Feindbild Israel

Bild: K. Culina // CC BY-SA 4.0

Kevin Culina und Jan Fed­ders unter­su­chen den Anti­se­mi­tis­mus und regres­si­ven Anti­zio­nis­mus in einer wich­ti­gen Publi­ka­tion der neuen Rech­ten

Die AfD hat seit Wochen einen hand­fes­ten Anti­se­mi­tis­mus­streit. Aus­ge­löst wurde er durch anti­se­mi­ti­sche Schrif­ten des mitt­ler­weile zurück­ge­tre­te­nen AfD-Land­tags­ab­ge­ord­ne­ten von Baden Würt­tem­berg Wolf­gang Gedeon. Sofort hatte sich auch der Chef­re­dak­teur der Monats­zeit­schrift Com­pact in diese Ange­le­gen­heit zu Wort gemel­det. Unter dem Titel »Appell an die Ein­heit der AfD« ergriff er Par­tei für Gedeon. »Schließt keine Per­so­nen aus, deren Aus­schluss der poli­ti­sche Geg­ner for­dert, son­dern stellt Euch gerade hin­ter sol­che Ange­grif­fe­nen, auch wenn sie in der Ver­gan­gen­heit poli­ti­sche Feh­ler gemacht haben.« Diese Par­tei­nahme von Com­pact ist nicht ver­wun­der­lich, wenn man ein kürz­lich im Ver­lag Edi­tion Assem­blage unter dem Titel »Im Feind­bild ver­eint« erschie­ne­nes Buch zur Grund­lage nimmt. Auf knapp 100 Sei­ten unter­su­chen die Sozi­al­wis­sen­schaft­ler Kevin Culina und Jonas Fed­ders den Stel­len­wert des Anti­se­mi­tis­mus bei dem Monats­ma­ga­zin Com­pact.

Die Zeit­schrift habe sich inner­halb kur­zer Zeit zu einem der rele­van­tes­ten Quer­fron­t­or­gane im deutsch­spra­chi­gen Raum ent­wi­ckelt, begrün­den die Auto­ren ihr Inter­esse an die­ser Publi­ka­tion. Zudem beton­ten sie, dass Com­pact sich von den ande­ren rech­ten Medien dadurch unter­schei­det, dass dort immer wie­der ver­sucht wird, Brü­cken zu Tei­len der Lin­ken zu bauen. Elsäs­ser hat wie­der­holt dazu auf­ge­ru­fen, Rechte und Linke soll­ten gemein­sam für die Sou­ve­rä­ni­tät Deutsch­lands kämp­fen. In den bei­den ers­ten Kapi­teln geben die Auto­ren einen kur­zen Über­blick über die wis­sen­schaft­li­chen Dis­kus­sio­nen zu Quer­front und zum Anti­se­mi­tis­mus. Dabei stel­len sie dem codier­ten Anti­se­mi­tis­mus in den Mit­tel­punkt ihre Über­le­gun­gen. »Wäh­rend also der offen neo­na­zis­ti­sche Anti­se­mi­tis­mus bis­wei­len aus poli­ti­schen Dis­kur­sen aus­ge­grenzt wird, haben sich gewisse Arti­ku­la­ti­ons­for­men für anti­se­mi­ti­sche Res­sen­ti­ments her­aus­ge­bil­det, wel­che zwar auf das starke Fort­be­stehen von anti­se­mi­ti­schen Posi­tio­nen in der Gesell­schaft ver­wei­sen, aber nicht immer als sol­che (an)erkannt wer­den und daher bis weit in die selbst ernannte bür­ger­li­che ‘Mitte’ hin­ein­rei­chen«, schrei­ben die Sozi­al­wis­sen­schaft­ler. Anhand der sehr detail­lier­ten Ana­lyse ver­schie­de­ner Com­pact-Arti­kel zeig­ten Culina und Fed­ders auf, der ein codier­ter Anti­se­mi­tis­mus einen zen­tra­len Stel­len­wert in der Com­pact-Bericht­erstat­tung hat. Die Auto­ren spre­chen sogar davon, dass er der klein­ste gemein­same Nen­ner ist, auf den sich die Leser eini­gen kön­nen. Dabei wird man offen anti­se­mi­ti­sche Äuße­run­gen wie sie in den Schrif­ten Gede­ons in der Com­pact kaum fin­den. Dafür wird mit Meta­phern und Bil­dern gear­bei­tet, der die Leser durch­aus ent­spre­chend zu deu­ten wis­sen. Das zeigt sich an eini­gen abge­druck­ten Leser­brie­fen, in denen die Zeit­schrift als letzte Ver­tei­di­ge­rin des freien Wor­tes hoch­ge­lobt wird.
»Für den juden­feind­li­chen Gehalt einer Aus­sage über die ‘Rocke­fel­lers’ oder die ‘Roth­schilds’ ist deren tat­säch­li­che Reli­gi­ons­zu­ge­hö­rig­keit von kei­ner­lei Bedeu­tung, solange in einem brei­te­ren Rezi­pi­en­t_in­nen­kreis die Auf­fas­sung vor­herrscht, es han­dele sich um ein­fluss­rei­che Fami­lien mit jüdi­schen Wur­zeln. Adorno schrieb einst sehr tref­fend, der Anti­se­mi­tis­mus sei ‘das Gerücht über die Juden’«, schrei­ben die Her­aus­ge­ber. Am Schluss des Buches gehen sie auch auf die kon­tro­verse Debatte um die Frie­dens­mahn­wa­chen ein, die heute weit­ge­hend ver­ges­sen ist. Das Buch soll eine kri­ti­sche Debatte um den Umgang mit Com­pact anre­gen. »Denn von der Com­pact geht eine Gefahr aus, dem viel mehr Wider­spruch ent­ge­gen­ge­stellt wer­den muss«, so der Wunsch der bei­den Her­aus­ge­ber.

Feindbild Israel

Kevin Culina / Jonas Fed­ders
Im Feind­bild ver­eint: Zur Rele­vanz des Anti­se­mi­tis­mus in der Quer­front-Zeit­schrift Com­pact 2016, Edi­tion Assem­blage, 96 Sei­ten, 9,80 Euro
ISBN 978–3-96042–004-0 | WG 973

Kampf im Knast

In der JVA Würzburg haben Gefangene nach elf Tagen ihren Hungerstreik abgebrochen

Im Juli haben sich 47 Gefangene in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Würzburg mit einem einen Hungerstreik für bessere Zustände im Gefängnis eingesetzt. Das Medieninteresse blieb allerdings erstaunlich gering. Dies hat dazu geführt, dass die Gefangenen ihre Aktion nach elf Tagen erfolglos abbrechen mussten. Wie die regionale Presse den Streik interpretierte, zeigt ein Bericht der Onlinezeitung infranken.de zum Streikabbruch. Der Anstaltsleiter Robert Hutter kam dort mit der Erklärung zu Wort, dass die Zahl der Hungerstreikenden »mit jeder Mahlzeit weniger geworden« seien, obwohl ihre Forderungen nicht erfüllt wurden.

Auf jene Forderungen der Hungerstreikenden, die in der Onlinezeitung als »drogenabhängige Strafttäter« diffamiert werden, wird genau so wenig eingegangen, wie auf die Repression der Gefängnisleitung, die auch zum Abbruch des Hungerstreiks beigetragen hat. Die Anstaltsleiter hatte »acht Rädelsführer« in andere Gefängnisse verlegen lassen, heißt es in der kurzen Meldung. Auch hier ist die diffamierende Diktion eindeutig erkennbar: Gefangene, die für ihre Rechte eintreten und auch Mitgefangene motivieren, werden mit als »Rädelsführer« bezeichnet. Dass Häftlinge Rechte haben, wird in dem Beitrag nicht einmal erwähnt.

Dass sich in den letzten Monaten mehr Gefangene für ihre Rechte einsetzen, hängt auch mit der Gefangenengewerkschaft/Bundesweite Organisierung (GG/BO) zusammen, die im Mai 2014 in der JVA-Tegel gegründet wurde. (ak 612) »Einige der am Würzburger Hungerstreik beteiligten Häftlinge sind Mitglieder der GG/BO. Wir standen mit ihnen Kontakt und haben den Hungerstreik insgesamt unterstützt, indem wir in einer Pressemitteilung die Forderungen publiziert und zur Solidarität aufgerufen haben«, erklärt Konstantin von der GG/BO Jena gegenüber ak.

Dass die Würzburger Gefangenen nicht für die drei Kernforderungen der GG/BO – Mindestlohn, Sozial- und Rentenversicherung und Anerkennung der Gewerkschaft – in den Hungerstreik gegangen sind, hält Konstantin nicht für eine Beliebigkeit. »Die GG/BO vertritt wie auch alle anderen Gewerkschaften die Interessen und Bedürfnisse der inhaftierten Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich in ihr organisieren – in all ihrer Vielfalt.« Das können mehr Telefonate, bessere Ernährung, bessere medizinische Versorgung, frühere Haftentlassung, ein Ende der rassistischen Diskriminierung oder die Abschaffung der Postzensur sein.

Besonders restriktive Haftanstalt

Die Würzburger Häftlinge forderten unter anderem ein Methadonprogramm und die Lockerung der Arrestbedingungen für Gefangene, die sich im Drogenentzug befinden. Betroffene berichteten, dass in der JVA Würzburg auch diese Gefangene trotz ihrer körperlichen Beeinträchtigungen weiterhin zur Pflichtarbeit gezwungen werden. Von den extrem niedrigen Löhnen dieser Zwangsarbeit profitiert unter anderem der VW-Konzern, wie ein Mitglied der GG/BO Leipzig in einem Interview mit dem Freiburger Sender Radio Dreyeckland erklärte.

Für die Rechtsanwältin Christina Glück, die einen der Würzburger Häftlinge vertritt, verletzt die JVA Würzburg durch den erzwungenen kalten Entzug die Menschenwürde. Die Häftlinge litten vor allem am Anfang unter starken Entzugserscheinungen, klagten über schweren Durchfall und Erbrechen. Die in der Würzburger Justizvollzugsanstalt zuständigen Ärzte hielten trotzdem an dieser Form des Entzugs fest. Die Menschenwürde der Gefangenen wird in der JVA Würzburg auch dadurch verletzt, dass sie nur in ganz wenigen Ausnahmefällen telefonieren dürfen. Dann bleibt als einziges Kommunikationsmittel nach Draußen das in allen Gefängnissen verbotene Mobiltelefon. Wenn ein Handy bei einem Gefangenen gefunden wird, folgt als Sanktion eine 14-tägige Isolationshaft, der sogenannte Bunker. Wie die Antwort der bayerischen Landesregierung auf eine Kleine Anfrage des bayerischen Landtagsabgeordneten Florian Streibel (Freie Wähler) zeigt, hält die JVA Würzburg bei diesen Bunkerstrafen in Bayern den Rekord.

Eine weitere Verschärfung in der JVA Würzburg besteht darin, dass die Gefangenen ihre seltenen Telefonate nur mit dem Geld, das sie durch die Pflichtarbeit im Knast verdienen, begleichen dürfen. Telefonate durch Überweisungen von Außen hingegen sind nicht möglich.

Die Arbeitskraft zur Waffe machen

Wie verzweifelt die Situation der Gefangenen ist, zeigte sich daran, dass die zum Mittel des Hungerstreiks gegriffen haben. »Es gibt nicht viele Möglichkeiten, im Knast zu protestieren. Die Verweigerung von Nahrung – oft Hungerstreik oder Hungerfasten genannt, ist eine davon«, schreibt die Schweizer Journalistin Sabine Hunziker in der Einleitung ihres im März dieses Jahres erschienenen Buches »Protestrecht des Körpers«. Schon der Titel verdeutlicht, dass Menschen, die keine andere Möglichkeit zum Widerstand haben, ihren Körper als Waffe einsetzen. In dem Buch kommen auch Hungerstreikende aus verschiedenen Knastkämpfen zu Wort. Der politische Aktivist Fritz Teufel, der sich auch an mehreren Hungerstreiks beteiligte, suchte schon in den 1970er Jahren nach Alternativen zu einer Kampfform, in der es schnell um Leben und Tod geht.

Die Gefangenengewerkschaft könnte eine solche Alternative bieten. Nicht ihre Körper, sondern ihre Arbeitskraft, die sie hinter Gittern besonders billig verkaufen müssen, könnte dann zur Waffe werden. »Bis dahin braucht es aber sicher noch einiges an Organisierungsarbeit und gemeinsamen Erfahrungen«, erklärt Konstantin von der GG/BO Jena. Der Hungerstreik in der JVA Würzburg kann so auch nach ihren Abbruch zur Bewusstseinsbildung der Gefangenen beitragen. Selbst JVA-Leiter Hutter geht von weiteren Protesten in der JVA Würzburg aus. Es wäre zu wünschen, dass sich dann neben der GG/BO auch weitere Teiel der außerparlamentarischen Linken und zivilgesellschaftliche Gruppen für die Rechte der Gefangenen einsetzen würden. Von ihnen war in den elf Tagen des Hungerstreikes nicht zu hören.

Peter Nowak schrieb in ak 617 über die Zukunft der Freien Archive.

Zum Weiterlesen:

Sabine Hunziker: Protestrecht des Körpers. Einführung zum Hungerstreik in Haft. Unrast Verlag, Münster 2016. 108 Seiten, 9,80 EUR.

aus: ak 618 vom 16.8.2016

https://www.akweb.de/

Peter Nowak

Innere Sicherheit: Musterhaft auf dem Weg zu mehr Repression

Wie der Fetisch Sicherheit von allen Parteien bedient wird

Da können Erdogan und Putin noch etwas lernen. In Frankreich wurde ein Internetnutzer zu zwei Jahren Haft verurteilt, weil er in letzter Zeit besonders häufig gewaltverherrlichende islamistische Internetseiten aufgerufen haben soll (Zwei Jahre Haft für den Besuch von Dschihad-Webseiten[1]). Als in der Türkei die islamistischen Behörden während der Geziproteste Twitter sperren ließen, war die Empörung auch hierzulande groß.

Wenn nun in Frankreich bereits das Aufrufen inkriminierter Seiten zu Haftstrafen führt, beschämt der sogenannte Westen in der Tat die Autokraten am Bosporus und wo auch immer, da man diesen einmal wieder ein Stück voraus ist bei der Repression. Die Grundlage für die Verurteilung war übrigens ein erst kürzlich verabschiedetes Gesetz (Frankreich: Zwei Jahre Freiheitsstrafe für Besucher von Terror-Webseiten[2]), das im Zuge des Ausnahmezustands ohne größere wahrnehmbare Proteste im In- und Ausland durch das Parlament gewinkt und schon kurz danach angewandt wurde.

Die Zeiten, in denen Notstandsgesetze noch wie in den 1960er Jahren in der BRD als Schubladengesetze bezeichnet wurden, die erst in zukünftigen Zeiten einer prekären Sicherheit zur Anwendung kommen, sind also offensichtlich vorbei.

Gleiche Muster

Doch auch in Deutschland überbieten sich in den letzten Tagen die Politiker wieder einmal in Vorschlägen für den Abbau der Demokratie. Die Stichworte sind nicht neu, sondern eigentlich so altbekannt und berechenbar, dass es doch erstaunlich ist, dass sie immer wieder präzise nach dem gleichen Muster ablaufen.

Die Unionspolitiker machen Vorschläge, die SPD sagt, im Grunde sind wir uns in der Zielrichtung einig, aber dies und jenes ist mit uns nicht zu machen. Nach einigen Tagen wird die Ablehnung dann schon abgeschwächt. Es wird betont, dass nichts übereilt werden muss, aber die SPD auf jeden Fall das Ohr ganz nah an den Sorgen und Nöten  der Bevölkerung habe. Einige Debattengefechte später scheint man sich auf einen Kompromiss geeinigt haben. Dabei kann sich die Union in vielen Punkten durchsetzen, nur einige wenige Punkte werden bis zur nächsten Sicherheitsdebatte zurückgestellt.

In den letzten Tagen konnte man gut beobachten, wie das Drehbuch abgespult wird. Zunächst machten die Unionsinnenminister den Aufschlag[3] und setzen mit ihren Forderungen vom Burka-Verbot, der Aufhebung der ärztlichen Schweigepflicht bis zur Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft die Akzente.

Die darauf folgende Kritik ist schon einberechnet, denn nur so kann sich die Union als die eigentliche Sicherheitspartei profilieren. Wenige Stunden später stellt Bundesinnenminister De Maiziere seinen Forderungskatalog zur Inneren Sicherheit vor, in dem einige besonders kontrovers diskutierte Vorstellungen der Unionsinnenminister fehlen. Auch seine Pläne werden kontrovers diskutiert.

Doch das für die Initiatoren zentrale Ziel wurde erreicht. Seitdem wird von „kriminelle Ausländer“, „ausländische Gefährder“, „Abschiebung und Schnellverfahren“ geredet.

Keine „Innere Logik“?

Aber nicht nur die Initiatoren der Sicherheitsdebatte, auch die Kritiker reagieren völlig berechenbar. So wird dem Innenminister vorgeworfen, seine Vorschläge entbehrten jeder Logik[4].

Andere Kritiker wollen nachweisen, dass die Vorschläge längst Gesetzestext seien. So müssen schon heute Ärzte ihre Schweigepflicht brechen, wenn sie von Plänen, die das Leib und Leben anderer Menschen gefährden, erfahren. Ebenso war auch die Reaktion zu erwarten, die dieses Mal von der innenpolitischen Sprecherin der Grünen, Irene Mihalic, kam. Sie erklärte[5] im Deutschlandfunk, die Vorschläge hätten mit Terrorbekämpfung gar nichts zu tun.

Ich frage mich allen Ernstes, was die Vorschläge, die uns heute präsentiert wurden und die ja in den kommenden Tagen auch noch konkretisiert werden sollen, tatsächlich mit den Anschlägen, die uns in der jüngsten Vergangenheit ereilt haben, unmittelbar zu tun haben. Denn ich kann von den vielen Maßnahmenpaketen, die dort genannt sind, keine einzige Maßnahme erkennen, die tatsächlich dazu beigetragen hätte, dass auch nur ein einziger dieser Anschläge hätte wirkungsvoll verhindert werden können.Irene Mihalic

Irene Mihalic

Mihalic hat im Detail mit ihrer Kritik sicher Recht. Doch bei allen Kritikern werden die gesellschaftlichen Bedingungen außer Acht gelassen, in die die Sicherheitsdiskurse eingebettet sind. Die Politologin Anna Kern, die in Marburg zum Wandel der Sicherheitsregime forscht[6] hat kürzlich im Dampfboot-Verlag das Buch Produktion von (Un-)Sicherheit – urbane Sicherheitsregime im Neoliberalismus[7] herausgegeben. Es ist theoretisch durchaus voraussetzungsvoll.

Der Vorteil ihres Ansatzes ist allerdings, dass hier ein Sicherheitsbegriff vorgestellt wird, der auch einige Plattitüden mancher linker Kritiker hinter sich lässt. Kern bedient weder die Vorstellung, dass der Staat immer repressiver wird, noch dass ein repressiver Staat einer Bevölkerung gegenübersteht, die sich gegen die Repression wehrt. Dabei wendet Kern das Marxsche Theorem vom Fetischcharakter der Ware auf den Sicherheitsdiskus an und spricht vom Sicherheitsfetisch als notwendig falsches Bewusstsein.

Den Ursprung des menschlichen Sicherheitsbedürfnisses verortet Kern nicht in der angeblich unveränderbaren menschlichen Natur, sondern vielmehr „in der gegenwärtigen Prekarität des Gelingens der sozialen Reproduktion“.  Das besondere Bedürfnis nach Sicherheit im Neoliberalismus kann sie dann auch gut aus den gesellschaftlichen Bedingungen erklären.

Repression wird als notwendiger Teil der Sozialarbeit betrachtet

Eine besondere Stärke in Kerns Ansatz liegt darin, dass die Politologin auf mehrere konkrete Beispiele eingeht, wo eine Kooperation zwischen Nichtregierungsorganisationen und Staatsapparaten entstanden ist, wie zum Beispiel in den letzten Jahrzehnten in Frankfurt/Main. Ein Stichwort ist das Problemfeld „häusliche Gewalt“, das erst in den letzten Jahrzehnten in Folge der 1960er entstanden ist und zu einer „Zusammenarbeit der originären staatlichen Apparate mit Institutionen der Zivilgesellschaft zur Entschärfung gesellschaftlicher Konflikte und Integration oppositioneller Bewegungen“ beigetragen hat.

Eine ähnliche Entwicklung gibt es im Bereich der Drogenprävention. Die Veränderungen, die in der Sozialarbeit in Frankfurt/Main zu beobachten waren, beschreibt Kern so, dass die Zusammenarbeit mit dem Staat und der Polizei die sozialarbeiterische Selbsteinschätzung insoweit verändert habe, „als Repression nun als notwendiger Teil der Arbeit erachtet wird und vormalige Skepsis und Abneigung durch Wertschätzung gegenüber den Partner/innen und deren Arbeit ersetzt wurde“.

Diese Veränderungen drücken sich auf der parlamentarischen Arbeit aus. Denn auch die größten Kritiker der Sicherheitspolitik der Unionsinnenminister im Allgemeinen und des Bundesinnenministers im Besonderen sind sich darin einig, dass die Polizei kräftig aufgestockt werden muss. So erklärte die grüne Sicherheitspolitikerin Irene Mihalic in besagtem Interview:

Ein guter Punkt ist ja in dem Papier auch enthalten, und zwar die Aufstockung des Personals bei der Polizei.Irene Mihalic

Irene Mihalic

Auch ihr Kollege von der Partei Die Linke, Frank Tempel, stößt ins gleiche Horn. Er schrieb nach den faschistischen Mordanschlag von München über das Agieren der Sicherheitsorgane[8]:

Die Polizei in Bayern hat das Möglichste getan, um dieses Prinzip umzusetzen. Sie musste nach den ersten Meldungen über Erschossene von einer Terrorlage ausgehen, bei der Tätergruppen unterwegs sind, die an verschiedenen Orten gleichzeitig zuschlagen. Das Heranführen von Unterstützungseinheiten und die Einstellung des Nahverkehrs sind dann logische Maßnahmen. Auch die Krisenkommunikation der Polizei war lehrbuchgemäß.

Der Einsatz zeigte weiterhin, dass in ausreichender Anzahl vorhandenes und gut ausgebildetes Personal für solch einen komplizierten Einsatz entscheidend sind. Bayern hat im Gegensatz zu vielen Ländern und dem Bund keine Stellen bei der Polizei gestrichen, sondern vermehrt Polizistinnen und Polizisten eingestellt. Dieses Vorgehen zahlte sich aus.Frank Tempel

Frank Tempel

Da wird zunächst ausgeblendet, dass die Polizei in München zu Panik und Verwirrung mit beigetragen hat. Mehrere Polizisten wurden für Attentäter gehalten, was die Panik steigerte. Zudem zeugt die parteiübergreifende Einigkeit bei der Forderung nach dem Ausbau der Polizei davon, dass polizeikritische Diskussionen, wie sie vor 30 Jahren nicht nur in der Linken, sondern auch in der bürgerrechtlichen Bewegung gang und gäbe war, heute kaum noch bekannt sind. Im Deutschen Herbst 1977 und danach in den Jahren der starken Bürgerinitiativen gegen den AKW-Bau wie auch bei ähnlichen Themen bildete sich für den aktiven Teil der Bevölkerung aus den gemachten Erfahrungen eine polizeikritische Position heraus.

Wo sich Widerstand regt, hat Polizeikritik noch eine Chance

Das ist in Zeiten der Bewegungsflaute schwieriger. Aber an den Punkten, wo sich noch sozialer Widerstand regt, hat Polizeikritik eine Chance. So wenden sich in Berlin-Friedrichshain Teile der Bevölkerung gegen einen massiven Polizeiansatz,  wie  er durch die Erklärung der Region zum Gefahrengebiet[9] möglich wurde.

Dort zirkulieren auch Aufrufe für polizeifreie Kieze und Anwohner kritisieren die Kosten für den Polizeieinsatz[10] in der Rigaer Straße, wo es mehrere linke Hausprojekte gibt.

Auch in den USA gibt es eine polizeikritische Bewegung vor allem im Umfeld der Black-Lives-Matter-Bewegung. In dem Buch Die Zukunft, die wir wollen – Radikale Ideen für eine neue Zeit[11] findet sich auch eine Diskussion zum Thema Polizeiarbeit in Amerika: Widerstand lernen[12], die in einer zentralen New Yorker Bibliothek stattgefunden hat.

Einer der Referenten, Mychal Denzel Smith[13] erklärte:

Wenn wir über eine Bewegung sprechen, die den gewaltsamen Übergriffen der Polizei ein Ende setzen will, müssen wir die Tatsache zur Kenntnis nehmen, dass die Polizei durch den Willen der Gesellschaft und der Politik notwendigerweise gewalttätig ist. Das ist der Zweck ihrer Arbeit, und daher sprechen wir, wenn wir über das Ende dieser Polizeigewalt sprechen, über das Ende der Polizei.Mychal Denzel Smith

Mychal Denzel Smith

Es ist schon erstaunlich, dass in den USA 15 Jahre nach den islamistischen Massakern radikale Staatskritik weiter verbreitet ist als bei uns.

http://www.heise.de/tp/artikel/49/49111/1.html

Peter Nowak

Anhang

Links

[0]

https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Polizei.jpg

[1]

http://www.heise.de/tp/artikel/49/49089/

[2]

http://www.heise.de/tp/artikel/48/48234/

[3]

http://www.deutschlandfunk.de/papier-der-unions-innenminister-polizei-aufruesten-doppelte.1818.de.html?dram:article_id=362643

[4]

http://www.focus.de/politik/deutschland/so-kommentiert-deutschland-antiterror-paket-sicherheitspaket-von-thomas-de-maiziere-hat-anlass-zur-empoerung-gegeben_id_5817203.html

[5]

http://www.deutschlandfunk.de/papier-der-unions-innenminister-vorschlaege-haben-mit.694.de.html?dram:article_id=362676

[6]

http://www.tzm-marburg.de/gsw/web.cfm?schluessel=2070

[7]

http://www.dampfboot-verlag.de/shop/artikel/produktion-von-un-sicherheit-urbane-sicherheitsregime-im-neoliberalismus

[8]

http://linksfraktion.de/kolumne/wie-amoklaeufe-zu-verhindern-sind/

[9]

https://nordkiezlebt.noblogs.org/gefahrengebiet

[10]

https://nordkiezlebt.noblogs.org/post/2016/08/11/was-kostet-eigentlich-der-wahlkampf-von-herrn-henkel-die-steuerzahlerinnen-im-kontext-rigaer-strasse

[11]

http://www.europa-verlag.com/wp-content/uploads/WZ_Die-Zukunft-die-wir-wollen.pdf

[12]

https://www.nypl.org/events/programs/2015/02/18/american-policing-millennials-activism

[13]

https://www.thenation.com/authors/mychal-denzel-smith

Mein größter Schatz ist mein Arbeitsplatz!

Eine Studie erklärt, warum viele Amazon-Beschäftigte von den Streiks nichts halten

Der Arbeitskampf beim Onlineversandhandel Amazon ist Gegenstand verschiedener Untersuchungen geworden. Dabei stehen meist die Beschäftigten im Mittelpunkt, die sich gemeinsam mit der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di dafür einsetzen, dass für Amazon die Tarifbedingungen des Einzelhandels gelten.

Die Sozialwissenschaftlerin Sabrina Apicella hat in ihrer kürzlich von der Rosa Luxemburg-Stiftung veröffentlichten Studie »Amazon in Leipzig. Von den Gründen, (nicht) zu streiken« die Blickrichtung geändert. »Warum streiken einige Amazon-Beschäftigte in Leipzig, während sich die Mehrheit nicht an den Streiks beteiligt?« lautete ihre Fragestellung. Dazu hat die Sozialwissenschaftlerin einen Fragebogen ausgearbeitet, den sie im August 2014 vor den Eingängen des Amazon-Versandzentrums in Leipzig verteilte. 132 Fragebögen kamen ausgefüllt zurück.

Unter ihnen war das Verhältnis zwischen Befürwortern und Gegnern des Arbeitskampfes fast ausgeglichen. 65 Beschäftigte gaben an, nie an einem Streik teilgenommen zu haben. 55 der Befragten hatten sich dagegen an allen bisherigen Arbeitskämpfen beteiligt.

Apicella hebt in der Interpretation der Ergebnisse hervor, dass Beschäftigte, die tagtäglich mit den gleichen Arbeitsbedingungen konfrontiert sind, zu völlig unterschiedlichen Einschätzungen über ihre Arbeitsbedingungen kämen. Während die streikbereiten Kollegen die akribischen Kontrollen im Arbeitsalltag von Amazon als entwürdigend wahrnehmen, werden sie von den Streikgegnern verteidigt. »Es ist das gute Recht vom Arbeitgeber zu kontrollieren«, wird ein vierzigjähriger Holger in der Studie zitiert.

Nicht nur bei der Frage nach Kontrollen hat Apicella bei den Streikgegnern eine starke Identifikation mit dem Unternehmen festgestellt. So erklären Holger und ein weiterer Mitarbeiter Tobias, sie seien stolz bei einem bekannten Unternehmen zu arbeiten, »das alle kennen und bei Rankings gut abschneidet«. Die Berichterstattung über die Arbeitskämpfe aber auch die öffentliche Thematisierung der Arbeitsbedingungen bei Amazon werden von den Streikgegnern als Angriff auf das von ihnen geschätzte Unternehmen interpretiert.

Mehrere der von Apicella Befragten betonten, dass die Zufriedenheit der Amazon-Kunden für sie an erster Stelle stehe. »Wir versuchen immer alles, um unsere Kunden glücklich zu machen, und, (dass) sie rechtzeitig ihre Artikel erhalten«, macht sich Streikgegner Holger die Amazon-Philosophie zu Eigen. Den streikwilligen Kollegen unterstellt er neben Habgier auch Faulheit. »Ich habe mein Einkommen, meiner Familie geht es gut, mir geht es gut.« Ansonsten müsse jeder zusehen, wie er zu etwas komme und wo er bleibe, fast Holger zusammen. Anders als beim streikbereiten Teil der Belegschaft kommt Solidarität in seinem Weltbild nicht vor.

Im Fazit ihrer Untersuchung hebt Apicella hervor, dass die politische Einstellung und ein Klassenbewusstsein bei der Frage, ob Menschen zu Arbeitskämpfen bereit sind oder nicht, eine zentrale Rolle spielen. Die Untersuchung habe ergeben, dass niedrige Gehälter und mangelnde Sonderzuwendungen durch Amazon keinen entscheidenden Einfluss auf die Kampfbereitschaft haben.

Die Studie kann her runtergeladen werden:

https://www.rosalux.de/publication/42258/amazon-in-leipzig.html

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1020982.mein-groesster-schatz-ist-mein-arbeitsplatz.html

Peter Nowak

Kommentar zur Rezension:

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1021088.ueberlebenskampf-prekaritaet.html

Von Sebastian Kleiner

05.08.2016

Überlebenskampf Prekarität

Sebastian Kleiner über die Gründe mangelnder Streikbereitschaft von Amazon-Mitarbeitern

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat in einer Studie die mangelnde Streikbereitschaft von Amazon-Mitarbeitern untersucht. Das Fazit: Politische Einstellung und Klassenbewusstsein spielen eine zentrale Rolle, ob Menschen zu Arbeitskämpfen bereit sind – oder nicht. Niedrige Löhne und mangelnde Sonderzuwendungen haben dagegen kaum Einfluss.

Tränen standen in den Augen vieler Beschäftigter, die am 29. Dezember 14 mit mir zusammen im Amazon-Lager in Brieselang mitgeteilt bekamen, keinen neuen Arbeitsvertrag zu bekommen. Immer wieder hatten die Geschäftsleitung und Vorgesetzte damit gelockt, dass bei entsprechender Leistung im Weihnachtsgeschäft eine Übernahme möglich sei. Alle zwei Wochen wurde die eigene Arbeitsleistung kontrolliert, die Geschwindigkeit gemessen und nach Fehlern gesucht. Dabei wurde die eigene Leistung nicht nur mit dem Durchschnitt im Lager verglichen, sondern auch mit der Leistung derer, die gleichzeitig angefangen hatten. Wie groß die Chancen für eine Übernahme standen, war einfach auszurechnen. Die Entscheidung, an einem Streik teilzunehmen oder nicht, fiel entsprechend aus. Im Überlebenskampf Prekarität sind politische Einstellung und Klassenbewusstsein ein Luxus, den sich nicht jeder leisten kann.

Hinweis auf Labournet:

http://www.labournet.de/politik/gw/kampf/kampf-all/studie-amazon-in-leipzig-von-den-gruenden-nicht-zu-streiken/?cat=8158

Ausgelöschte linke Erinnerung

Ein kürzlich publiziertes Buch des Historikers und Romanisten Alexandre Froidevaux beschäftigt sich mit der Erinnerungsgeschichte der spanischen Arbeiterbewegung vom Bürgerkrieg bis zur sogenannten „Transición“.

Der 19. Juli 1936 war für viele ZeitgenossInnen in aller Welt ein wichtiges Datum. In Spanien stoppte an diesem Tag ein Aufstand grosser Teile der Bevölkerung einen faschistischen Putsch. „No pasarán!“, sie werden nicht durchkommen, wurde zum geflügelten Wort. In aller Welt entstanden Solidaritätskomitees für die spanische Revolution, an denen sich auch viele KünstlerInnen beteilig ten. Freiwillige aus aller Welt kämpften mit der Waffe in der Hand in den Internationalen Brigaden in Spanien. Viele von ihnen kamen aus Ländern, in denen der Faschismus schon an der Macht war. Sie wollten in Spanien auch dessen mörderische Weltherrschaftspläne stoppen. 80 Jahre später ist das Datum, das weltweit soviele Hoffnungen auslöste, fast vergessen.

Die Gründe dafür werden von Alexandre Froidevaux in „Gegengeschichten oder Versöhnung?“ sehr gut herausgearbeitet. Sehr detailreich gibt der Autor Einblick in die spanische Erinnerungskultur. Dabei liefert er auch einen gut belegten Einblick in die Geschichte der spanischen ArbeiterInnenbewegung zwischen 1936 und 1982. Bevor die Tage der Hoffnung im Juli 1936 in die Zeit des schrankenlosen Terrors gegen alle VerteidigerInnen der Republik mündeten, nahmen die Auseinandersetzungen innerhalb der spanischen Linken immer schärfere Formen an.

Keine gemeinsame Erzählung

Diese führten dazu, dass die VerteidigerInnen der Republik nicht einmal eine gemeinsame Erzählung von der Niederlage pflegten. Froidevaux macht das an der Rezeption des sogenannten Casado-Putschs deutlich, bei dem am 5. März 1939 ein Bündnis aus rechten SozialistInnen und Teilen der AnarchosyndikalistInnen die wesentlich von der Kommunistischen Partei unterstützte Negrin-Regierung stürzte. Für die KommunistInnen war das der Grund, um ihre Tiraden gegen angebliche trotzkistische und anarchistische VerschwörerInnen, die den Francotruppen den Weg geebnet haben sollen, endlos zu wiederholen. Tatsächlich waren die GegnerInnen Negrins überzeugt, dass die Lage für die Republik aussichtslos war und es Verhandlungen mit Franco geben müsse. Die Negrin-Regierung und die Kommunistische Partei hingegen setzten auf das Durchhalten, bis sich die weltpolitische Lage ändern und sie Unterstützung von Staaten wie Grossbritannien und Frankreich bekommen würden. Diese hatten seit 1936 alles getan, um die Unterstützung der spanischen Republik und ihrer bürgerlich-demokratisch gewählten Linksregierung zu sabotieren. Die rechten PutschistInnen konnten hingegen von Anfang an auf die grosszügigste Unterstützung Hitler-Deutschlands und Mussolini-Italiens rechnen. Ohne deren Militärhilfe wäre der Putsch bereits in den ersten Tagen zusammengebrochen. Stille Sympathie hatten die PutschistInnen bei konservativen Kräften in vielen westlichen Staaten, die durchaus das Ziel des europäischen Faschismus teilten, der Sowjetunion und ihren UnterstützerInnen weltweit eine Niederlage zu bereiten. Doch hatte Stalin mittlerweile die Revolution erstickt, führende Köpfe des Roten Oktober waren hingerichtet oder inhaftiert worden. Daher war die spanische Revolution für viele Linken in aller Welt auch die Hoffnung auf eine Erneuerung der revolutionären Bewegung ausserhalb der SU. Die stalinschen Repressionsorgane verfolgten linke KritikerInnen auch auf spanischem Boden und die Kommunistische Partei Spaniens verteidigte diese Massnahmen.
Diese politische Gemengelage, in der sich die Interessen der sowjetischen Aussenpolitik unter Stalin mit dem revolutionären Impetus vieler KommunistInnen in und ausserhalb verschiedener Parteien vermengte, wird im Buch sehr gut beschrieben. So wird die Kluft deutlich, die sich nach der Niederlage unter den spanischen VerteidigerInnen der Republik auftat und zu einem regelrechten Hass zwischen den unterschiedlichen Gruppierungen führte. Bis Anfang der 1960er Jahre lehnten viele SozialistInnen und AnarchistInnen die Kooperation mit der KP ab, die sie für die Repression gegen ihre GenossInnen verantwortlich machten. Doch auch innerhalb der Gruppierungen ging der Streit nach der Niederlage weiter. Froidevaux schreibt über die Spaltung der anarchosyndikalistischen CNT: „Die andauernden Auseinandersetzungen zwischen den beiden Fraktionen bleiben der Vergangenheit verhaftet, begründen sich, wie gezeigt, aus unterschiedlichen Lesarten der CNT-Politik im Bürgerkrieg und speisen sich aus persönlichen Animositäten“.

Konservative feiern Franco

Froidevaux macht aber auch das Ausmass des Terrors deutlich, mit dem der spanische Faschismus sein proklamiertes Ziel, Spanien von allen Linken, Gottlosen und Freimaurern zu säubern, vor allen in den ersten Jahren gnadenlos umsetzte. Froidevaux geht von mindestens 150.000 Ermordeten aus. Wesentlich höher war

die Zahl der Gefolterten und der ZwangsarbeiterInnen, die etwa die Monumentaldenkmäler des Regimes errichten mussten. Auch die Erinnerung an das republikanische Spanien wurde mit massivem Terror rigoros unterbunden. Froidevaux spricht von einem Memorizid. „Auf diese Weise ging linke Identität verloren, begleitet und verstärkt durch den Verlust kollektiver Erinnerung“. Der Memorizid führte dazu, dass auch nach der sogenannten „Transición“, bei der aus Franco-FaschistInnen wieder Konservative wurden, die Geschichte der spanischen Revolution nicht erzählt wurde. Es gab auch keine Gerechtigkeit für die Opfer der faschistischen Gewaltpolitik. Erst mit grosser Verspätung gab es in den 1990er Jahren die ersten Versuche, von den faschistischen Schergen Ermordete umzubetten und Gedenkorte einzurichten. „Das Vergessen setzt sich durch“, das gilt auch für die Nachfranco-Ära. Froidevaux kommt bei aller Kritik im Detail zu dem Fazit, dass es angesichts der Kräfteverhältnisse keine Alternative zur Politik der „Transición“ gegeben habe. Doch angesichts der portugiesischen Revolution und dem weltweiten revolutionären Aufbruch, der Mitte der 1970er Jahren noch im Gang war, sollte man dahinter ein grosses Fragezeichen setzen. Und man sollte nie vergessen, es waren deutsche ChristdemokratInnen und die konservative FAZ, die bis zum Schluss Franco als Bollwerk des christlichen Abendlands gegen den Kommunismus feierten. So schrieb ein Robert Held 1961 zum 25. Jahrestag des Putsches in der FAZ, die Obristen hätten das Schlimmste gerade noch verhindert – womit die spanische Revolution gemeint war.

Alexandre Froidevaux: „Gegengeschichten oder Versöhnung? Erinnerungskulturen und Geschichte der spanischen Arbeiterbewegung vom Bürgerkrieg bis zur ‚Transición‘ (1936-1982)“ Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2015,   600 Seiten, ca. 30 Franken

Peter Nowak

vorwärts – die sozialistische zeitung, Nr. 27/28 vom 15. Juli 2016,

Dokumentiert auf Schattenblick:

http://www.schattenblick.de/infopool/medien/altern/vorw1207.html

Nr. 27/28 – 72. Jahrgang – 15. Juli 2016, S. 8

Ein kürzlich publiziertes Buch des Historikers und Romanisten Alexandre Froidevaux beschäftigt sich mit der Erinnerungsgeschichte der spanischen Arbeiterbewegung vom Bürgerkrieg bis zur sogenannten „Transición“.

Der 19. Juli 1936 war für viele ZeitgenossInnen in aller Welt ein wichtiges Datum. In Spanien stoppte an diesem Tag ein Aufstand grosser Teile der Bevölkerung einen faschistischen Putsch. „No pasarán!“, sie werden nicht durchkommen, wurde zum geflügelten Wort. In aller Welt entstanden Solidaritätskomitees für die spanische Revolution, an denen sich auch viele KünstlerInnen beteilig-

40 Jahre nach Entebbe

vom 26. September 2023

Eine Flugzeugentführung unter deutscher Beteiligung und die Frage nach dem Verhalten deutscher Linker

In Israel hat der 27.Juni 1976 eine  große Beachtung gefunden. Die Entführung eines Flugzeugs, das auf dem Weg von Tel Aviv nach Paris war, durch ein multinationales Guerillakommando ist auch nach 40 Jahren nicht vergessen[1].

Überlebende und ihre Angehörigen kommen ebenso zu Wort wie…
„40 Jahre nach Entebbe“ weiterlesen

Nach vorne erinnern

Peter Nowak über ein Buch zur Geschichte der spanischen Arbeiterbewegung

Große Teile der spanischen Rechten, der konservativen Presse, aber auch die Leitung der Madrider Universität liefen Anfang 2016 Sturm gegen Pläne der auf einer linken Bürgerliste gewählten Madrider Bürgermeisterin Manuela Carmena, in der spanischen Hauptstadt Straßen umzubenennen, die noch immer die Namen von Generälen und Politikern des Franco-Regimes tragen. Der Sieg, den der spanische Faschismus mit tatkräftiger Unterstützung seiner Verbündeten aus Nazi-Deutschland und Mussolini-Italien 1939 errang, hat Auswirkungen bis heute. Das ist das Fazit des Historikers und Romanisten Alexandre Froidevaux, dessen Buch „Gegengeschichten oder Versöhnung?“ einen guten Einblick in die spanische Erinnerungskultur gibt. Im Fokus steht die spanische Arbeiterbewegung zwischen 1936 und 1982. Am 19. Juli 1936 wehrten sich große Teile der Bevölkerung zunächst erfolgreich gegen einen Putsch rechter Militärs. „¡No pasaran!“ (sie werden nicht durchkommen) wurde für kurze Zeit zur einigenden Parole der zerstrittenen spanischen Arbeiterbewegung. Froidevaux zeichnet die Debatten im sozialistischen, kommunistischen und anarchistischen Lager nach und benennt auch die gravierenden politischen Fehler aller Strömungen. Nach der Niederlage des republikanischen Spaniens bewerteten die unterschiedlichen linken Fraktionen die historischen Ereignisse gegensätzlich, wie der Autor am Beispiel des sogenannten Casado-Putsches vom 6. März 1939 zeigt. Teile der Anarchisten und Sozialisten rechtfertigten ihn als Widerstand gegen stalinistische Durchhalteparolen. Die Kommunisten und eine sozialistische Minderheit sahen in ihm die Ursache dafür, dass die Faschisten die spanische Hauptstadt kampflos einnehmen konnten. Froidevaux beschreibt, wie die Faschisten das von ihnen proklamierte Ziel, Spanien von allen Linken, Gottlosen und Freimaurern zu säubern, vor allem im ersten Jahrzehnt ihrer Herrschaft umsetzten. Er geht von mindestens 150.000 Ermordeten aus. Wesentlich höher war die Zahl der Gefolterten und der Zwangsarbeiter, die auch die Monumentaldenkmäler des Regimes errichten mussten. Die Erinnerung an das republikanische Spanien wurde mit Terror rigoros unterbunden. Froidevaux spricht hier von einem Memorizid. Das Buch macht zudem deutlich, dass auf diesem Terror die Politik der „Transicion“ aufbaute, die das Franco-Regime schließlich in die westliche Wertegemeinschaft führte.

http://www.konkret-magazin.de/hefte/id-2016/heft-72016/articles/in-konkret-1794.html

in: Konkret, 7/2016

Peter Nowak


Wo beginnt für die deutsche Justiz der Antisemitismus?

Fritz Güde: Umwälzungen. Schriften zu Politik und Kultur

Fritz Güde gehörte zu den politisch Verfolgten in der BRD der 70er Jahre. Wegen seiner kurzen Mitgliedschaft im maoistischen KBW bekam er 1974 Berufsverbot. Er war einer von Tausenden, doch sein Fall bekam ein großes Medienecho. Schließlich war er Sohn des Generalbundesanwalts Max Güde. Zudem war Güde zum Zeitpunkt seines Berufsverbots bereits 39 Jahre. Er gehörte also zu dem Kreis von politischen Opponenten des Adenauer-Staats, die, obwohl sie selbst keine 68er waren, die Aufbruchsbewegung jener Zeit als Befreiung aus dem Klima der Restauration wahrnahmen.

Güde kämpfte in mehreren Instanzen gegen sein Berufsverbot, gewann schließlich und war bis zu seiner Pensionierung noch an zahlreichen Schulen als Lehrer tätig. Nach seinem kurzen KBW-Intermezzo schloss er sich keiner Partei mehr an, blieb aber ein entschiedener Linker. Er publiziert bis heute in unterschiedlichen Zeitschriften und Internetmagazinen zu Themen aus  Politik, Gesellschaft und Kunst.

Sein profundes Wissen fließt in die Beiträge mit ein. Eine Auswahl von 26 Texten ist nun in einem Buch versammelt, das zu Güdes 80.Geburtstag in der Edition Assemblage erschienen ist. Herausgegeben wurden sie vom Publizisten Sebastian Friedrich, der Güde seit Jahren aus der gemeinsamen politischen Arbeit kennen und schätzen gelernt hat.

Oft sind es Bücher, Filme oder Theaterstücke, die Güde nicht nur rezensiert, sondern auch in einen gesellschaftlichen Kontext einordnet.

Der erste Text widmet sich einem Buch, in dem Henning Böke den Maoismus nicht, wie heute üblich, in Bausch und Bogen verdammt, sondern bei aller Kritik in seinem historischen Kontext analysiert. Dabei verweist Güde auf den antiautoritären Geist der Kulturrevolution, die auch keine Ehrfurcht vor Politbüros und Parteifunktionäre hatte.

Ausführlich beschäftigt sich Güde in seinem politischen Essay mit der Zeitschrift Weltbühne, einer linksbürgerlichen Stimme, die am Ende der Weimarer Republik vergeblich die Arbeiterparteien SPD und KPD zur Einheitsfront gegen die Nazis aufrief. Güde verschweigt aber auch nicht, dass es auch vereinzelt Beiträge in der Weltbühne gab, die den italienischen Faschistenführer Mussolini lobten.

Dass Güde auch interessiert die aktuell populäre Kultur verfolgt, zeigt ein Text, der sich mit der Wandlung des Familienbilds in US-amerikanischen Fernsehserien befasst. Sehr kundig auch sein Nachruf auf Heinrich Böll, über den schreibt: «Eine Seekarte hat er uns nicht hinterlassen, wohl aber die Kunst, im Wellengang oben zu bleiben.»

In einem Aufsatz wendet sich Güde gegen Versuche, Bert Brecht als eigentlich unpolitischen Schriftsteller darzustellen, der nie Marx gelesen habe und von den Kommunisten manipuliert worden sei. Auf solche Anpassungen an den Zeitgeist reagiert Güde mit gut begründeten Widerworten.

Ausführlich beschäftigt er sich mit Kurt Tucholsky und Walter Benjamin. An Benjamin angelehnt ist auch Güdes Motivation beim Verfassen seiner Schriften: «Es muss im Bewusstsein der Niederlagen der Kampf angetreten werden, im schärfsten Blick auf die Entstellungen, die bisherige Revolutionäre sich antaten, um ein Jahr oder fünf Jahre oder gar zehn weitermachen zu können.» Güde plädiert dafür, die Kämpfe für eine neue Gesellschaft auch in der Gewissheit zu führen, «dass unsere Züge nicht weniger entstellt, unsere Hände nicht weniger schmutzig sein werden, als die jener, die uns vorangingen». Sein Buch ist eine solche Ermunterung in Zeiten der Restauration.

Fritz Güde: Umwälzungen. Schriften zu Politik und Kultur

Fritz Güde: Umwälzungen. Schriften zu Politik und Kultur

Hrsg. von Sebastian Friedrich. Münster: Edition Assemblage, 2015. 220 S., 20 Eurvon Peter Nowak

Gegen staatlich verordnete Tarifeinheit

Der Bundestag hatim Mai 2015 das umstrittene Tarifeinheitsgesetz verabschiedet. Der Arbeitsrechtler Rolf Geffken hält es für rechtswidrig. . In einer im VAR-Verlag erschienenen Broschüre unter dem Titel »Streikrecht, Tarifeinheit, Gewerkschaften« hat der Arbeitsrechtsanwalt Argumente für seine Position zusammengetragen.  Die 80seitige Broschüre  ist nicht nur ein Plädoyer gegen die Tarifeinheit. Doch der seit 1977 als Fachanwalt für Arbeitsrecht tätige Geffken kritisiert auch den angemaßten den Monopolanspruch des DGB.

Spätestens Ende 2016 wird das Tarifeinheitsgesetz noch einmal Thema.  Dann will das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe über die Verfassungsbeschwerden entscheiden, die Spartengewerkschaften wie der Marburger Bund, die GDL und der Deutsche Journalistenverband gegen das Gesetz eingereicht hatten. r Rolf Geffken ist zuversichtlich, dass es  gekippt wird

In seiner Analyse setzt er sich auch kritisch mit vor allen von linken DGB-GewerkschafterInnen  verwendeten Argumenten  auseinander, dass die  Einheitsgewerkschaft aus der Erfahrung gegründet wurde, dass die ArbeiterInnenbewegung 1933 gespalten gegen den Nationalsozialismus  unterlegen ist.

„Es  waren die Vorläuferorganisationen  des heutigen DGB, nämlich vor allem der ADGB, der Ende  April 1933  ….  dazu aufrief, sich an den „Nationalen Aufmärschen“ zum 1. Mai 1933 zu beteiligen“,  erinnert  Geffken auf historische Tatsachen. Leider wird in der insgesamt lesenswerten Broschüre  die  FAU   von Geffken nicht erwähnt, obwohl sie   bei Tarifkonflikten vielfältigen Repressalien ausgesetzt ist, die nicht nur bei der Tarifeinheit beginnen und weitere höchst kritikwürdige Elemente der deutschen Rechtsprechung zur Gewerkschaftsfreiheit offenlegen.

Peter Nowak

Geffken Rolf, Streikrecht Tarifeinheit Gewerkschaften – Aktuelle Analyse zur Koalitionsfreiheit in Deutschland, VAR-Verlag Arbeit & Recht, 81 Seiten, 12Euro,  ISBN: 3-924621-09-8

aus Direkte Aktion: Sonderausgabe Mai 2016

Theorien für die Masse

Julius Dickmann war ein bedeutender marxistischer Autor der Zwischenkriegszeit, dessen Schriften nicht mehr zugänglich waren. Peter Haumer hat jetzt die politische Biographie Dickmanns verfasst.

»Wer ist Julius Dickmann und warum sollte man ein Buch über ihn schreiben?« Diese Frage bekam Peter Haumer immer wieder zu hören, als er sich mit der Biographie eines vergessenen Theoretikers beschäftigte. Bei Haumer, der zu linker Gewerkschaftspolitik und Dissidenz innerhalb der Arbeiterbewegung in Österreich forscht, war die Neugier geweckt. Zunächst stieß er auf die die wenigen theoretischen Texte Dickmanns, die noch zugänglich sind. »Zunehmend interessierten mich seine Gedanken, Ideen und Theorien und schließlich die Person, die dahintersteckte«, beschreibt Haumer die Entstehung eines Buches, das ursprünglich gar nicht geplant war. Schließlich machte Haumer eine in New York lebende Nichte Dickmanns ausfindig, die bei der ersten Begegnung fragte: »Was gibt es denn über meinen Onkel überhaupt zu schreiben?« Sie wusste nichts über die politischen Aktivitäten und Schriften ihres Onkels. Das stachelte den Ehrgeiz des Chronisten nur noch mehr an. »War der politische Mensch hinter dem Namen Julius Dickmann tatsächlich im Nichts verschwunden?!«

Haumer gibt nun im Wiener Mandelbaum-Verlag ein Buch heraus, das die politischen Schriften von Dickmann wieder zugänglich macht und die Biographie eines Menschen rekonstruiert, der sich innerhalb des revolutionären Flügels der österreichischen Arbeiterbewegung engagierte. Er gehört zu den vielen, die am Ende des Ersten Weltkriegs hofften, die alte kapitalistische Welt werde gestürzt. Die Oktoberrevolution war für ihn dabei ebenso eine Etappe wie die ungarische Räterepublik und die Streiks und Aufstände in Österreich. Dickmann war ein Vertreter des Rätegedankens und setzte auf die Selbstorganisation der Lohnarbeiter. »Dass die Masse sich selbst begreifen lernt«, dieser Gedanke, der dem Buch als Untertitel dient, war für Dickmann ein zentraler Aspekt für die Beurteilung aller politischen und gewerkschaftlichen Aktivitäten. Von ihm stammt der schöne Satz: »Die Theoretiker haben bis jetzt die Masse verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, dass diese sich selbst begreifen lernt.« Mit dieser Abwandlung des bekannten Marxschen Satzes über Feuerbach wolle er seine »bescheidene Arbeit gerechtfertigt« wissen. »Vom theoretischen. Streit verwirrt, stelle ich mir hier die Aufgabe, mit dem bisschen Wissen ausgerüstet, welches ein Proletarier in seinen kargen Mussestunden erwerben kann, zur Selbstverständigung über die Kämpfe und Wünsche der Zeit zu gelangen.«

Für kurze Zeit war er Mitglied der Kommunistischen Partei Österreichs, die er wieder verließ, als sich abzeichnete, dass es mehr um die Macht als um die Selbstemanzipation der Arbeitenden ging. An seinen in dem Buch dokumentierten Texten kann man auch den Lern- und Erkenntnisprozess von Dickmann verfolgen. Da finden sich die in den Jahren 1918/19 verfassten Artikel, mit denen er unmittelbar politisch wirken wollte. Damals war er noch vom baldigen Erfolg der sozialistischen Revolution überzeugt. In den Schriften jener aktivistischen Periode setzte er sich für die Stärkung des Rätegedankens ein und konzentrierte sich auf Fragen der praktischen Umsetzung. So stellte er sich im Mai 1919 eine Frage, die damals auch die linkssozialdemokratische USPD in Deutschland stark beschäftigte: Kann es noch Platz für ein bürgerliches Parlament geben oder muss alle Macht den Räten zufallen? Dickmanns pragmatische Antwort lautete: »Der Schreiber ist selbst ein überzeugter Anhänger dieser Losung. Aber es kann sich natürlich in dieser Frage nicht um die äußere Form handeln, in welcher die Räte zur Macht gelangen. Entscheidend ist der tatsächliche Besitz der Machtmittel im Staat. Gelingt es den Arbeiterräten, sich die Verfügungsgewalt über diese Macht dauernd zu sichern, so kommt es sehr wenig darauf an, ob für eine gewisse Übergangszeit neben dem Kongress der Arbeiterräte die Nationalversammlung als gesetzgebende Körperschaft noch bestehen bleibt.« Als der revolutionäre Aufbruch zerschlagen wurde, setzte sich Dickmann mit den Ursachen der Niederlage auseinander.

Im Dezember 1919 war er noch überzeugt, dass die Niederlage nur vorübergehend sein werde. »Die kommende Revolution darf nicht mehr ein träges Proletariat vorfinden, das zwischen Parlament und Rätesystem, Diktatur oder Demokratie unentschlossen schwankt, und die Erleuchtung von einer Führerclique empfängt, die selbst in sich gespalten, die Uneinigkeit in die Massen trägt«, schreibt er im Dezember 1919 in dem programmatischen Text »Zwischen zwei Revolutionen«. Doch schon 1920 schlägt Dickmann in seiner Schrift »Zur Krise des Kommunismus« wesentlich kritischere Töne an.

»In Deutschland lastet die fünfzigjährige sozialdemokratische Tradition wie ein Alp auf den Proletariern. Dieser Alp konnte nicht in wenigen Wochen abgetragen werden.« Damit setzte Dickmanns Kritik auch bei jener Tradition an, die die kommunistischen Parteien in ihrer Mehrheit bald übernehmen sollten. Dickmann, den seine Schwerhörigkeit, die bald zur Taubheit führte, zunehmend belastete, suchte die Ursachen für die Niederlage der revolutionären Bewegung in praktischen und theoretischen Defiziten der eigenen Seite. Mit seinen 1932 verfassten Schriften »Das Grundgesetz der sozialen Entwicklung« und »Der Arbeitsbegriff bei Marx« wollte Dickmann »Beiträge zur Selbstkritik des Marxismus« leisten. Diese Texte fanden unter linken Theoretikern Aufmerksamkeit und wurden 1932 in der Zeitung für Sozialforschung besprochen. Diese Rezension ist lange Zeit eine der wenigen Spuren von Dickmanns theoretischem Wirken gewesen, die auch Haumers Interesse entfachte.

In seinem Buch sind die beiden Texte erneut abgedruckt, die eine erstaunliche Aktualität haben. Dort hat Dickmann schon Fragen angesprochen, die für die Debatten um die Endlichkeit der Ressourcen und den Umgang mit der Umwelt interessante Gesichtspunkte beisteuern können. Er verwarf die These von Marx, dass der Konflikt zwischen den Produktionsverhältnissen und der Produktionsweise den Übergang von der Feudalgesellschaft zum Kapitalismus bestimmt hat. »Der wirkliche Widerspruch, der jede ökonomische Umwälzung herbeiführte, bestand immer nur zwischen der ungehemmten Entfaltung der Produktivkräfte und der Naturschranke ihrer Anwendungsbasis.« Diese Schriften fanden in den frühen dreißiger Jahren auch unter Theoretikerinnen und Theoretikern der französischen Linken Aufmerksamkeit. Dickmann schrieb regelmäßig Beiträge für die Zeitschrift La Critique Sociale, zu deren Umfeld auch die Philosophin Simone Weil gehörte, die sich in Briefen mehrmals auf Dickmanns Texte bezog. Wie wichtig ihm der Austausch war, zeigte sich schon daran, dass der damals vollständig gehörlose Dickmann mit Hilfe seiner Nichte Französisch lernte. In Österreich wurden zu dieser Zeit bereits Kommunisten, Sozialisten und Gewerkschafter verfolgt. Nach dem gescheiterten Wiener Arbeiteraufstand vom Februar 1934, den Dickmann sehr kritisch beurteilte, hatte der Austrofaschismus die letzten Reste der bürgerlichen Demokratie beseitigt. Die NS-Bewegung als dessen Konkurrenz von rechts wurde auch für Dickmann zur tödlichen Gefahr. Als Linker und Jude war er gleich doppelt bedroht. Warum aber verließ er Wien nicht? »Die Vereinigten Staaten«, vermutet Haumer, »hätten ihm wegen seiner Taubheit kein Visum gegeben. Und wovon sollte er als tauber und politisch ausgegrenzter Emigrant leben können? In Wien bekam er wenigstens eine Invalidenrente.«

Auf 22 Seiten sind die kurzen Texte abgedruckt, die Dickmann zwischen den 10. Juli 1939 und dem 11. November 1941 an seine Nichte schrieb; sie hatte sich mit weiteren Familienangehörigen in die USA retten können. Sie sind Zeugnis der zunehmenden Entrechtung, aber auch des Lebensmutes von Dickmann. »Um mich mache Dir keine großen Sorgen. Ich bin abgehärtet gegen Unannehmlichkeiten des Lebens«, heißt es in dem letzten dokumentierten Brief. Zwischen dem 9. April und dem 5. Juni 1942 gingen vom Wiener Anspang-Bahnhof vier Deportationszüge mit über 4 000 jüdischen Männern, Frauen und Kindern ab. Sie endeten im Vernichtungslager Belzec. Hier verliert sich die Spur von Dickmann. Haumer hat mit seiner Wiederentdeckung von Dickmann einen wichtigen Beitrag geleistet, ihn und seine Schriften dem Vergessen zu entreißen.

Peter Haumer: Julius Dickmann, » … dass die Masse sich selbst begreifen lernt«. Politische Biographie und ausgewählte Schriften, Mandelbaum-Verlag Wien, 2016, 358 Seiten, 19,80 Euro

http://jungle-world.com/artikel/2016/19/54008.html

Peter Nowak

Knasterfahrung

Alternative Bewegungen in Russland stehen zwischen Integration und Gefängnis

»Wer sich einer gesellschaftlichen Situation nähern will, tut gut daran, sich die Lage derer zu vergegenwärtigen, denen die Teilnahme an ihr untersagt oder beschränkt ist«, heißt es im Vorwort eines Buches, das sich unter dem Titel »Isolation und Ausgrenzung« mit der parteiunabhängigen Linken und alternativen Bewegungen in Russland und Belarus befasst. Die Beiträge in diesem Buch geben einen Überblick über eine politische und künstlerische gesellschaftlich marginalisierte Szene, deren Protagonisten in ständiger Gefahr leben, im Gefängnis zu verschwinden.

Drei ebenfalls in diesem Band abgedruckte Gefängnisbriefe sind daher wichtige Dokumente und Zeugnisse von Repression und Widerstand in Russland. Darunter der Brief von Alesej Gaskarow, der sich seit Jahren zur außerparlamentarischen Linken in Russland zählt. Bereits 2010 saß er für mehrere Monate in Untersuchungshaft, weil er sich an den Protesten gegen die Abholzung des Chimki-Waldes bei Moskau beteiligt hatte. Die Aktionen spielten für die außerparlamentarische Linke in Russland eine sehr wichtige Rolle. Im Oktober 2012 wurde Gaskarow in den Koordinationsrat der russischen Opposition gewählt. In dem 45-köpfigen Gremium koordinierten sich auf dem Höhepunkt der Proteste gegen Putins Wiederwahl die Gegner des Präsidenten. Das Spektrum im Koordinationsrat reichte von Nationalisten bis hin zu außerparlamentarischen Linken, die Gaskarow vertrat. Am 28. April 2013 wurde er wegen Störung der öffentlichen Ordnung zu einer Haftstrafe von dreieinhalb Jahren verurteilt. Ihm wurde vorgeworfen, eine wichtige Rolle bei der Organisierung von Demonstrationen gegen Putins Wiederwahl gespielt zu haben. Dabei hatten Aktivisten trotz verhängter Demonstrationsverbote Plätze in Moskau und anderen russischen Städten besetzt. Dass die Regierung neben der Kriminalisierung der radikalen Teile auch Integrationsangebote an die außerparlamentarische Bewegung macht, beziehungsweise einigen Massenprotesten bereits nachgegeben hat, beschreibt Galina Mihaleva in ihrem Aufsatz: So wurde ein als korrupt geltender Gouverneur von Kaliningrad nach Protesten Tausender Stadtbewohner abberufen. In Sankt Petersburg wurde der Bau des Hochhausturms »Gasprom City« nach anhaltenden Widerstand der Bevölkerung gestoppt.

Herausgegeben wurde das Buch von dem belorussischen Wissenschaftler Luca Bublik, dem Berliner Historiker Johannes Spohr und der russischen Publizistin Valerie Waldow. Das Trio ist seit Jahren in der Arbeitsgruppe Russland (AGRu) aktiv, die zum Jugendbildungsnetzwerk der Rosa-Luxemburg-Stiftung gehört. Seit mehreren Jahren hält die AGRu Kontakt zu unterschiedlichen künstlerischen, politischen und sozialen Projekten vor allem in Nordwestrussland. Dies kam jetzt der vorliegenden Veröffentlichung zu Gute. Der Band »Isolation und Ausgrenzung« liefert in knapper Form einen guten Einstieg in die Thematik der hierzulande noch weitgehend unbekannten russischen Protestbewegungen.

Isolation und Ausgrenzung als post/sowjetische Erfahrung. Trauerarbeit. Störung. Fluchtlinien. Hg.: Luca Bublik / Johannes Spohr / Valerie Waldow. Assamblage 2016, 128 Seiten, Broschur, 12,80 Euro.

Peter Nowak

Arbeit – Bewegung – Geschichte

Die Schweiz spielte keine unwichtige Rolle in der Geschichte der linken ArbeiterInnenbewegung. Die Zimmerwalder-Konferenz von 1915, zu der die sozialistischen GegnerInnen des 1. Weltkriegs zusammen kamen, ist ein bekanntes Beispiel. Kaum bekannt ist hingegen, dass die Schweiz vor über 40 Jahren auch eine wichtige Rolle in der europäischen Vernetzung der linken Betriebsintervention gespielt hat.

Anfang der 1970er Jahre wurde in Zürich ein internationales Koordinationsbüro für die länderübergreifende Unterstützung von Streiks und Arbeitskämpfe aufgebaut. Getragen wurde es von Gruppen der radikalen Linken, die durch den Aufbruch nach 1968 entstanden sind und sich weder der sozialdemokratischen noch der traditionskommunistischen Richtung zuordneten. Neben dem Pariser Mai 1968 war auch der italienische Herbst 1969 für diese Linke ein wichtiger Bezugspunkt. Denn in Italien beteiligten sich viele ArbeiterInnen im ganzen Land an Betriebsbesetzungen, Streiks und militanten Demonstrationen. Dort war der Funke des revolutionären Aufbruchs tatsächlich übergesprungen, von den Hochschulen auf die Fabriken. Linke AktivistInnen sowie kämpferische ArbeiterInnen aus vielen europäischen Ländern verfolgten die Entwicklung mit grossem Interesse. «In der historischen Forschung zu den Streikbewegungen und Arbeitskämpfen der 1960er und 1970er ist die internationale Zusammenarbeit von Strömungen und Gruppen, die sich an diesen Auseinandersetzungen in der Fabrik orientieren, noch wenig beachtet worden», schreibt der Berliner Historiker Dietmar Lange in der aktuellen Ausgabe von Arbeit – Bewegung – Geschichte, Zeitschrift für historische Studien.

Die Prophezeiung des heraufziehen den Postfordismus

Das Schwerpunktthema lautet «Linke Betriebsintervention, wilde Streiks und operaistische Politik 1968 bis 1988». Dietmar Lange, der gemeinsam mit Fabian Bennewitz, Ralf Hoffrogge und Axel Weipert die Zeitschrift herausgibt, forscht seit längerem zur Geschichte der linken Betriebsinterventionen der 1960er und 1970er Jahre. Dabei hat er auch einen Bericht über eine Internationale ArbeiterInnenkonferenz im April 1973 ausgegraben, die in Paris stattgefunden hat. Sie wurde wesentlich von dem Zürcher Koordinationsbüro vorbereitet und widmete sich den Klassenauseinandersetzungen in der Automobilindustrie. Anwesend ArbeiterInnen aus den wichtigsten Automobilkonzernen wie BMW, VW, Fiat, Opel, Alfa Romeo, Renault und Citroen. Aus der Schweiz waren Beschäftigte von Saurier vertreten. Auch verschiedene Linke aus Deutschland, Frankreich, Italien und Grossbritannien nahmen an der Konferenz teil. Aus der Schweiz waren AktivistInnen der Gruppe Klassenkampf nach Paris gekommen, die sich aus einer maoistisch orientierten Jugendbewegung in der italienischen Schweiz entwickelt hatte und Anfang der 70er Jahre ihren Einfluss auf die deutschsprachige Schweiz ausdehnte. Mitte der 70er Jahre löste sich die Gruppe auf. In dieser Zeit war die linke Betriebsintervention in eine Krise geraten geraten
und auch das Zürcher Koordinierungsbüro stellte die Arbeit ein. Die Vorbereitung der Pariser Konferenz war ihre wichtigste Arbeit. «Nur kurze Zeit nach der Konferenz in Paris vollzog ein Grossteil der beteiligten Gruppen einen Richtungswechsel oder löste sich auf», schreibt Dietmar Lange. In einem Interview mit dem Arzt und Historiker Karl Heinz Roth, der damals an der linken Betriebsintervention beteiligt war, spürt Lange den Gründen für den schnellen Zusammenbruch der transnationalen Solidaritätsarbeit nach, der zu einem langen Abschied der linken Bewegung vom Proletariat führen sollte. Roth erinnert sich an warnende Stimmen auf der Konferenz, die berichteten, wie durch Konzernstrategien das Konzept des kämpferischen Massenarbeiters untergraben wurde. «Diese Prophezeiung des heraufziehenden Postfordismus stand als Menetekel an der Wand des Kongresses», so Roth. Er begründet auch, warum das Koordinierungsbüro, dass neben der Gruppe Klassenkampf auch von der Berner und St. Gallener Ortsgruppen der Proletarischen
Front getragen wurden, in der Schweiz errichtet wurde: «Die Standortwahl lag nicht nur aus geographischen Gründen nahe, sondern hatte mit der damals leider noch sehr seltenen Mehrsprachigkeit der schweizerischen Genossinnen und Genossen zu tun».
Parallelen zu heutigen Auseinandersetzungen
Das Koordinierungsbüro habe sich zum Ziel gesetzt, die Selbstorganisation der am meisten marginalisierten Sektoren der europäischen ArbeiterInnenklasse zu fördern. Das ist eine sehr aktuelle Zielsetzung. Schliesslich gibt es zurzeit eine linke Betriebsintervention bei Amazon. Es gab bereits mehrere Treffen von Beschäftigten von Amazon-Werken in Deutschland und Polen. Deshalb weckt das Schwerpunktthema der Zeitschrift Arbeit – Bewegung – Geschichte nicht nur historisches Interesse. Die HerausgeberInnen weisen darauf hin, dass sich «in den hier publizierten Texten zahlreiche Aspekte finden, die Parallelen zu heutigen Auseinandersetzungen aufweisen». Nelly Tügel untersucht in ihren Beitrag, wie der Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) auf gewerkschaftliche
Aktivitäten von ArbeitsmigrantInnen in Westdeutschland reagierte, die oft noch Klassenkampftraditionen einbrachten, die in Deutschland durch den Nationalsozialismus ausgelöscht worden waren. «Zum einen erging die Aufforderung an die Einzelgewerkschaften, jeweils einen Kollegen zu benennen, der in einen der Abteilung Organisation unterstellten Unterausschuss für die Betreuung ausländischer Kollegen entsandt werden sollte. Zum anderen wurde beschlossen, Materialen über die kommunistische und faschistische Unterwanderung durch ausländische Arbeitnehmer zusammenzustellen und allen Bundestagsabgeordneten zuzustellen». Sehr empfehlenswert sind auch die Beiträge in der Zeitschrift, die sich nicht mit dem Schwerpunktthema befassen. Auch dabei wird deutlich,
dass die Schweiz in der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung eine wichtige Rolle spielte. So berichtet die Historikerin Miriam Sachse von einem Symposium, das sich mit der internationalen sozialistischen Frauenkonferenz 1915 in Bern befasste. Dabei betonte die Präsidentin der Schweizer Robert Grimm Gesellschaft, Monika Wick aus Zürich, dass die Konferenz, die in klarer Opposition zum sozialdemokratischen Kurs des Burgfriedens stand, auch männliche Unterstützer hatte. Dazu gehörte in der Schweiz Robert Grimm.

Arbeit – Bewegung – Geschichte.
Zeitschrift für historische Studien, Heft
1/2016, 230 Seiten, Bezug: www.metropolverlag.de

aus: vorwärts – 26. April 2016

http://www.schattenblick.de/infopool/medien/altern/vorw1185.html

Peter Nowak

Kein Kampf ohne Begriffe

Entwickeln, kapern, umdeuten – wie sich die extreme Rechte ihre Begrifflichkeiten zurechtlegt

Keine Zusammenarbeit mit der »Alternative für Deutschland« (AfD) – das scheint zurzeit bis hin zum rechten Flügel der Union der öffentliche Konsens zu sein. Mit einer Abgrenzung von der Politik der AfD hat das aber wenig zu tun. Schließlich gab Franz-Josef Strauß, der Übervater der CSU, einst die Devise aus, rechts von seiner Partei solle »nur noch die Wand« sein. Das Entstehen einer rechten Konkurrenzpartei war Strauß zufolge am besten zu verhindern, indem man deren Positionen selbst vertrat.

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Dabei geblieben

Beruf, Kinder, wechselnde Perspektiven – wenn linke AktivistInnen älter werden

Ab dem 30. Geburtstag spüren viele PolitaktivistInnen zunehmende Ent-fremdung zur linken Szene. Dies ist nicht per se der Rückzug ins Private.

Linke Demonstrationen hinterlassen oft den Eindruck einer Jugendbewegung. Menschen über 40 sind die große Ausnahme. Warum beginnt bei den meisten AktivistInnen der Abschied von dem politischen Engagement mit 30? Diese Frage stellt sich auch Rehzi Malzahn in ihren im Unrast-Verlag erschienen Buch »dabei geblieben. Aktivist_innen erzählen vom Älterwerden und Weiterkämpfen«. Für ihr Buch hat sie politisch aktive über 50-jährige interviewt. Unter ihren 25 Gesprächspartnern sind Gewerkschaftler, Umweltbewegte und Feministinnen. Bis auf ein DKP-Mitglied sind alle Interviewten parteilos. Viele haben ihre ersten politischen Erfahrungen in der autonomen Bewegung gemacht.

»Ich wollte Leute befragen, die dabeigeblieben sind«, beschreibt Malzahn ihr Erkenntnisinteresse. Dabei interessierte sie besonders, wie AktivistInnen ihre politische Arbeit mit Zwängen des Geldverdienens unter einen Hut bringen, welche Rolle Familie und Kinder im Alltag der politischen AktivistInnen spielen und woher sie ihre Motivation für das Dabeibleiben nehmen. Diese Fragen beschäftigten die Autorin nicht nur für das Buchprojekt. Malzahn selbst wurde in der globalisierungskritischen Bewegung Ende der 90er Jahre politisch aktiv und engagierte sich danach über 15 Jahre in linken außerparlamentarischen Zusammenhängen. Ihr Studium hatte sie abgebrochen, weil ihr die politische Arbeit wichtiger war. Das Buch war somit auch ein Stück private Krisenbewältigung. »Ab meinem 30. Geburtstag habe ich eine zunehmende Entfremdung zu den Ritualen und Herangehensweisen der Szene, der ich angehöre, gespürt und auch gemerkt, dass mir bestimmte Fragestellungen nicht mehr reichen und bestimmte Antworten nichts mehr sagen«, beschreibt Malzahn ihre politische Sinnkrise. Doch statt sich wie viele ihrer MitstreiterInnen aus der politischen Arbeit ins Private oder den Beruf zurückzuziehen, suchte Malzahn mit älteren Linken, die sie aus der gemeinsamen politischen Arbeit kannte, das Gespräch. Für die Interviewführung kam Malzahn ihre Ausbildung als Mediatorin zugute. So gelang es ihr, bei den Gesprächen in die Tiefe zu gehen.

Dass ein Ausstieg aus der linken Szene nicht das Ende eines politischen Engagements sein muss, wird in mehreren Interviews deutlich. So hatte sich Larissa aus beruflichen Gründen aus der politischen Arbeit zurückgezogen. Die Proteste gegen den G7-Gipfel in Heiligendamm im Jahr 2007 waren für sie Anlass für den Wiedereinstieg in die aktive Politik. Auf der Demonstration hatte sie einige ihrer ehemaligen MitstreiterInnen wieder getroffen, die genau wie sie auf der Suche nach einen neuen politischen Betätigungsfeld waren. Eine andere Interviewpartnerin hatte sich wegen der Kindererziehung aus der politischen Arbeit zurückgezogen und plante ihren Wiedereinstieg in die politische Arbeit, nachdem die Kinder älter geworden sind.

Mehrere Interviewte lehnen den Begriff »Politik machen« für ihr Engagements vehement ab. »Ich mache keine Politik, ich kämpfe und das gehört zu meinen Leben«, betont Ingrid. Gleich mehrere Interviewte betrachten Lohnarbeit und Beruf als Hindernis für die politische Arbeit. So betont Britta, sie habe ihr Studium als persönliche und politische Weiterbildung, aber nie als Berufsperspektive betrachtet. »Mitte 30 stellte ich mit Erstaunen fest, dass immer mehr Menschen aus meinem Umfeld zu arbeiten begannen«, bringt sie eine Haltung auf den Punkt, die vor allem in der autonomen Linken weit verbreitet war. Malzahn sieht in dieser Trennung von Politik und Beruf einen wichtigen Grund, warum dort kaum Menschen über 30 aktiv sind. Nicht wenige, die sich aus der außerparlamentarischen zurückziehen, engagieren sich später in Gewerkschaften, gründen einen Betriebsrat oder beteiligen sich an Mieterinitiativen gegen Verdrängung. Dann sind sie vielleicht aus der autonomen Szene, nicht aber aus der politischen Arbeit verschwunden. Malzahn betont, dass sie für eine solche Entscheidung heute mehr Verständnis hat, als bei der Arbeit für das Buch.

Rehzi Malzahn (Hg.): dabei geblieben. Aktivist_innen erzählen vom Älterwerden und Weiterkämpfen, Unrast, Münster, September 2015, 256 Seiten, 16 Euro

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1008349.dabei-geblieben.html

Peter Nowak