maßnahmen eingeleitet werden. Seit der Regierungsübernahme Ende Januar 2015 wird der Wirtschaftskreislauf in Griechenland wesentlich durch Notkredite seitens der europäischen Zentralbank EZB gewährleistet. Das Volumen dieser Kredite beträgt aktuell über 80 Milliarden Euro. Im selben Zeitraum musste das griechische Bankensystem einen Abzug von Einlagen in der Größenordnung von 30 bis 40 Milliarden Euro hinnehmen. Die häufig geforderte Gegenmaßnahme ist die Einführung von Kapitalverkehrskontrollen wie zuletzt in Zypern. Mit Kapitalverkehrskontrollen, deren Ausgestaltung und Durchführung die EZB nicht zustimmt, wäre der Ausstieg aus dem Währungs- und Kreditsystem eröffnet. Die Mehrheitsströmung in Syriza will eine solche Politikentwicklung nicht. Die Chance von Griechenland besteht in einer Investitionsoffensive und einer wirtschaftlichen Rekonstruktion im europäischen Verbund. Ein solcher Politikwechsel eröffnete auch für andere Krisenländer entsprechende Alternativen und könnte für den europäischen Verbund insgesamt eine andere Entwicklung einleiten.

In Island hatte eine bürgerliche Regierung auf Druck der Bevölkerung die Rückzahlung von immensen Schulden eingestellt, das Land wurde nicht isoliert. Warum klappte dort ein Schuldenschnitt und in Griechenland bisher nicht?

In der Tat hat Island eine bemerkenswert andere und positive Entwicklung zur Bewältigung der Folgen der großen Finanz- und Wirtschaftskrise eingeleitet. Das Verhältnis von Realökonomie und privatem sowie öffentlichem Finanzüberbau in Island ist nicht mit der Konstellation in Griechenland zu vergleichen. Griechenland schultert eine große Schuldenlast, aber der seit Jahren anhaltende Abwärtstrend der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit liegt nicht an etwaigen unerträglichen Zinslasten oder Schuldentilgungen. Hätte Griechenland im Jahr 2014, wie von der konservativ-sozialdemokratischen Regierung und den Troika-Institutionen erhofft und prognostiziert, endlich ein positives Wirtschaftswachstum erreicht, wären sämtliche Tilgungen und Zinszahlungen problemlos möglich geworden. Griechenland muss aus dem Schrumpfungsmodus heraus. Für 2015 droht erneut bestenfalls eine Stagnation des Wachstums. Bei einem grundsätzlich möglichen Wachstum von zweieinhalb Prozent – nach einer Periode der Schrumpfung um 26 Prozent – ist, da stimme ich dem griechischen Finanzminister Varoufakis zu, die Schuldentragfähigkeit ein sekundäres Problem.

Zeigt die monatelange Hängepartie um Griechenland nicht auch, dass selbst eine moderat reformerische Politik, wie sie die jetzige Regierung vorschlägt, zurzeit keine Chance auf Umsetzung in der EU hat?

Die Macht der neoliberalen Eliten in Wirtschaft und Politik wird uns durch den Kampf um die wirtschaftlich-finanzielle Strangulation Griechenlands vor Augen geführt. Die griechische Linksregierung verdeutlicht, wie schwer ein Politikwechsel – ein Bruch mit der neoliberalen Konzeption – umzusetzen ist. Aber auch die Krisenländer Portugal und Spanien leiden sehr unter der Austeritätspolitik. Frankreich und Italien hatten ebenfalls versucht, einen Freiraum für verstärkte gesellschaftliche Investitionen zu erhalten. Man streitet also in nationalstaatlich unterschiedlichen Konstellationen für einen Bruch mit der neoliberalen Sanierungspolitik, die bestenfalls eine säkulare Stagnation mit mehr oder minder regelmäßigen Krisenprozessen von Vermögenspreisblasen beschert.

Ist die Forderung nach der Schuldenbefreiung eines Landes nicht genauso illusorisch wie eine Forderung nach Sozialismus?

Die Überschuldung vieler kapitalistischer Länder ist eine Tatsache. Die schwächelnde, teils krisenhafte Akkumulation des Kapitals ist in den letzten Jahrzehnten durch eine Expansion des Kredits überlagert worden. Es geht nicht vorrangig um Schuldenbefreiung. Schulden sind akkumulierte Ansprüche auf künftig erst noch zu produzierenden gesellschaftlichen Reichtum. Die Verteilungsverhältnisse sind stark verzerrt. Selbst die OECD und der IWF sowie andere Organisationen der kapitalistischen Länder sehen heute, dass wachsende soziale Spaltungen zu einer Blockade oder einem Hindernis für die Kapitalakkumulation und das gesellschaftliche Wachstum geworden sind. Die Auseinandersetzung dreht sich also um die gesellschaftliche Ökonomie und deren Verteilungsverhältnis.

http://jungle-world.com/artikel/2015/24/52105.html

Interview: Peter Nowak

„Wir haben es mit einer Krise der sozialen Reproduktion zu tun“

Gabriele Winker über die "Care Revolution" und warum die Sorge-Arbeit im Kapitalismus zunehmend ein Problem darstellt

Die Sozialwissenschaftlerin Gabriele Winker[1] lehrt und forscht an der TU Hamburg-Harburg und ist Mitbegründerin des Feministischen Instituts Hamburg[2] sowie des bundesweiten „Netzwerks Care Revolution“. Im vergangenen Jahr war sie Mitorganisatorin der Aktionskonferenz Care Revolution[3] in Berlin, bei dem verschiedene im Bereich sozialer Reproduktion tätige Gruppen und Personen zusammenkamen. Im März ist im Transcript-Verlag ihr Buch „Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft“[4] erschienen.

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Berlin: Mall of Shame

Rumänen vor Gericht

«Sie haben die Arroganz der Macht, doch sie haben nicht mit unserer Bereitschaft zum Widerstand gerechnet. Was das Aufgeben betrifft, da haben sie bei uns keine Chance.»
Die knapp 200 Demonstrationsteilnehmer brechen in Applaus aus, als Janko E. spricht. Er gehört zu einer Gruppe von rumänischen Arbeitern, die seit über sechs Monaten um ihren Lohn kämpfen (siehe SoZ 2/2015 berichtete). Am 26.April hatte die FAU deshalb zu einer Demonstration aufgerufen. Ein Stundenlohn von 6 Euro sowie Kost und Logis war ihnen versprochen worden. Der Betrag liegt bedeutend unter dem im Baugewerbe gültigen Mindestlohn. Aber selbst dieser wurde den Bauarbeitern vorenthalten.
Im Oktober 2014 wandten sie sich deshalb zunächst an den DGB Berlin Brandenburg. Das im dortigen Gewerkschaftshaus angesiedelte «Beratungsbüro für entsandte Beschäftigte» nahm Kontakt mit dem Generalunternehmer der Baustelle, der Firma Fettchenhauer Controlling & Logistic, auf und schrieb Geltendmachungen. Außer Abschlagszahlungen, die nur einen Bruchteil des vorenthaltenen Lohnes ausmachten, konnten die Bauarbeiter auf diesem Weg allerdings nichts erreichen. Sie hatten weder Arbeitsverträge noch Gewerbescheine – das macht die Durchsetzung ihrer Ansprüche schwierig. Einige nahmen die Abschlagszahlungen und unterzeichneten zudem eine vom Unternehmen vorbereitete Erklärung, wonach sie auf weitere rechtliche Schritte verzichten würden. Andere beharrten darauf, ihren vollen Lohn zu erhalten und wollten weiter gehen. Erst nachdem sich die verbliebenen Bauarbeiter an die FAU wandten, begann die Öffentlichkeitsarbeit. «Mall of Berlin – auf Ausbeutung gebaut», lautete die Parole. Der von der FAU kreierte Begriff «Mall of Shame» hat mittlerweile im Internet Verbreitung gefunden.
Der gesellschaftliche Druck hat bislang aber nicht ausgereicht, damit der Generalunternehmer und seine Subunternehmen die ausstehenden Löhne bezahlen. Dabei handelt es sich um einige tausend Euro. Für die Unternehmen sind es Beträge aus der Portokasse. Für die betroffenen Bauarbeiter und ihre Familien in der Heimat ist das Geld existenziell.

Erster Erfolg vor Gericht
Anfang April errangen zwei der Bauarbeiter einen juristischen Etappensieg. Das Berliner Arbeitsgericht bestätigte die Forderungen von Nicolae Molcoasa und Niculae Hurmuz. Das beklagte Subunternehmen war nicht zur Verhandlung erschienen und hatte auch keinen Anwalt geschickt. So musste das Gericht der Klage stattgeben. Doch wenige Tage später ging ein Anwalt des Unternehmens in Berufung; die Arbeiter müssen nun weiter auf ihren Lohn warten.
Trotz aller Schwierigkeiten betonen die betroffenen Arbeiter, wie wichtig es für sie war, gemeinsam mit der FAU um ihren Lohn zu kämpfen. Nur ein Teil der Betroffenen kann die Auseinandersetzung jetzt noch in Berlin führen. Andere mussten wieder nach Rumänien zurück oder haben in einer anderen Stadt Arbeit gefunden.
Die Kollegen, die bis heute durchgehalten haben, berichten auch über die vielen Schwierigkeiten. Als sie den Kampf begannen, hatten sie weder Geld noch Unterkunft. Die FAU kümmerte sich um Essen und Obdach. Wenn sie auch nach sechs Monaten Kampf noch immer auf ihren Lohn warten müssen, so haben sie doch schon einen wichtigen Erfolg errungen: Sie haben deutlich gemacht, dass ausländische ArbeiterInnen in Deutschland nicht rechtlos sind und sich wehren können.
Denn der Fall der rumänischen Bauarbeiter ist keine Ausnahme. «Es gibt viele solcher Fälle. Nur leider sind die Betroffenen nur selten in der Lage sich zu wehren», meint eine Mitarbeiterin von Amaro Faro, einer Organisation von in Berlin lebenden Romajugendlichen. Das Leben von vielen Arbeitsmigranten aus Osteuropa sei von ständiger Verunsicherung geprägt. Das erstrecke sich nicht nur auf die Löhne und Arbeitsbedingungen, Sie würden in den Jobcentern benachteiligt, seien oft von medizinischer Versorgung ausgeschlossen und müssen wegen rassistischer Diskriminierung am Wohnungsmarkt oft in teuren Schrottimmobilien wohnen. Zudem fehlt es den Betroffenen oft an Kontakten zu Organisationen und Initiativen, die sie im Widerstand unterstützen können.
Mittlerweile ist die Foreigners Sektion der FAU ein Anlaufpunkt für Kollegen aus den verschiedenen Ländern geworden, die in Deutschland um ihren Lohn oder um bessere Arbeitsbedingungen kämpfen.

Berlin: Mall of Shame

Peter Nowak

Hartz IV für Millionen ein Dauerzustand…

Pegida im Betrieb

Ein Kommentar von Peter Nowak

„So weisen Sie den Betriebsrat in die Schranken“, lautet ein Motto auf einer Homepage, die für Praxis-Seminare von Schreiner und Partner wirbt. Dort werden Führungskräfte der Wirtschaft im Klassenkampf von oben geschult. Die Justiz ist dabei ein wichtiges Instrument und hoch bezahlte Rechtsanwälte sind darauf spezialisiert, Beschäftigte aus den Betrieben heraus zu drängen, die sich für eine kämpferische Interessenvertretung stark machen. Union Busting heißt der Fachbegriff, der in der letzten Zeit hierzulande bekannter wurde. Auf einer Tagung am 14. März in Hamburg hatten sich Betroffene aus der gesamten Republik mit ArbeitsrechtlerInnen und Aktiven aus Solidaritätsgruppen getroffen.

Jessica Reisner von der aktion./.arbeitsunrecht aus Köln, die in den vergangenen Monaten einen wichtigen Beitrag zu den Protesten gegen Union Busting geleistet hat, zog am Ende der Tagung ein vorsichtig optimistisches Fazit. Seminare, in denen der juristische Kampf gegen GewerkschafterInnen gelehrt wird, würden öffentlich zunehmend kritisiert. Tatsächlich gab es in mehreren Städten kleinere Kundgebungen vor solchen Seminarorten. Am Vortag der Hamburger Tagung startete auch erstmals die Aktion „Schwarzer Freitag“. Am 13. März war das Familienunternehmen Neupack, dessen Management noch immer einen engagierten Betriebsrat durch Kündigung loswerden will, Adressat eines Negativpreises. Künftig soll immer dann, wenn der Freitag auf einen dreizehnten fällt, die Firma diese negative Auszeichnung bekommen, die sich beim Union Busting besonders hervorgetan hat.Eine Erkenntnis der Tagung lautete, die beste Waffe gegen die Union Buster sei eine solidarische Belegschaft, die notfalls auch die Arbeit niederlegt, wenn KollegInnen gemaßregelt werden. „Pegida im Betrieb“ sieht der Berliner Arbeitsrechtler Daniel Weidmann als größtes Hindernis für eine solche Solidarität. So bezeichnete er MitarbeiterInnen, die engagierte KollegInnen als UnruhestifterInnen, die den Betriebsfrieden stören, denunzieren.

Erschienen in: Direkte Aktion 229 – Mai/Juni 2015

https://www.direkteaktion.org/229/pegida-im-betrieb

Peter Nowak

Streik als Privileg

Wirtschaft & Soziales: Gegen das geplante  Tarifeinheitsgesetz regt sich Widerstand

Die Erklärung »Linke Hauptamtliche in ver.di« erinnert an eine drastische Einschätzung des ehemaligen Vorsitzenden der Gewerkschaft öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) Heinz Kluncker. Dieser sagte in den 1970er Jahren: »Wo ein Streik reglementiert  oder gar verboten ist, handelt es sich um reine Diktaturen.« Der Verweis in der ver.di-Erklärung kommt nicht von ungefähr, denn aktuell versucht die Bundesregierung das Streikrecht reglementieren. Besonders bitter: Der DGB-Vorstand und ein großer Teil seiner Einzelgewerkschaften stimmen dem von der Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) in den Bundestag eingebrachten  Tarifeinheitsgesetz sogar zu. Danach soll ein Tarifvertrag nur dann Anwendung im Betrieb finden, wenn die vertragsschließende Gewerkschaft die Mehrheit der Mitglieder hat. Spartengewerkschaften, die nur in ein bestimmtes  Segment der Beschäftigten vertreten, wären nicht mehr tariffähig und hätten keine Verhandlungsmacht mehr. Sollte das Gesetz wie geplant im Sommer in Kraft treten, wären Gewerkschaften wie die Gewerkschaft der Lokführer (GDL) die Hände gebunden. Die GDL hat bereits eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht angekündigt.  Der Arbeitskampf bei der GDL, der sich Anfang Mai mit einem fast einwöchigen Streik noch mal verschärft ist, steht bereits im Schatten der Tarifeinheit, bevor das Gesetz überhaupt in Kraft tritt. Die GDL will natürlich davor zu einer für sie vorteilhaften Einigung kommen. Der Bahn-Vorstand setzt hingegen auf eine Zermürbungstaktik und  will den Konflikt in die Länge ziehen, bis das Gesetz der GDL Grenzen setzt. Politik und Medien wiederum nutzen den Ausstand bei der Bahn, um  Stimmung für eine weitere Einschränkung des Streikrechts zu machen.

Unter dem Motto »Hände weg  vom Streikrecht« rief ein Bündnis linker Gewerkschafter_innen am 18. April zu einer bundesweiten Demonstration nach Frankfurt am Main auf. Die anarchosyndikalistische Basis-Gewerkschaft FAU brachte mit ihren schwarzroten Bannern Farbe in die Demonstration. Die Fahnen der Lockführergewerkschaft GDL waren indes weder so bunt noch so zahlreich vertreten. Dennoch wurden die Lokführer_innen in Frankfurt besonders freundlich begrüßt, schließlich hat die Gewerkschaft in den vergangenen Wochen gezeigt, dass es durchaus möglich ist einen Streik zu organisieren, der auch gesellschaftlich wahrgenommen wird. Viele Redner_innen bezogen sich auf die GDL und machten klar, dass das Bahnmanagement wohl auch deshalb im aktuellen Arbeitskampf auf Zeit zu spielen versucht, weil es nach der Verabschiedung des Tarifeinheitsgesetzes mit der kämpferischen Gewerkschaft nicht mehr verhandeln müsste.

Trotz der kämpferischen Stimmung war die Demonstration zahlenmäßig enttäuschend. Dass lediglich 700 Kolleg_innen für die Verteidigung des Streikrechts demonstrierten, lag auch an den im DGB organisierten Einzelgewerkschaften. Keine der Gewerkschaften, die sich gegen das Tarifeinheitsgesetz positioniert haben, unterstützte die Demonstration. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) unterstützt gemeinsam Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) eine von ver.di initiierte Unterschriftensammlung gegen das Gesetz. Obwohl sich die Dienstleistungsgewerkschaft seit Jahren klar gegen die Tarifeinheit ausspricht, ist diese Frage organisationsintern umstritten, wie  Erdogan Kaya von der linken Basisgruppe ver.di-aktiv auf  einer Berliner  Mobilisierungsveranstaltung für die Demonstration erklärte. So werde etwa die Tarifeinheitsinitiative von ver.di-Gewerkschafter_innen bei der Lufthansa unterstützt.

Dennoch stellen die Gegner_innen der Gesetzesinitiative bei ver.di die Mehrheit. Anders sieht dies in der IG Metall aus. Daher erhielt in Frankfurt das IG-Metall-Mitglied Christiaan Boissevain  aus München besonders viel Applaus, als er die Tarifeinheitsinitiative als »großen Angriff auf das Streikrecht im europäischen Rahmen« bezeichnete.

Tatsächlich wird das Streikrecht nicht nur durch das Tarifeinheitsgesetz angegriffen. Weitgehend unbemerkt von einer größeren Öffentlichkeit  versuchen die internationalen Kapitalverbände, in den Gremien der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) das Streikrecht als Bestandteil der Koalitionsfreiheit im IAO-Übereinkommen 87 grundsätzlich in Frage zu stellen.  Die deutschen Unternehmerverbände sind darin aktiv beteiligt. »Hatte die Unternehmerlobby sich in den Vorjahren noch damit begnügt, gegen ein umfassendes und unbegrenztes Streikrecht zu agieren, stellt sie jetzt die Existenz eines internationalen Rechts auf Streik überhaupt in Frage«, kommentiert Jochen Gester in der März-Ausgabe der Sozialistischen Zeitung (SoZ) diesen Vorstoß. Die IAO-Richtlinien wirken sich auf die Rechtssprechung der Gericht auch in Deutschland auf.  Der DGB befürchtet  Verschlechterungen und hat eine Kampagne „Streikrecht im Übereinkommen 87 verteidigen“ gestartet (http://www.dgb.de/themen/++co++5051305e-b764-11e4-bdd7-52540023ef1a).

Mittlerweile sind in vielen europäischen Ländern Einschränkungen des Streikrechts bereits in Kraft oder in Vorbereitung.  So schreibt das italienische Streikrecht vor, dass Bahngewerkschaften Ausstände mindestens fünf Tage vorher ankündigen müssen. Zudem muss die Gewerkschaft eine »Grundversorgung« garantieren, während des Berufsverkehrs müssen Züge fahren. Solche Vorstellungen finden sich auch im Positionspapier »Für ein modernes Streikrecht – Koalitionsfreiheit sichern – Daseinsvorsorge sicherstellen« der CSU. Sollten diese Pläne realisiert werden, wäre das Streikrecht »nur noch formal vorhanden, aber in der Praxis ausgehebelt und unwirksam«, heißt es in einer Erklärung von ver.di Bayern. In Griechenland sorgt  die Austeritätspolitik der Troika nicht nur für eine massive Verarmung der Bevölkerung, sondern auch für eine Aushebelung von Tarif- und Gewerkschaftsrechten. In Spanien sind zahlreiche Gewerkschafter_innen  von langen Gefängnisstrafen bedroht, weil sie sich an Streikposten beteiligt hatten. Ausgangspunkt der dortigen Repression gegen Gewerkschafter_innen war der landesweite Streik im März 2012. Er wurde europaweit von linken Gruppen unterstützt. In Deutschland entstand in der Folge das M31-Netzwerk, das einen Aufruf zur Unterstützung eines europaweiten Generalstreiks verfasste. Es wäre an der Zeit, die Diskussion über die europaweite Verteidigung von Streik- und Gewerkschaftsrechten neu wieder weiter oben auf die Tagesordnung zu setzen.

aus:  ak 605 vom 19.5.2015

https://www.akweb.de/

Peter Nowak


Streit um Betriebsarztgutachten

Auseinandersetzung einer Pflegehelferin mit ihrem Arbeitgeber geht in die nächste Runde

Angelika Konietzko kritisierte die Arbeitsbedingungen bei einem Pflegedienst in Mitte – und verlor ihren Job. Jetzt streitet sie vor Gericht um ein Gutachten, das sie als »destruktive Person« beschreiben soll.

Darf Angelika Konietzko erfahren, ob ein Betriebsarzt ein Gutachten selber verfasst hat, in dem ihr Realitätsverlust, Schwarz-Weiß-Denken und destruktives Verhalten vorgeworfen wird? Diese Frage hatte das Amtsgericht Neukölln am Donnerstagmorgen zu klären. Eine Entscheidung wurde nicht gefällt. Zunächst will die Richterin klären lassen, ob nicht vielleicht das Landgericht zuständig ist.

Der Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt. Dort hatten Aktivisten von Erwerbslosengruppen und sozialen Initiativen Platz genommen. Der Fall sorgt dort seit Jahren für Aufmerksamkeit. Konietzko hatte als Pflegekraft in einer Wohngemeinschaft für Demenzkranke gearbeitet. Als sie sich gegen schlechte Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter und unzumutbare Zustände für die Pflegebedürftigen wehrte, kam es zum Zerwürfnis mit dem Pflegedienst Mitte. Seitdem sehen sich beide Seiten nur noch vor Gericht (»nd« berichtete).

Der Arbeitgeber behauptet, Konietzko habe die Betriebsabläufe gestört. Die Betroffene sieht sich als Opfer von Mobbing, weil sie sich für bessere Arbeitsbedingungen eingesetzt hat. Dabei spielt die Stellungnahme des Betriebsarztes eine wichtige Rolle. »Dadurch wurde ich als destruktive Person stigmatisiert, obwohl mich der Arzt seit Jahren nicht gesehen hat«, beklagt Konietzko gegenüber »nd«.

Der Verdacht, dass die Stellungnahme nicht von ihm verfasst wurde, gründet sich auf mehrere Indizien. So ist die Unterschrift unleserlich und weicht beträchtlich von anderen Unterschriften des Arztes ab. Zudem soll das Schreiben in der gleichen Diktion verfasst worden sein, wie andere Schriftsätze des Pflegedienstes Mitte. Besonders misstrauisch wurde Konietzko aber, als der Arzt ihr die Antwort auf die Frage, ob er den Text geschrieben hat, mit Verweis auf seine Schweigepflicht gegenüber der Betriebskrankenkasse verweigerte. Auch ein Antrag, bei dem Landesbeauftragen für Datenschutz bracht für die Frau keinen Erfolg. Der Arzt richtete auch an diese Behörde ein Schreiben, dass Frau Konietzko ausdrücklich nicht lesen durfte. Die Datenschutzbehörde hat mittlerweile gegenüber der Betroffenen erklärt, sie werde das Schreiben nach dem Willen des Arztes geheim halten. Sie könne die Behörde verklagen.

Mittlerweile hat Konietzkos Anwalt die Klage um diesen Punkt erweitert. Er sieht das Recht auf informationelle Selbstbestimmung verletzt, wenn Fragen über Autoren medizinischer Stellungnahmen über die eigene Person geheim gehalten werden.

Auch bei vielen Prozessbesuchern stieß diese Praxis auf Unverständnis. »Es ist schließlich ein Unterschied, ob ein Arzt oder eine Privatperson erklärt, jemand sei eine destruktive Persönlichkeit. Als Stellungnahme eines Mediziners kann eine solche Aussage gravierende Auswirkungen auf die beurteilte Person haben«, meine Anne Allex, die seit Jahren in der Erwerbslosenberatung tätig ist.

Peter Nowak

Der Zug in die Normalität

Begleitet von einer medialen und politischen Gegenkampagne, ist der Streik der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer beendet worden. Die Verabschiedung des Tarifeinheitsgesetzes im Bundestag gefährdet solche Arbeitskämpfe in Zukunft.

Millionen deutscher Kurzurlauber konnten aufatmen. Über Pfingsten legte der Arbeitskampf der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) den Zugverkehr nicht mehr lahm. Die Gewerkschaft beendete ihren unbefristeten Streik in der vergangenen Woche und ließ sich auf eine Schlichtung ein. Noch einige Tage zuvor hatte der GDL-Vorstand eine Schlichtung mit der Begründung abgelehnt, dass in der Frage der Grundrechte nichts geschlichtet werden müsse.

Mit dem Streikabbruch ist allerdings der grundsätzliche Konflikt nicht beendet. Die Deutsche Bahn AG hat ein Teilziel erreicht: Die Auseinandersetzung mit der GDL um Lohnerhöhungen und eigenständige Tarifverträge auch für Zugbegleiter, Lokrangierführer und Mitarbeiter im Bordservice, die im Juli 2014 begonnen hatte, wurde derart in die Länge gezogen, dass der Bundestag mittlerweile das Gesetz zur Tarifeinheit verabschieden konnte. Das auch als Lex GDL bezeichnete Gesetz schränkt die Rechte kleiner Gewerkschaften stark ein.

Der GDL ist die Bedeutung des Tarifeinheitsgesetzes für ihre Arbeit bewusst. Das zeigte sich am 18. April auf der bundesweiten Demonstration unter dem Motto »Rettet das Streikrecht« in Frankfurt am Main, wo die GDL mit Fahnen und Rednern vertreten war (Jungle World 17/15). Dass die Gewerkschaft ihren Arbeitskampf am 21. Mai abbrach, ist in dieser Hinsicht bedauerlich. Schließlich fand die zweite Lesung des Tarifeinheitsgesetzes erst am 22. Mai statt. Der Streik ­einer der Gewerkschaften, gegen die sich das Gesetz richtet, wäre ein gutes Signal gewesen.

Das bundesweite Bündnis »Hände weg vom Streikrecht« gehörte zu den Initiativen, die sich solidarisch mit dem GDL-Streik zeigten. »Das Grundrecht auf Koalitionsfreiheit und Streik ist kein Privileg der im DGB organisierten Gewerkschaften«, heißt es in der Erklärung des Bündnisses. Es bewertete die mediale und politische Hetze gegen den Arbeitskampf des Zugpersonals als Begleitmusik zur Einführung des Tarifeinheitsgesetzes, das solchen kämpferischen Gewerkschaften die Arbeit erheblich erschweren soll.

Diese Agitation nahm noch einmal enorm zu, nachdem die GDL am 20. Mai abermals in den Streik getreten war. Berlins Boulevardpresse eiferte nicht nur in Artikeln gegen den Ausstand des Zugpersonals. Am 20. Mai verband die BZ die Werbung für ihr Produkt mit einem Streikbruch. Unter der Losung »Wir sind stärker als der Streik« mietete die Zeitung einen Sonderzug und ließ ihn von 5.30 bis 20.30 Uhr zwischen den Stationen Gesundbrunnen, Hauptbahnhof, Potsdamer Platz und Südkreuz pendeln. Zusteigen durfte, wer eine BZ in der Hand hielt.

Die PR-Aktion reihte sich ein in einen medialen Feldzug, der den GDL-Streik als Angriff auf den deutschen Standort brandmarkte. Dabei wurde deutlich, wie schnell es gelingt, das volksgemeinschaftliche Ressentiment gegen Lohnabhängige zu mobilisieren, die zur Verteidigung ihrer Interessen nicht gleich an das Wohl von Staat und Nation denken. Fakten wurden dafür großzügig außer Acht gelassen. Der deutschen Wirtschaft wurden Milliardenverluste prophezeit, obwohl Ökonomen klarstellten, dass sich ein solcher Effekt höchstens bei einem mehrwöchigen Streik eingestellt hätte. Dass ein Arbeitskampf zu Pro­fitausfällen bei den bestreikten Unternehmen führen muss, um erfolgreich zu sein, scheint in Deutschland nicht einzuleuchten.

Dass die GDL im Bündnis mit dem Beamtenbund die Interessen ihrer Mitglieder kämpferisch vertritt, reicht schon aus, um antigewerkschaftliche Reflexe auch in Kreisen zu mobilisieren, die sonst durchaus die DGB-Gewerkschaften für ihre mangelnde Kampfbereitschaft kritisieren. So monierte Ulrike Herrmann in der Taz den »Egoismus der GDL«. Ihr Kollege Richard Rother ließ Hagen Lesch, einen »Tarifexperten« beim unternehmernahen »Institut der Deutschen Wirtschaft« in Köln, in einem Artikel erklären, »wieso die GDL so absurd daherredet« und einen befristeten Streik ankündigte, ohne die genaue Dauer zu verraten.

Die Erklärung wäre einfach gewesen: Die GDL ließ das Ende offen, um zu verhindern, dass die Deutsche Bahn AG sich mit dieser Information gut auf den Streik vorbereiten kann. In vielen Ländern sind solche Momente der Unberechenbarkeit ein fester Bestandteil eines Arbeitskampfes. Für Rother, der die GDL als »Ellenbogengewerkschaft« tituliert, ist ein derartiger Ausbruch aus den gewerkschaftlichen Gepflogenheiten in Deutschland zu viel. Besonders empört zeigte er sich darüber, dass die GDL mit dem Arbeitskampf das Tarifeinheitsgesetz aushebeln wolle. »Insofern trägt der kommende Ausstand Züge eines politischen Streiks, und der ist in Deutschland ­eigentlich verboten«, winkte er mit dem Gesetzbuch. Statt zu streiken, sei ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Tarifeinheitsgesetz abzuwarten. »Das wäre ja der normale Weg.«

»Normal« ist es für deutsche Gewerkschaften tatsächlich, die Interessen des Standorts zu berücksichtigen, bevor sie überhaupt eigene Forderungen stellen. Es ist ein Verdienst der GDL, diesen »normalen« deutschen Weg verlassen zu haben. Soziale Initiativen und linke Gewerkschaften aus anderen Ländern erkannten das und soli­darisierten sich daher mit dem GDL-Streik. Allerdings werden solche Erklärungen in deutschen Medien selten erwähnt. So heißt es in einer Resolution europäischer Bahngewerkschafter: »Angesichts des Drucks der Leitung der Deutschen Bahn, der deutschen Regierung und auch in beachtlichem Maße der Medien erklärt der in Budapest tagende Vorstand der Autonomen Lokomotivführergewerkschaften Europas (ALE) – in Vertretung der Lokomotivführer der 16 Mitgliedsgewerkschaften aus ebenso vielen Ländern – seine Unterstützung und Solidarität mit den deutschen Lokomotivführern und der Mitgliedsgewerkschaft GDL bei ihrem Kampf fürdie tarifliche Vertretung aller ihrer Mitglieder bei der Deutschen Bahn.«

http://jungle-world.com/artikel/2015/22/52040.html

Peter Nowak

Wem nützt die weitere Verrechtlichung der Arbeitskämpfe?

Tarifeinheit ist ein Füllbegriff, hinter dem sich unterschiedliche Interessen von Teilen des DGB und der Kapitalverbände verbergen

Hätte die Zugpersonalgewerkschaft GDL mehr Sinn für politische Symbolik, hätte sie ihren letzten Streik nicht schon am 21.Mai abgebrochen. Schließlich wurde am folgenden Tag das Tarifeinheitsgesetz[1] vom Bundestag verabschiedet, das Kritiker schon als Lex GDL bezeichnet haben. 444 Abgeordnete stimmten[2] für die von der Bundesregierung vorangetriebene Tarifeinheit, 144 stimmten dagegen und 16 enthielten sich. Geschlossen stimmten die am 22. Mai im Parlamentssaal anwesenden Abgeordneten der Grünen und Linken gegen das Gesetz, auch eine SPD- und 16 Unionsabgeordnete votierten mit Nein. Das Abstimmungsverhalten macht schon deutlich, dass es sich bei der Tarifeinheit keineswegs um eine Frage geht, die einfach im Links-Rechts-Schema eingeordnet werden können.

Abschied vom Prinzip: Ein Betrieb – ein Tarifvertrag

Ausgangspunkt des Gesetzes war ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts von 2010[3]. Aufgrund der Entscheidung war es rechtens, dass in einem Betrieb mehrere Tarifverträge der gleichen Berufsgruppen nebeneinander bestehen können. Damit wich das Bundesarbeitsgericht von seiner bisherigen Rechtssprechung ab, die dem Grundsatz „Ein Betrieb – ein Tarifvertrag“ gefolgt war. Zu den ersten, die nach diesem Urteil nach einer gesetzlichen Regelung der Tarifeinheit gerufen hatten, waren der DGB und ihre Einzelgewerkschaften.

Damals war auch die Linkspartei keineswegs klar dagegen positioniert. Das lag auch am Gewerkschaftsflügel, der über die WASG in die Linkspartei gekommen war. Was hat sich nun in den letzten 5 Jahren verändert, dass zumindest die parlamentarische Linke eindeutig gegen die Tarifeinheit ist und auch einige Einzelgewerkschaften, vor allem die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, ihre ursprüngliche Befürwortung der Tarifeinheit zurückzog? Bei ihr ist das eine Folge des großen Drucks von der Gewerkschaftsbasis. Dahinter stehen aber auch unterschiedliche Vorstellungen von der Gewerkschaftsmacht und Veränderungen durch neue Arbeitsverhältnisse.

Wenn Kritiker der Tarifeinheit monieren, dass damit kleineren Gewerkschaften im Betrieb wesentliche Rechte genommen werden und deren Streikfähigkeit damit unterminiert werden soll, haben sie Recht. Selbst die Befürworter des Gesetzes, die solche Pläne lange von sich wiesen, geben mittlerweile offen zu, dass das Ziel des Tarifeinheitsgesetzes die weitere Verregelung des deutschen Arbeitskampfes ist. Lange Zeit war der Deutsche Gewerkschaftsbund der Garant für die Verrechtlichung der Arbeitskämpfe. Die Unternehmer konnten sich darauf verlassen, dass ein Streik nicht aus dem Ruder lief. Davon profitierte auch die Unternehmerseite, die natürlich überhaupt keine Arbeitskämpfe mochte. Doch wenn sie sich schon nicht vermeiden konnten, wussten sie wenigstens genau, wann der Streik beginnt und zu Ende ist. Diese Verregelungskultur war, anders als linke Kritiker behaupteten, kein Verrat an der Arbeiterklasse. Sie entsprach vielmehr den Bedürfnissen eines großen Teils der DGB-Mitglieder.

Einheitsgewerkschaft oder Betriebsgemeinschaft?

Vor allem in den fordistischen Großbetrieben sahen sich die Gewerkschaft als Teil des Betriebes. Dort trat man mit der Lehre ein und glaubte sich rundumversichert. Es ging dort schon mal um die Durchsetzung unterschiedlicher Interessen, aber immer schön konstruktiv, dabei sollte aber nie der Erfolg des Betriebes infrage gestellt werden.

Diese Arbeit der Gewerkschaftsarbeit, die nicht auf Konflikte setzt, sondern das Gemeinsame im Betrieb in den Mittelpunkt stellt, knüpfte vor allem in den ersten beiden Jahrzehnten der BRD an die Praxis der NS-Volksgemeinschaft an. Darauf machten linke Kritiker des DGB wie der Historiker Karl Heinz Roth aufmerksam, der in den 70er Jahren sein Buch „Die andere Arbeiterbewegung“[4] verfasste. Dabei wurden von den Kritikern damals aber oft die Unterschiede zwischen einer an die Standortlogik angepassten DGB-Politik und der NS-Betriebsgemeinschaftsideologie, wie sie sich in der Deutschen Arbeitsfront ausdrückte, außer acht gelassen. Letztere konnte nur in einem Umfeld existieren, wo auch die noch so angepasste Variante sozialdemokratischer Gewerkschaftspolitik terroristisch unterdrückt wurde. Die angepasste DGB-Betriebspolitik wiederum wurde wesentlich von den im NS illegalisierten Sozialdemokraten betrieben, baute aber in den Betrieben auf den Bewusstseinsstand der durch die NS-Volksgemeinschaft sozialisierten Belegschaften auf. Während nun vor allem die nach dem gesellschaftlichen Aufbruch von 1968 entstandene Linke die angepasste DGB-Politik heftig kritisierte und historische Parallelen zur NS-Betriebsgemeinschaft zog, verteidigten die ältere Linke die Einheitsgewerkschaft. Nach dieser Erzählung wurde sie von Antifaschisten unterschiedliche politischer Richtungen in den NS-Konzentrationslagern illegal gegründet und nach dem Ende des NS dann praktisch umgesetzt. Sie sei eine Konsequenz aus der Zersplitterung der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik, die vom NS getrennt geschlagen, in die Illegalität, in die KZs getrieben und ins Exil gezwungen wurde.

Auch diese Erzählung kann sich auf historische Dokumente berufen. Es gab im Widerstand gegen den NS programmatische Abhandlungen von Kommunisten, Sozialdemokraten und Parteilosen, die sich in einer Gesellschaft nach dem Ende des NS eine Einheitsgewerkschaft wünschten, die stark genug sein sollte, den Machtansprüchen von Kapitalverbänden zu widerstehen. Nur hatte eine solche Einheitsgewerkschaft wenig mit der realen Praxis des DGB zu tun, die linke Kritiker wie den Linkssozialisten Viktor Agartz[5], aber auch Mitglieder der KPD in den 50er Jahren ausgrenzte. Gegenüber der neuen Linken, die im Gefolge des 68-Aufbruchs entstand, reagierte sie mit Gewerkschaftsausschlüssen. Diese repressiven Maßnahmen wurden mit der Verteidigung der Einheitsgewerkschaft begründet.

Hier haben wir das Beispiel eines Mythos in der Geschichte, wie ihn das Kollektiv Loukanios[6] in ihrem kürzlich veröffentlichten Buch „History is unwritten“[7] kritisch unter die Lupe nehmen. Die Erzählung von der Einheitsgewerkschaft kann sich auf reale historische Ereignisse berufen. Es waren nicht nur Kommunisten, sondern ebenso Linkssozialisten wie Wolfgang Abendroth[8], aber auch Anhänger dissidenter linker Gruppen, die das Konzept der Einheitsgewerkschaft verteidigten. Der DGB-Bürokratie diente der Verweis auf die Einheitsgewerkschaft dazu, Ausschlüsse von kritischen Mitgliedern zu rechtfertigen, die als Saboteure der Gewerkschaftseinheit hingestellt wurden.

Dass sowohl die Einheitsgewerkschaft als auch die Verregelung des Arbeitskampfes vor allem bei der neuen Linken auf Kritik stieß, ist nicht verwunderlich. Schließlich wurden sie aus der imaginierten Einheit ausgegrenzt und die Verregelung ließ kaum Spielraum für die Spontanität und Kreativität von Betriebsbelegschaften, die Arbeitskämpfe nicht nach dem Lehrbuch des DGB führen wollten. So wurde der wesentlich von Arbeitsmigranten aus der Türkei getragene Ford-Streik im Jahr 1973[9] von einer Allianz aus DGB-Führung, Polizei und betriebseigenen Sicherheitspersonal niedergeschlagen. Als alles vorbei war, resümierte[10] der Spiegel in rassistischer Diktion: „Der Türkenstreik bei Ford endete mit einem Sieg der Deutschen: Von den besonderen Forderungen der Gastarbeiter wurde bis heute kaum eine erfüllt. Die Isolation der Türken blieb.“

Hetze gegen und kritische Solidarität mit der GDL

Damals wagten Betriebslinke aus Deutschland gemeinsam mit türkischen Kollegen den Ausbruch aus der deutschen Standortlogik. Vier Jahrzehnte später fordert die mehrheitlich deutsche GDL, die im Bündnis mit dem Beamtenbund steht, den deutschen Standort nur deshalb heraus, weil sie auf kämpferische Interessenvertretung setzt und das Moment der Spontanität und Unberechenbarkeit in den Arbeitskampf zurückgebracht hat. Das reicht schon, um sämtliche antigewerkschaftlichen Reflexe zu mobilisieren (Spin Doctoring im GDL-Arbeitskampf[11]).

Da sorgt ein Julien Sewering für Aufregung, weil er das kämpferische Zugpersonal gleich nach Auschwitz schicken will und sich selber als Zugwärter, der dabei bestimmt nicht streikt, imaginiert[12]. Er ist kein Nazi, er will nur an den Klickzahlen verdienen, kommt gleich die scheinbar beruhigende Nachricht. Als ob es nicht schon beunruhigend genug wäre, mit Vernichtungswünschen gegen streikende Gewerkschafter überhaupt eine Leserschaft gewinnen zu können. Wenn man noch bedenkt, dass es sich bei diesen Blogs um ein Format handelt, dass angeblich von Jugendlichen als Ersatz für Nachrichtensendungen benutzt wird, ist das kein Grund zur Beruhigung. Scheinbar gibt es keine zivilisatorische Firewall, die die Sewerings und Co. ohne staatliche Maßnahmen ins gesellschaftliche Aus stellt, in das sie gehören.

Überdies beteiligen sich auch Kreise am Unions-Bashing gegen die GDL, die sonst schon mal dem DGB mangelnde Kampfbereitschaft attestieren. So lässt der Taz-Wirtschaftsredakteur Richard Rother einem Tarifexperten erklären[13], „wieso die GDL so absurd daherredet“ Dabei hat die GDL nur bei Streikbeginn das Ende offen gelassen. Damit soll verhindern werden, dass das bestreikte Unternehmen sich so gut wie möglich, auf den Arbeitskampf vorbereitet.

In vielen Ländern sind solche Momente der Unberechenbarkeit ein fester Bestandteil eines Arbeitskampfes. Aber für Rother ist so viel Ausbruch aus der verregelten deutschen Gewerkschaftstradition schon fast ein Fall für den Staatsanwalt. In einem Kommentar[14] fragt er nach dem Staatsverständnis der GDL und gleich noch des deutschen Beamtenbundes, weil die dem Zugpersonal nicht in den Arm fällt. Besonders empört ist Rother, dass die GDL mit dem Arbeitskampf das Tarifeinheitsgesetz aushebeln will. „Insofern trägt der kommende Ausstand Züge eines politischen Streiks, und der ist in Deutschland eigentlich verboten“, winkt Rother mit dem Gesetzbuch.

Ansonsten weist er der GDL den juristischen Weg. „Soll ein ganzes Land wochenlang stillstehen und ein bundeseigenes Unternehmen geschädigt werden, weil der Beamtenbund nicht auf einen Richterspruch aus Karlsruhe warten will, wenn er Zweifel am Willen des Gesetzgebers hat? fragt Rother rhetorisch und setzt hinzu: „Das wäre ja der normale Weg.“ Er vergisst hinzufügen, dass es normal ist für deutsche Gewerkschaften, die schon immer die Interessen des Standortes Deutschland mitdenken, wenn sie Forderungen stellen. Es ist der GDL gerade hoch anzurechnen, dass sie diesen normalen deutschen Weg verlassen hat. Die Tarifeinheit soll nun dafür sorgen, dass ein solches Abkommen vom deutschen Weg im Arbeitskampf nicht mehr möglich sein soll.

Daher bekam die GDL trotz ihrer konservativen Wurzeln von links Unterstützung[15]. „Das Grundrecht auf Koalitionsfreiheit und Streik ist kein Privileg der im DGB organisierten Gewerkschaften“, heißt es in der Erklärung des Bündnisses „Hände weg vom Streikrecht“[16]. Es sieht die mediale und politische Hetze gegen den Arbeitskampf des Zugperson als Begleitmusik zur Einführung des Tarifeinheitsgesetzes, das solche kämpferische Gewerkschaften an die Kette legen soll.

„Angesichts des Drucks der Leitung der Deutschen Bahn, der deutschen Regierung und auch in beachtlichem Maße der Medien“, erklärt[17] der in Budapest tagende Vorstand der Autonomen Lokomotivführergewerkschaften Europas[18] – in Vertretung der Lokomotivführer der 16 Mitgliedsgewerkschaften aus ebenso vielen Ländern – seine „Unterstützung und Solidarität mit den deutschen Lokomotivführern und der Mitgliedsgewerkschaft GDL bei ihrem Kampf für die tarifliche Vertretung aller ihrer Mitglieder bei der Deutschen Bahn.“

http://www.heise.de/tp/artikel/45/45032/1.html

Peter Nowak

Anhang

Links

[1]

http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/040/1804062.pdf

[2]

http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2015/kw21_ak_tarifeinheit/374480

[3]

http://dejure.org/dienste/vernetzung/rechtsprechung?Gericht=BAG&Datum=07.07.2010&Aktenzeichen=4%20AZR%20549/08

[4]

http://www.zvab.com/buch-suchen/titel/die-andere-arbeiterbewegung-und/autor/roth

[5]

http://www.iablis.de/globkult/geschichte/personen/973-das-dritte-leben-des-viktor-agartzChristophJ%C3%BCnkein

[6]

http://historyisunwritten.wordpress.com/das-autorinnenkollektiv/

[7]

http://www.edition-assemblage.de/history-is-unwritten/

[8]

http://www.offizin-verlag.de/Abendroth-Wolfgang-Gesammelte-Schriften—Band-2-1949—1955

[9]

http://ford73.blogsport.de/

[10]

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41911224.html

[11]

http://www.heise.de/tp/artikel/45/45015/

[12]

http://www.huffingtonpost.de/christoph-hensen/vergasen-strafanzeige-juliensblog_b_7341830.html

[13]

http://www.taz.de/!160188/

[14]

http://www.taz.de/Kommentar-Lokfuehrerstreik/!160108/

[15]

http://www.labournet.de/branchen/dienstleistungen/bahn/bahn-gewerkschaften/bahn-gewerkschaft-gdl/solidaritat-mit-dem-streik-der-gdl/

[16]

http://streikrecht-verteidigen.org/

[17]

http://www.ale.li/index.php?id=156&L=0&N=0

[18]

http://www.ale.li/index.php?id=2&L=0&N=0