Datenschutz für Hartz IV-Empfänger ausgeweitet

Doch jetzt könnten die Betroffenen vor der Alternative stehen, auf die Leistungen zu verzichten oder selbst die Daten offenzulegen

Die Verletzung des Datenschutzes eines Hartz IV-Beziehers hatte erstmals für einen Jobcentermitarbeiter strafrechtliche Konsequenzen. Er musste eine Buße von 600 Euro bezahlen. Im Gegenzug wurde das Verfahren wegen Verletzung eines Privatgeheimnisses eingestellt. Der Jobcentermitarbeiter hatte ohne Einwilligung des Betroffenen mit dessen potentiellen Vermietern telefonisch Kontakt aufgenommen und dabei auch offenbart, dass der Wohnungsinteressent Hartz IV-Leistungen bezieht. Daraufhin hat der die Wohnung nicht bekommen.

In dieser Sache hatte das Bundessozialgericht erstmals den Datenschutz für Bezieher von Hartz IV-Leistungen erheblich gestärkt.

„Der Bezug von Arbeitslosengeld II ist ein Sozialdatum, dessen Offenbarung durch das Jobcenter nur zulässig ist, wenn der Leistungsbezieher eingewilligt hat oder eine gesetzliche Offenbarungsbefugnis vorliegt“, lautet einer der Kernsätze des Urteils, wie der Bundesbeauftragte für den Datenschutz hervorhebt.

Der Betroffene hatte eine Umzugsbeihilfe, die Erstattung der Kosten der Mietkaution und für den Kauf neuer Möbel beantragt. Der Jobcentermitarbeiter hat den Kontakt mit dem Vermieter damit begründet, dass Nachweise fehlten, dass die beantragten Leistungen notwendig seien. Im Rahmen seiner Verpflichtung, den Sachverhalt zu prüfen, habe er den Kontakt mit dem Vermieter gesucht. Während der Jobcentermitarbeiter in zwei Instanzen recht bekam, hat das Bundessozialgericht den Datenschutz auch für Hartz IV-Empfänger in den Mittelpunkt gestellt und das Handeln des Jobcentermitarbeiters verurteilt.

Jobcenter hat Sozialgeheimnis zu beachten

„Das Bundessozialgericht hat in diesem Urteil die Auffassung der Kläger bestätigt, dass der Beklagte als Träger einer Sozialleistung das Sozialgeheimnis zu beachten hat. Danach hat jeder Leistungsberechtigte Anspruch darauf, dass die ihn betreffenden Sozialdaten von den Leistungsträgern nicht unbefugt erhoben, verarbeitet oder genutzt werden“, hebt der Bundesdatenschutzbeauftragte in der rechtlichen Wertung des Urteils hervor.

Das Jobcenter müsse immer von dem Grundsatz ausgehen, dass die Datenerhebung in erster Linie beim Betroffenen selber erfolgen müsse. Eine Datenübermittlung an Dritte wird vom Gericht nicht völlig ausgeschlossen aber an strenge Bedingungen geknüpft, weil sie einer besonderen Rechtfertigung bedürfe. Diese Kriterien sah das Gericht im vorliegenden Fall nicht erfüllt.

Drohung mit Leistungsentzug

Ob von der Stärkung des Datenschutzes die Betroffenen wirklich profitieren können, ist allerdings offen. Denn das Gericht hat auch einen Weg aufgezeigt, wie die Ämter den Druck auf Antragssteller erhöhen können, damit diese die Daten offenbaren.

„Sofern rechtliche Befugnisse zur Datenerhebung bei Dritten bzw. zur Übermittlung an Dritte nicht bestehen, bleibt dem Leistungsträger die Möglichkeit, den Betroffenen auf die Rechtslage hinzuweisen und ihn um seine Einwilligung zur Einschaltung eines Dritten zu ersuchen. Diese Bitte um Einwilligung ist gegenüber dem Betroffenen mit dem Hinweis auf die möglichen Rechtsfolgen der Verweigerung, nämlich der Versagung oder Entziehung der Leistung wegen der fehlenden Aufklärungsmöglichkeit, zu verbinden“, heißt es in der Bewertung des Bundesbeauftragten für den Datenschutz.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/154433
Peter Nowak

Mensa für Alle

Informationsstände vor Universitätsmensen gehören zum Hochschulalltag. Schließlich ist es der beste Ort, um viele Kommilitonen anzusprechen. Doch kürzlich ging es Studierenden an der Goethe-Universität in Frankfurt (Main) mit ihren Informationsstand vor der Mensa um ein Thema, dass auch am Campus selten verhandelt wird. »Mensa für Alle« lautete das Motto, mit denen man auf die Situation an der Universität aufmerksam machen wollte. Die Zahl der Sitzplätze in der Studenten-Kantine sei zu knapp bemessen und die Preise seien zu hoch, lauteten die Kritikpunkte. Von diesen Missständen ist nicht nur die Mensa an der Frankfurter Uni betroffen. Tatsächlich häufen sich auch an anderen Hochschulen die Klagen über die Preise in den Mensen und Cafeterias. Allerdings sollte sich die Kritik nicht nur an die Studentenwerke richten, die die Mensen betreiben. Schließlich kann ökologisch wertvolle Nahrung nicht zu Niedrigpreisen verkauft werden und die Mensa-Beschäftigten sollten nach Tariflohn bezahlt werden. Dass die Preise für viele Studierende zu hoch sind, liegt auch daran, dass sich der Niedriglohnsektor auch unter Studierenden ausbreitet und dass zudem die Bafög-Sätze nicht ausreichen. Daher müsste die Forderung nach einer sozialen Mensa ein Einkommen für Studierende einschließen, das auch ökologische Ernährung einschließt. Sollte der Slogan »Mensa für Alle« ernst gemeint sein, müsste auch die Forderung aufgenommen werden, dass auch Menschen ohne Studienausweis dort essen können. In vielen Städten waren Mensen lange eine günstige Alternative für Einkommensschwache. Dass wird aber immer schwieriger, weil heute der Mensakonsum überwiegend vom Studienausweis abhängt. Eine Mensa für Alle sieht anders aus.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/823638.mensa-fuer-alle.html
Peter Nowak

Wenn der Tarif nicht stimmt

Linke Gewerkschafter fordern ihre Organisationen auf, für die Leiharbeitsbranche keine Tarifverträge mehr abzuschließen.

»Nein zum DGB-Tarifvertrag in der Zeitarbeit«, lautete die Überschrift eines offenen Briefs, der Mitte April an die Bundesvorstände des DGB sowie der Einzelgewerkschaften Verdi, IG Bau, IG Metall und IG Bergbau, Chemie, Energie gerichtet wurde. Unterzeichnet wurde er von zahlreichen Basisgewerkschaftern. Bei Mag Wompel von der Onlineplattform Labournet gehen derzeit weitere Solidaritätserklärungen ein. Es mag überraschen, dass sich Gewerkschafter, die sich gegen Verzichts­ideologie und Sozialpartnerschaft wenden, nun gegen den Abschluss eines Tarifvertrags aussprechen. Schließlich treten immer wieder Beschäftigte in den Streik, weil Unternehmen sich weigern, Tarifverträge abzuschließen. Dabei haben Unternehmen durch geregelte Verträge große Vorteile. Sie erhalten dadurch Rechtssicherheit und mit den DGB-Gewerkschaften als Tarifpartner auch eine Institution, die für Betriebsfrieden sorgt. In Zeiten des Verlustes von Arbeiterautonomie verliert der DGB als Vermittlungsinstanz im Unternehmerlager allerdings an Bedeutung.

Daher gibt es immer häufiger Arbeitskämpfe für einen Tarifvertrag, denn für die Beschäftigten ist er in der Regel mit höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen verbunden. Warum sollten sie Interesse am Abschluss eines Tarifvertrags haben, wenn er mit Lohnverlusten verbunden ist? Genau das wäre aber in der Leiharbeitsbranche der Fall, argumentieren die gewerkschaftlichen Kritiker des Tarifvertrags. Damit würden Dumpinglöhne tarifiert, monieren sie in ihrem offenen Brief. Sie setzen stattdessen allerdings nicht auf die Bereitschaft zum Arbeitskampf, sondern auf das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz.

Arbeitsrechtler weisen bereits seit geraumer Zeit auf den dort festgeschriebenen Grundsatz des »Equal Pay« hin. Danach steht Leiharbeitern der gleiche Lohn wie den Beschäftigten mit Festanstellung zu, es sei denn, es werden durch Tarifverträge andere Vereinbarungen getroffen. Entsprechend sind die Vertreter der Leiharbeitsbranche sehr an einem Tarifvertrag interessiert. Beim Abschluss von Tarifverträgen waren die DGB-Gewerkschaften für die Leiharbeitsbranche nicht die ersten Ansprechpartner, stattdessen schloss sie mit den Christlichen Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen (CGZP) Tarifverträge ab, die seitens der DGB-Gewerkschaften als Sanktionierung von Dumpinglöhnen heftig kritisiert wurden.

Allerdings schlossen die DGB-Gewerkschaften selbst nur geringfügig bessere Tarifverträge ab, gegen die schon damals heftige Kritik auch im Gewerkschaftslager verteidigten sie diesen Schritt mit dem Argument, dass man so verhindern wolle, dass sich die christlichen Gewerkschaften in der Branche etablierten. Dieses Argument steht den DGB-Gewerkschaften mittlerweile nicht mehr zur Verfügung. Denn das Bundesarbeits­gericht hat in mehreren Urteilen ganz in ihrem Sinne entschieden. Ende 2010 stellte es fest, dass die christlichen Gewerkschaften keine Arbeitnehmervertretung sind, später folgte die Entscheidung, dass die mit ihnen abgeschlossenen Verträge daher nichtig sind.

Die derzeitige Auseinandersetzung um Tarifverträge in der Zeitarbeitsbranche könnte zur Profilierung einer neuen politischen Strömung im gewerkschaftlichen Milieu beitragen. Vor einigen Tagen veröffentlichte Labournet ein Posi­tionspapier von »linken Hauptamtlichen bei Verdi«, die sich zu einer »konflikt- und basisorientierten Gewerkschaftsarbeit bekennen« und dem Co-Management, dem Standortnationalismus und der Stellvertreterpolitik eine Absage erteilen. Zudem werden im Positionspapier auch die »Perspektive einer grundlegenden Gesellschaftsveränderung« und »das Eintreten gegen das kapitalistische Gesellschafts- und Wirtschaftssystem« betont. Dort haben sich Gewerkschafter zusammengefunden, die in der außerparlamentarischen Linken und Bündnissen wie der Interventionistischen Linken aktiv waren und darüber zur Gewerkschaftsarbeit kamen.

http://jungle-world.com/artikel/2013/22/47789.html
Peter Nowak

Blockupy reloaded

Am kommenden Freitag und Samstag sind erneut Krisenproteste in Frankfurt/Main geplant. Aber die Resonanz ist ungewiss

Am kommenden Freitag könnte in der City von Frankfurt/Main das Geschäftsleben zum Stillstand kommen. Das zumindest ist der Plan des Blockupy-Bündnisses, in dem zahlreiche linke Gruppierungen und Parteien seit Monaten Krisenproteste in der Main-Metropole vorbereiten.

Die Protestagenda ist zweigeteilt. Am Freitag sind zwei zentrale Blockadeaktionen geplant. Eine soll vor der Europäischen Zentralbank beginnen und sich dann in die Frankfurter Innenstadt ausbreiten. Auf einer Pressekonferenz am Montag erklärten die Aktivisten ihr Konzept:

„Mit Sitz- und Stehblockaden werden wir alle Korridore zum Eurotower dicht machen. Wenn uns die Polizei – wie im letzten Jahr – Gitter und Zäune in den Weg stellt und die EZB dadurch faktisch abriegelt, werden wir diese Absperrungen in unsere Blockaden einbeziehen. Mit kreativen Hilfsmitteln wie Großpuppen oder Absperrbändern, mit Transparenten, klassischen Sitzblockaden, Trommeln oder Straßentheater werden wir die EZB und alles, für was sie steht, ‚einsperren‘.“

Im Anschluss an die EZB-Blockaden soll der Protest vor der Zentrale der Deutschen Bank Artikuliert werden, wo u.a. die Spekulation mit Nahrung kritisiert werden soll. Freitagmittag soll sich der Widerstand sich auch auf der Frankfurter Einkaufsmeile ausbreiten. Dort sollen die prekären Arbeitsbedingungen im deutschen Einzelhandel und die oft mörderischen Verhältnisse der globalen Textilproduktion im Mittelpunkt des Protestes stehen, wie sie bei den Bränden in asiatischen Zuliefererfirmen internationaler Textilketten zum Ausdruck kommen.

Ein zweites Blockadeziel ist der Frankfurter Flughafen, wo der Protest gegen die Abschiebung von Flüchtlingen ausgedrückt werden soll. Am Samstag soll dann eine internationale Großdemonstration stattfinden, auf der auch Aktivisten aus dem europäischen Ausland erwartet werden.


Wer lässt sich mobilisieren?

Bei dem ehrgeizigen Protestprogramm stellt sich natürlich die Frage, ob es genügend Teilnehmer an den Blockupy-Aktionstagen geben wird, damit es auch realisiert werden kann. Im letzten Jahr war die Resonanz an den Blockadetagen zu gering, um die gesetzten Ziele zu erreichen. Doch da sämtliche Aktionen von den Behörden verboten und von der Polizei rigoros unterbunden wurden, fiel diese Mobilisierungsschwäche nicht besonders ins Gewicht. Durch die rigorose Verbotspolitik setzte eine Mobilisierung bis in linksliberale Kreise ein, wodurch die Abschlussdemonstration von Blockupy im letzten Jahr ein Erfolg wurde.

In diesem Jahr musste das Blockupy-Bündnis bisher ohne eine solche Mobilisierung durch Polizei und Staat auskommen. Statt Totalverbote setzen die Behörden in diesem Jahr auf begrenzte Kooperation und auf Auflagen, die Blockaden verhindern sollen. Anders als im letzten Jahr gibt es jetzt ein Aktivistencamp als Schlafplatz und Anlaufstelle für die Protester, das bereits bezogen wurde.


Erste Verbote

Allerdings scheint in den letzten Tagen die Kooperationsbereitschaft der staatlichen Apparate an die Grenzen zu stoßen. So wurde die geplante Kundgebung am Frankfurter Flughafen verboten. Jetzt muss gerichtlich geklärt werden, ob ein Flughafen entgegen anderer Urteile zum protestfreien Raum werden soll.

Die allgemeine Nervosität im Vorfeld der Protesttage hat auch dazu geführt, dass die Frankfurter Universität eine Diskussionsveranstaltung mit der Linken-Politikerin Sarah Wagenknecht kurzfristig auf dem Unicampus untersagen will. Nur wenige Wochen vorher konnte am gleichen Campus der SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück auf Einladung der Jusos ohne Probleme sprechen.

Ein Anziehen der Repressionsschraube würde sicher zur Mobilisierung beitragen. Allerdings würde damit eher verhindert, dass auch einige strittige Fragen geklärt werden können. So kann man feststellen, dass Aktivisten in vielen europäischen Ländern erwarten, dass es auch in Deutschland größere Proteste gegen eine Krisenpolitik gibt, die vor allem in der europäischen Peripherie desaströse Auswirkungen hat. In Deutschland sind aber die Proteste auch deshalb so schwach, weil der Standort Deutschland von der Krise profitiert und ein Teil der Lohnabhängigen daran partizipiert. Der wachsende Teil der Menschen, die in den Niedriglohnsektor gedrängt werden und durchaus auch Leidtragende der Krisenpolitik sind, haben oft weder Zeit noch Geld, sich an solchen Protesten zu beteiligen. Deshalb gibt es Diskussionen darüber, ob nicht der Widerstand gegen Zwangsräumungen, wie er in den letzten Monaten in Berlin bekannt wurde, auch zu einer Form der Krisenproteste werden sollte.

Umstritten ist zudem der Bezug linker Krisenprotestler auf die Occupy-Bewegung, wie er sich im Begriff Blockupy ausdrückt. Schließlich war die Occupy-Bewegung in Deutschland immer eher unbedeutend, zurzeit existiert nur noch ein Camp in Hamburg. Und auch weltweit ist sie schon längst zum Gegenstand für Soziologieseminare geworden.

Jenseits dieser offenen Fragen ist das nächste Protestziel schon klar. Wenn im Frühjahr 2014 die Europäische Zentralbank in Frankfurt/Main in ihr neues Gebäude einzieht, soll es dort abermals internationale Proteste geben.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/154332
Peter Nowak

„Uns blieb keine andere Wahl“

Im Februar 2013 erklärte die Belegschaft des griechischen Baustoffproduzenten Viomichaniki Metaleftiki (Vio.Me), ihre Fabrik stehe ab sofort unter der Kontrolle der Arbeiterinnen und Arbeiter und nehme die Produktion wieder auf (Jungle World 13/2013).
Makis Anagnostou ist Vorsitzender der Basisgewerkschaft der von den Beschäftigten besetzten Fabrik in Thessaloniki. Mit ihm sprach die Jungle World über die Erfolge und Tücken der Selbstverwaltung.

Wie kam die Belegschaft von Vio.Me mitten in der großen Wirtschaftskrise auf die Idee, die Produktion unter Arbeiterkontrolle fortzusetzen?

Uns blieb keine andere Wahl. Wir haben den Kampf im Juli 2011 begonnen, nachdem die Eigentümer die Firma Vio.Me aufgegeben hatten. Wir Arbeiter haben bereits seit Mai 2011 keinen Lohn mehr erhalten. Wir wollten uns nicht damit abfinden und haben viele Betriebsversammlungen organisiert. Dort haben dann 97,5 Prozent der Anwesenden beschlossen, die Fabrik in eine Kooperative unter Arbeiterkontrolle umzuwandeln.

War die Selbstverwaltung schon bei Beginn der Besetzung Ihr Ziel?

Nein, am Anfang wollten wir nur unsere Arbeitsplätze erhalten und haben versucht, die Unterstützung der politischen Parteien zu gewinnen. Wir haben uns also ausschließlich auf gesetzlichem Boden bewegt. Als wir merkten, dass wir von der Politik und auch den meisten Gewerkschaften keine Unterstützung bekommen, planten wir auf unseren Versammlungen die nächsten Schritte. Dabei lernten alle von uns viel über den Kapitalismus, aber auch über die Solidarität unter Arbeitern.

Können Sie ein Beispiel für einen solchen Lernprozess geben?

Auf vielen Veranstaltungen wurde ich gefragt, ob wir uns mit den Erfahrungen der besetzten Zanon-Fabrik in Argentinien auseinandergesetzt haben. Schließlich stellt sie ähnliche Produkte her wie wir und ist in vielen Ländern als selbstverwaltete Fabrik bekannt geworden. Die Zuhörer sind erstaunt, wenn ich ehrlich antworte, dass niemand von uns von Zanon gehört hatte, als wir unseren Kampf begonnen haben. Das Interesse wäre wohl auch nicht groß gewesen. Argentinien ist weit weg und wir müssen unsere Probleme bei uns lösen, hätten wir gesagt. Jetzt haben einige unserer Kollegen das Buch von Raúl Godoy gelesen, der bei der Besetzung von Zanon eine wichtige Rolle spielte. Sie hatten den Eindruck, dass er über Vio.Me schreibt. Er stellt in dem Buch die Fragen, die auch wir uns stellen. So haben wir gelernt, dass die Arbeiter auf der ganzen Welt ähnliche Probleme haben und nach ähnlichen Lösungen suchen.

Wie reagierten die griechischen Gewerkschaften auf Ihre Pläne?

Zunächst hatten wir Kontakt mit der sozialdemokratisch orientierten GSEE gesucht. Doch dort hat man uns geraten, wir sollen uns an unsere Bosse werden, damit sie das Kapital zurückbringen. Damit waren wir natürlich überhaupt nicht einverstanden. Warum sollten wir die Bosse, die die Firma in den Ruin getrieben haben, wieder zurückholen? Auf der Suche nach einer klassenkämpferischen Perspektive haben wir dann zeitweise mit der Pame kooperiert, die der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) nahesteht. Wir waren die einzige Basisgewerkschaft, die auf Demonstrationen gemeinsam mit der Pame die Fahnen hielt. Doch weil unsere Positionen ignoriert wurden, wenn sie nicht hundertprozentig mit der Linie der Pame übereinstimmten, haben wir auf einer Vollversammlung beschlossen, unseren Kampf ohne die Gewerkschaften weiterzuführen. Das bedeutet nicht, dass wir den Gewerkschaften feindlich gegenüberstehen. Doch wir sind nicht bereit, uns einer Zentrale unterzuordnen.

Haben Sie in der ganzen Zeit Ihres Kampfes nie ans Aufgeben gedacht?

Doch, natürlich. Hätte es nicht die täglichen Versammlungen gegeben, auf denen wir alle Schritte gemeinsam diskutierten und jeder auch über seine Probleme und Ängste reden konnte, hätten viele sicher aufgegeben. Besonders vor einem Jahr war die Lage kritisch. Damals verübten mehrere Menschen, die sich monatelang in der Bewegung der »Empörten« engagiert hatten, die auf den großen Plätzen ihren Protest und ihre Wut ausdrückte, Selbstmord. Die Zeitungen veröffentlichten Abschiedsbriefe von Menschen, die geschrieben hatten, dass sie große Hoffnungen in diese Bewegung gesetzt hatten und erfahren mussten, dass sie nicht gehört wurden. Wir befürchteten, dass auch Kollegen von Vio.Me ihrem Leben ein Ende setzen könnten. Schließlich hatten viele von ihnen lange keinen Lohn bekommen. Da beschlossen wir, mit einem Brief an die Öffentlichkeit zu gehen, in dem wir unsere Situation schilderten.

Welche Reaktionen gab es darauf?

Innerhalb kurzer Zeit bekamen wir von uns völlig unbekannten Menschen aus dem ganzen Land Ermutigungen. Wir wurden darin bestärkt, dass wir unbedingt durchhalten sollten. Da haben wir gemerkt, dass es viele Menschen gibt, denen nicht egal ist, was wir machen. Dieser Zuspruch war eine große Hilfe für uns. Ohne ihn hätten wir wahrscheinlich längst aufgegeben.

Gab es neben warmen Worten auch materielle Unterstützung?

Ja, es kam Hilfe aus ganz Griechenland und auch aus dem Ausland. Die meisten Menschen, die uns unterstützen, sind selbst arm und spenden uns etwas von dem Wenigen, das sie haben. Die einen bringen uns eine Packung Spaghetti oder getrocknete Bohnen, andere geben uns zwei Euro als finanzielle Unterstützung. Aber auch diese kleinen Hilfen sind sehr wichtig für uns, weil sie uns die Kraft und den Mut zum Weiterzumachen geben.

Zu welchen Kompromissen sind Sie bereit, um das Unternehmen zu retten?

Natürlich wissen wir, dass wir noch eine Weile im Kapitalismus leben müssen. Aber das heißt nicht, dass wir unsere Ziele aufgeben und die Erfahrungen der vergangenen Monate preisgeben. Deswegen gehen wir zweigleisig vor. Mit der Produktion unter Arbeiterkontrolle greifen wir das Recht der Kapitalisten an, über uns zu bestimmen. Dazu muss aber die Fabrik erhalten bleiben. Daher haben wir gemeinsam mit Ökonomen Pläne ausgearbeitet, wie die Firma überleben kann. Dazu haben wir auch einen Katalog mit konkreten Forderungen an die Regierung zusammengestellt.

Können Sie einige Forderungen nennen?

Ein Kernpunkt ist der Erwerb der Aktien des Unternehmens ohne die angehäuften Schulden, eine Subventionierung in Höhe von 1,8 Millionen Euro, die zum Teil aus dem Fonds der Europäischen Union finanziert werden soll. Eine gesetzliche Vorlage soll das Risiko für die Beschäftigten begrenzen. Damit soll ausgeschlossen werden, dass wir selbst mit persönlichem Vermögen haftbar gemacht werden. Zudem fordern wir die Rückgabe von 1,9 Millionen Euro, die von Vio.Me an den Mutterkonzern ausgeliehen wurden.

Wären Sie nicht dazu gezwungen, wie Kapitalisten zu handeln, wenn diese Forderungen umgesetzt werden?

Solange wir Solidarität erfahren, sehe ich bei uns das Problem nicht. Wenn die Arbeiterbewegung auf unserer Seite ist und unseren Kampf unterstützt, besteht kaum die Gefahr, dass wir uns mit dem Kapitalismus versöhnen. Wenn aber die Arbeiterbewegung auf Distanz geht, dann versuchen die Arbeiter individuelle Wege zum Überleben zu finden, und hier liegt die Gefahr der Wendung zum Bürgerlichen.

Gibt es weitere Betriebe in Griechenland, die ebenfalls unter Arbeiterkontrolle weiterarbeiten wollen?

Ja, in einer kleinen Stadt in Nordgriechenland hat die Belegschaft einer Zigarettenfabrik in einer Vollversammlung beschlossen, den Betrieb ebenfalls unter Arbeiterkontrolle weiterzuführen. Solche Überlegungen gibt es auch bei einer Firma im Bereich der Solar- und Windenergie. Die Kollegen waren unsicher, ob sie diesen Schritt gehen sollen. Wir haben uns mit ihnen getroffen und ihnen geraten, den Kampf um die Arbeiterkontrolle jetzt zu beginnen.

aus Jungle World 20/2013
http://jungle-world.com/artikel/2013/20/47715.html
Interview: Peter Nowak

Recht auf ein eigenes Konto

Im EU-Raum könnte bald ein Grundrecht umgesetzt werden, das bisher massenhaft missachtet wird

Ungefähr 58 Millionen Menschen besitzen im EU-Raum kein eigenes Konto. Allein in Deutschland ist die Zahl der Menschen ohne Konto in den letzten Jahren auf rund 650.000 gestiegen. Die EU-Kommission hat am vergangenen Mittwoch den Entwurf für eine Richtlinie vorgelegt, nach der die Banken keine Kunden abweisen dürfen, die ein Girokonto einrichten wollen. Damit würde ein lange gefordertes Grundrecht auf ein Konto in die Praxis umgesetzt.

„Dieser Vorschlag ermöglicht Verbrauchern in der gesamten EU, Zugang zu einem Konto zu erhalten, Bankenangebote zu vergleichen und – wenn sie unzufrieden sind – zu einem anderen Anbieter zu wechseln“, erklärte EU-Verbraucherkommissar Tonio Borg. Sollte der Entwurf der Kommission von EU-Parlament und den nationalen Regierungen verabschiedet werden, müssten die Länder die neuen Vorgaben in ihren Rechtsrahmen aufnehmen.

Danach müssten alle Banken ihre Kunden regelmäßig über anfallende Entgelte informieren, die nach einem einheitlichen Standard aufgeschlüsselt werden müssen. In jedem Land soll zudem eine unabhängige Internetseite einen Gebührenvergleich zwischen sämtlichen Kontoanbietern ermöglichen. Auch der Kontowechsel soll erleichtert werden: Künftig soll es genügen, der jeweils neuen Bank einen Auftrag zur Abwicklung des alten Kontos zu erteilen. Der neue Anbieter muss sich dann laut der EU-Vorlage innerhalb von 15 Tagen kostengünstig um alles Weitere kümmern. Auch die Einrichtung eines Kontos im EU-Ausland soll für EU-Bürger vereinfacht werden.

Mit Schalterhygiene gegen Einkommensschwache

Sollte die Richtlinie beschlossen werden, würde eine zentrale Diskriminierung von einkommensschwachen Menschen der Vergangenheit angehören, die seit Jahren kritisiert wurde. Mit dem verschleiernden Begriff „Schalterhygiene“ wurde eine Praxis bezeichnet, die für manche potentielle Bankkunden mit großer Willkür verbunden ist. Bankberater verstehen unter diesen Begriff das Fernhalten missliebiger, d.h. nicht profitabler Kunden. Dazu zählen in erster Linie Menschen, die wegen ihres geringen Einkommens reine Guthabenkonten führen, die nicht überzogen werden können. Für viele Kreditinstitute sind die Kontoführungsgebühren nicht profitabel genug, so dass diese Kunden nicht erwünscht sind.

Sich ihrer zu entledigen war bisher kein großes Problem. Denn bisher können die Banken in Deutschland die Girokonten ihrer Kunden jederzeit kündigen, obwohl es seit 1995 eine Empfehlung des Zentralen Kreditausschusses für ein Girokonto für jedermann gibt. Doch diese Empfehlung war bisher rechtlich nicht bindend und sollte in einer Selbstverpflichtung der Branche umgesetzt werden. Doch das bisherige Resultat macht auch deutlich, welch geringe Bedeutung solche Selbstverpflichtungen haben. Hoffnungen auf eine Selbstregulierung der Finanzbranche hat die Kommission eigenen Angaben zufolge aufgegeben.

Ausgeschlossen vom gesellschaftlichen Leben

Die Folgen für die Betroffenen sind gravierend. Sie sind von vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ausgeschlossen. Schließlich ist ein Girokonto häufig Voraussetzung für den Abschluss eines Miet- oder Arbeitsvertrags und für die Einrichtung eines Telefon- und Internetanschlusses. Nur noch aus schwerwiegenden Gründen wie z.B. Geldwäsche sollen Banken künftig Interessenten für ein Guthabenkonto zurückweisen können. Die EU-Behörde spricht deshalb sogar von einem neuen sozialen Grundrecht auf ein Konto.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/154250
Peter Nowak

Diese Klassenfahrt wird gesponsert von ExxonMobil

Wo sich die öffentliche Hand zurückzieht, wächst der Einfluss der Lobbyorganisationen

Lobbyismus ist heute allgegenwärtig. Deshalb überrascht es auch nicht, dass auch die Schulen ein wichtiges Testfeld für Lobbyarbeit diverser Firmen sind. Die Organisation Lobby Control will mit einem vor einigen Tagen veröffentlichten Papier über Lobbyismus in den Schulen die Diskussion anregen.

In einem offenen Brief an die Bildungsminister sämtlicher Bundesländer werden diese aufgefordert, sich der Lobbyarbeit in den Schulen entgegenzustellen. Dies dürfte allerdings kaum geschehen. Schließlich findet das Lobbying einen guten Nährboden, wenn die Gelder für Schulen gestrichen oder gekürzt werden und dann private Firmen als Lobbyisten einspringen. Dann haben sie einen großen Imagegewinn, der sich natürlich auch positiv auf die Firmenbilanzen auswirken kann, vor allen wenn jugendgemäße Waren und Dienstleistungen im Angebot sind. So dürfte sich eine von ExxonMobil gesponserte Klassenfahrt schnell amortisieren.

Aber es gibt auch noch direktere Formen von Lobbying an den Schulen, die auch mit der schlechten finanziellen Situation zu tun haben. Überarbeitete Lehrer und wenig Geld für Unterrichtsmaterialien führen dazu, dass gerne auf Broschüren zurückgegriffen wird, die von Firmen gespendet werden, die natürlich ihr Unternehmen dann in gutem Licht erscheinen lassen wollen. Schließlich wird niemand erwarten, dass in Broschüren, die von der Energiewirtschaft gesponsert werden, ein explizit AKW-kritischer Artikel veröffentlicht wird.

Wie verbreitet diese Art von Lobbying ist, zeigen einige Zahlen in der von Lobby Control verfassten Broschüre. Demnach besuchen 87,5 Prozent der 15-Jährigen in Deutschland eine Schule, an der Wirtschaft und Industrie Einfluss auf die Lehrinhalte nehmen. Ein wissenschaftliches Projekt an der Universität Augsburg hat untersucht, wie verbreitet diese Materialien tatsächlich sind, und ein Zwischenergebnis war, dass von den 20 umsatzstärksten Unternehmen 16 an der Produktion von Schulmaterialien beteiligt sind.

Lobbying mit Köpfchen

Oft ist Lobbyarbeit auf Langzeitwirkung ausgerichtet. Dazu gehört der Schülerwettbewerb des Energiekonzerns RWE mit dem Titel „Energie mit Köpfchen“. Er dient der Imagepflege bei einem Konzern, der auch im Zusammenhang mit der AKW-Energie und der Kohleförderung immer wieder in der Kritik gestanden hat.

Beispiele für die alltägliche Lobbyarbeit in den Schulen finden sich in Hülle und Fülle. Oft aber sehen die Betroffenen, seien es Lehrer oder Schüler, gar kein Problem darin, wenn die RWE einen Schülerwettbewerb sponsert und sich damit in ein gutes Licht rücken will. Damit profitieren diese Konzerne von einer weitgehend unpolitischen Jugend, die oft sehr modemarkenorientiert ist und es sogar als Auszeichnung empfinden würde, wenn die Schule eine solche Unterstützung von einer angesagten Marke wie Adidas und Nike bekäme.

Eine Kampagne dagegen, soll sie erfolgreich sein, müsste sich gerade an diese Jugendlichen wenden und an ihren Erfahrungshorizont anknüpfen. Denn, wenn staatliche Maßnahmen gegen Lobbying vorgeschlagen werden, ohne mit den Betroffenen in Kontakt zu kommen, könnten die gute Absicht schnell zum Bumerang werden. Wenn Jugendliche den Eindruck haben, dass über ihre Köpfe hinweg nach dem Staat gerufen wird, könnte das sogar zu Solidarisierungseffekten mit den Firmen führen.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/154211
Peter Nowak

Sollen sie doch Kohl essen

Essen, Kleidung, Kleinkram – damit versorgen die Tafeln seit 20 Jahren Menschen in Armut. Was karitativ klingt, ist Teil einer Armutsökonomie, in der die Kunden ewige Almosenempfänger sind.

Vor 20 Jahren wurde die erste Berliner Tafel gegründet. Mittlerweile gibt es in der gesamten Republik beinahe 1 000 dieser Einrichtungen, in denen Menschen mit geringem Einkommen Lebensmittel, Kleidung und Haushaltsgegenstände günstig erwerben können. Das Prinzip der Tafeln ist simpel. Waren, die wegen des baldigen Ablaufs des Haltbarkeitsdatums oder bestimmter Mängel nicht mehr verkauft, aber noch verbraucht werden können, werden den Tafeln überlassen, die sie dann kostengünstig verteilen.

Selbstverständlich ist so etwas in Deutschland nicht ohne ein bürokratisches Prozedere zu bewerkstelligen. Tafelkunden brauchen eine Bedürftigkeitsbescheinigung vom Amt. Wer auf die Idee kommt, gleich mehrere Tafeln aufzusuchen, kann mit einem Tafelverbot bestraft werden. Auch wählerische Kunden sind in der Tafelbranche oft nicht erwünscht. Gegessen wird, was auf den Tisch kommt – aus dieser kleinbürgerlichen Formel, mit der viele Eltern ihren Nachwuchs quälen, macht die deutsche Tafelwelt: Genommen wird, was im Korb liegt. Wenn ein Kunde keinen Kohl essen will, hat er eben Pech gehabt. Er soll dankbar sein, dass er überhaupt etwas bekommt.
Denn in der Tafelwelt geht es nicht um Rechte, die Kunden einfordern können, sondern um Almosen, die gewährt werden können oder auch nicht. Immer wieder klagen Kunden, dass sie auch im Winter vor der Tür der Tafel warten müssen, bis die Warenausgabe beginnt. Dann haben sie sich in einer Reihe aufzustellen und ihr Almosen entgegenzunehmen. Auch ältere Menschen, die um eine Sitzgelegenheit bitten, werden oft von den Betreibern abgewiesen. In den vergangenen 20 Jahren gab es immer wieder Klagen von Kunden, die aber in der Öffentlichkeit weitgehend ignoriert wurden.

Erst der Soziologe Stefan Selke verschaffte der Kritik mit seinem Streifzug durch die Welt der Suppenküchen und Essenstafeln eine größere Öffentlichkeit. Nachdem er 2009 in seinem im Verlag Westfälisches Dampfboot herausgegebenen Buch »Fast ganz unten« beschrieben hatte, »wie man in Deutschland mit Hilfe der Essenstafeln satt wird«, präzisierte er in weiteren Publikationen seine Kritik. In einem Interview mit der Zeitschrift Verdi publik stellt Selke einen Zusammenhang zwischen der Agenda 2010 und dem Tafelboom her: »Viele kritische Beobachter sind sich einig, dass die Regelsätze zu einer Unterversorgung führen. So entstehen Bedarfslücken. Es ist doch selbstverständlich, dass dann entsprechende Angebote der sogenannten Armutsökonomie genutzt werden.« Damit würden aber nur die Ursachen verewigt. Das Problem der Unterversorgung und der nicht vorhandenen sozialen und kulturellen Teilhabe werde nicht gelöst. Deswegen sei das Tafeljubiläum kein Grund zum Feiern, sondern ein Armutszeugnis.

Dieser Überzeugung ist auch das »Kritische Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln«, das mit zahlreichen Veranstaltungen am letzten Aprilwochenende die Vertafelung der Gesellschaft einer grundsätzlichen Kritik unterzog. »Tafeln haben sich in den letzten 20 Jahren zu einem System entwickelt, das zunehmend marktförmig und nach Eigenlogik operiert«, sagt die Pressesprecherin des Bündnisses, Luise Molling, der Jungle World. Sie weist darauf hin, dass die Tafeln als Monopolisten auf dem Markt der Bedürftigkeit auftreten und andere ebenso engagierte Anbieter von Hilfeleistungen verdrängen.

Genaue Zahlen über die Gewinne der Tafel­industrie gibt es nicht, weil die Betreiber keinen Einblick in ihre Geschäftsbücher gewähren. Auch kritische Wissenschaftler des Forschungsprojekts Tafelmonitoring der Hochschulen Esslingen und Furtwangen bekommen keine Daten. Daher lässt sich der Anteil der prekären Beschäftigungsverhältnisse in den Tafelunternehmen nicht genau bestimmen, die Bernhard Jirku von Verdi besonders kritisiert: »Zur Versorgung der Armenspeisungen mit Produkten und zu ihrer Verteilung eröffnet das Tafelwesen einen weiteren, sehr prekären Arbeitsmarkt, dessen Beschäftigungsbedingungen sich weit unterhalb gewerkschaftlicher und tariflicher Vorstellungen befinden. Selten gibt es existenzsichernde, reguläre Beschäftigungsverhältnisse, noch seltener sind sie tariflich entlohnt.«

Für Molling sind die Tafeln der perfekte Ausdruck des wirtschaftsliberalen Prinzips, das die Privatisierung des Sozialen betreibt. »Der Sozialstaat bedeutet für die Unternehmen letztlich eine Minderung des Profits. Bei den Tafeln ist es umgekehrt: Die Unternehmen können Entsorgungskosten sparen, die großen Sponsoren polieren ihr Image auf und die Politik wird entlastet«, sagt Molling. Die Ideologie des Ehrenamts habe die Überzeugung verbreitet, dass man Armut im lokalen Rahmen und privat bekämpfen solle und sich der Staat möglichst herauszuhalten habe. Die Folgen liegen für Molling auf der Hand: »Mittlerweile gibt es Tausende Ehrenamtliche, die die Armut lindern wollen, aber kaum jemanden, der diese ursächlich bekämpft. Darum geht es uns mit dem Bündnis.«

Doch die Vorschläge der Tafelkritiker bleiben sehr allgemein. »Es geht uns darum, dass erst einmal unabhängig berechnet wird, was denn so ein soziokulturelles Minimum beinhaltet. Es geht uns auf jeden Fall um eine deutliche Erhöhung der Regelsätze, die dann auch nicht mehr durch Sanktionen eingeschränkt werden dürfen«, erklärt Molling. Dabei gibt es durchaus Berechnungen, die als Grundlage für konkretere Forderungen genutzt werden können. So hat das Bündnis »Krach schlagen statt Kohldampf schieben«, das im Oktober 2010 eine bundesweite Erwerbslosendemonstration in Oldenburg organisierte, die Forderung nach einer Regelsatzerhöhung um 80 Euro mit den Kosten für Lebensmittel für den täglichen Bedarf präzise begründet. Das Bündnis hat mit einer monatelangen Kampagne vor der Demonstration den Zusammenhang zwischen sinkenden Einkommen, der steigenden Nachfrage nach Billigprodukten, dem sich daran anschließenden Preiskrieg der Discounter und den oft miserablen Arbeits- und Produktionsbedingungen in der Lebensmittelbranche gut herausgearbeitet.

Die Tafelindustrie, die in der Aufzählung fehlte, ist die letzte Station in der Verwertungskette. Dort wird die politisch gewollte Verarmung noch einmal profitabel genutzt. Statt erkämpfte so­ziale Rechte zu erhalten, werden arme Menschen zu Almosenempfängern herabgestuft. Im Juli 2012 begründete das Bundessozialgericht ein Urteil, nach dem die derzeitigen Hartz-IV-Sätze verfassungsgemäß sind, mit der Existenz der Tafeln. Wenn man mit Lebensmitteln nicht umgehen könne, gebe es ja auch die Möglichkeit, sie sich bei den Tafeln zu beschaffen, formulierte der zuständige Sozialrichter Peter Uschding eine Aufforderung, die Erwerbslose auch von Mitarbeitern der Jobcenter immer wieder zu hören bekommen.
http://jungle-world.com/artikel/2013/18/47613.html

Peter Nowak

Blockupy 2013 – Für Alltagskämpfe

Diskussion Auch dieses Jahr will ein Protestbündnis die Europäische Zentralbank blockieren
Die Blockupy-Proteste rücken näher. Vom 31. Mai bis 2. Juni ruft ein breites Bündnis erneut dazu auf, den Bankbetrieb in Frankfurt am Main lahmzulegen. Symbolischer Protest im Herzen der europäischen Krisenpolitik? Die Aktion ist überflüssig und geht an den alltäglichen Krisenerfahrungen vorbei, findet Peter Nowak. Sie ist ein Schritt zur Vernetzung der europäischen Proteste und Widerspruch gegen das herrschende Krisenkommando, meint die Interventionistische Linke. Mit der Frage nach Erfolg oder Misserfolg der letztjährigen Proteste haben wir uns in ak 573 und 577 ausführlich beschäftigt – falls jemand nachlesen möchte

Am letzten Maiwochenende sollen in Frankfurt am Main erneut Blockupy-Aktionstage stattfinden. Die Premiere war im letzten Jahr, sie artete zu Polizeifestspielen aus. Dieses Mal will das Blockupy-Bündnis »den Protest noch größer, bunter und lauter auf die Straßen in Frankfurt tragen«, wie es in einer Pressemitteilung schreibt. Doch was großspurig als »Widerstand im Herzen des europäischen Krisenregimes« verkauft wird, ist vor allem Simulation von Protest.
Mit viel Aufwand organisieren wenige AktivistInnen in der Frankfurter Innenstadt einen zweitägigen Event. Wenn die Kulissen abgebaut sind, werden sie mit der Einschätzung in die verdiente Sommerpause gehen, es sei doch ein guter Anfang gewesen, und im nächsten Jahr müsse die Aufführung unbedingt noch größer werden.
Wie kreativ die ProtestorganisatorInnen bei der Bewertung der eigenen Aktionen als Erfolg sind, zeigte sich beim ersten Treffen der Berliner Blockupy-Plattform. Mehrere RednerInnen sprachen vom großen Erfolg der letztjährigen Aktionstage. Da habe die Polizei die Stadt Frankfurt blockiert und den DemonstrantInnen die Arbeit abgenommen, hieß es. Dabei übersehen die AktivistInnen, dass die Repressionsorgane die Proteste erfolgreich blockiert und so die Banktransaktionen, die Ziel der Proteste waren, geschützt haben. Zudem ignoriert die Erfolgsbilanz, dass die Zahl der TeilnehmerInnen während der Blockupy-Tage viel zu gering war, um effektive Blockaden durchzuführen. Die Massen kamen erst zur Großdemonstration, die tatsächlich als Erfolg gewertet werden kann.
Danach änderte sich auch die Berichterstattung über die Blockupy-Proteste. Bürgerliche Medien kritisierten die staatliche Repression nun als überzogen und unverhältnismäßig. Sie verwiesen auf den friedlichen Charakter der Großdemonstration und fragten, wo die von Politik und Polizei ständig angeführten »Chaoten und Gewalttäter« denn geblieben seien. Eine solche Kritik an staatlicher Repression ist äußerst zwiespältig. Schon Aktionen des zivilen Ungehorsams hätten dann dazu führen können, dass die repressive Linie medial verteidigt wird. Die tagelange Suspendierung von Grundrechten für Tausende von Menschen hat also keineswegs zu einem Aufschrei der liberalen Öffentlichkeit geführt – anders als noch in den 1980er Jahren, als Konferenzen und Demonstrationen der Anti-AKW-Bewegung verboten und zerschlagen wurden.
Wo hier ein politischer Erfolg für eine radikale Linke auszumachen ist, bleibt fraglich. Linke Gruppen schlüpfen unter das Zeltdach der Occupy-Bewegung, die in Deutschland nie mobilisierungsfähig war und auch international längst ein Fall für Galerien und soziologische Studien geworden ist. Dafür wurden die noch vorhandenen kapitalismus- und herrschaftskritischen Spurenelemente der radikalen Linken bei den Blockupy-Aktionstagen noch weiter eingedampft. Schließlich hatte sich auch die Occupy-Bewegung mit solcherlei Feinheiten nie abgegeben, schielte sie doch immer auf die ominösen »99 Prozent«.
Gruppen der radikalen Linken nehmen diese Verflachung der Kapitalismuskritik mit dem Argument in Kauf, dass damit weitere Bevölkerungsteile für die Krisenproteste angesprochen werden könnten. Doch bei den Blockupy-Tagen waren vor allem AktivistInnen verschiedener politischer Spektren auf der Straße. Die Schlecker-Beschäftigten, die zur selben Zeit abgewickelt wurden, spielten dort ebenso wenig eine Rolle wie die vielen Menschen, die mit oder ohne Lohnarbeit unter Hartz IV leben müssen.
Das liegt vor allem daran, dass ihre Krise wenig mit der Europäischen Zentralbank (EZB) und anderen Banken zu tun hat. Ihr Problem ist nicht das Fallen oder Steigen der Börsenkurse, sondern die Sanktionierung durch die Jobcenter. Daher sind Protestaktionen wie Zahltage oder gemeinsame Begleitaktionen, bei denen Erwerbslose kollektiv ihre Rechte einfordern, nicht nur Alltagswiderstand, sondern ein konkreter Ausdruck von Krisenprotesten. Dazu gehört auch der in den letzten Monaten in Berlin zunehmende Widerstand gegen Zwangsräumungen von Wohnungen einkommensschwacher Menschen. In Berlin haben sich Bündnisse gegen Zwangsumzüge gegründet, die in mehreren Fällen die Maßnahmen verzögern oder sogar verhindern konnten. (Siehe ak 581) In den letzten Wochen haben sich auch Menschen, die nie etwas mit der linken Szene zu tun hatten, mit Unterstützung des Bündnisses gegen Zwangsumzüge gegen ihre drohende Räumung gewehrt.
Hier wird deutlich, dass für viele Menschen nicht die EZB, sondern das Jobcenter, Firmen im Niedriglohnsektor und im Investmentbereich Orte sind, an denen sie die Krise des Kapitalismus erleben und wo sie sich dagegen wehren können. Die Occupy-Bewegungen in Spanien und den USA haben das erkannt. Nachdem das Zelten auf den großen Plätzen nicht mehr möglich war, arbeiten sie in Stadtteilkomitees und unterstützen Bewegungen gegen Zwangsräumungen, protestierende Studierende und streikende Lohnabhängige. Daran sollte sich die außerparlamentarische Linke ein Beispiel nehmen, statt im nächsten Jahr erneut ein Blockupy-Revival zu organisieren.

http://www.akweb.de/

ak – analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 582 / 19.4.2013

Peter Nowak

„20 Jahre Essenstafeln sind genug“

Die Kritiker einer „Vertafelung der Gesellschaft“ kritisieren mit einer Veranstaltungsreihe eine Politik, die einkommensschwachen Menschen Almosen statt Rechte anbietet

Eine Reise durch das Land der Suppenküchen und Tafeln schrieb der Soziologe Stefan Selke kürzlich für Telepolis. Damit gehört er zu den wenigen Wissenschaftlern, die die zunehmende Präsenz von Essenstafeln nicht als Beweis für die Zunahme ehrenamtlichen Geistes in Deutschland interpretieren, sondern die Vertafelung einer Gesellschaft als Ausdruck eines Rückzugs des Staates aus der Sozialpolitik kritisieren. Statt anerkannter und einklagbarer Rechte werden die einkommensschwachen Menschen zunehmend auf die Tafeln verwiesen, wo sie einen Teil ihrer Nahrungsmittel aber auch Haushaltsgegenstände als Almosen beziehen können.

Die Kritik von Selke, sozialen Initiativen und Erwerbslosengruppen an den Tafeln wird mittlerweile von weiteren Gruppen getragen. Zum 20. Jubiläum der Essenstafeln hat sich das Bündnis „Abgespeist“ gegründet, das am Montag auf einer Pressekonferenz in Berlin die Argumente vorgetragen hat.

Marktwirtschaftliche Armutsverwaltung mit prekären Arbeitsplätzen?

Stefan Selke, der mit dem emeritierten Berliner Politologen Peter Grottian zu den Initiatoren des Bündnisses gehört, machte darauf aufmerksam, dass sich die Tafeln in den letzten 20 Jahren zu einem marktförmigen System der Armutsverwaltung entwickelt haben, in dem auch Gewinne erwirtschaftet werden. „Tafeln sind keine Bewegung, sondern eine Organisation, die als Monopolist im Markt der Bedürftigkeit auftritt und andere ebenso engagierte Anbieter von Hilfeleistungen zunehmend verdrängt.“

Bernhard Jirku von ver.di weist auf die prekären Arbeitsbedingungen hin, die durch die Tafeln verfestigt würden: „Zur Besorgung der Armenspeisungen mit Produkten und ihrer Verteilung eröffnet das „Tafelwesen“ einen weiteren, sehr prekären Arbeitsmarkt, dessen Beschäftigungsbedingungen sich weit unterhalb gewerkschaftlicher und tariflicher Vorstellungen befinden. Selten gibt es existenzsichernde, reguläre Beschäftigungsverhältnisse, noch seltener sind sie tariflich entlohnt.“

Die Direktorin der Diakonie Berlin-Brandenburg betonte, dass die einkommensschwache Menschen eine armutsfeste Grundsicherung statt Almosen brauchen. Dem schloss sich auch die Bündnissprecherin Luise Molling an. „Eine armutsfreie, existenzsichernde und bedarfsgerechte Mindestsicherung würde die Tafeln und ähnliche Angebote überflüssig machen“, betont sie gegenüber Telepolis.

Peter Grottian regte auf der Pressekonferenz an, nicht nur die Tafeln sondern auch die Bundesagentur für Arbeit durch eine Politik überflüssig zu machen, die Armut abbaut, statt zu verwalten. Ein Schwachpunkt bleibt zu benennen. Dass diese Armut fördernde Politik kein Versagen oder Missverständnis ist, sondern von einer großen Koalition aus SPD, FDP, Union und großen Teilen der Grünen als Beitrag zur Stärkung des Standortes Deutschlands bewusst forciert wurde, kam bei der Pressekonferenz nicht zur Sprache. Damit besteht die Gefahr, dass Illusionen erzeugt werden könnte, allein moralischer Druck und gute Argumente würden schon dafür sorgen, dass die Tafeln bald der Vergangenheit angehören.

Kritische Tafelforschung und kritischer Dialog

Mittlerweile sind die Kritiker mit den Tafelbetreibern in einen Dialog getreten, und auch neue Wissenschaftsbereiche könnten dadurch entstehen. Erwerbslosenaktivistin Brigitte Valenthin war diese Orientierung des tafelkritischen Bündnisses aber zu konstruktiv, weswegen sie wieder austrat.

Vom 26.-28. April wird das Bündnis erstmals mit Aktionstagen in die Debatte intervenieren.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/154155
Peter Nowak

Sklaven gehen offline

Die Verhandlungen über einen Tarifvertrag sind gescheitert. Nun droht dem Online-Versandhändler Amazon in Deutschland zum ersten Mal ein Streik.

Streik bei Amazon? Noch vor wenigen Wochen schien eine solche Schlagzeile kaum denkbar. Mitte Februar wurde durch eine ARD-Reportage bekannt, dass bei Amazon beschäftigte Leiharbeiter aus Spanien in engen Behausungen leben müssen und zudem von einer Sicherheitsfirma bewacht wurden, deren Angestellten Kontakte ins rechte Milieu nachgesagt wurden. Von einem Arbeitskampf war nicht die Rede. Dafür brach kurzfristig ein »Shitstorm« los, der einem Konzern, der sein Geschäftsmodell auf das Internet stützt, nicht gleichgültig sein konnte. Doch ausgerechnet die Verdi-Betriebsgruppe Logistikzentrum von Amazon in Bad Hersfeld distanzierte sich von diesem nicht vom Gewerkschaftsvorstand kontrollierten Aktivismus.

»Zuallererst möchten wir zum Ausdruck bringen, dass wir den ›Shitstorm‹ in diversen Foren, allen voran auf der Facebook-Seite von Amazon, verurteilen und ablehnen. Wir distanzieren uns ebenfalls von etwaigen Boykottaufrufen und sehen es mit Sorge, dass Kunden ihre Konten bei uns löschen«, heißt es in der Erklärung. »Ein Boykott hätte keine Verbesserung der Lage der bei Amazon Beschäftigten, egal ob Leiharbeiter oder Direktangestellte, zur Folge, sondern würde den psychischen Druck auf diese erhöhen und Angst um den Arbeitsplatz schüren«, lautet die Begründung der Betriebsgruppe. Denjenigen, die sich mit den Beschäftigten solidarisieren wollten, wurde stattdessen empfohlen, eine von Verdi initiierte Online-Petition für bessere Arbeitsbedingungen bei Amazon zu unterzeichnen. Hieß es früher sarkastisch, die schärfste Waffe der DGB-Gewerkschaften sei die Presseerklärung, scheint im Internetzeitalter die Online-Petition diese Rolle übernommen zu haben. Derzeit hat es jedoch den Anschein, als könnte die Gewerkschaft einen Erfolg verbuchen.

Schließlich haben sich Anfang April im Amazon-Versandzentrum in Leipzig bei einer Urabstimmung 97 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder für einen Streik ausgesprochen. Ob und wann es zum Arbeitskampf kommen wird, ist noch offen. »Wir sind gerade dabei, das Superergebnis zu verdauen«, sagte Jörg Lauenroth-Mago, der zuständige Bereichsleiter von Verdi, in einer ersten Stellungnahme gegenüber der Nachrichtenagentur DPA. Etwas kämpferischer äußerte sich Heiner Reimann, der für das Amazon-Logistikzentrum in Bad Hersfeld zuständige Gewerkschafts­sekretär von Verdi.

Er sieht in einem klassischen Arbeitskampf noch immer die beste Möglichkeit, Verbesserungen für die Beschäftigten zu erreichen. »Wer Amazon treffen möchte, muss dafür sorgen, dass Amazon sein Kundenversprechen nicht einhalten kann: Heute wird bestellt, morgen geliefert. Um das zu erreichen, ist der klassische Streik wahrscheinlich das Mittel der Wahl«, sagte Reimann. Das Interesse der Medien, das einsetzte, nachdem in der ARD die Reportage »Ausgeliefert« über die Lebens- und Arbeitsbedingungen von spanischen Leiharbeitern gesendet worden war, habe aus seiner Sicht hingegen nichts bewirkt. »Der Mediensturm nach der ARD-Reportage über die miese Behandlung von Leiharbeitern im Weihnachtsgeschäft hat wenig negative Auswirkungen für das Unternehmen gehabt.« Zudem betont Reimann, dass in der Reportage und der nachfolgenden Diskussion nur ein Teil der Probleme zur Sprache gekommen sei, mit denen die Beschäftigten bei Amazon konfrontiert sind.

Der Gewerkschaftssekretär nennt die große Zahl von befristeten Arbeitsverträgen und berichtet vom enormen Leistungsdruck, der im Konzern herrsche. »Nicht einmal ein Drittel der über 4 600 Kollegen in Bad Hersfeld hat einen unbefristeten Arbeitsvertrag. Das eigene Leben ist somit kaum planbar«, beschreibt Reimann Arbeitsverhältnisse, die mittlerweile längst nicht nur bei Amazon Einzug gehalten haben. Der Leistungsdruck betreffe alle, Amazon überprüfe zudem wie kein anderer Arbeitgeber jeden einzelnen Arbeitsschritt auf Effektivität. Jede Bewegung werde gemessen, analysiert und auf ihre Effizienz geprüft. Dafür nennt Reimann ein prägnantes Beispiel: »Vor kurzem gab es in einer Abteilung die Anweisung, dass die Beschäftigten maximal nur fünf Minuten mit einem Toilettengang verbringen dürfen. So etwas kenne ich nur von Amazon.« Allerdings gilt auch hier die Pa­role »Amazon ist überall«. Denn ein auf Niedriglöhne gestütztes Arbeitsregime, das Angriffe auf Betriebsräte mit der totalen Kontrolle der Mitarbeiter kombiniert, hat schon längst das Interesse von Unternehmen in anderen europäischen Ländern gefunden.

Für einen Gewerkschaftseintritt spiele bei Amazon-Mitarbeitern der Widerstand gegen die Überwachung und die Leistungskontrolle eine große Rolle, betont Reimann. »Wir haben die Leute gefragt, wo der Schuh drückt. Unabhängig von dem, was Gewerkschaften üblicherweise fordern, nämlich höhere Löhne, wollten wir wissen, was die Leute wirklich stört.« Tatsächlich ist es ein Fortschritt, wenn Verdi neben der Frage nach der Höhe der Löhne auch die Arbeitsbedingungen in den Mittelpunkt von Tarifverhandlungen stellt. Schließlich ist es erst wenige Jahrzehnte her, dass unter dem Stichwort »Humanisierung des Arbeitslebens« eine gesellschaftliche Debatte über die Arbeitssituation geführt wurde, in der gewerkschaftliche Argumente ein wichtiger Bestandteil waren. Angesichts der Zurückdrängung von gewerkschaftlicher Macht scheinen solche Forderungen heutzutage beinahe illusorisch. Das wird auch im Dokumentarfilm »Play hard, work hard« und dem Spielfilm »Die Ausbildung« sehr deutlich, die sich beide mit modernen Arbeitsverhältnissen befassen. Der größte Erfolg des modernen Arbeitsregimes besteht diesen Filmen zufolge darin, dass Vorstellungen von Solidarität, Renitenz am Arbeitsplatz oder gar gewerkschaft­licher Gegenmacht nicht einmal mehr sanktioniert werden müssen, weil sie in der Vorstellungswelt der Beschäftigten nicht mehr vorhanden sind. Da ist es schon als Erfolg zu werten, dass am 9. April mehrere Hundert Verdi-Mitglieder im Bad Hersfelder Logistikzentrum von Amazon einen Warnstreik abgehalten haben. Zuvor waren Gespräche über einen Tarifvertrag zwischen den Vertretern von Gewerkschaft und Amazon gescheitert.

Ende April soll auch in Bad Hersfeld die Urabstimmung abgeschlossen sein. Sollten die Amazon-Beschäftigten bei dieser Urabstimmung ebenso wie in Leipzig für einen Arbeitskampf stimmen, könnte die Gewerkschaft ganz traditionsbewusst am 1. Mai die Öffentlichkeit mit konkreten Informationen zum bundesweit ersten Streik von Amazon-Beschäftigten überraschen. Ob sich Verdi beim Streik gegen einen Online-Versandhandel an Aktionsformen des Einzelhandelsstreiks von 2008 orientiert, als unter dem Motto »Dichtmachen« Gewerkschafter mit solidarischen Kunden eine Supermarktfiliale blockierten? Dass eine solche Form des Protests auch virtuell möglich ist und erfolgreich sein kann, hat bereits die Internetdemonstration antirassistischer Gruppen gegen die Lufthansa im Jahr 2001 gezeigt. Ob die Internetaktivisten ähnliche Aktionen auch in einem Arbeitskampf zur Anwendung bringen, ist, nachdem sich die Verdi-Gruppe bei Amazon in Bad Hersfeld vom Shitstorm distanziert hat, offen. Aber eine Erlaubnis vom Gewerkschaftsvorstand brauchen sie dafür nicht.
http://jungle-world.com/artikel/2013/16/47538.html
Peter Nowak

Armut und Reichtum in deutschen Medien


Nach einer Studie über die Berichterstattung großer deutscher Zeitungen finder eine kritische Auseinandersetzung mit der Macht großer Privatvermögen nicht statt

Wer offenen Auges durch deutsche Städte geht, erkennt schnell, wie sich die Armut in der Mitte der Gesellschaft ausbreitet. Dass Menschen in Mülleimern nach Verwertbarem suchen, ist ebenso zur Normalität geworden, wie Essenstafeln und die Tatsache, dass das Flaschenpfand für viele Menschen überlebensnotwendig zu sein scheint. Doch wie wird diese sich ausbreitende Armut in führenden Zeitungen in Deutschland behandelt?

Dieser Frage widmeten sich die Journalisten Hans Jürgen Arlt und Wolfgang Storz in der gestern veröffentlichten Studie Portionierte Armut, Blackbox Reichtum.

Untersucht wurden die Tages- und Wochenzeitungen Tagesspiegel, Berliner Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Der Spiegel und Die Zeit. Als Beobachtungszeitraum wählten die Autoren die Phase zwischen dem dritten und dem vierten Lebenslagenbericht der Bundesregierung. „Die Studie stellt die Frage nach dem journalistischen Gebrauch der Pressefreiheit im Umgang mit Reichtum und Armut. Die Antwort: Es handelt sich um einen Fall von Pressefeigheit“, resümieren die beiden Publizisten.

Blackbox Reichtum in den Medien

Sie konstatieren eine „Blackbox Reichtum“ in den Medien. Eine Auseinandersetzung mit der Macht privater Großvermögen, die ihre Interessen ohne Worte zur Geltung bringen können, finde nicht statt. Der riesige Reichtum in den Händen weniger werde entweder überhaupt nicht kommentiert oder selbst dann nicht genauer durchleuchtet, wenn er kritisch bewertet wird. Reichtum werde nur aufgerufen als Gegenpart von Armut und als Indikator sozialer Ungleichheit. Als Zentrum gesellschaftlichen Einflusses auf alle Lebensbereiche von der Politik über die Wissenschaft odeer die Kunst bis hin zum Sport und als wirtschaftlicher Weichensteller mit seinen Anlage-, Verlagerungs- und Spekulationsentscheidungen komme er in den journalistischen Meinungsbeiträgen nur beiläufig vor.

Was Arlt und Storz hier am Beispiel der Presse beschreiben, dürfte ein Ausdruck gesellschaftlicher Regression sein. In den späten 70er Jahren, als Gesellschaftskritik nicht nur Hobby einer absoluten Minderheit war, wurden Journalisten wie Manfred Bissinger beim Stern oder Eckart Spoo in der Frankfurter Rundschau sanktioniert, weil sie in ihren Artikeln den Reichtum kritisch unter die Lupe nahmen. Heute hingegen wird kaum noch ein Zusammenhang zwischen dem Reichtum für wenige und wachsender Verarmung.

Dabei komme Armut in den untersuchten Medien durchaus vor, aber sie wird portioniert. Damit wollen Arlt und Storz ausdrücken, dass die Armen in einzelne Problemgruppen aufgeteilt und damit als gesellschaftliches Problem entschärft werden. Von der Kinder- über Frauen- bis zur Altersarmut werden so unterschiedliche Armutstypen kreiert. Diese Menschen werden dann zu Problemgruppen erklärt und für die Armut weitgehend selbst verantwortlich Gemacht, wodurch die Gesellschaft schon wieder entlastet ist.

Wie das funktioniert, zeigte sich an der Presseberichterstattung zum Tod der Berliner Rentnerin Rosemarie F, die wenige Tage nach ihrer Zwangsräumung gestorben ist. Nach allgemeiner Betroffenheit gingen mehrere Medien dazu über, die Schuld für der Tod bei der Rentnerin selber zu suchen und als Ausweg ein früheres Einschreiten des Sozialpsychologischen Dienstes zu sehen, ignoriert wird dabei, dass F. ausdrücklich keinen Kontakt mit den Behörden wünschte und bis zum Schluss nach Aussagen von Menschen, mit denen sie vor ihren Tod zusammen war, geistig klar, aber körperlich geschwächt war. Dass Resultat einer solchen Berichterstattung ist klar: Aus dem gesellschaftlichen Skandal, dass einkommensschwache Menschen selbst im Rentenalter aus ihren Wohnungen geworfen werden, wird ein individuelles Problem.

Zielgruppe genussfreudige Elite

Reportagen über Armut beschreiben die Betroffenen in der Regel im Opferstatus. Selbstbewusste Arme, die sich sogar aktiv wehren, kommen in den Medien in der Regel nicht vor. Dass gilt durchaus nicht nur für die untersuchten Zeitungen. So kommen in der bundesweiten Wochenendausgabe der linksliberalen Tageszeitung, die zurzeit mit dem Motto „dick und gemütlich“ für ihren Relaunch wirbt, Einkommensarme so gut wie nicht vor. Dafür finden sich allwöchentlich besinnliche Betrachtungen eines in der Gesellschaft angekommenen Mittelstandes, der den Müll korrekt trennt und Wert auf gesundes Essen legt. Diese Zielgruppe bringt die Starköchin Sarah Wiener in einem Interview in der Taz gut auf dem Punkt: „Die wahre Elite sind die, die sich selbst beschränken und ab und zu ein gutes Stück Fleisch genießen können, weil es nachhaltig erzeugt und artgerecht gehalten wurde. Bewusst zu genießen, das ist Elite.“
http://www.heise.de/tp/blogs/6/154147
Peter Nowak

Lernen aus den Krisen der anderen


MIETEN Eine Veranstaltungsreihe beleuchtet das Thema „Wohnen in der Krise“ international

Von Spanien lernen heißt vielleicht siegen lernen: Wenn heute in den Räumen der Beratungsstelle der Berliner MieterInnengemeinschaft Eduard Baches aus Spanien über die dortigen MieterInnenproteste berichtet, dürfte das Interesse groß sein. Baches ist Aktivist der Plattform der Hypothekenbetroffenen, die eine Aktionsform bekannt gemacht hat, die sich in der letzten Zeit auch in Berlin verbreitet: der Widerstand gegen Zwangsräumungen von MieterInnen.

Solche gegenseitigen Lernprozesse sind ganz im Sinne der Berliner MieterInnengemeinschaft. Die hat mit AktivistInnen anderer Initiativen den Donnerstagskreis gegründet, der die Veranstaltungsreihe „Wohnen in der Krise“ vorbereitet. In unregelmäßigen Abständen werden MieteraktivistInnen aus dem Ausland eingeladen, um die Situation in ihrem Ländern vorzustellen. So berichteten vor einigen Wochen AktivistInnen aus dem polnischen Poznan über das Anwachsen der Containersiedlungen am Stadtrand für zwangsgeräumte Menschen. Warschauer AktivistInnen erzählten von ihrer Kampagne zur Aufklärung der Todesumstände von Jola Brzeska, die sich den Entmietungsplänen ihres Hauseigentümers entgegengestellt hat und am 7. März 2011 verbrannt in einem Wald bei Warschau aufgefunden wurde.

Im Juni soll der MieterInnenwiderstand in Griechenland Thema sein. „Wenn wir über den Tellerrand blicken stellen wir schnell fest, dass der Neoliberalismus die Ursache für die Probleme der MieterInnen in den unterschiedlichen Ländern ist“, erklärt ein Mitveranstalter. Die Veranstaltungsreihe sieht er als ein Angebot zur politischen Bildung. Dazu nutzen die AktivistInnen auch das Internet. Unter www.youtube.com/user/WohneninderKrise stellt die Gruppe bisher unbekannte Filme des internationalen MieterInnenwiderstands mit deutschen Untertiteln ins Netz.
http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ba&dig=2013%2F04%2F18%2Fa0141&cHash=82f125dc6b0e55206b29bbfde00a9451

PETER NOWAK
19 Uhr, Beratungsstelle der Berliner MieterInnengemeinschaft, Sonnenallee 101

Streiken geht auch anders

Der Streik migrantischer Arbeiterinnen bei einem Automobilzulieferer im Jahr 1973 erhält zum Jubiläum wieder Aufmerksamkeit.

Wer an Streiks in Deutschland denkt, dem kommen bunte Plastikleibchen, Trillerpfeifen, hohle DGB-Rhetorik und Tarifabschlüsse in den Sinn, die man nur mit viel Mühe als Erfolg verkaufen kann. Dass auch in Deutschland Arbeitskämpfe möglich sind, die anders verlaufen, zeigt der Pierburg-Streik. 1973 streikten die Arbeiterinnen beim Automobilzulieferer Pierburg im nordrhein-westfälischen Neuss für die Abschaffung aller Leichtlohngruppen, die dafür sorgten, dass Frauen weniger als Männer verdienten, und für eine Erhöhung des Stundenlohns um eine Mark.

Wie groß das Interesse an dem Streik damals war, zeigt sich an den zahlreichen Büchern und Filmen, die sich dem Ausstand widmen. Anfang der achtziger Jahre, als ein Großteil der Linken seinen Abschied vom Proletariat nahm, geriet auch der Pierburg-Streik in Vergessenheit. Doch nun macht ein Buch mit dem Titel »Wilder Streik, das ist Revolution«, das im Berliner Verlag »Die Buchmacherei« erschienen ist, wieder auf den Arbeitskampf aufmerksam. Der Herausgeber Dieter Braeg, damals einer der oppositionellen Betriebsräte in dem Unternehmen, hat das anstehende Jubiläum zum Anlass genommen, einige Dokumente erneut zu veröffentlichten.

Dazu gehört auch der 40minütige Film »Pierburg – ihr Kampf ist unser Kampf«, der immer noch sehenswert ist, vor allem aus einem Grund: Es ist sinnvoll, daran zu erinnern, dass es in Deutschland auch Kämpfe von Lohnabhängigen gab, die sich nicht in den von den DGB-Vorständen vorgegebenen Bahnen bewegen. Bei Pierburg war das der Fall: »Wilder Streik, das ist Revolution« – so begründete der Neusser Polizeipräsident Günther Knecht damals den Einsatz von knüppelnden Polizisten gegen die Streikenden.

Braegs Einschätzung, der Pierburg-Streik sei ein Beispiel für »eine andere deutsche Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung«, kann man allerdings Skepsis entgegenbringen. Mit einer viel größeren Berechtigung kann der Streik als Beispiel für einen selbstorganisierten Kampf migrantischer Frauen angeführt waren. Sie traten nicht nur gegen den Unternehmer Alfred Pierburg an, der eine einflussreiche Stellung in der Kriegswirtschaft des Nationalsozialismus inne gehabt hatte und in der Bundesrepublik Träger zahlreicher Orden inklusive des Bundesverdienstkreuzes war. Die Dokumente verdeut­lichen auch, wie die streikenden Frauen mit dem Rassismus der im NS sozialisierten Vorarbeiter konfrontiert wurden. »Ihr seid doch das aufsässigste Pack, was mir je untergekommen ist, ihr Scheißweiber«, schrie einer der Pierburg-Vorarbeiter eine griechische Beschäftigte an und drohte ihr mit Schlägen, weil sie sich beim Betriebsrat über die Arbeitsbedingungen beschwert hatte. Die Dokumente zeigen aber auch die Ignoranz mancher Betriebsräte, denen die Pflege der Trikots der firmeneigenen Fußballmannschaft wichtiger war als die Interessenvertretung der Kolleginnen. Auch die Taktik der IG-Metall-Führung wird deutlich. Sie tat alles, um den Streik wieder in die institutionellen Bahnen zu lenken, und die Justiz überzog die oppositionellen Betriebsräte mit langwierigen Gerichtsprozessen.

Dieter Braeg ordnet den Pierburg-Streik in das politische Geschehen jener Jahre ein. Mit den Septemberstreiks von 1969 begann ein Aufbegehren von Lohnabhängigen, die sich nicht mehr von DGB-konformen Instanzen vertreten lassen wollten. Daran waren migrantische Beschäftigte federführend beteiligt. Höhepunkt waren der Streik und die Besetzung der Kölner Ford-Werke im August 1973. Als die Polizei die Fabrik mit Gewalt räumte, zahlreiche Streikende festnahm und mehrere migrantische Arbeiter als angebliche Rädelsführer abschieben ließ, titelte die Bild-Zeitung: »Deutsche Arbeiter kämpfen Ford frei«. Zuvor hatten Bürgerwehren die Streikenden mehrmals angegriffen. So wurde unter tatkräftiger Mithilfe von Betriebsräten der proletarische Eigensinn gebrochen.

http://jungle-world.com/artikel/2013/15/47493.html

Peter Nowak

Tod nach Zwangsräumung

Nach dem Tod einer Berliner Rentnerin, die vor zwei Tagen aus ihrer Wohnung geräumt wurde, ist die Betroffenheit groß. Doch wird sich an der Praxis der Zwangsräumungen etwas ändern?

Am 11.April ist die Berliner Rentnerin R. F. im Alter von 67 Jahren gestorben. Sie musste die letzten Tage in einer Notübernachtung verbringen. Sie war nämlich am 29. März aus ihrer Wohnung in Reinickendorf zwangsweise vertrieben worden. Die Frau bekam eine Rente vom Amt für Grundsicherung und bewohnte eine Eigentumswohnung zur Miete, die regelmäßig direkt vom Amt für Grundsicherung an die wechselnden Eigentümer überwiesen wurde. Durch Krankenhausaufenthalte von Frau F. und Eigentümerwechsel ist die Miete nicht rechtzeitig gezahlt worden. Der Rentnerin wurde gekündigt und die Eigentümer bekamen vor Gericht Recht und besaßen so alle Räumungstitel. So etwas passiert sehr oft in Deutschland und wird in der Regel nicht in der Öffentlichkeit wahrgenommen.

In den letzten Wochen ihres Lebens etwas Solidarität erfahren

Doch in Berlin hat sich mittlerweile ein Bündnis gegen Zwangsumzüge gegründet, das sich mit Blockaden und Protesten engagierte, wenn Mieter gegen ihren Willen auf die Straße geworfen wurden. Auch Frau F. hatte davon erfahren und sich vor einigen Wochen an das Bündnis gewandt. Die Aktivisten haben immerhin einen Räumungsaufschub erreicht. Ein Räumungstermin Ende Februar wurde verschoben.

Doch letztlich ließen sich die Eigentümer nicht von der Räumung abhalten. Ein großes Polizeiaufgebot verhinderte bei der Räumung von Frau F. alle Blockadeversuche. Dabei hat das Bündnis gegen Zwangsumzüge gemeinsam mit der Frau vom Sozialstadtrat von Reinickendorf die Zusage bekommen, dass die Mietschulden vom Amt übernommen werden und das Amt auch für die zukünftige Mietzahlungen garantiert. Die Eigentümer der Wohnung waren weder zu Gesprächen noch zu Kompromissen bereit.

Schließlich wächst ihre Rendite, wenn sie die Rentnerin aus der Wohnung werfen lassen und einen neuen Vertrag mit einer wesentlich höheren Miete durchsetzen. Dann wird dort keine Rentnerin mit Grundsicherung mehr dort wohnen können. Die Räumung wurde auch nicht ausgesetzt, obwohl den Behörden die gesundheitlichen Probleme der Frau bekannt waren. Ein ärztliches Attest hatte erklärt, dass die Aufregung im Zusammenhang mit einer Räumung ihrer Gesundheit abträglich ist. Dass sich diese Prognose so schnell bewahrheiten sollte, sorgte bei den Aktivisten von dem Bündnis gegen Zwangsumzüge für Trauer: „Wir hier trösten uns ein wenig damit, dass R. zu ihrem Lebensende noch ein wenig Solidarität erfahren hat, womit sie in den letzten Jahren sicherlich nicht sehr reich beschenkt war“, schrieben die Mitglieder einer Wohngemeinschaft, in der die Rentnerin nach ihrer Räumung aufgenommen wurde.

Frau F. hatte sich vor ihrer Räumung an Protesten beteiligt, als eine Familie in Neukölln geräumt wurde. Auch einige Politiker haben sich nach dem Tod der Rentnerin betroffen geäußert. So heißt es in einer Pressemitteilung der Grünen Neukölln:

„Der Vollzug von Zwangsräumungen ist in Berlin an der Tagesordnung. Wöchentlich werden Menschen aus ihren Wohnungen gedrängt, wenn mit ihnen keine Rendite zu machen ist. Das Menschenrecht auf eine Wohnung findet dabei keinerlei Beachtung.“

Leider vermisst man in der Erklärung eine Initiative für ein Moratorium für sämtliche Zwangsräumungen. Natürlich werden sofort die Interessenvertreter der Wohnungs- und Hauseigentümer ihre Stimme erheben und sich über den geplanten Eingriff in ihr Eigentumsrecht beschweren und in der Politik wird es Vertreter fast aller Parteien geben, die ihnen beipflichten. Aber eine solche Debatte würde zumindest deutlich machen, dass das Recht auf Rendite für Eigentümer höher steht als das Recht auf eine Wohnung.

In Spanien, wo es seit der Krise eine Fülle von Zwangsräumungen gibt, war die konservative Regierung erst nach zahlreichen Selbstmorden von Betroffenen bereit, ein begrenztes Räumungsmoratorium für besonders Bedürftige zu erlassen. Doch in der Praxis gehen die Räumungen unvermindert weiter.

In Deutschland gibt es bisher noch nicht einmal solche minimalen Bestrebungen, einkommensschwache Menschen vor Obdachlosigkeit zu schützen. Für den 29. April steht eine erneute Zwangsräumung an. Dann soll eine Frau mit ihrer Tochter aus der Wohnung geworfen werden. Die Gegenmobilisierung hat bereits begonnen.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/154090
Peter Nowak