Die französische Kooperative Scop Ti produziert fairen Tee
Einst produzierten sie für Unilever, seit vier Jahren in eigener Regie – die Teerebell*innen im südfranzösischen Gémenos bei Marseille.
1336 – die Zahl steht auf allen Packungen der unterschiedlichen Teesorten der südfranzösischen Kooperative Scop Ti. Die Zahl hat eine besondere Bedeutung. Sie soll an die Fabrikbesetzung erinnern, die 1336 Tage dauerte. Nun will die Kooperative ein Vertriebssystem mit anderen Ländern aufbauen. Mehr als drei Jahre hatten die Beschäftigten in der Gemeinde Gémenos im Arrondissement Marseille gegen den Unilever-Konzern gekämpft und die Produktion schließlich selbst übernommen.
Im Jahr 2011 wollte Unilever die Produktionsstätte der bekannten Teemarke Lipton Elephant von Frankreich nach Polen verlagern. Aber der Konzern hatte die Rechnung ohne die Arbeiter*innen gemacht. Die besetzten die Fabrik und forderten die Rücknahme des Schließungsbeschlusses. Zunächst wurden sie vom Management und der französischen Politik belächelt. Doch nach 1336 Tagen waren es die Arbeiter*innen, die lachen konnten: Der Konzern gab nach – und zahlte den Rebell*innen mehrere Millionen Euro. »Nach fast vier Jahren Konflikt musste man einen Ausweg finden, damit beide Seiten ihren Weg unabhängig voneinander fortsetzen können«, begründete Unilever Frankreich die Einigung. Die Belegschaft konnte in Eigenregie weiter produzieren und bekam von Unilever eine Starthilfe von 20 Millionen Euro für die Gründung einer Genossenschaft.
Die neu gegründete Kooperative Scop Ti produziert verschiedene biologisch und regional angebaute Teesorten. Den alten Namen Lipton Elephant durften sie nicht mehr benutzen. Heute sehen das die Beschäftigten positiv. Denn die 1336 erinnert immer an die Kämpfe, die dafür sorgten, dass es den Tee heute überhaupt noch gibt.
Auch in der Fabrik ist die rebellische Vergangenheit gut dokumentiert. Ein großes Konterfei von Che Guevara fällt den Besucher*innen im Fabrikhof sofort ins Auge. An den Fenstern hängen Plakate, die zu aktuellen Arbeitskämpfen mobilisieren.
In den Betriebsräumen hat nach den aufreibenden Kämpfen und rauschenden Siegesfeiern der nicht immer einfache Alltag einer selbstverwalteten Fabrik in einem kapitalistischen Umfeld Einzug gehalten. Scop Ti muss sich auch ohne Chef am Markt behaupten. Für die Beschäftigten bedeutet das zuweilen Sonderschichten. Immer wieder mal gibt es auch technische Probleme. »Und die müssen wir selber lösen«, sagt Henri Soler mit Stolz in der Stimme. Der Fünfzigjährige hält auch nach dem Ende der Besetzung an seinen egalitären Idealen fest. Gern hätte er einen Einheitslohn für alle Beschäftigten eingeführt, doch der Antrag wurde von der Mehrheit der knapp 80-köpfigen Belegschaft abgelehnt. Es könne nicht sein, so das Gegenargument, dass ein junger Kollege, der gerade erst in der Fabrik angefangen hat und sich wenig für die Selbstverwaltung engagiert, genau so viel verdient wie ein Beschäftigter mit jahrelanger Erfahrung, der sich in verschiedenen Kommissionen an der Selbstverwaltung der Fabrik beteiligt. Soler bedauert die Entscheidung, doch sein Engagement ist ungebrochen. Schließlich hängt davon der Erfolg der gesamten Firma ab.
Seit knapp einem Jahr wird der Tee aus selbstverwalteter Produktion in Deutschland über die Union Coop vertrieben. Das ist ein Zusammenschluss von gewerkschaftlichen Kollektivbetrieben, die sich auf Grundlage einiger Prinzipien zusammengetan haben. Diese Prinzipien verpflichten jeden Union-Coop-Betrieb, jedem Belegschaftsmitglied die gleichen Rechte bei Entscheidungen und Entlohnung einzuräumen. Zudem muss sich der Betrieb um Transparenz und solidarisches Wirtschaften bemühen. Für Hans Oostinga, der in der Berliner Union Coop aktiv ist, war es darum selbstverständlich, den Tee aus Südfrankreich mit ins Sortiment aufzunehmen.
»Es ist nicht nur eine konkrete Solidarität für dieses beeindruckende Experiment eines von den Beschäftigen in Eigenregie verwalteten Betriebs, sondern auch ein praktischer Ansatzpunkt für eine wirtschaftliche Gegenmacht. Zumal die Belegschaft einen ähnlichen Ansatz vertritt und sich nicht nur während des langjährigen Kampfes, sondern auch heute noch als Teil einer breiteren sozialen Bewegung positioniert«, propagiert Oostinga das solidarische Teetrinken.
Während ein Gerichtsurteil der Polizei verbietet, auf Demonstrationen sichtbar zu fotografieren, entwickelte das Peng-Kollektiv ein System, um die Polizei zu erkennen, bevor man sie sieht
Die Bilderpolitik der Polizei steht in der Kritik. Erst kürzlich urteilte [1] das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, dass die Polizei auf Demonstrationen nicht zum Zwecke der Öffentlichkeit fotografieren dürfe.
Die Begründung ist aber mehrdeutig. Die Taz fasst sie so zusammen: „Die Richter urteilten, dass die Polizei für die Demonstrierenden wahrnehmbar fotografiert hatte und das sei rechtswidrig. Bei Kundgebungen dürfe nicht der Eindruck von staatlicher Überwachung entstehen.“
Daraus konnte man dann schließen, dass das Gericht das Fotografieren, wenn es die Demonstranten nicht bemerken, nicht beanstandet. Dann entstünde nicht mehr sofort der Eindruck der staatlichen Überwachung, die real trotzdem vorhanden wäre. So würde das Urteil das Konzept der Polizei als bürgernaher Dienstleister, der mit seinen Fotografenteam mit der Bezeichnung Social-Media-Team sogar Partner bei der Öffentlichkeitsarbeit der Demonstranten sein will, konterkarieren. Doch bei Demonstrationen mit nicht so kooperativen Teilnehmern ist das Konzept der nicht wahrnehmbaren Überwachung sowieso noch immer angesagt.
Öffentliche Fahndung in der Kritik
Dann praktiziert die Polizei eine ganz andere Art von Bilderpolitik und gerät auch damit in die Kritik. Vor einigen Tagen veröffentlichte die Berliner Polizei im Zusammenhang mit angeblichen Straftaten bei Demonstrationen am 1. Mai 2018, der nach Meinung von Presse und Polizei [2] der friedlichste seit Langem war, die Fotos von neun Verdächtigten. Mehrere konservative Medien und rechte Onlineplattformen haben die Fotos ebenfalls online gestellt.
Zunehmend werden Fahndungsfotos von Menschen veröffentlicht, die einer Straftat verdächtigt werden. Dass sie, weil nicht verurteilt, als unschuldig zu gelten haben und trotzdem an den Pranger gestellt werden, ist ein gewichtiger Einwand gegen diese Fahndungsmethoden, die daher hier auch nicht durch eine Verlinkung unterstützt werden sollen. Das ist auch ein Grund, warum manche Bevölkerungsteile über die Polizeipräsenz informiert werden wollen, bevor sie sie sehen. Ihnen kann jetzt geholfen werden.
„Cop Map – gegen drohende Gefahr vor wem?
Das Peng-Kollektiv [3], laut Eigenwerbung „ein explosives Gemisch aus Aktivismus, Hacking und Kunst im Kampf gegen die Barbarei unserer Zeit“, hat mit der Cop Map [4] ein Ortungsprogramm für Menschen entwickelt, die wissen wollen, wo sich in ihrer Nähe Polizisten aufhalten.
Nun ist die besondere Dienstleistung ja sehr vielfältig verwendbar. Vielleicht wünscht sich jemand Polizei in der Nähe, weil er oder sie bedroht oder verfolgt wird. Schließlich heißt es zu der Dienstleistung „Drohende Gefahr – Melde Cops in Deiner Nähe“. Doch die Peng-Zielgruppe sieht in der Polizei wohl eher eine Ursache und nicht einen Schutz vor dieser drohenden Gefahr. Der Text lässt da wenig Interpretationsspielraum:
Eine „drohende Gefahr“ ist, was die Polizei als potentiell gefährlich einstuft, auch ohne konkreten Anlass. Damit wird Polizeiwillkür noch mehr Tür und Tor geöffnet. Die Polizei wird selbst zu einer Gefahr für Grundrechte, für Freiheit und Demokratie. Für bestimmte Menschen war sie das schon immer, spätestens ab jetzt stellt sie aber für alle eine Bedrohung dar. Es ist Zeit für eine Solidarisierung! Darum starten wir die Cop Map. Hier kannst du Polizeipräsenz und Kontrollen in deiner Nähe melden, sehen und vermeiden. Du kannst einen Direktlink zu dieser Webseite auf deinem Smartphone speichern, so dass du die Seite immer schnell öffnen kannst.
Text von Cop Map
Es ist fast zu bedauern, dass das Peng-Kollectiv nicht mehr mit den Mehrdeutigkeiten und Ambivalenzen spielt und es den Nutzern überlässt, ob sie die Polizei als Ursache der Gewalt sehen oder nicht. Waren nicht auch schon mal erklärte Polizeigegner gezwungen, die Polizei zu rufen, weil sie ausgeraubt oder bedroht wurden? Zudem wäre auch ohne diese unmissverständliche Klarstellung wohl kaum jemand auf die Idee gekommen, die Cop Map sei ein Service der Polizei wie das Social-Media-Team.
Auch die Polizeiklasse [5], mit der Peng für die Erstellung der Cop Map kooperiert, ist nicht etwa ein Hort kritischer Polizistinnen und Polizisten, sondern ein Münchner Künstlerkollektiv. Sie wollen damit gegen das neue bayerische Polizeigesetz protestieren [6]. Gemeinsam haben sie die interaktive Map entwickelt, auf der Polizeistandorte in aller Welt markiert werden können.
Verwunderlich ist nicht, dass in als Gefahrengebieten deklarierten Räumen die Polizeidichte höher ist als in der Provinz von Brandenburg und Mecklenburg, wo alle Parteien damit Wahlkampf machen, dass sie mehr Polizei vor Ort fordern. So könnte die Cop Map hier auch denen Argumentationshilfen geben, die immer beklagen, dass irgendwo zu wenig Polizei positioniert wird. Nun können sie es sogar auf der Map beweisen. Denn, es ist ja nicht davon auszugehen, dass das Peng-Narrativ, dass die Polizei die Bedrohung ist. von der Mehrheit der Bevölkerung geteilt wird.
Empörte Politiker und Polizisten machen Cop Map bekannt
Das scheint aber die Polizeigewerkschaft ebenso wenig zu beruhigen, wie konservative Politiker verschiedener Parteien. Die könnten sich schließlich bedanken, dass das Peng-Kollektiv den Menschen hilft, die die Polizei suchen. Stattdessen übten sie sich in der rituellen Empörung [7]. Sie sehen, wie die Polizeigewerkschaft, das Leben der Polizisten in Gefahr oder fordern wie Berliner Unionspolitiker sogar eine Löschung der Cop-Map.
Eine bessere Werbung für das Projekt kann man sich kaum vorstellen. Die Zugriffe schnellten in die Höhe. Dann gab es bald Stimmen zur Besonnenheit auch im bürgerlichen Lager. Schlauere sinnierten darüber, dass die Cop Map ja auch zu gesetzestreueren Verhalten führen könnte. Schließlich werden die meisten Nutzer die Information über Polizei in ihrer Nähe nicht zum Angriff auf diese nutzen, sondern beispielsweise bestimmte inkriminierte Gegenstände oder Rauchutensilien nicht mitzuführen oder zu nutzen. Schließlich führt eine Map, auf der der Standort von Kontrolleuren im Öffentlichen Nahverkehr verzeichnet wird, in der Regel dazu, dass mehr Passagiere ein Ticket kaufen, und die Information über verborgene Blitzer fördert regelangepasste Fahrweisen.
Peter Nowak
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[1] https://www.heise.de/newsticker/meldung/Gericht-Presseteam-der-Polizei-darf-bei-Demos-nicht-fotografieren-4199389.html
[2] http://www.taz.de/!5502314/
[3] https://pen.gg/de/
[4] https://www.cop-map.com/
[5] https://www.polizeiklasse.org/
[6] https://www.welt.de/politik/deutschland/article182732446/Polizei-Warnsystem-Warum-bayerische-Polizisten-von-der-Cop-Map-genervt-sind.html
[7] https://www.berliner-kurier.de/berlin/polizei-und-justiz/polizei-hasser-haben-die-von-peng-einen-knall–31488476
Schlecht, wenn der Job an die Nieren geht. Und ans Hirn
Die neoliberale Radikalisierung in der Arbeitswelt, sagt Wolfgang Hien, bürde Körper, Geist und Seele hohe Belastungen auf. Die Folge: Arbeitsbedingte Krankheiten nehmen zu. „Dieser Entwicklung sollte Einhalt geboten werden. Dafür möchte ich meine arbeits- und gesundheitswissenschaftliche Kompetenz einsetzen.“ Damit hat Hien, geboren 1949 im Saarland, sein lebenslanges Engagement für den Gesundheitsschutz in der Arbeitswelt recht gut beschrieben. Warum das Thema zu seiner Lebensaufgabe wurde, kann man in dem langen Gespräch erfahren, das Hien mit dem Historiker Peter Birke geführt hat, und woraus „Gegen die Zerstörung von Herz und Hirn“ besteht. Hien beginnt damit, wie ihn seine Erfahrungen als Auszubildender beim Chemieriesen BASF in Ludwigshafen geprägt haben. Dann klärt er auch die Verwirrung auf, die der Untertitel „68 und das Ringen um eine menschenwürdige Arbeit“ bei manchen auslösen mag. Schließlich schien Hien im BASF-Labor weit weg von den Unis, in denen Studierende Marx und Adorno zu lesen begannen.
Doch Hien beschreibt einprägsam, wie sehr ihn und einige BASF-Kollegen der gesellschaftliche Aufbruch Ende der 1960er Jahre beeinflusste. Wie er nach einigen Jahren die Fabrik verließ, das Abitur nachholte und ein Studium begann. Und wie er auch danach den Kampf um den Gesundheitsschutz in der Chemieindustrie fortsetzte.
Peter Birke, eine Generation jünger als sein Gesprächspartner, gelingt es, die Biographie Hiens auszuleuchten und zugleich Elemente einer Gegengeschichte der Industriearbeit in Deutschland aufzuzeichnen: Etwa wenn Hien von der Kooperation zwischen Umweltinitiativen und kritischen Gewerkschaftern erzählt, die es in den 1980er Jahren auch in der Chemiebranche gab. „Mitmischer“ nannte sich eine der Gruppen im Rhein-Main-Gebiet, in der Hien gemeinsam mit Chemiearbeitern organisiert war, „Mitmischer“ nannte sich auch eine Betriebszeitung, die in einer Auflage von 10 000 Exemplaren von den 1970er bis in die 1990er Jahre bei BASF Ludwigshafen verteilt wurde. Fast in jeder Nummer wurden die Kollegen über die giftigen Substanzen informiert, mit denen sie ständig in Berührung kamen.
Der gut besuchte Alternative Gesundheitstag 1980 in Berlin gab Hien Inspiration für sein Engagement, Betriebsbasisgruppen für Gesundheit aufzubauen. Mit den esoterischen Strömungen, in die Teile der Gesundheitsbewegung später abdrifteten, hatte er nichts im Sinn. Ihm ging es darum, den Bedingungen in der Arbeitswelt den Kampf anzusagen, die die Menschen krank machen. Zu seinen Kontrahenten gehörten dabei nicht nur Industrieverbände, sondern oft auch Betriebsräte und Gewerkschaften, die auf Sozialpartnerschaft setzten. Deshalb war es für viele eine Überraschung, dass Hien 2003 Referent für Gesundheitsschutz beim DGB-Vorstand wurde.
Doch schnell geriet er mit seinen Engagement für eine Arbeitswelt, in der auch die Langsamen und chronisch Kranken ihren Platz haben sollen, in Konflikt mit einer Gewerkschaftslogik, die Arbeitsplätze vor Gesundheitsschutz stellt. Hien beschäftigt vielmehr die Frage, wie Lohnarbeit so gestaltet werden kann, dass auch Alte, Kranke und Schwache darin ihren Platz finden.
In einer Zeit, in der Beschäftigte ständig erreichbar und flexibel sein sollen, hat diese Fragestellung nichts von ihrer Dringlichkeit verloren. So ist der Gesprächsband nicht nur Erinnerung an linke Geschichte, sondern auch ein sehr aktuelles Buch.
Peter Nowak
Gegen die Zerstörung von Herz und Hirn – „68“und das Ringen um Menschenwürde Arbeit, Wolfgang Hien, Peter Birke, VSA-Verlag 2018, 256 Seiten, 22,80 Euro,
aus Wochenzeitung Freitag, Nr. 43, 25.Oktober 2018,
Die Musiker_innen der türkischen Band singen gegen Rassismus und Nazis und werden dennoch wie eine Terrorgruppe behandelt. Auf der letzten Bundesinnenministerkonferenz wurde sogar ein Verbot Band diskutiert. Die 1985 gegründete Musikgruppe, die aus ihrer linken politischen Gesinnung nie ein Geheimnis machte, wird von den Ermittlungsbehörden als Bestandteil der linken türkischen DHKP-C betrachtet, die in Deutschland und der Türkei verboten ist. Doch auch ohne formelles Verbot werden Auftritte der Band in Deutschland seit Jahren massiv behindert. Bei einem Konzert Ende September in Frankfurt/Main gab es massive Auflagen durch di Polizei. So durfte die Band mehrere Songs nicht spielen. Es durften keine Spenden gesammelt und auch keine T-Shirts oder CDs der Band verkauft werden. Zu den Auflagen gehörte auch, das Verbot Bilder und Fotos des nach dem §129b in Hamburg inhaftierten Musa Asoglu auf dem Konzert zu zeigen. Auch in der Türkei hat am 3.10. ein Prozess gegen 10 Yorum-Musiker*innen begonnen. Rechtsrockbands hatten in Deutschland bisher kaum Probleme mit dem Auftritt, dürften hohe Eintrittspreise nehmen und Spenden sammeln.
ak 642 vom 16.10.2018
Ein von unten organisiertes, europäisches Referendum könnte eine Chance für die Linke sein
Muss die Linke jetzt die Hoffnung in eine ultrarechte italienische Regierung setzen? Diese Frage stellt sich, nachdem die italienische Regierung aus der ultrarechten Lega Nord und der Fünf-Sterne-Bewegung zumindest vorerst im EU-Haushaltsstreit nicht sofort einknickt. Die EU-Kommission hatte den Haushaltsentwurf Italiens zurückgewiesen, weil die Neuverschuldung für die EU zu hoch ist.
Die italienische Regierung hat einerseits erklärt, den Entwurf noch einmal durchrechnen, aber nichts Grundsätzliches ändern zu wollen. Nun sind da schon Zweifel angebracht. Schließlich kann ja beim erneuten Durchrechnen mit Haushaltstricks auch der Schuldensatz noch verkleinert werden. Zumal war es nicht die Lega Nord, sondern ihr Koalitionspartner mit seiner Investitions- und Sozialpolitik, der die EU-Kommission verärgerte.
Doch die Lega Nord beteiligt sich am „Krieg gegen die EU“, solange die Auseinandersetzung in großen Teilen der italienischen Bevölkerung populär ist. Sollte sich das ändern, dürfte der Streit die Koalition belasten. Da muss gleich mit dem Missverständnis aufgeräumt werden, dass eine Gegnerschaft zur Austeritätspolitik per se links ist.
Unterschiedliche Vertreter eines nationalen Kapitalismus sind auch dagegen, dass eine von niemandem gewählte Brüsseler Kommission sich anmaßt, über den Haushalt sämtlicher EU-Länder zu bestimmen. Dann gibt es keynsianistische Kritiker der Austeritätspolitik, die in einer begrenzten Verschuldung die Möglichkeit sehen, die Wirtschaft anzukurbeln.
Weiter gibt es verschiedene linke Gruppen, die das aktuelle EU-Projekt ablehnen, weil es eben ein kapitalistisches Projekt ist und in den EU-Erklärungen daraus auch kein Geheimnis gemacht wird. Die vier Grundfreiheiten der EU – freier Fluss von Gütern, Dienstleistungen und Arbeitskräften und freier Kapitalverkehr – machen das ganz klar deutlich. Es geht eben nicht um die freie Fluktuation aller Menschen, was manche linke Verteidiger der EU wohl gerne so missverstehen.
Deshalb geht auch die Verwunderung darüber fehl, dass die kapitalfreundliche italienische Regierung gegen EU-Vorgabe interveniert. Es geht hier darum, dass eine Regierung den nationalen Kapitalismus ankurbeln will und dabei in den Konflikt mit EU-Vorgaben kommt.
Segelt die Linke europapolitisch im Windschatten der Linksliberalen?
Bei der Auseinandersetzung um die Austeritätspolitik steckt die Linke in einem Dilemma. Als die griechische Syriza-Regierung gegen diese Politik Sturm lief, hätte ein Erfolg der europäischen Linken Auftrieb gegeben. Ihre wesentlich von Deutschland betriebene Niederlage schuf erst die Grundlagen für die Erstarkung der Rechtskräfte in ganz Europa.
Doch, da nun die italienische Regierung die EU-Austeritätspolitik insgesamt infrage stellt, fragen sich natürlich verschiedene Reformlinke wie Peter Wahl [1] von Attac [2], wie sie sich hier positionieren sollen [3].
Auf die Frage, ob die Linke das Geschäft der Rechten betreibt, wenn sie den Kampf der italienischen Regierung gegen das Spardiktat aus Brüssel unterstützt, verweist Wahl auf die Defizite einer Linken, die europolitisch oft im Wind segelt. Die Kritik ist größtenteils berechtigt. So wird in Deutschland die kleine linke Pro-Brexit-Fraktion [4] in Großbritannien meist ignoriert [5].
Mit dem Verweis auf nicht näher definierte europäische Werte wird gerechtfertigt, dass EU-Gerichte ein vom polnischen Parlament mit großer Mehrheit beschlossene Justizreform mal eben außer Kraft setzen. Mal abgesehen davon, dass die Herabsetzung des Rentenalters bei allen Berufsgruppen, auch bei Richtern, aus gewerkschaftlicher Sicht überfällig ist, geht es hier vor allem darum, dass EU-freundliche Richter protegiert werden.
In anderen EU-Ländern ist die EU-Justiz längst nicht so streng mit einer Justiz, die klar im Dienst der Politik steht. Oder erinnert sich niemand mehr, an den Umgang der spanischen Justiz, mit den Protagonisten der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung? Obwohl deren Entscheidungen so deutlich im Interesse der spanischen Regierungspolitik lagen, sah die EU-Justiz hier keine Verletzung europäischer Werte.
Das festzustellen, heißt weder im Fall von Spanien/Katalonien noch im Fall von Polen sich inhaltlich auf einer Seite zu positionieren. Es gilt nur festzustellen, dass die scheinbar neutrale Berufung auf europäische Werte schon eine Positionierung darstellt. Wenn nun manche Linke im Streit zwischen italienischer Regierung und EU Partei für Letztere ergreifen, sorgen sie dafür, dass sich die Rechte als einzige Kämpfer gegen die Austerität gerieren kann.
Nicht nur Italien im Visier
Dabei gilt es festzuhalten, dass die EU-Kommission auch an Frankreich, Slowenien, Belgien, Spanien und Portugal blaue Briefe geschickt hat, weil die alle gegen die Sparrichtlinien verstoßen würden. Nur machen die anderen Regierungen nicht ein solche großes Brimborium darum. Die italienische Regierung nutzt den Konflikt innenpolitisch.
Dabei zeigt sich an den insgesamt sechs blauen Briefen aus Brüssel, wie absurd die Austeritätspolitik geworden ist. So wird Portugal von vielen Ökonomen bescheinigt, dass das Nichteinhalten des Austeritätsdiktats zu seinem Wirtschaftswachstum beigetragen haben.
In Griechenland kann man dagegen sehen, wie die Austeritätspolitik zur Verelendung der Menschen kombiniert mit einem Niedergang der Wirtschaft geführt hat. Für eine europäische Linke wäre es an der Zeit, diese Fakten in den Mittelpunkt zu stellen und zu einer transnationalen Kampagne zu mobilisieren, die sich erklärtermaßen nicht an die Parteien richtet.
Warum ein Referendum über die EU-Austeritätspolitik an der Zeit wäre
Es wäre angebracht, parallel zu den EU-Wahlen im nächsten Jahr ein Referendum in den EU-Ländern zu organisieren, das alle Menschen, die in diesen Ländern leben, danach befragt, ob sie für eine Fortsetzung oder ob sie für ein Ende der Austeritätspolitik eintreten. Es sollen ganz bewusst alle in den EU-Ländern lebende Menschen befragt werden, weil sie alle von dieser Politik betroffen sind und Migranten oft besonders stark.
Das Referendum könnte von vielfältigen Aktionen und Demonstrationen begleitet werden. Wichtig wäre, dass es zeitgleich in allen EU-Ländern läuft. Ein solches Referendum wäre ein Zeichen, dass es das viel zitierte „andere Europa“ gibt.
Sollte die Linke zu einem solchen Schritt nicht in der Lage sein und es vorziehen, lieber weiter darüber nachzudenken, ob sie jetzt den Rechten zuarbeitet, wenn sie weiter gegen die Austerität der EU-Organe auftritt, gibt sie den Kampf schon verloren, bevor sie ihn überhaupt begonnen hat.
Peter Nowak
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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.weed-online.org/about/personen/wahl.html
[2] https://www.attac.de/startseite/
[3] https://www.presseportal.de/pm/59019/4095643
[4] https://www.thefullbrexit.com/
[5] https://www.heise.de/tp/features/Die-Linke-war-in-der-Brexit-Debatte-nicht-praesent-3255724.html
Karl Reitters »Heinz Steinert und die Widerständigkeit seines Denkens«
Der 2011 verstorbene Heinz Steinert war ein Universalgelehrter. Er studierte Philosophie, Psychologie, Germanistik und Literaturwissenschaft, absolvierte eine psychoanalytische Ausbildung, wurde im Fach Psychologie promoviert und habilitierte sich in Soziologie. Er war Mitbegründer und bis 2000 wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie in Wien und von 1978 bis 2007 Professor für Soziologie an der Goethe-Universität in Frankfurt. Nun ist eine Einführung in das Denken Steinerts, der mit seiner Arbeit immer auch die gesellschaftliche Emanzipation vorantreiben wollte, erschienen. Verfasst hat sie der Wiener Philosoph Karl Reitter.
Mit Adorno und der Frankfurter Schule hatte sich Steinert jahrelang beschäftigt. Während er trotz aller Kritik im Detail die Frankfurter Schule zum widerständigen Denken zählte, hielt er Max Webers zentrales Werk »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus« für unwissenschaftlich. Reitter zeichnet in einem Kapitel die gravierenden Fehler nach, die Steinert Weber nachwies. Ein weiteres Kapitel widmet sich dem Kriminalsoziologen Steinert, der sich wissenschaftlich begründet für eine Gesellschaft ohne Gefängnisse einsetzte und die Sinnhaftigkeit von Haftstrafen hinterfragte.
Dabei formulierte er Thesen, die gerade in der derzeitigen Law-and-Order-Stimmung erstaunlich aktuell sind: »Zwischen der Strenge der Strafen, der Anzahl der Menschen in Gefängnissen und der Summe der verübten Strafen besteht ein erkennbarer Zusammenhang. Weder die Höhe der Strafen noch die Wahrscheinlichkeit, eingesperrt zu werden, selbst die Todesstrafe verhindern Verbrechen.« Reitter schließt das informative Buch mit der Hoffnung, dass es dazu beitrage, »widerständiges Denken bekannter zu machen«. Das ist ihm zu wünschen.
Karl Reitter: Heinz Steinert und die Widerständigkeit seines Denkens. Dampfboot-Verlag, Münster 2018, 213 Seiten
Bei einer Berliner Fachtagung wurde die Berichterstattung über Sinti und Roma kritisiert
Sie sind nicht sesshaft, halten es wegen ihres Wandertriebs nie lange an einen Ort aus und sind deshalb zu einem Leben am Rande der Gesellschaft verdammt. Diesen Stereotypen über Sinti und Roma, die immer wieder in deutschen Medien zu lesen sind, widmete sich am Mittwoch eine Fachtagung von Amaro Foro in Berlin. Die »Jugendorganisation von Roma und Nichtroma« setzt sich seit mehreren Jahren dafür ein, dass Roma und Sinti in Deutschland nicht mehr Bürger*innen zweiter Klasse sind.
Dieser Anspruch wird auch von Medien oft nicht eingehalten, die sich klar gegen Rassismus positionieren. »Über Sinti und Roma werden in den Medien Dinge verbreitet, die man heute über andere Minderheiten nicht mehr sagen würde«, betonte auf der Podiumsdiskussion zum Abschluss der Tagung die »Spiegel«-Kolumnistin Ferda Ataman. Sie ist Sprecherin der »Neuen Deutschen Medienmacher«, einem Zusammenschluss von Journalist*innen, die auch in der Berichterstattung deutlich machen wollen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist.
Andrea Wierich, die Pressereferentin von Amaro Foro, verwies auf die Berichterstattung über als »Horrorhäuser« apostrophierte Gebäude im Ruhrgebiet und Berlin in den letzten Jahren. In den Häusern müssen Arbeitsmigrant*innen aus osteuropäischen Ländern unter beengten Bedingungen leben und dafür noch hohe Mieten bezahlen. Die Medien könnten die Wohnungskrise thematisieren, die Menschen zwingt, unter solch schlechten Bedingungen zu leben. Sie könnten skandalisieren, dass Hauseigentümer*innen hier mit dem Elend der Menschen Profite machen und auf die Verantwortung der Politik weisen. Doch in der Regel werden die Opfer verantwortlich gemacht und behauptet, die Zustände lägen an der Lebensweise der Roma und Sinti, kritisierte Wierich.
Wie wenig zahlreiche Medien an Berichten interessiert sind, in denen Roma und Sinti nicht mit Armut, Flucht und Kriminalität in Verbindung gebracht werden, wurde durch eine Stellungnahme deutlich, die sie zu der Fachtagung veröffentlicht wurde. Dort wurde noch einmal an die diesjährige Bundesjugendkonferenz der Sinti und Roma erinnert, die Anfang Oktober 2018 in Berlin stattgefunden hat. Dort diskutierten die Teilnehmer*innen über ihre Vorstellungen einer solidarischen Gesellschaft und den Kampf gegen den Aufstieg der Rechten. »Es gab ein Presseteam, um die Fragen der zahlreich eingeladenen Journalist*innen entgegenzunehmen. Doch keine einzige Pressevertreter*in ist gekommen«, kritisiert Anita Burchardt von Amaro Drom e.V. . Es sei nicht das erste Mal gewesen, dass die Medien Veranstaltungen ihrer Organisation ignoriert hätten.
Über engagierte junge Roma und Sinti, die nicht als Opfer auftreten, sondern klar ihre Vorstellungen haben und ihre Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen äußern, werde nicht berichtet, so das ernüchternde Fazit von Burchardt. Das auf der Tagung aufgeworfene Thema sollte auch Organisationen wie die Deutsch Journalist*Innenunion interessieren, die in Berlin vermisst wurden. Denn Antiziganismus ist wie alle Formen rassistischer Unterdrückung ein Problem der Mehrheitsgesellschaft und nicht der Opfer, betonte Wierich. Das scheint aber bisher bei vielen Medien noch nicht angekommen zu sein.
Proteste gegen das Gebaren der Berliner Immobilienfima Padovicz gibt es schon lange. Doch am 25.10. trugen Mieter/innen ihren Unmut direkt vor den Firmensitz von Padovicz am Kurfürstendamm 178/179. Wie viele andere Immobilienfirmen, hat auch Padovicz sein Domizil im noblen Berliner Westen, während er mit der Umstrukturierung von Stadtteilen Profit macht, in denen bisher einkommensschwache Mieter/innen lebten. Der Kampf um die Durchsetzung von Mieter/innenrechten gegen das Profitinteresse von Padovicz hat eine lange Geschichte. Padovicz macht schließlich bereits seit den 90er Jahren als Käufer und Modernisierer ganzer Wohnblöcke von sich reden. Immer wieder wurde auch im MieterEcho darüber berichtet. Dabei legte die Immobilienfirma immer Wert auf gute Kontakte mit Politiker/innen unterschiedlicher Parteien. Eng verknüpft mit dem Berliner Senat, war er einer der großen Profiteure der öffentlichen Sanierungsförderungen im Rahmen des Stadtumbaus der 2000er Jahre. Kommunale Wohnungsbaugesellschaften wie die WBF verkauften ihm für Spottpreise ihre Bestände. Immer wieder wehrten sich auch in der Vergangenheit Padovicz-Mieter/innen erfolgreich gegen ihre drohende Verdrängung. Es gab erfolgreiche juristische Urteile, die den Investorenträumen Grenzen setzten. Doch viele Mieter/innen ließen sich allein durch oft nicht gerichtsfeste Modernisierungsankündigungen abschrecken und zogen aus. Das lag auch an der Vereinzelung vieler Mieter/innen.
Gemeinsam den Entmietungsstrategien trotzen
Doch seit einigen Monaten haben sich Padovicz-Mieter/innen verschiedener Stadtteile vernetzt. Sie wollen gemeinsam den Entmietungsstrategien des Investors trotzen. Mit dem Blog „Padowatch“ haben sie sich ein Forum geschaffen, auf dem sie sich gegenseitig informieren und ihre Proteste koordinieren. Die Kundgebung vor dem Firmensitz ist eine Aktion, mit der Mieter/innen deutlich machen wollen, dass sie dem Investor auch direkt auf die Pelle rücken können. „Auf der Kundgebung soll all denen Raum und ein offenes Ohr geboten werden, die Erfahrungen mit diesem Vermieter sammeln mussten. Diese Geschichten werden öffentlich vorgetragen, damit niemand damit alleine bleibt“, heißt es im Aufruf. Doch beim Erzählen der gemeinsamen Geschichten von Verdrängung und Vertreibung wird es nicht bleiben. Dem Hausprojekt Liebigstraße 34 in Friedrichshain droht zum Jahresende die Kündigung. Der Eigentümer Padovicz weigert sich, die zum 31.12.2018 auslaufenden Verträge zu verlängern. Die Unterstützung für den Erhalt des Hausprojekts wächst. Auch der Zusammenschluss der Padovicz-Koordination ist daran beteiligt. Das ist erfreulich, weil es sich bei der Auseinandersetzung um einen Konflikt zwischen Mieter/innen und Investoren und nicht um den Kampf um ominöse Freiräume handelt. Am Sonntag, den 28.10., soll ab 17 Uhr in den Räumen des Widerstandsmuseums in der ehemaligen Galiläer Kirche in der Rigaer Straße 9/10 der Protest gegen die drohende Räumung der Liebigstraße 34 auf einer Kiezversammlung vorbereitet werden. In der Einladung heißt es: „Der Kampf gegen Gentrifizierung ist eine soziale Bewegung. Dabei geht es nicht nur um ein einzelnes Haus oder Projekt, es geht um Antworten, die kollektiv gefunden werden müssen. Eine nachbarschaftliche Vernetzung ist ein Schritt zu einer solidarischen Selbstorganisierung, die sich außerhalb von Staatlichkeit verortet“.
aus: MieterEcho online 25.10.2018
https://www.bmgev.de/mieterecho/mieterecho-online/wut-kundgebung-gegen-padovicz.html
Peter Nowak
Verlag veröffentlicht Liste mit Namen von verstorbenen Migranten
Zum Internationalen Tag der Menschenrechte am 10. Dezember 2018 soll im Berliner Hirnkost-Verlag ein Buch erscheinen, in dem die bekannten Namen von 35.000 Menschen aufgelistet sind, die in den vergangenen 25 Jahren an den europäischen Außengrenzen bei der Flucht ums Leben kamen. Auf den mehr als 300 Buchseiten…
… oder wie im Kampf gegen rechts jede Opposition infrage gestellt wird – Das Stinnes-Legien-Abkommen und die Absage an den Klassenkampf
Es ging etwas unter, dass am 16.10. 2018 der Gewerkschaftsbund DGB [1] und der Unternehmerverband BDA [2] das 100-jährige Jubiläum jenes Stinnes-Legien-Abkommens [3] feierten, das eine wesentliche Ursache für die Niederlage der Novemberrevolution war.
Mit dem Abkommen wurde nach Meinung der Befürworter die „Sozialpartnerschaft“ in die Wege geleitet. Man könnte aber polemisch auch von „100 Jahre Volksgemeinschaft“ reden. Denn in diesem Abkommen wurde dem Klassenkampf eine Absage erteilt und die Gewerkschaften stellten die Arbeiter zum Ausgleich für einige sozialpolitische Zugeständnisse unter das Kommando des Kapitals.
Die Gewerkschaften hatten ihr Hauptziel erreicht, vom Sozialpartner Kapital anerkannt zu werden. Dafür gehörten sie zu den größten Gegnern der Räte, die sich nach der Revolution am 9. November 1918 überall in Deutschland spontan bildeten. Kaum waren diese auch mit Unterstützung der Freikorps blutig niedergeschlagen worden, wollte das Kapital auch von den Zugeständnissen nichts mehr wissen, die sie im Stinnes-Legien-Abkommen der vorrevolutionären Situation geschuldet noch machen mussten.
Bald setzen führende Kapitalfraktionen auf den Nationalsozialismus, der die Volksgemeinschaft ganz ohne Zugeständnisse terroristisch gegen diejenigen durchsetzte, die wie die Juden nicht dazu gehören durften oder wie linke Oppositionelle nicht dazu gehören wollten. Doch die Wesensverwandtschaft zwischen Sozialpartnerschaft und Volksgemeinschaft konnte nie verdeckt werden.
Trotzdem hat der DGB-Vorstand 100 Jahre nach der Novemberrevolution nichts Dringlicheres zu tun, als mit dem BDA die eigene freiwillige Unterwerfung unter die Interessen von Staat und Nation zu feiern. Und es gab nicht einmal größere wahrnehmbare Proteste.
100 Jahre unvollendete Revolution
Am 8. November werden in Berlin auch einige Gewerkschafter unter dem Motto „Die unvollendete Revolution von 19181/19“ [4] an die Räte und an die Errungenschaften des Umsturzes erinnern, den die alten Mächte im Bündnis mit den durch den Stinnes-Legien-Pakt kooptierten Teile der Arbeiterbewegung verhindern wollten.
Heute gibt es keine starke Arbeiterbewegung, die integriert werden müsste und von Umsturz reden heute die Rechten und meinen eine noch stärkere Unterwerfung unter Staat und Nation. Doch der Kampf gegen rechts, der nun überall propagiert wird, setzt in der Regel einen völligen Verzicht auf grundsätzliche Kritik an den aktuellen Verhältnissen voraus. Der Schriftsteller Jonas Löscher, der am 13.10. eine europaweite Bewegung gegen Rechts organisieren wollte, bringt die Harmlosigkeit der Bewegung so auf den Punkt [5].
Ich bin aber überzeugt, dass eine Mehrheit sich ein Leben in einer liberalen Demokratie wünscht. Sicher, wir müssen aufmerksam sein, dass die Rechtspopulisten in der Minderheit bleiben. Aber gleichzeitig dürfen wir durchaus selbstbewusst unser Leben in einer freien Gesellschaft leben. Die Menschen merken auf Demos, dass es trotz aller Panik noch gute Gründe für ein positives Selbstbewusstsein gibt. Berlin war dafür ein gutes Beispiel.
Jonas Löscher, Taz [6]
Bei so viel staatstragender Servilität ist es nicht verwunderlich, dass die anvisierten fünf Millionen Demonstranten in ganz Europa nicht erreicht wurden. Der mit dem Status quo zufriedene Mittelstand, und der ist angesprochen, lässt sich eben schwer zu Demonstrationen motivieren. Und das ist durchaus positiv.
Denn eine solche Mobilisierung könnte auch schnell zu einer reaktionären Schwungmasse werden, wenn es Menschen hierzulande tatsächlich mal in Angriff nehmen sollten, die dank SPD und Stinnes-Legien-Abkommen unvollendete Revolution doch noch zu vollenden.
Der reaktionäre Appell an den Zusammenhang der Gesellschaft
Um das zu verhindern, sind vor allem die ideologischen Staatsapparate daran interessiert, aus dem Kampf gegen rechts einen Kampf um den Zusammenhalt der Gesellschaft zu machen und jede Spaltung als schädlich und gefährlich zu verwerfen.
Dabei wird geflissentlich übersehen, dass die Spaltung in Klassen ein Strukturelement der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ist und die Appelle an den Zusammenhalt schon Elemente von Sozialpartnerschaft und auch Volksgemeinschaft enthalten. Genau das propagiert die Rechte seit Jahren.
Daher müsste eine Gegenstrategie gerade umgekehrt sein, alle Formen der Volksgemeinschaft abzulehnen und den Klassenkampf zu verschärfen. Nur dann kann man die rechten Konzepte konterkarieren.
Mit dem freiwilligen Eingliedern zum Zwecke des Kapitals leistet man keinesfalls einen Kampf gegen rechts. Im Gegenteil können sich die Rechten als die letzten Oppositionellen gerieren, die noch von Umsturz reden und damit mehr Nationalismus wollen. Linke Gruppen, die grundsätzliche Kritik an der Verfasstheit der Gesellschaft äußern, werden schnell als Brüder der AfD abgekanzelt, wie es ein FAZ-Kommentator [7] exemplarisch vormachte.
Peter Nowak
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[1] http://www.dgb.de/termine/++co++c9ce97e8-cded-11e8-87db-52540088cada
[2] https://www.arbeitgeber.de/www/arbeitgeber.nsf/id/de_100-jahre-sozialpartnerschaft-erfolgreich-in-die-zukunft
[3] https://www.dhm.de/lemo/kapitel/weimarer-republik/industrie-und-wirtschaft/stinnes-legien-abkommen-1918.html
[4] http://1918unvollendet.blogsport.eu/
[5] http://www.taz.de/!5540688/
[6] http://www.taz.de/!5540688/
[7] http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/afd-und-globalisierungskritik-verachtung-fuer-die-demokratie-15841164.html
Peter Nowak über einen Erfolg der Amazon-Beschäftigten in Polen
Der Online-Händler Amazon hat in Polen zum ersten Mal mit den beiden Gewerkschaften Arbeiterinitiative (IP) und Solidarność eine Vereinbarung unterzeichnet. Danach soll das einschüchternde Mitarbeiterbewertungssystem »Feedback« bis Ende Januar ausgesetzt werden. In dieser Zeit soll zusammen mit den beiden Gewerkschaften eine Nachfolgeregelung erarbeitet werden. Die Geschäftsleitung habe sich verpflichtet, mit der Betriebsgruppe in Poznań acht Gesprächsrunden zu führen, berichtet die syndikalistische Gewerkschaft IP. Die Vereinbarung ist der Beweis, dass auch ein weltweit agierender Konzern wie Amazon sehr wohl auf gewerkschaftlichen Kampf reagieren muss.
Das Feedback-System ist unter den Beschäftigten verhasst. Denn es bedeutet, dass ihre Arbeit durchgängig überwacht wird. Und das wird ihnen auch deutlich gemacht, etwa indem Vorgesetzte am Arbeitsplatz vorbeischauen und sich aufmerksam erkundigen, ob etwas nicht in Ordnung sei, man sei ja schon zum dritten Mal auf der Toilette gewesen. Beim freundlich-disziplinierenden Gespräch bleibt es aber nicht. Beschäftigte berichten, sie hätten schon eine Abmahnung erhalten, weil sie in fünf Minuten zweimal inaktiv waren
Der Zeitpunkt für das Entgegenkommen des Konzerns ist sicher kein Zufall. Schon bald beginnt das wichtige Weihnachtsgeschäft. Da will man keine Störung. In Deutschland nutzen Amazon-Beschäftigte die Adventszeit immer wieder, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Bereits seit 2013 kämpfen sie für einen Tarifvertrag nach den Konditionen des Einzel- und Versandhandels. Amazon bezahlt nach dem schlechteren Logistikvertrag und verweigert bis heute Gespräche mit der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. Auch in Deutschland ist der Unmut über ein Bewertungssystem, das zur Arbeitshetze antreibt und Angst vor Fehlzeiten erzeugt, groß. Wenn zuletzt die Stimmen lauter wurden, die den Beschäftigten eine Niederlage prognostizierten, dann wurden sie durch den Erfolg der Proteste in Polen eines Besseren belehrt.
Dass der Konzern hier die Vereinbarung mit der im Vergleich zu ver.di kleinen linken IP getroffen hat, ist auch deren Kampfbereitschaft geschuldet. Die IP hat durch ihr Engagement in Poznań viele Unterstützer gewonnen, während am zweiten polnischen Amazon-Standort in Wrocław die konservative Gewerkschaft Solidarność bei den Beschäftigten dominiert. Im Kampf gegen das Bewertungssystem ziehen die beiden sehr unterschiedlichen Gewerkschaften aber an einem Strang.
Amazon hat seine Filialen in Polen auch aufgebaut, um dorthin auszuweichen, wenn in Deutschland gestreikt wird. Die Vereinbarung zeigt, dass sich die Manager*innen getäuscht haben, wenn sie glaubten, dort würden die Beschäftigten nicht für ihre Interessen kämpfen.
Mieter/innen und Gewerbetreibende wehren sich gegen Kommerzprojekt an der Rummelsbucht. Dabei haben sie auch die Mehrheit der LINKEN zum Kontrahenten.
Rund um den Bahnhof Ostkreuz in Berlin wird viel gebaut. Auf der Lichtenberger Seite, in der Hauptstraße 1 g-i, konnten bisher einige über 80jährige Wohnhäuser der Abrissbirne trotzen. Doch wie lange noch? Investoren wie Padovicz haben ein Auge auf das Areal zwischen Ostkreuz und Rummelsburger Bucht geworfen. Er hat mehrere sanierungsbedürftige Häuser in der Hauptstraße 1 g – i erworben. Den angegrauten Wänden sieht man an, dass hier lange nicht mehr renoviert wurde. Die Mieter/innen sollen verschwinden. „Die Hausverwaltung kümmert sich schon lange nicht mehr um die Häuser. Selbst das kaputte Dach wird nicht repariert“, klagt Manuela Kaiser (Name auf Wunsch geändert). Sie wohnt seit vielen Jahren in einem der Häuser und will dort auch bleiben. Daher organisiert sie mit einigen Nachbar/innen nicht nur Widerstand gegen die Abrisspläne des Eigentümers, sondern gegen die Bebauungspläne an der Rummelsbucht insgesamt. „Hinter den blumigen Versprechen der Investoren versteckt sich nichts anderes als Verwertung: Hier wird billiger Wohnraum beseitigt und teurer geschaffen“, so ihre Kritik. Die Bewohner/innen haben sich bereits vor Monaten in den Häusern organisiert und auch mit Initiativen aus anderen Stadtteilen sowie dem berlinweiten Blog von Padovicz-Mieter/innen „Padowatch“ vernetzt. Seitdem mehreren sich auch rund um die Rummelsbucht die Proteste. Anfang September gab es eine Ortsbegehung zu Orten von Verdrängung und Protest. Am 18. Oktober richtet sich der Unmut gegen die Bezirksverordnetenversammlung von Lichtenberg. Denn dort soll der Bebauungsplan Ostkreuz beschlossen werden, der nach Meinung der Kritiker/innen einen „Ausverkauf wie in San Francisco“ bedeuten würde.
Tourismusprojekte in der Kritik
Kern des Bebauungsplans Ostkreuz ist die „Coral World“, ein Riesenaquarium. Dabei handelt es sich um einen kommerziellem Entertainment-Aqua-Park, der pro Jahr 500.000 Besucher/innen anziehen soll. Deshalb sollen auch neue Hotels an der Rummelsbucht entstehen. Sollten diese Pläne umgesetzt wären, droht eine Touristifizierung des Areals zwischen Rummelsbucht und Ostkreuz. Wie in anderen Stadtteilen, in denen der rote Teppich für den Tourismus ausgerollt wird, mögen dort neue prekäre Arbeitsplätze entstehen. Doch Menschen mit geringen Einkommen können sich die Wohnungen dort dann nicht mehr leisten. Daher findet das Motto „Bebauung heißt Verdrängung“ viel Zustimmung unter den Mieter/innen und Gewerbetreibenden an der Rummelsbucht. Dabei geht es gegen den Bau von Projekten wie „Coral World“ und Nobelhotels und nicht gegen den Bau von bezahlbaren Wohnungen. Gemeinsam will man den Lichtenberger Bezirksverordneten deutlich machen, dass das Areal um die Rummelsbucht kein Brachland ist, das durch Tourismusprojekte erschlossen werden muss. Besonders für die LINKE, die in der BVV-Lichtenberg stärkste Fraktion ist und mit Michael Grunst den Bezirksbürgermeister stellt, kann die Auseinandersetzung turbulent werden. Während Grunst das Projekt „Coral World“ als gut für den Bezirk lobt, unterstützen einige Mitglieder der Linksfraktion in der BVV die Kritiker/innen. Sie dürften allerdings in der BVV gemeinsam mit den Mitgliedern der Fraktion der Grünen, die den Bebauungsplan Ostkreuz in der bestehenden Form ablehnen, in der Minderheit bleiben. Nun muss sich zeigen, ob die Kritiker/innen mehr Druck von Außen aufbauen können, um eine neue Tourismuszone an der Rummelsbucht zu verhindern.
Monatelang beherrschte die Bayernwahl die Schlagzeilen. Nur hat sich erwartungsgemäß wenig geändert
Unrealistische Erwartungen haben in den letzten Wochen viele Medienvertreter in Bezug auf die Bayernwahl vertreten. Mindestens eine grünschwarze Koalition sollte das Ergebnis sein. Manche phantasierten gar von einer Regierung ohne die CSU in Bayern. All das hätte natürlich wenig grundsätzlich verändert.
Die reibungslose Kapitalverwertung wäre bei jeder denkbaren Konstellation gewahrt gewesen. Vielleicht hätte sogar manche Stütze der bürgerlichen Gesellschaft der CSU eine Reorganisation in der Opposition oder zumindest ein Korrektiv durch einen Regierungsantritt der Grünen gewünscht.
Schließlich ist diese Partei heute die größte Interessenvertreterin der modernen Kapitalfraktionen, die ausländische Arbeitskräfte ebenso brauchen wie neue Energieformen. Doch dazu wird es wohl nicht kommen.
Freie Wähler als „AfD light“
Der rechte Bürgerblock kann weiterregieren. Denn mit den Freien Wählern steht ein Koalitionspartner bereit, der sicher einige Personalfragen stellen und manche auch an der CSU-Basis umstrittene Großprojekte stoppen wird. Mit ökologischen oder flüchtlingsfreundlichen Forderungen dürften sie die CSU hingegen nicht behelligen.
Schließlich haben sich in dieser Frage führende Politiker der Freien Wähler wie CSU und AfD positioniert. Tatsächlich haben die meisten Medien trotz ihres Overkill an Bayernwahl-Informationen nicht erwähnt, dass die Wähler in Bayern eine rechte Alternative zur AfD hatten, die nicht so offen mit dem ganz rechten Rand kontaminier ist.
So hätte auch der Landshuter Landrat der Freien Wähler, Peter Dreier [1] die AfD-Parole „Wir halten, was die CSU verspricht“ plakatieren können. Im Januar 2016 schickte er Migranten, die in seiner Gemeinde aufgenommen wurden nach Berlin [2] und auch die konservative Presse übernahm den rechten Sprech, er habe die Flüchtlinge zu Merkel geschickt. Die Welt [3] zitiert Dreier so:
Wenn Deutschland eine Million Flüchtlinge aufnimmt, entfallen rechnerisch auf meinen Landkreis 1.800. Die nehme ich auf, alle weiteren schicke ich per Bus weiter nach Berlin zum Kanzleramt.
Peter Dreier, Die Welt
Wenn solche Aktionen von einem AfD-Politiker gekommen wären, hätte es Empörung in der Republik gegeben. Bei einem Politiker der Freien Wähler gilt so etwas als mutige Tat. So konnten also die Wähler mit dieser Formation eine AfD-light wählen und der Rechtsblock kann weiterregieren.
Die vor den Wahlen rauf und runter diskutierten personellen Konsequenzen in der CSU werden erstmal auf einen Termin nach den Hessenwahlen verschoben. Auch danach wird es weitere Gründe der Verzögerung geben. Das haben wir von der SPD nach der Bundestagswahl gesehen.
Das sozialdemokratische Spektrum – die eigentlichen Verlierer
Die SPD ist die eigentliche Verliererin, kam sie doch der 5% -Hürde bedrohlich nah und muss mit einem Platz hinter den Grünen und drei Rechtsparteien vorlieb nehmen. Auch die neue Sozialdemokratie, die Linke, konnte von dem desolaten Ergebnis der SPD nicht profitieren. Das muss für sie in einem Bundesland besonders schmerzlich sein, aus dem führende Gründer der Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit [4], einer der Quellparteien der Linken kommen.
Das einzige positive für die Linke ist, dass besonders viele junge Leute den Wahlkampf bestritten, was man noch am Samstag vor den Wahlen in der Aschaffenburger Innenstadt sehen konnte. Dort präsentierte sich die Linke jung und modern, mit frechen Wahlsprüchen und deutlich anders als alle anderen Parteien. Es soll nur niemand sagen, dass man hier sieht, dass die Partei den Anschluss an die Arbeiterklasse verloren hat.
Die jungen Menschen, die dort Wahlkampf machten, haben sicher schon Erfahrungen mit prekären Arbeitsverhältnissen in unterschiedlichen Zusammenhängen gemacht. Es war das neue Gesicht der Lohnabhängigen, das dort zu sehen war. Nur bleibt die Frage, ob es genug Kolleginnen und Kollegen gibt, die das genau so sehen.
Doch nur sie kann das Lager der Solidarität stärken gegen eine Arbeiterbewegung von Rechts, die Soziologen in einer Studie [5] vor allem in Teilen der fordistischen Lohnabhängigen ausgemacht haben. Die Konsequenz bedeutet nun nicht, diese fordistische Arbeiterbewegung rechts liegen zu lassen.
Doch die Vorreiterfunktion für eine Entwicklung im emanzipatorischen Sinne liegt bei den Beschäftigten im Caresektor, im Krankenhaus etc. die eben nicht mehr dem Klischee der weißen, männlichen Fabrikarbeiter entsprechen. Diese neuen Segmente der Lohnabhängigen könnten auch Teile der fordistischen Arbeiterklasse mitziehen, wenn sie zeigen, dass sie Arbeitskämpfe gewinnen können.
In den letzten Monaten war viel über Großdemonstrationen gegen rechte Politik, gegen das neue Polizeigesetz und gegen hohe Mieten in Bayern die Rede. Im Wahlergebnis hat sich das aber nicht niedergeschlagen: Der rechte Block hat weiter eine absolute Mehrheit, das sozialdemokratisch Lager bleibt insgesamt unter 15 % und die bürgerlichen Grünen müssen weiter auf das Mitregieren warten.
Wirkliche gesellschaftliche Opposition wird es weiter nur auf der Straße und in Arbeitskämpfen geben. Die neue Rechtsregierung aus CSU und Freien Wählern dürfte genug Anknüpfungspunkte liefern. Es wird sich zeigen, ob das von der außerparlamentarischen Opposition aufgegriffen wir und ob es gelingt, längere Arbeitskämpfe zu führen und auch zu gewinnen. Hier und nicht in Parteienkonstellationen und Personaldiskussionen liegt die einzige Chance für eine grundsätzliche Opposition.
Peter Nowak
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[1] https://www.peter-dreier.de/
[2] https://www.welt.de/politik/deutschland/article150985155/Landrat-schickt-Merkel-einen-Bus-voller-Fluechtlinge.html/
[3] https://www.welt.de/politik/deutschland/article148286110/Werde-Fluechtlingsbusse-zum-Kanzleramt-schicken.html
[4] http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-31478221.html
[5] https://link.springer.com/article/10.1007/s11609-018-0352-z
Was ist mit einer Großdemo gemeinsam mit SPD und Grünen für eine offene Gesellschaft gewonnen? Einiges, wenn man nicht nur auf die Aufrufer, sondern auf die Menschen blickt, die die Demo gestalten
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Am Tag nach der Großdemonstration [1] Unteilbar [2] ist der Deutungsstreit ausgebrochen. Dabei schreibt [3] die bürgerliche Wochenzeitung Die Zeit, bisher nicht gerade als Vorreiterin von sozialen Bewegungen von unten bekannt geworden, unter der Überschrift „Die Sammlungsbewegung ist da“ „Unteilbar gegen rechts – darauf können sich fast alle einigen – nur CDU und Die LINKE nicht“.
Nun hat auch die FDP wie viele andere aus dem bürgerlichen Spektrum die Demonstration ebenfalls nicht unterstützt.
Wagenknechts Intervention – Taktik oder Fehleinschätzung
Dass der Eindruck entstanden ist, dass es in der Linken Streit um die Demonstration gibt, liegt an einer Äußerung in einem Gespräch mit Sahra Wagenknecht, die dem Aufruf von Unteilbar vorwarf, zu stark auf offene Grenzen zu setzen und damit Menschen auszuschließen, die gegen den Rassismus, aber nicht für offene Grenzen seien.
Sehr verkürzt wurde diese Aussage dann auch von Wagenknechts Konkurrenten in der Linken als Absage an das ganze Konzept von Unteilbar und gar als Grenzüberschreitung gewertet [4]. Nun ist diese Reaktion so erwartbar wie heuchlerisch.
Linke Realpolitiker, die dort mitgehen, geben sich auf einmal als Gralshüter der offenen Grenzen, die sie natürlich überall dort negieren müssen, wo sie auch nur eine Regierung anstreben. Aber sie machen es dann eben so wie ein Großteil der Demounterstützer, die von Grünen über die SPD bis zur Berliner Taxiinnung reichte. Niemand von ihnen ist bisher dadurch aufgefallen, dass sie für „Offene Grenzen“ kämpfen und sie werden es auch in Zukunft nicht tun.
Nun stellt sich die Frage: Warum können alle die politischen Kräfte problemlos die Unteilbar-Demo unterstützen und Sahra Wagenknecht hat Einwände? Haben all diese Kräfte den Demoaufruf missverstanden oder Sahra Wagenknecht? Oder war es nicht so, dass der Aufruf bewusst so gehalten war, dass dort sowohl Befürworter als auch Kritiker der offenen Grenzen mitmachen konnten.
Daher war auch das Schlagwort „Offene Gesellschaft“ dort viel mehr der zentrale Begriff. Der aber ist im Gegensatz von offenen Grenzen so vage und nichtssagend, dass sich wirklich fast alle dahinter stellen können. Die Taxi-Innung versteht darunter etwas ganz anders als eine Flüchtlingsinitiative.
Wenn Wagenknecht darauf hingewiesen und die Heuchelei von Politikern aus SPD und Grünen aufgespießt hätte, die eine Demonstration für die „Offenen Grenzen“ unterstützen und gleichzeitig die Flüchtlingsabwehr real verschärfen, wäre das auch in linken Kreisen sehr vermittelbar gewesen.
Doch das hat Wagenknecht nicht gemacht, sondern eben der Demonstration die Forderung nach offenen Grenzen untergeschoben, die dort bewusst so nicht formuliert wurde. So konnte es scheinen, als stünde sie mit ihrer Kritik rechts von SPD und Grünen und bekam dann dafür von AfD-Politikern Beifall. Die medienerfahrene Politikerin dürften diese Reaktionen nicht überrascht haben. Daher stellt sich die Frage, war es eine politische Fehleinschätzung oder eine bewusste Taktik und welche wäre das.
Aufstehen – wohin geht’s?
Dabei muss an ihre paradoxe Doppelrolle als wichtige Stimme von „Aufstehen“ und Fraktionsvorsitzende der Linken erinnert werden, einer Partei die im Vorstand mehrheitlich die neue Bewegung nicht mitträgt. Dabei muss es zu Querelen kommen. Wenn dann noch persönliche Animositäten und Machtkämpfe dazukommen und darum geht es in jeder Partei, kann es schnell zu Brüchen kommen.
Nun hat Wagenknecht ihre kritische Haltung zu Unteilbar als eine zentrale Sprecherin von Aufstehen und nicht als Fraktionsvorsitzende der Linken gemacht. Doch diese Funktion sind nun mal nicht so einfach zu trennen, worauf ihre parteiinternen Kritiker immer hinweisen werden. Eigentlich wäre eine Trennung beider Funktionen die plausible Lösung.
Doch Wagenknecht hat bisher jeden Vorstoß aus der Linken in dieser Richtung als Angriff auf sie und den ihr nahestehenden Flügel verstanden und entsprechend reagiert. Da stellt sich schon die Frage, ob sie mit ihrem jüngsten Vorstoß den Streit weiter zuspitzen will, so dass sie dann gezwungen wird, den Fraktionsvorsitz aufzugeben und womöglich doch die von vielen befürchtete von manchen erhoffte Eigenkandidatur in welcher Form auch immer realisiert.
Der Publizist Rainer Balcerowiak, der kürzlich ein Buch zur Perspektive von Aufstehen unter dem Titel „Aufstehen und wohin geht’s?“ veröffentlichte [5], hält eine solche Trennung für sehr wahrscheinlich. Sie stünde zumindest in der Logik von solchen Organisationen, bei denen inhaltliche und persönliche Spannungen derart verwoben sind, dass es selten zu einer sachlichen Auseinandersetzung kommt.
Das zeigte sich bereits vor einigen Monaten, als Wagenknecht nach einem Interview zur „Ehe für Alle“ sogar Homophobie vorgeworfen wurde [6], weil sie sie als Wohlfühllabel bezeichnete.
In einem längeren Interview [7] mit dem Berliner Schwulenmagazin Siegessäule hat sie die Vorwürfe größtenteils entkräftet und einige kluge Gedanken zum Zusammenhang von Konzepten der Offenen Gesellschaft und dem modernen Kapitalismus beigetragen, die auch für das Unteilbar-Bündnis von Bedeutung sein können.
Die amerikanische Feministin Nancy Fraser hat den Begriff „progressiver Neoliberalismus“ geprägt. Er beschreibt Politiker, die die sozialen Bedürfnisse breiter Bevölkerungsschichten mit Füßen treten und den Sozialstaat zerstören, zugleich aber für progressive liberale Forderungen eintreten – in den USA ist Hillary Clinton ein Beispiel dafür.
Sie verkörpert einerseits eine korrupte, von der Wall Street gekaufte Politikerin, der das Schicksal der Ärmeren gleichgültig ist, damit natürlich auch das Schicksal der armen Homosexuellen oder der armen Latinos und Farbigen in den USA. Andererseits gibt sie sich als Vorkämpferin von Gleichstellung und Antidiskriminierung.
Diese Kombination hat Trump mit seinen rassistischen Ausfällen und seiner zur Schau gestellten political incorrectness zu einem für viele attraktiven Gegenmodell gemacht. Wer die Trumps dieser Welt nicht stärken will, darf kein Bündnis mit dem Neoliberalismus eingehen, der die sozialen Voraussetzungen einer offenen, toleranten Gesellschaft zerstört.
Darum geht es mir. Homosexuelle sind genauso von Hartz 4, Niedriglöhnen und Altersarmut betroffen wie alle anderen auch. Auch für sie hat sich die Ungleichheit vergrößert. Wem an Gleichstellung gelegen ist, der kann keine Politik stützen, die die sozialökonomischen Voraussetzungen echter Chancengleichheit zerstört.
Sahra Wagenkencht, Siegessäule
Hier könnte Clinton auch gegen Politikerinnen und Politiker von Grünen und SPD ausgetauscht werden und wir wären dann bei der Großdemonstration vom gestrigen Samstag. Doch das wäre nur ein Blick von oben, auf den Aufruferkreis.
Wie immer bei solchen Großaktionen kommen unterschiedliche Menschen zusammen, die auch bereits vorher politisch organisiert waren. Sie machen eigene Erfahrungen und sind eben nicht einfach Marionetten, die von den illustren Aufrufern irgendwo hin mobilisiert werden. Die Politologin Detlef Georgia Schulze beschrieb ihre Eindrücke von der gestrigen Demonstration so:
Von den Redebeiträgen, die ich hörte, war keiner auf der Linie von kapitalistischem diversity management; mehrere Redebeiträge sprachen sich explizit gegen Neoliberalismus und Hartz IV-Gesetzgebung aus; die Ryanair-Kolleginnen und -kollegen redeten sowohl bei der Auftakt- als auch der Abschlusskundgebung und betonten dabei auch die Gemeinsamkeit von Flugbegleitern und begleiterinnen und -kapitänen. In mindestens einem Redebeitrag kam „kapitalistische Verwertungslogik“ kritisch vor; mehrere Redebeiträge thematisierten europäischen Kolonialismus und Waffenexporte als Fluchtursachen.
Detlef Georgia Schulze
Kampf gegen Kapitalismus und Rassismus unteilbar
Hier zeigt sich, dass sich eine Großdemonstration wie „Unteilbar“ eben nicht allein über die Aufrufer kritisieren lässt. Man muss dann die Motivationen der unterschiedlichen Akteure mit einbeziehen. Dass die Streikenden von Ryanair eine wichtige Rolle auf der Demonstration spielten, ist nicht zu unterschätzen.
Handelt es sich doch bei dem Arbeitskampf um ein bisher erfolgreiches Beispiel eines transnationalen Arbeitskampfes [8]. Es wäre dann eigentlich die Aufgabe von Linken, die sich gegen das Bündnis mit dem progressiven Neoliberalismus wenden, hier eigene Organisationsvorschläge einzubringen.
So hat es Karl Marx vor ca. 150 Jahre gemacht, als er sich vehement für die Trennung der damals neu entstehenden Arbeiterbewegung vom Linksliberalismus stark gemacht hat. Auch aus diesen Gesichtspunkt war Wagenknechts Kommentierung überflüssig und kontraproduktiv.
Sie trägt eben nicht dazu bei, deutlich zu machen, dass der Kampf gegen Rassismus und der Kampf gegen kapitalistische Verwertung unteilbar ist. Das aber wäre die Aufgabe einer linken Kritik. Auch die weniger beachtete Kritik an einer angeblichen Querfront mit islamistischen Verbänden gegen Teile des Demobündnisses [9] orientiert sich nur an den Aufrufern und hat mit der Dynamik der Demonstration, in der bestimmt nicht für eine islamistische Gesellschaft geworben wurde, wenig zu tun.
„Man muss die soziale Frage in den Mittelpunkt stellen, gerade wenn man eine offene, tolerante Gesellschaft verteidigen will“, sagte Wagenknecht im Interview mit der Siegessäule.
Doch dazu können wohl weder Politiker der SPD noch der Grünen noch Funktionäre von Organisationen beitragen, die „Aufstehen“ vor allem als eine Organisationsaufgabe sehen. Beitragen dazu könnten aber sehr wohl Menschen, die von ihren Streiks und Alltagskämpfen berichten.
Das kann der Kampf gegen Rassismus ebenso sein, wie der Kampf um mehr Lohn oder gegen Jobcenter. Eine Sammlungsbewegung auf dieser Basis hätte längerfristige Perspektiven. Die Demonstration vom Wochenende war hingegen ein temporäres Ereignis, das schnell verpufft, wenn diese Alltagskämpfe nicht geführt oder nicht in den Mittelpunkt gestellt werden.
Peter Nowak
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Das Institute for Strategic Dialogue beobachtet nichtkonforme Meinungen. Gerne wird übersehen, dass es auch linke Brexitbefürworter gibt
Vor der Bayernwahl haben unterschiedliche Verschwörungstheorien Hochkonjunktur. Natürlich gibt es diverse rechte Verschwörungstheorien, die auch immer wieder Gegenstand von Diskussionen sind. Doch es gibt auch die Verschwörungstheorien der sich als liberale Mitte verstehenden Verteidiger des Status quo. Da wird schon von der Beeinflussung von international vernetzten Online-Aktivisten in die bayerischen Landtagswahlen gewarnt [1]. Als Gegenmittel gibt es dann die sogenannten Trollbeobachter, die eigentlich eine NGO zur Beobachtung abweichender Meinungen sind und sich mit dem Label Kampf gegen Rechts als Teil der Guten gegen die Bösen geriert.
Bei der Bundestagswahl 2017 haben wir beobachtet, wie rechte Trolle koordiniert Desinformations- und Einschüchterungskampagnen im Netz betrieben und so den öffentlichen Diskurs zu Gunsten rechter Themen und Erzählungen verzerrten.
Julia Ebner vom Londoner Institute for Strategic Dialogue [2] (ISD)
„700 Posts, 16.830 Kommentare und 1,2 Millionen Likes werteten die Forscher_innen damals aus“, so der Bericht Hass auf Knopfdruck [3]. Über soviel Engagement würde sich jeder Staatsschutz freuen. Man könne „zum Beispiel beobachten, wenn ein Artikel oder ein Post überdurchschnittlich performt“, erklärt Jakob Guhl, der nach der Taz „Russland-affine und Verschwörungstheorien zugeneigte Facebookgruppen und die rechte Vlogger-Szene auf YouTube beobachtet“. Dabei müssen die hauptamtlichen Trollbeobachter einräumen, dass es für die Beeinflussung eigentlich keine Beweise gibt.
Wie groß der Effekt solcher Echokammern letztlich auf Wahlentscheidungen und auf die Diskussion im Mainstream ist, lässt sich auch trotz der Analysetools nur schwer quantifizierbar messen. Alexander Sängerlaub, der für die Stiftung Neue Verantwortung in Berlin ebenfalls zu rechten Einflüssen in Sozialen Netzwerken forscht, hält ihn für eher gering – einfach weil laut Erhebungen seines Instituts [4] nach wie vor mehr als 60 Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung Vertrauen in die Mainstream-Medien haben und sich daher Desinformationskampagnen oft unterhalb des allgemeinen Radars bewegen.
taz, 8.10.2018
Wer das Performen eines Artikels oder eines Tweets für den Aufstieg der rechten verantwortlich macht, braucht nicht darüber zu diskutieren, welche Verantwortung der Kapitalismus für die Rechtsentwicklung trägt und wie sehr sich bei allem Feindschaft die liberalen Eliten und ihre rechten Gegner gleichen. Serge Halimi und Pierre Rimbert sehen hier und nicht in einen performenden Tweet die eigentlichen Ursachen für die Krise der bürgerlichen Demokratie. In einem Essay [5] schreiben sie:
Zum anderen haben die Erschütterungen des Jahres 2008 samt ihren Nachbeben auch die politische Ordnung durcheinander gewirbelt, in der die demokratische Marktwirtschaft als Vollendung der Geschichte gilt. Die aalglatte Technokratie, die von New York oder Brüssel aus im Namen des Expertenwissens und der Modernität unpopuläre Maßnahmen durchsetzte, hat den Weg für populistische und konservative Regierungen geebnet. Trump, Orban und Jarosław Kaczyński berufen sich genauso auf den Kapitalismus, wie Barack Obama, Angela Merkel oder Emmanuel Macron es tun. Aber es handelt sich um einen anderen, von einer illiberalen, nationalen und autoritären Kultur geprägten Kapitalismus, der eher das flache Land als die Metropolen repräsentiert.
Serge Halimi und Pierre Rimbert, Le Monde diplomatique
Beide Fraktionen stellen die Kapitalverwertung nicht infrage, wie Rimbert und Halimi richtig feststellen:
Das Ziel der neuen Kapitalisten ist dasselbe wie bei den alten: die Reichen noch reicher zu machen. Nur ihre Methode ist eine andere. Sie nutzen die Gefühle aus, die Liberalismus und Sozialdemokratie bei großen Teilen der Arbeiterklasse auslösen: Abscheu, vermischt mit Wut.
Serge Halimi und Pierre Rimbert
Einseitige Berichterstattung zum Brexit
Diese Einschätzung trifft auch auf den Mainstream der britischen Brexitgegner und Brexitbefürworter zu. Viele EU-Befürworter sehen dort größere Möglichkeiten, eine Politik für das Kapital zu machen, und auch ein Teil der Brexitbefürworter will aus Großbritannien eine Art Sonderwirtschaftszone machen, in der die Macht des Kapitals noch wächst.
Wenn wir in Deutschland über den Brexit lesen, wird überwiegend behauptet, dass er das Werk von Nationalisten und Wirtschaftsliberalen ist. Es kommen auch überwiegend Interessengruppen zu Wort, die durch einen EU-Austritt Nachteile befürchten. Nur ganz selten wird erwähnt, dass es auch linke Brexit-Befürworter gibt. Der Taz-Auslandsredakteur Dominic Johnson hat in der letzte Zeit ab und an Texte aus dieser Richtung veröffentlicht. So hat er einen Text des Gründers der linken Organisation The Full Brexit [6] Philip Cunliffe übersetzt [7].
Wir von „The Full Brexit“ halten den Brexit für eine zumindest potentielle Verkörperung traditionell linker Ideale, nicht zuletzt die Souveränität des Volkes gegen eine ferne, sich der Rechenschaft entziehende bürokratische Macht. Viele von uns sehen das Brexit-Votum als Volksaufstand gegen einen parteiübergreifenden Elitekonsens und als Geltendmachung von Demokratie gegen die von der EU verkörperte Technokratie und transnationale Regierungsführung.
Philip Cunliffe
Allerdings triftet auch Cunliffe mit seiner linken Brexit-Verteidigung in idealistische Sphären ab:
Für uns ist der Brexit eine Chance, die linken Ideale zurückzugewinnen. Es geht ums Ganze. Das Wachstum des Rechtspopulismus in ganz Europa zeigt uns, was geschehen würde, wenn britische Politiker das Versprechen des Brexits nicht erfüllen und mit einer EU verbunden bleiben, die danach strebt, den Volkswillen und die Demokratie zu begrenzen. Je länger die Linke die vom Brexit verkörperten Ideale und Chancen verleugnet, desto höher wird langfristig der Preis.
Philip Cunliffe
Hier ist viel von linken Idealen die Rede, die aber nicht näher definiert werden. So wie die Brexitgegner argumentieren auch die Befürworter gerne mit Werten, Idealen und Chancen. Doch es gibt politische Kräfte, die im Brexit eine Chance für die Linke sehen. Diese unterschiedlichen Eurokonzepte wurden auch auf dem Attac-Europakongress [8] in Kassel vor einigen Tagen diskutiert (Ist ein „demokratisches, friedliches, ökologisches, feministisches, solidarisches“ Europa möglich? [9]). Der Streit spitzt sich letztlich auf die Frage zu: Ist ein soziales Europa mit oder gegen die aktuelle EU möglich? Das sind Fragen, die es wert sind, diskutiert zu werden. Die Frage allerdings, wie ein Artikel oder ein Tweet performt oder ob hinter dem Brexit auch russische Trolle stehen, sollte man getrost Verschwörungstheorien überlassen.
Peter Nowak
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