Denunziantenschutz beim Jobcenter?

Anonyme Anzeigen gegen Hartz-IV-Bezieher werden in deren Akten aufgenommen, ohne sie davon in Kenntnis zu setzen. Die Datenschutzbestimmungen der Jobcenter garantieren die Anonymität der Informanten

Verdient sich der Hartz IV beziehende Nachbar etwa noch etwas dazu oder lebt er gar nicht in einer Zweck-Wohngemeinschaft? Es gibt Zeitgenossen, die sich solche Fragen über die in ihrer Umgebung wohnenden Mitmenschen stellen und dem Jobcenter entsprechende Hinweise geben. Für die Betroffenen kann das gravierende Folgen haben.

So wurde bereits 2010 durch die taz ein Fall in Göttingen bekannt, wo ein anonymer Anrufer das Jobcenter darüber informierte, dass eine Hartz IV-Bezieherin mehr bei ihrem Freund als in ihrer Wohnung leben würde. Mitarbeiter des Jobcenters leiteten weitere Erkundigungen in der Nachbarschaft der Denunzierten ein. Danach wurde der Frau die Hartz IV-Leistung gestrichen, ohne sie vorher auch nur angehört und mit den Vorwürfen konfrontiert zu haben. Dabei handelte es sich um einen alltäglichen Vorgang, der nur publik wurde, weil die Betroffene die Öffentlichkeit informierte.

Bis heute hat sie keine Ahnung, wer sie denunziert hat. So geht es vielen Betroffenen, bei denen plötzlich Sozialdetektive auftauchen, die feststellen wollen, wie viele Zahnbürsten im Badezimmer eines Erwerbslosen zu finden sind und ob die Butter im Kühlschrank einer Bedarfsgemeinschaft getrennt aufbewahrt wird. Diese Besuche empfinden die betroffenen Hartz IV-Bezieher besonders demütigend, weil es sich hier um einen massiven Eingriff in die Privatsphäre handelt. Jeder Hartz IV-Bezieher muss schon bei der Antragsstellung zustimmen, dass er den Behörden Einblick in sämtliche Konten gewährt. Nun ist selbst die eigene Wohnung nicht mehr vor Kontrolle sicher. Besonders belastend ist es für viele Betroffene, dass sie nicht wissen, von wem sie angezeigt worden sind. War es ein Nachbar, ein Bekannter oder womöglich sogar ein vermeintlicher Freund?

Dass soll auch in Zukunft so bleiben. Wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten der Linken Katja Kipping hervorgeht, garantieren die Datenschutzbestimmungen der Jobcenter die Anonymität der Denunzianten. In der Antwort der Bundesregierung auf ihre schriftliche Anfrage, bestätigt der Staatssekretär des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, Gerd Hoofe, dass anonyme Anzeigen gegen Hartz-IV-Bezieher in deren Akten aufgenommen, ihnen aber nicht zur Kenntnis gegeben werden. Vor einer möglichen Akteneinsicht durch die Betroffenen sollen anonyme Anzeigen aus der Akte entfernt werden.

Datenschutz für Informanten?

Auf Kippings Frage, welche Anweisungen bzw. Regelungen und welche konkreten Praktiken in den Jobcentern hinsichtlich der in die Leistungsakte eines Hartz IV-Beziehers aufzunehmenden anonymen Anzeigen bzw. Strafanzeigen bestehen, heißt es in der Antwort:

„Der Informant hat Anspruch auf Geheimhaltung seiner personenbezogenen Daten. … Daher sollen im Regelfall entsprechende (anonyme) Anzeigen in einem verschlossenen Umschlag in der Leistungsakte aufbewahrt werden. Bei der Gewährung von Akteneinsicht ist diese im Regelfall herauszunehmen.“

Auf die Frage, welche Möglichkeiten für einen Hartz IV-Bezieher bestehen, Kenntnis über anonyme Anzeigen bzw. Strafanzeigen gegen ihn zu erlangen und sich gegen diese rechtlich zur Wehr zu setzen, antwortet der Ministeriumsvertreter, dass die Betroffenen die Namen der Informanten in Erfahrung bringen könnten, wenn es sich bei den Anzeigen nachweislich um Falschaussagen handelt und sie sich dagegen juristisch wehren wollen. Das können die Betroffenen aber nicht, wenn sie gar nicht wissen, dass gegen sie Anzeigen vorliegen.

Informelle Mitarbeiter der DDR können neidisch werden

„Anonyme Anzeigen gegen die Betroffenen in den Leistungsakten der Jobcenter sind ein Skandal. Erst recht, wenn sie dem Angezeigten nicht mal zur Kenntnis gegeben werden, weil sie bei Akteneinsicht vorher entfernt werden. Die Anzeigen beeinflussen den Fallmanager und der Betroffene weiß von nichts“, so Kippings Einschätzung, die von Erwerbsloseninitiativen geteilt werden.

Schließlich ist es absurd, wenn ausgerechnet Informanten sich auf Datenschutz berufen können sollen, den die beschuldigten Hartz IV-Bezieher nicht haben. Mancher ehemalige Informelle Informant der DDR dürfte da neidisch werden. Die haben sich gerne auch auf den Datenschutz berufen, als die Bürgerbewegung ihre Daten offenlegte.

Dieser von der Politik gewollte Datenschutz für anonyme Informanten ist auch ein Symptom für die gewollte Entsolidarisierung einer Gesellschaft. Denn so wird das Denunziantentum gefördert. In Zeiten, in denen ein Sarrazin zum Bestseller-Autor wird und Bild oder Sendungen wie Hart aber Fair mit Hetze gegen Erwerbslose Geschäfte machen bzw. für Aufmerksamkeit sorgen, gibt es genügend Willige, die dazu bereit sind.

Peter Nowak

Aus für Opel – und nichts passiert

Opel Bochum zeigt, wie schwer sic hdie Belegschaften mit der Automobilkrise tun

„Hier hat sich die Belegschaft selbst organisiert. Von Donnerstag an stand fest, die Belegschaft handelt und entscheidet gemeinsam jeden Schritt und jede Aktion. Ohne großartige Abstimmungen wurden die Tore besetzt, um zu verhindern, dass LKWs mit Ladung das Werk verließen – leer konnten sie fahren.“ Dieser Lagebericht des oppositionellen Bochumer Opel-Betriebsrates Manfred Strobel ist vor acht Jahren in der Zeitschrift Express erschienen, die gewerkschaftlichen Kämpfen in und außerhalb des DGB ein Forum gibt.
Damals hatte ein durch angekündigte Massenentlassungen ausgelöster sechstägiger Streik der Opel-Belegschaft in Teilen der Linken für Begeisterung gesorgt. Denn die Aktion hatte erkennbar nicht die Handschrift der IG-Metall-Führung getragen. Der Berliner Verlag „Die Buchmacherei“ hat unter dem Titel „6 Tage der Selbstermächtigung“ ein Buch herausgegeben, in dem die damaligen Kämpfe anschaulich dokumentiert sind. Acht Jahre später wurde der Schließungsbeschluss des Opelwerkes verkündet und es gab keine Torbesetzungen und Streiks. Kurz nach Bekanntwerden des Beschlusses demonstrierten am 10. Dezember knapp 100 Beschäftigten durch das Werk. Am 14. Dezember hatte die IG-Metall zu einer Kundgebung vor dem Tor 4 aufgerufen. Der Tenor der meisten Reden war Zweckoptimismus. Es sei schon ein Erfolg, dass die Gespräche weitergehen. So soll über die Auszahlung der 4,3% Tariflohnerhöhung, die Opel wegen als Vorleistung der Belegschaft gestundet worden sind, weiterverhandelt und das Ergebnis dann den Kollegen zur Abstimmung vorgelegt werden. Zudem wurde von den Betriebsräten die Aufsichtsratsversammlung vom 12. Dezember als erfolgreich bezeichnet, weil dort kein Schließungsplan vorgelegt worden war.
„Das halte ich für eine Nebelkerze. Schließlich wissen alle, dass es den Schließungsbeschluss gibt“, kommentierte Wolfgang Schaumberg diesem Versuch, die Belegschaft ruhig zu stellen. Schaumberg war jahrzehntelang in der oppositionellen Gewerkschaftsgruppe Gegenwehr ohne Grenzen (GoG) aktiv. Sie und ihre Vorläufer haben in den vergangenen drei Jahrzehnten bei Opel eine wichtige Rolle gespielt und sicher auch mit zum 6tägigen Streik vor 8 Jahren beigetragen. Dass die Gruppe, die die Standortlogik und das gewerkschaftliche Comanagement immer bekämpft hat, bei der letzten Betriebsratswahl erstmals kein Mandat mehr bekommen hat, zeigt das veränderte Klima.

Viele wollen lieber die Abfindung kassieren

Heute liegt der Altersdurchschnitt im Werk bei über 47 Jahren. „Gerade die Älteren hoffen auf eine Abfindung und rechnen sich schon aus, wie sie mit Abfindungen und Arbeitslosengeld bis zum Rentenalter kommen“, beschreibt Schaumberg die Situation Weil die Komponentenfertigung für andere Werke aus Bochum abgezogen wurde, könnte ein Ausstand heute nicht mehr wie 2004 die Opel-Produktion in ganz Europa lahmlegen. Dieser durch die technologische Entwicklung begünstigte Verlust der Produzentenmacht hat auch dazu geführt, dass sich viele StreikaktivistInnen von 2004 mit Abfindungen aus dem Betrieb verabschiedet haben. Dazu gehört auch der Express-Autor Manfred Strobel. Die Figur des “Arbeitermilitanten“, der, wie der vor einigen Jahren verrentete Wolfgang Schaumberg, über Jahrzehnte im Betrieb arbeiteten und Kampferfahrungen an neue Generationen weitergaben, war auch bei Opel schon vor den Schließungsplänen ein Auslaufmodell. Schließlich haben die Bochumer OpelanerInnen den Machtverlust selber erfahren können. In den letzten zwei Jahrzehnten ist die Anzahl der Belegschaftsmitglieder kontinuierlich zurück gegangen.
Dieser Rückgang der ArbeiterInnenmacht, bedingt durch den technologischen Fortschritt und die Politik der Wirtschaftsverbände, machen Belegschaften in vielen europäischen Ländern zu schaffen. Diese Erfahrungen haben dazu geführt, dass Entscheidungsstreiks in einzelnen Fabriken in den letzen Jahren zurückgegangen sind und dafür die aus der Defensive geführten politischen Streiks zugenommen haben, lautet die These des von Alexander Gallas, Jörg Nowak und Florian Wilde kürzlich im VSA-Verlag erschienenen Buch „Politische Streiks im Europa der Krise“.
Der IG-Metall-Vorstand zumindest macht sich über neue Kampfformen kaum Gedanken. Auf ihrer Homepage wird der Opel-Konflikt zu einem Kampf zwischen den Standorten USA und Deutschland stilisiert. Dort ist von „einer Kampfansage von General Motors an Opel Bochum“ die Rede. Das Management habe die Marke Opel beschädigt, lautet die Klage der gewerkschaftlichen Komanager, die ein profitables Opel-Werk fordern. „Damit sind weitere Verzichtserklärungen der Beschäftigten schon vorprogrammiert“, kommentiert Schaumberg realistisch.
Allerdings gibt auch bei Opel noch verschiedene Formen von Widerspruch gegen diese IG-Metall Linie. So empfahl ein oppositioneller Betriebsrat auf der Kundgebung am 14. Dezember, sich an den belgischen Ford-Kollegen aus Genk ein Beispiel zu nehmen, die Anfang November nach der Ankündigung der Werkschließung vor dem Ford-Werk in Köln protestierten. Die Aktion sei in den Medien in Deutschland als Randale hingestellt worden, es habe sich aber um eine Protestaktion mit Vorbildcharakter, erklärte er unter Applaus.

Oppositonelle Gewerkschafter gespalten

Ebenfalls aus den Reihen oppositioneller Opel-Gewerkschafter wird mit dem Vorschlag, Gewerkschaften und Umweltorganisationen sollen sich gemeinsam für die Produktion umweltfreundlicher Autos einsetzen, an die Konversionspläne der 70er Jahre angeknüpft.
„Solche Forderungen können nicht in einem Werk umgesetzt werden, sondern setzen eine ganz andere Auseinandersetzung mit dem Kapital voraus“, betont Schaumberg. Bei der GoG wird daher die Forderung diskutiert, dem Management mit der Position gegenüber zu treten, die Arbeit könnt ihr behalten, aber ihr müsst uns weiter bezahlen. Schließlich hätten die Lohnabhängigen die Situation nicht verursacht, die zum Schließungsbeschluss führte. Damit knüpfen sie an die Parole „Wir zahlen nicht für Eure Krise“ an. Im Fall Opel ist die Parole sehr treffend. Denn es ist auch die durch die deutsche Krisenpolitik der europäischen Peripherie aufoktroyiertes Verarmungsprogramm, das den deutschen Export einbrechen ließ und Opel unrentabel macht. Wer jeden Cent zweimal umdrehten muss, kauft schließlich keine Autos.
Ein erstes Fazit, das sich aus den Reaktionen auf die Opel-Krise ziehen lässt, ist so also durchaus zwiespältig. Viele außerparlamentarische Linke hätten natürlich jeden direkten Widerstand im Werk als Zeichen für die weiterhin lebendige ArbeiterInnenbewegung interpretiert. Dass aber die KollegInnen eben nicht einfach die Brocken hinwerfen und stattdessen ihre Abfindungen ausrechnen, ist auch der Erkenntnis geschuldet, dass im heutigen Kapitalismus eine isolierte Lösung in einer einzelnen Fabrik nicht möglich ist.
Die von der Umweltgewerkschaft angefachte Debatte über die Produktion von umweltfreundlichen Fahrzeugen ist nur möglich, wenn die Eigentumsfrage und ProduzentInnenmacht und Konzepte einer gesamtgesellschaftlichen, demokratischen Planung der Produktion wieder gestellt wird. In Zeiten, in denen die Markt- und Kapitallogik scheinbar alternativlos erscheint , könnten damit linke Zielvorstellungen wieder in der Öffentlichkeit platziert werden. Für das erste März-Wochenende plant die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Stuttgart eine Konferenz zum Thema „Erneuerung durch Streik“. In dem detaillierten Programm, das auf der Homepage http://www.rosalux.de/event/46538/erneuerung-durch-streik.html veröffentlicht, ist bisher allerdings Opel-Bochum nicht erwähnt.

aus analyse und kritik 579
http://www.akweb.de/
Peter Nowak

Der absolute Nullpunkt

Die Jobcenter verhängen immer häufiger Sanktionen. Auch eine Kürzung der Hartz-IV-Leistungen um 100 Prozent ist möglich.
Drucken»Die Minderung erfolgt für die Dauer von drei Monaten und beträgt 100 Prozent des Arbeitslosengeld II«, teilte die Sachbearbeiterin des Jobcenters der Stadt Forst dem erwerbslosen Bert Neumann* mit. Als wäre diese Mitteilung nicht schon aussagekräftig genug, heißt es im nächsten Absatz des Schreibens: »Ihr Arbeitslosengeld II fällt in diesem Zeitraum komplett weg.« Als Grund gab das Jobcenter an, Neumann sei einem Computergrundkurs des Bildungswerks »Futura GmbH« unentschuldigt ferngeblieben. »Ich wurde zum dritten Mal in den gleichen Computerkurs geschickt, der aber immer von unterschiedlichen Trägern veranstaltet wurde«, sagt der Erwerbslose der Jungle World. Dort seien den Kursteilnehmern für die Jobsuche die Grundlagen der Internetnutzung beigebracht worden. Da Neumann seit Jahren mit Computern arbeitet, langweilte er sich in dem Kurs schon beim ersten Mal. Dass ihn die Sachbearbeiter des Jobcenters gleich dreimal zum Kursbesuch aufforderten, interpretiert er ebenso als Schikane wie den Totalentzug des ALG II.

Für den Kauf dringend benötigter Lebensmittel wurde ihm vom Amt ein Gutschein im Wert von 176 Euro ausgehändigt. Genussmittel dürfen damit nicht erworben werden. Wenn nicht der gesamte Betrag bei einem Einkauf ausgeben wird, verfällt der Restbetrag, weil kein Wechselgeld ausgezahlt werden darf. Nach dem Ende der Sperre wird der Wert der Gutscheine monatlich mit zehn Prozent von seinen Hartz IV-Leistungen abgezogen, bis der Betrag beglichen ist. Seit der Streichung des ALG II kann Neumann auch seine Miete nicht zahlen, er fürchtet die Kündigung. Mittlerweile hat sein Anwalt Klage gegen den Totalentzug von Hartz IV eingereicht. Seine Erfolgsaussichten sind nicht schlecht. Eine 100-Prozent-Sanktion sei prinzipiell rechtmäßig, im Detail aber an sehr vielen Punkten angreifbar, sagt Harald Thomé, Referent für Arbeitslosen- und Sozialrecht beim Verein Tacheles, der Jungle World. Erfolge gebe es regelmäßig. »Ich würde behaupten, dass in der juristischen Prüfung etwa 75 Prozent der Sanktionsbescheide kassiert werden.« Eine Sanktion, die einen Wohnungsverlust zur Folge hat, sei verfassungswidrig, interpretiert Thomé anhand zweier Urteile des Bundesverfassungsgerichts zur Höhe von Hartz IV und zum Asylbewerberleistungsgesetz vom Februar 2009 und Juli 2012. Allerdings ist der Weg durch die juristischen Instanzen zeitaufwendig. Ein Mensch, der befürchten muss, die Wohnung zu verlieren, hat diese Zeit oft nicht.

Zur Unterstützung von Bert Neumann hat sich in Forst ein »Freundeskreis« gegründet. Unter dem Motto »Sanktionen treffen einzelne, doch gemeint sind alle« lädt er für den 8. Februar zum Podiumsgespräch über Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger. Allein in Forst wurden in letzter Zeit fünf Beziehern von ALG II die Leistungen auf null gekürzt. Bundesweit hat die Zahl der gegen Hartz-IV-Bezieher verhängten Sanktionen im vorigen Jahr einen Rekordstand erreicht. Wie die Bundesanstalt für Arbeit mitteilte, verhängten die Jobcenter von August 2011 bis Juli 2012 erstmals in mehr als einer Million Fällen Strafen gegen Langzeitarbeitslose. Als Gründe für dieses Vorgehen wurden die gute Arbeitsmarktsituation und die Professionalisierung der Jobcenter genannt. Damit zeigt sich, dass mit dem statistischen Rückgang der Erwerbslosenzahlen, der im Wesentlichen auf dem Boom des Niedriglohnsektors beruht, der Druck auf die Bezieher von Transferleistungen zunimmt. Zugleich steigt der gesellschaftliche Druck auf Erwerbslose, die als »renitent« wahrgenommen werden. Das musste auch Ralph Boes erfahren, der sich für das bedingungslose Grundeinkommen engagiert und zur Diskussionsveranstaltung in Forst eingeladen wurde. Nachdem er Anfang Dezember bei einem Auftritt in der Talkshow »Menschen bei Maischberger« die Hartz-IV-Sanktionen als Zwang bezeichnet und deren Abschaffung gefordert hatte, attackierte ihn die Bild-Zeitung als »Hartz-IV-Schnorrer«.

* Name von der Redaktion geändert
http://jungle-world.com/artikel/2013/05/47046.html
Peter Nowak

In der Defensive

Zum politischen Streik in Deutschland seit dem Zeitungsstreik 1952

Am 14. November gab es den ersten länderübergreifenden europäischen politischen Streik. Schwerpunkte waren Spanien, Zypern, Malta, Italien, Portugal, aber auch einige Branchen in Belgien. In Deutschland beschränkte sich der Aktionstag auf Solidaritätskundgebungen, die von linken Gruppen und der FAU initiiert worden waren. Nachdem linke GewerkschafterInnen noch einen Monat vor dem Aktionstag in Offenen Briefen die Vorstände von DGB und Einzelgewerkschaften daran erinnerten, dass der 14. November in den europäischen Gewerkschaftsgremien einvernehmlich unterstützt worden war, sprang auch der Gewerkschaftsapparat auf den Zug auf.
Die linkssozialdemokratische Rosa-Luxemburg-Stiftung hatte bereits im Mai 2012 in Berlin einen Kongress zum Thema Politischer Streik in Europa veranstaltet und GewerkschafterInnen aus verschiedenen europäischen Ländern eingeladen. Dabei wurde aber schnell deutlich, dass die Renaissance des politischen Streiks aus einer defensiven Position erfolgt. Weil durch die zunehmende internationale Vernetzung der Produktion kaum noch erfolgreiche Fabrikkämpfe zu führen seien, verlagern sich in vielen europäischen Ländern die Arbeitskämpfe auf das politische Terrain, so das Fazit vieler der eingeladenen GewerkschafterInnen.
Der in der Rosa-Luxemburg-Stiftung für Gewerkschaftspolitik zuständige Referent Florian Wilde hat kürzlich gemeinsam mit den Politologen Jörg Nowak und Alexander Gallas im VSA-Verlag ein Buch mit dem Titel „Politische Streiks im Europa der Krise“ herausgegeben. Wilde skizziert dort den defensiven Kontext, in dem sich die politischen Streiks heute abspielen und der sich diametral von den Zeiten unterscheiden, als Rosa Luxemburg in den Massenstreiks eine Schule zur Vorbereitung der politischen Revolution sah.
„Die zunehmende Zahl von politischen Streiks und Generalstreiks ist zunächst Ausdruck der hochgradig defensiven Stellung, in der sich die Gewerkschaften nach drei von Niederlagen geprägten Dekaden heute befinden (…) Die Gewerkschaften und die gesellschaftliche Linke kämpfen in dieser Situation mit dem Rücken an der Wand. Aus dieser Konstellation ergibt sich sowohl die massive Zunahme politischer Streiks als auch ihr vorrangig defensiver Charakter“, schreibt Wilde.

Vergessene politische Streiks in Deutschland
In einem eigenen Kapitel wird ein kurzer Rückblick auf die politischen Streiks in der BRD gegeben, die heute weitgehend vergessen sind. Ein Grund dürfte auch darin gelegen haben, dass die politischen Streiks in der Regel nicht so benannt werden, weil sie ungesetzlich sind und die DGB-Gewerkschaften immer auf dem Legalitätsprinzip beharrten. Mit dieser Position lehnten DGB- und IG-Metall-Vorstände vehement Aufrufe von außerparlamentarischen Gruppen ab, mit den Mitteln des Generalstreiks gegen die Wiederbewaffnung oder die Notstandgesetze zu protestieren. Dieses Legalitätsprinzip bewahrte GewerkschafterInnen nicht vor Kriminalisierung, wie die langjährige IG-Metall-Bevollmächtigte Heidi Scharf am Beispiel des Stuttgarter Frauenstreiktags vom 8. März 1994 erläuterte. Scharf und eine weitere Gewerkschafterin erhielten einen Strafbefehl wegen Rädelsführerschaft, weil sie eine nicht für den Fußgängerübergang vorgesehene Straßenkreuzung überquerten. Lehnten die Gewerkschaftsvorstände Aufrufe zu politischen Streiks bei Themen vehement ab, in denen sie hätte in Konfrontation zur SPD gehen müssen, wie es bei den Notstandsgesetzen und der Wiederbewaffnung der Fall war, so unterstützte sie schon mal politische Arbeitsniederlegungen, wenn auch die SPD davon profitierte.
So gab es anlässlich des letztlich gescheiterten Misstrauensvotums der Unionsparteien gegen die Regierung Brandt/Scheel 1972 Arbeitsniederlagen in verschiedenen Großfabriken, die von der Gewerkschaftsbasis ausgingen, aber Unterstützung bis auf die Vorstandsebene fanden auch die Arbeitsniederlegungen Mitte der 80er Jahre gegen den heute weitgehend vergessenen „Franke-Erlass“, die eindeutig als politische Streiks zu klassifizieren waren, genossen die Unterstützung von DGB-Vorständen und der SPD. Dabei ging es um eine Verfügung des damaligen Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit, Lohnabhängigen, die während eines Streiks von den Unternehmen ausgesperrt wurden, keine Unterstützungsleistungen mehr zu gewähren.
Hinter Franke stand die konservative-liberale Bundesregierung, die nach dem Vorbild der britischen Thatcher-Regierung auch in Deutschland die Gewerkschaftsmacht einschränken wollte. Dabei ging es aber nicht um eine Beschränkung von Arbeiterselbstorganisation. Getroffen werden sollte vielmehr ein eng mit der SPD verbundener Gewerkschaftsapparat. Die SPD versuchte ihrerseits mit ihrer Kampagne gegen den Franke-Erlass während der Regierungszeit von Bundeskanzler Helmut Schmidt verloren gegangenes Vertrauen bei Teilen der Gewerkschaftsbasis zurückzugewinnen. Daraus wird deutlich, dass auch die Unterstützung eines politischen Streiks durch die Gewerkschaftsvorstände kein Indiz für eine Linksentwicklung des Apparats sein muss.

Machtkampf im Zeitungsstreik
Es gab aber auch in der bundesdeutschen Geschichte Beispiele für politische Streiks, die sich zum Machtkampf zwischen Teilen der Lohnabhängigen und den Staatsapparaten entwickelten. Dazu gehört der Zeitungsstreik von 1952. Er war Teil des Kampfes der DGB-Gewerkschaften um eine erweitere Mitbestimmung in der frühen BRD. Anfang der 50er Jahre, als die Restauration der alten Besitz- und Machtverhältnisse in der BRD in vollem Gange war, wollten die Gewerkschaften mit dem Kampf um die Mitbestimmung ihren Anspruch auf die Mitverwaltung im Staat deutlich machen. Doch die politischen Eliten hatten daran kein Interesse, zumindest nicht, solange die Gewerkschaften dazu auch Kampfmittel einsetzen. Gerade mit dem überraschenden, weil unangekündigten Zeitungsstreik begaben sich die Gewerkschaften auf ein politisches Feld, in dem sie praktisch demonstrierten, dass sie die Macht hatten, die Medien zum Schweigen zu bringen, die überwiegend eine Kampagne gegen die Gewerkschaften gefahren hatten. Hier blitzte tatsächlich die Vorstellung der Macht einer Arbeiterklasse auf. 1919 hatten bewaffnete ArbeiterInnen das Berliner Zeitungsviertel besetzt, was die SPD-Führung mit dem Standrecht und dem Einsatz der konterrevolutionären Freikorps beantworte.
1952 hatten die DGB-Gewerkschaften mit ihrem Zeitungsstreik keineswegs eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft im Sinn. Aber sie wollten demonstrieren, dass sie durchaus Druckmittel haben, um ihren Platz als Sozial- und Mitbestimmungspartner durchzusetzen und damit Verhandlungen zu erzwingen. Wer im Spiegel (www.spiegel.de/spiegel/print/d-21976896.html) jener Tage liest, wie Betriebsräte und GewerkschafterInnen den Versuchen der Bundesregierung, als Antwort auf den Zeitungsstreik ein eigenes Bulletin herauszugeben, enge Grenzen setze und mehrmals den Titel und die Auflage korrigierten, bekommt tatsächlich den Eindruck, hier gab es in Ansätzen eine Art Gegenmacht. Der Kapitalseite war das sehr bewusst, was sich an der Intervention einiger Verlegerverbände zeigte, die sich gegen die Herausgabe des Bulletins wandten, weil sie die befürchteten, die Gewerkschaften könnten darauf mit einer Streikverlängerung reagieren.

Nipperdey kassiert politisches Streikrecht
Die juristischen Gegenmaßnahmen folgten schnell. Die Verleger klagten gegen die Streiks. Nachdem mehrere Landesarbeitsgerichte den Ausstand für „ungesetzlich und sittenwidrig“ erklärt hatten, befasste sich schließlich das Bundesarbeitsgericht mit dem Fall. Der Gründer der Kölner Instituts für Arbeits- und Wirtschaftsrecht an der Kölner Universität, Carl Nipperdey, verfasste ein Gutachten, das Streiks nur im Rahmen von Tarifforderungen für zulässig erklärte und schuf damit jenes deutsche Sonderrecht, das als Verbot von politischen Streiks bekannt ist. Als Vorsitzender Richter des Bundesarbeitsgerichtes schrieb Nipperdey 1958 die in dem Gutachten niedergeschriebenen Grundsätze in einem Urteil gegen den von der IG Metall ausgerufenen Streik zum Kampf für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall fest. Er erklärte ihn für ungesetzlich und verurteilte die Gewerkschaft zu einem Schadenersatz von 38 Millionen an die bestreikten Unternehmer.
Wenn auch juristische Autoren Nipperdey als „Anreger für eine Neubegründung des juristischen Denkens“ feierten, so sich der Jurist an der Akademie für Deutsches Recht im Nationalsozialismus erste wissenschaftliche Sporen im Kampf gegen die Selbstorganisation der ArbeiterInnen verdient. So schrieb er 1937 in der Fachzeitschrift „Deutsches Arbeitsrecht“ einen Aufsatz unter dem Titel „Die Pflicht des Gefolgsmanns zur Arbeitsleistung“. Aber es wäre sicher falsch, Nipperdey noch in den 50er und 60er Jahren als Gefolgsmann des Nationalsozialismus zu sehen. Er stand vielmehr in der Tradition konservativer WissenschaftlerInnen, die Klassenkampf und Streiks ablehnten und für eine ständische Gesellschaft eintreten, in denen statt Streik und Widerstand Gefolgschaft und Unterordnung herrschen sollten. Diese Ideologien sind älter als der NS und mit diesem natürlich nicht verschwunden. Sie haben sich selbst in Teilen der Lohnabhängigen gehalten. Wenn aktuell wieder verstärkt über politischen Streik in Deutschland gesprochen wird, gilt es gerade diesen Vorstellungen den Kampf anzusagen. Es ist daher nicht in erster Linie eine Frage der Gesetze, wie es linke DGB-GewerkschafterInnen wie der hessische IG-Bau Sekretär Veit Wilhelmy sehen, die eine Kampagne für ein Recht für ein umfassendes Streikrecht begonnen haben und dafür unter einem Wiesbadener Appell (politischer-streik.de) Unterschriften sammeln. Diese Initiative ist sicher nicht falsch. Der politische Streik wird aber an den Arbeitsstellen und auf der Straße geführt und gewonnen.

Politischer Streik – heute noch aktuell?
Dabei werden sich manche fragen, ob die Frage eines politischen Streiks angesichts der Veränderung der Arbeitsverhältnisse nicht obsolet geworden ist. Schließlich dominieren isolierte Arbeitsplätze und die Großfabriken verschwinden zumindest in Mitteleuropa. Daraus ziehen auch viele anarchistischen Gruppen den Schluss, dass heute Kämpfe nur noch außerhalb der Produktionssphäre möglich sind. So heißt es in einem Interview des anarchistischen Kollektivs Crimethinc in der Jungle World 8/2012: Wir haben es mit Prekarität zu tun. Damit, dass wir keine feste Position mehr in der Wirtschaft haben“. Als Alternative wird die Occupy-Bewegung genannt, die gezeigt habe, dass und wie es möglich ist, solche Kämpfe außerhalb der eigenen Arbeitsplätze zu führen. Ähnlich argumentierte eine studentisch geprägte Berliner Initiative, die kürzlich eine Streikzeitung herausgab. Im Editorial schreiben sie, dass sich die AktivistInnen den Streikbegriff aneignen, „auch in dem Bewußtsein, dass Streik im klassischen Sinn als „Arbeiter_innenkampf weder zeitgemäß noch realistisch ist“. Dabei machen beide Gruppen den Fehler, Streiks mit Massenkämpfen in Großfabriken verbinden. Sie vergessen dabei, dass unter den heutigen Arbeitsbedingungen Streiks geführt und auch gewonnen werden. Erinnert sei an die Putzleute in den Südstaaten der USA, die der Regisseur Ken Loach in seinen Film „Brot und Rosen“ würdigt oder an die weniger spektakulären Arbeitskämpfe in Callcentern, in Spätverkäufen und anderen Branchen des Niedriglohnsektors. Wer solche Kämpfe ignoriert, braucht über politische Streiks nicht zu reden.
aus: Direkte Aktion 215/Januar, Februar2013
http://www.direkteaktion.org/215/in-der-defensive
Peter Nowak

Der Artikel wurde nachgedruckt in Schattenblick:
http://www.schattenblick.de/infopool/medien/altern/da-552.html

und

Linke Zeitung:
http://www.linkezeitung.de/index.php?option=com_content&view=article&id=15435:zum-politischen-streik-in-deutschland-seit-dem-zeitungsstreik-1952-&Itemid=286

Wenn die Kündigung in die Rehaklinik geschickt wird

Stress am Arbeitsplatz und Kündigung: „Wie misst man eigentlich die Arbeitsleistung eines Produktentwicklers?“

Stress am Arbeitsplatz ist mittlerweile ein Dauerthema. Nachdem vor zwei Wochen der DGB eine Studie zu diesem Thema vorgelegt hat, treffen sich heute in Berlin Vertreter aus Politik, Gewerkschaften, und Wirtschaft, um über Maßnahmen zu beraten. Der Medizinsoziologe Johannes Siegrist bringt die Zunahme von Stress am Arbeitsplatz auch mit der Globalisierung in Verbindung.

„Die Intensität der Arbeit hat sich in den vergangenen 20 Jahren in vielen Berufen gesteigert. Das Tempo, die Arbeitsmenge, die zu erledigen ist, und die Anforderungen an die Arbeit haben sich erhöht.“

Ein wichtiger Grund sei die zunehmende Konkurrenz in Zeiten der Globalisierung. Wobei die Konkurrenzsituation längst in allen Bereichen des Arbeitslebens Einzug gehalten hat. Günther Demin (Name auf Wunsch des Betroffenen verändert) kennt das Thema Stress am Arbeitsplatz allerdings nicht nur aus den Medien. Dem 48-jährigen Softwareentwickler eines mittelständischen Betriebs wurde im Dezember gekündigt. Jetzt kämpft er um seinen Arbeitsplatz.

Demin würde zu geringe Arbeitsleistung erbringen, so Begründung der Firma. Für ihn ist der Vorwurf nicht nachvollziehbar. „Wie misst man eigentlich die Arbeitsleistung eines Produktentwicklers?“, fragt er sich. Vor allem die Umstände der Kündigung machen ihn wütend. So sei mit ihm vor der Kündigung nicht gesprochen worden. Außerdem war er krankgeschrieben, als er die Kündigung erhalten hat. Dass es kein großer Beitrag zur Genesung ist, wenn man kurz vor Weihnachten in einer Rehaklinik die Kündigung erhält, kann sich jeder denken.

Klinikaufenthalt als Arbeitsverweigerung?

Zumal der Firmenleitung seine gesundheitlichen Probleme bekannt gewesen sein müssen. Denn Demin hat sich eigentlich vorbildlich verhalten, wenn man die Tipps und Ratschläge der medizinischen Fachleute zum Maßstab nimmt. Schon im Frühjahr letzten Jahres stellte er nach gesundheitlichen Problemen bei seiner Rentenversicherung einen Antrag auf eine stationäre Behandlung in einer Rehaklinik. „Neben der Sicherung meiner Gesundheit hatte auch der Erhalt meines Arbeitsplatzes für mich hohe Priorität“, erklärt Demin.

Deshalb bat er seinen Arbeitgeber um eine Arbeitszeitverkürzung, damit er die Anforderungen am Arbeitsplatz und die Wiederherstellung seiner Gesundheit miteinander verbinden kann. Der Arbeitgeber habe die Bitte aber abgelehnt, so Demin. Stattdessen erhielt er eine Abmahnung wegen Arbeitsverweigerung.

Dabei habe es sich klar um ein Missverständnis gehandelt, betont der Betroffene. Er habe seinen Arbeitgeber auf seinen beantragten, aber auch noch nicht bewilligten Klinikaufenthalt hinweisen wollen und gesagt, dass er möglicherweise krankheitsbedingt für einige Wochen nicht am Arbeitsplatz erscheinen könne. Die Abmahnung sei später zurückgenommen worden.

Demin zeigt im Gespräch mit Telepolis sogar Verständnis für seinen Chef. Vielleicht sei die Ankündigung ja tatsächlich missverständlich formuliert gewesen. Allerdings kann auch eine besondere Stresssituation entstehen, wenn Beschäftigte erfahren müssen, dass ein angekündigter Klinikaufenthalt als Arbeitsverweigerung sanktioniert wird. Könnten solche Maßnahmen nicht gerade dazu führen, dass Beschäftigte, statt sich um ihre Gesundheit zu kümmern, alles unternehmen, um ihren Arbeitsplatz zu erhalten und dann lieber Pillen schlucken, als sich krankschreiben zu lassen?

Normalität, die viele nicht wahrhaben wollen

Im Sommer 2012 bat Demin seinen Chef um eine Arbeitszeitverkürzung. Zuvor hatte er einen Nervenzusammenbruch erlitten, der mit einem zweiwöchigen Klinikaufenthalt verbunden war. Dieses Mal hatte er zur Untermauerung ein ärztliches Attest vorweisen können. „Meine damaligen Ärzte bescheinigten mir, dass eine kürzere Arbeitszeit für mich gesundheitlich dringend anzuraten ist“, betont Demin. Darauf habe ihm sein Arbeitgeber eine bis Ende 2012 befristete Arbeitszeitverkürzung genehmigt. Ab September 2012 habe er 32 statt bisher 40 Stunden in der Woche gearbeitet. Ab 31. Oktober habe die beantragte Rehabilitationsmaßnahme in der Klinik begonnen, die Anfang Dezember noch einmal um drei Wochen verlängert worden sei. Während dieser Behandlung sei ihm die Kündigung zugeschickt worden.

Die Rehaklinik hat er Ende Dezember verlassen. Allerdings sei er noch bis zum 18.Februar 2013 arbeitsunfähig geschrieben, berichtet Demin gegenüber Telepolis. Für seinen Arbeitsplatz will er in dieser Zeit aber trotzdem kämpfen. Ein Gütetermin vor dem Stuttgarter Arbeitsgericht blieb am 29. Januar ohne Ergebnis. Jetzt will er sich auf den Arbeitsgerichtsprozess vorbereiten und dabei auch Gewerkschaften und soziale Initiativen informieren. Der Termin des Prozesses steht noch nicht fest. Von der Firma gab es bislang noch keine Stellungnahme zu den Vorwürfen.

Sie soll auf Wunsch des Betroffenen nicht namentlich genannt werden. Es ist auch nicht nötig, denn was Demin berichtet, ist gerade nicht ein besonders skandalöser Fall, sondern eher die Schilderung einer Normalität, die viele nicht wahrhaben wollen. Wenn sich jetzt auch Vertreter der Politik und Wirtschaft alarmiert zeigen, wird nicht selten auf die volkswirtschaftlichen Schäden verwiesen, die durch die gesundheitlichen Folgen von Stress am Arbeitsplatz entstehen. Der Fall Günther Demin macht aber deutlich, wie hoch die Kosten für den einzelnen Beschäftigten sind, über die auch in der aktuellen Debatte zu selten geredet wird.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153640
Peter Nowak

FAU gründet Mediensektion

MedienarbeiterInnen schließen sich zusammen

„Zu viel Stress, zu viel Arbeit, zu wenig Honorar, das sind meine Probleme.“ So begründete ein freier Radiojournalist am Samstag, warum er sich in der neuen Mediensektion der Berliner Freien ArbeiterInnen Union (FAU) engagiert. Rund 25 Personen waren im Büro der Basisgewerkschaft in Mitte zur Gründung versammelt: JournalistInnen, FotografInnen, Beschäftigte beim Fernsehen.

Gesprochen wurde über die Probleme, die Gewerkschaftsarbeit in der Branche erschweren. „Ich kenne meine KollegInnen nicht und weiß nicht, was sie verdienen. Wie sollen wir da gemeinsame Forderungen aufstellen?“, fragte eine freie Journalistin. Ein Verlagsmitarbeiter schilderte, wie schnell Interessenkonflikte unter Beschäftigten entstehen: „Wenn ich für ein Projekt ÜbersetzerInnen engagiere, sollen die möglichst kostengünstig sein. Damit drücke ich aber deren Lohn.“

Auch die Frage, wie ein solidarischer Umgang zwischen freien und festangestellten JournalistInnen möglich ist, wird das neue Syndikat beschäftigen. Eine Arbeitsgruppe soll Grundlagen für die weitere Strategie ausarbeiten. Andere wollen ein Register der Honorarsätze und Löhne erstellen – um das Tabu zu brechen, dass man in der Medienbranche über Honorare und Löhne nicht redet. Auch ein Internetforum, in dem sich die Beschäftigten über Probleme austauschen können, ist angedacht.

Ein Diskussionszirkel soll die Sektion aber nicht werden, betont der Berliner FAU-Sekretär Andreas Förster. „Das Ziel ist ein gewerkschaftlicher Anlaufpunkt für Verlags- und MedienarbeiterInnen, die sich selber vertreten wollen.“ Die FAU lege auf basisdemokratische Entscheidungsprozesse Wert.
Nächstes Treffen: 31. Januar, 19 Uhr im FAU-Lokal, Lottumstr. 11

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ba&dig=2013%2F01%2F28%2Fa0143&cHash=0c046c3e418b76680a14e328c185635c
Peter Nowak

Die Lohnarbeit macht krank

Auch die die Unternehmen müssen sich fragen, warum sie angesichts der eigentlich erfreulichen Tatsache, dass der Gesellschaft die Lohnarbeit ausgeht, nicht eine Kampagne für radikale Arbeitszeitverkürzung machen

Stress auf der Arbeit bis Burnout, das Thema ist schon seit Jahren bekannt und wird eifrig diskutiert. Jetzt hat der Deutsche Gewerkschaftsbund die aktuellen Ergebnisse der Auswertung „Psychostress am Arbeitsplatz“ vorgestellt. Sie sind Teil des DGB-Index Gute Arbeit, mit dem seit 2007 die Qualität der Arbeitsbedingungen gemessen wird. Dort wird noch einmal bestätigt, dass die Arbeitsverhältnisse immer mehr Menschen krank machen.

Tatsächlich sind die Zahlen, die der DGB am Freitag in Berlin auf einer Pressekonferenz vorstellte, eindeutig. „Alle Untersuchungen belegen, dass die Zahl der psychischen Erkrankungen in den letzten zehn Jahren geradezu explodiert ist. Psychische Erkrankungen sind mit 40 Prozent inzwischen ein Hauptgrund für Erwerbsminderung – also für das krankheitsbedingte, frühzeitige Ausscheiden aus dem Erwerbsleben“, erklärt die stellvertretende DGB-Vorsitzende Annelie Buntenbach.

56 Prozent der knapp 5.000 bundesweit befragten abhängig Beschäftigten haben angegeben, sie seien starker oder sehr starker Arbeitshetze ausgesetzt. Dies sei im Vergleich zum Vorjahr ein Anstieg von vier Prozentpunkten. Gleichzeitig hätten 80 Prozent der Beschäftigten angegeben, dass sie seit Jahren „immer mehr in der gleichen Zeit leisten müssen“, untermauerte Buntenbach ihren Befund mit Zahlen.

„Sanierung der Mitarbeiter“

Man braucht nur einige der bekannten aktuellen Filme über die modernen Arbeitsverhältnisse ansehen, um zu wissen, dass man da nur krank werden kann. Dazu gehört der Film Die Ausbildung von Dirk Lütter über einen Jugendlichen im Callcenter und Work Hard Play Hard. Dort heißt es sehr prägnant: „In unserer modernen Arbeitswelt bedeutet die Sanierung eines Unternehmens, die Sanierung der Mitarbeiter.“ Wie diese Sanierung der Mitarbeiter aus Sicht des Managements bewerkstelligt wird, zeigt der Filmemacher Harun Farocki eindrucksvoll im Video Ein neues Produkt. In diesen Filmen wird deutlich, dass das kapitalistische Wirtschaften der Profitmaximierung dient und nicht den Bedürfnissen der Menschen.

Daher greift die Reaktion des DGB-Vorstands auf die Studie über die krankmachenden Arbeitsverhältnisse auch zu kurz, wenn genau letzteres eingefordert wird. So moniert Buntenbach mit Recht, dass es in den Betrieben kaum Präventionsmaßnahmen gegen die krankmachenden Arbeitsverhältnisse gibt und bezeichnete die Ergebnisse der Studie als „Alarmsignal der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“. Allerdings müssen sich auch die DGB-Gewerkschaften fragen, ob sie mit ihrer oft sozialfriedlichen Politik der Anpassung mit zu den Befunden beigetragen haben.

Schießlich haben die Unternehmer in der Regel wenig Interesse, Geld und Ressourcen für Präventionsmaßnahmen auszugeben, solange es genügend Arbeitskräfte gibt, welche die wegen Krankheit ausscheidenden Kräfte ersetzen können. Historisch sorgten immer zwei Faktoren für Verbesserung der Arbeitsverhältnisse. Der Mangel an Arbeitskräften und der Druck einer Selbstorganisation der Gewerkschaften und Lohnabhängigen, die sich für ihre Rechte organisieren.

Es gibt genügend Berichte von Arbeitskräften, die sich jahrelang für ihr Unternehmen krumm gelegt haben und alle Anforderungen und Verzichtsleistungen geschluckt haben, in der Hoffnung, bloß nicht arbeitslos zu werden. Sie berichteten oft über viele Krankheiten, die sie mit Medikamenten überdeckten, weil man sich auch Krankheitstage nicht leisten wollte. An irgendeinem Punkt war für diese Arbeitskräfte dann Schluss mit dem ewigen Verzichtüben. Sie organisierten sich für ihre Rechte und viele ihrer Leiden waren verschwunden. Es sind aber in den letzten Jahren in der Regel nicht die DGB-Gewerkschaften gewesen, die solche Selbstorganisationsprozesse gefördert und angestoßen haben. Die wenigen Ausnahmen bestätigen die Regel.

Warum nicht radikale Arbeitsverkürzung propagieren?

Zudem müssen sich die DGB-Gewerkschaften mehrheitlich fragen lassen, warum sie angesichts der Befunde nicht die Forderung nach einer radikalen Verkürzung der Lohnarbeit stärker propagieren. Das wäre nämlich eine vernünftige Forderung gegen die krankmachende Arbeitszeitverdichtung. Zudem wäre es beim gegenwärtigen Stand der Produktivkräfte eine vernünftige Forderung.

Es ist die Spezifik der kapitalistischen Verwertung, dass die eigentlich erfreuliche Entwicklung, dass der Gesellschaft die Lohnarbeit ausgeht, zu einem Fluch für die Beschäftigten wird und sie mit Stress und Burnout und immer längeren Arbeitszeiten konfrontiert werden. Hier könnte eine Bewegung, die sich auf der Höhe der Zeit mit dem Kapitalismus auseinandersetzt, ansetzen. Es war schließlich auch kein Zufall, dass sich Karl Marx im ersten Band des „Kapital“ intensiv mit dem damaligen Kampf um die Arbeitszeitverkürzung befasst hat.
Peter Nowak

Bafögantragstau – oder wie die Krise in Deutschland ankommt

Mit der Agenda 2020 soll der Sozialstaat auf allen Gebieten weiter abgebaut werden

Ende Dezember 2012 hat die Berliner GEW-Vorsitzende Sigrid Baumgardt in einer Pressemitteilung Alarm geschlagen. Weil die Bafög-Anträge von Tausenden Schülern und Studierenden trotz rechtzeitiger Abgabe noch nicht bearbeitet worden sind, sei die Situation der Betroffenen dramatisch. Viele wissen nicht, wie sie die nächste Miete bezahlen sollen. Zudem haben sich viele Betroffene verschuldet. Denn von den Abschlagszahlungen, die nur 80 Prozent des Bafög betragen, kann kaum jemand über die Runden kommen. Die Berliner GEW forderte, dass zumindest diese Abschläge unbürokratisch weiter gewährt werden muss, ohne dass die Betroffenen weitere Anträge steellen müssen.

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»Ihr Arbeitslosengeld fällt komplett weg«


Weil er zum dritten PC-Grundkurs nicht mehr ging, erhält ein Koch aus Forst drei Monate kein Geld

Bert Neumann ist empört. Der gelernte Koch aus Forst, dessen Name hier auf seinen Wunsch hin geändert wurde, ist seit mehreren Jahren erwerbslos und hat Hartz IV bezogen. Gerade hat ihm sein Jobcenter mitgeteilt, dass er von 1. Januar bis 31. März keinerlei finanzielle Unterstützung bekommen wird. »Die Minderung erfolgt für die Dauer von drei Monaten und beträgt 100 Prozent des Arbeitslosengeld II«, heißt es in dem Schreiben einer Sachbearbeiterin. Als wäre diese Mitteilung nicht schon aussagekräftig genug, wurde im nächsten Absatz des Schreibens noch einmal wiederholt: »Ihr Arbeitslosengeld II fällt in diesem Zeitraum komplett weg.«

Als Grund wird angeben, Neumann sei einem PC-Grundkurs des Bildungswerks Futura GmbH unentschuldigt ferngeblieben. Neumann bestreitet diesen Vorwurf nicht. »Ich wurde zum dritten Mal in den gleichen Computerkurs geschickt, der aber immer von unterschiedlichen Trägern veranstaltet wurde«, erklärt er. Dort seien den Kursteilnehmern die Grundlagen der Internetnutzung beigebracht worden. Dadurch sollten sie in die Lage versetzt werden, im Netz nach Stellenangeboten zu suchen und sich übers Internet zu bewerben. »Wir lernten in dem Kurs, wie man einen Computer anschaltet und die Maus bedient. Da ich aber schon lange mit dem Computer arbeite, war das für mich überhaupt nichts Neues«, begründete Neumann sein Verhalten. Das habe er auch seiner Sachbearbeiterin beim Jobcenter mitgeteilt. Die aber habe ihn mit der Begründung, dass auf einer der Bewerbungen, die er zu dem Termin mitbringen musste, ein Fleck gewesen sei, aufgefordert, den Kurs erneut zu besuchen.

»Mit einer teilweisen Streichung des ALG II habe ich gerechnet, nachdem ich den Kurs verlassen habe, nicht aber mit einer Totalstreichung« erzählt Neumann. Um dringend notwendige Lebensmittel zu kaufen, wurde ihm vom Amt ein Gutschein im Wert von 176 Euro ausgehändigt. Den darf er nur für bestimmte Waren eintauschen. Zudem muss er den Betrag bei einem einzigen Einkauf ausgeben. Ist der Wert des Einkaufs geringer, verfällt der Rest, weil kein Wechselgeld ausgegeben werden darf. Neumanns größte Sorge ist momentan, seine Wohnung zu verlieren, weil er seine Miete nicht bezahlen kann. »Ich habe es dem Vermieter noch gar nicht gesagt, weil ich befürchte, dass er mir sofort die Kündigung schicken wird«, sagt Neumann. Mit Hilfe der Linkspartei hat er einen Anwalt gefunden, der Klage gegen den Totalentzug von Hartz IV eingereicht hat.

Die Erfolgsaussichten sind nicht schlecht. Eine 100-prozentige Sanktion sei zwar generell rechtmäßig, im Detail aber an sehr vielen Punkten angreifbar, erklärt Harald Thome. »Erfolge gibt es regelmäßig. Ich würde behaupten, dass in der juristischen Prüfung zirka 75 Prozent der Sanktionsbescheide kassiert werden«, betont der beim Verein Tacheles arbeitende Referent für Arbeitslosen- und Sozialrecht.

Doch bis zu einer juristischen Entscheidung kann es einige Wochen dauern. Zurzeit wird Neumann von Freunden unterstützt. Sie planen für Anfang Februar eine Veranstaltung zum Widerstand gegen Zwangsmaßnahmen unter dem Hartz-IV-Regime. Dort soll etwa der Berliner Aktivist und Befürworter eines bedingungslosen Grundeinkommens Ralph Boes reden, der vor einigen Wochen mit einem Hungerstreik gegen die Sanktionen der Jobcenter bundesweit für Aufsehen sorgte. Auf der Veranstaltung soll auch die Initiative vorgestellt werden, die zum Ziel hat, dass sich Erwerbslose bei ihren Terminen beim Jobcenter von Personen ihrer Wahl begleiten und unterstützen lassen können. Die Gruppe hat mittlerweile erfahren, dass in Forst aktuell fünf Erwerbslosen die Bezüge komplett gestrichen wurden.

Silvia Friese vom Jobcenter Spree-Neiße verwies darauf, dass Neumann in der Vergangenheit bereits zwei Maßnahmen abgebrochen habe und nun unentschuldigt bei dem PC-Kurs fehlte. Da der Erwerbslose bisher nicht seine Bereitschaft erklärt habe, »die Pflichten nachträglich erfüllen zu wollen«, sei »eine nachträgliche Begrenzung der Sanktion auf 60 Prozent des Regelbedarfes nicht möglich.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/809300.ihr-arbeitslosengeld-faellt-komplett-weg.html

Peter Nowak

Keine Erfolge ohne Basisbewegungen

Peter Nowak über „Politische Streiks im Europa der Krise“

Am 14. November streikten Gewerkschaften in mehreren europäischen Ländern erstmals koordiniert gegen die europäische Krisenpolitik. Viele fragten sich nachher: War das der Beginn eines neuen Protestzyklus?
Gerade rechtzeitig kommt da ein Buch auf den Markt, in dem sich knapp 20 Autorinnen und Autoren aus verschiedenen europäischen Ländern mit der aktuellen Bedeutung der politischen Streiks im Europa der Krise befassen. Einige AutorInnen gehen dabei auch auf die Debatten über Massenstreiks in der Arbeiterbewegung vor 100 Jahren ein und heben dabei die Positionen von Rosa Luxemburg positiv hervor. Bezug genommen wird auf Rosa Luxemburg Schrift „Massenstreik, Partei und Gewerkschaft, wo sie aus den Erfahrungen der gescheiterten Russischen Revolution von 1905 das Konzept des Massenstreiks als offensive Waffe einer erstarkenden Arbeiterbewegung bezeichnete. Auch 1913 schrieb sie in einem Artikel dass sich die Massen mit der Anwendung der neuen Kampfform vertraut machen müssen.
Der Schwerpunkt des Buchs liegt aber auf der Untersuchung der aktuellen Arbeitskämpfe.
Der Historiker Florian Wilde, der als Referent für Gewerkschaftspolitik bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung arbeitet und im Mai 2012 einen Kongress zum Thema politische Streiks in Europa vorbereitet hat, skizziert in der Einleitung den politischen Kontext, der sich fundamental von den Zeiten, als Rosa Luxemburg wirkte, unterscheidet. Während die Anzahl ökonomischer Streiks in den letzten Jahren zurückgegangen sei, hätten politische Generalstreiks zugenommen, denen er aber – anders als den Generalstreiks zu Beginn der Volksfrontregierung 1936 in Frankreich oder den 1968er-Streiks kein revolutionäres Potenzial attestiert.
„Im Gegenteil: Die zunehmende Zahl von politischen Streiks und Generalstreiks ist zunächst Ausdruck der hochgradig defensiven Stellung, in der sich die Gewerkschaften nach drei von Niederlagen geprägten Dekaden heute befinden (…) Die Gewerkschaften und die gesellschaftliche Linke kämpfen in dieser Situation mit dem Rücken an der Wand. Aus dieser Konstellation ergibt sich sowohl die massive Zunahme politischer Streiks als auch ihr vorrangig defensiver Charakter“ (S. 12).
In einer längeren, vergleichenden Studie (S. 24-106) werten die Sozialwissenschaftler Jörg Nowak und Alexander Gallas die aktuelle Streikgeschichte von Großbritannien und Frankreich aus und zeigen die Grenzen der auf den ersten Blick im Vergleich zur Situation in Deutschland beeindruckenden Auseinandersetzungen auf. In beiden Ländern konnten mit den Arbeitskämpfen keine grundlegenden Änderungen der Politik erreicht werden. „So gelingt es der Arbeiterbewegung nicht, konstruktive Gestaltungsmacht zu erlangen. Im Kontext der Krise, in der fast keine Regierung in Europa Zugeständnisse machte, hat sich dieses Protestmuster weitgehend erschöpft“ (S. 64), so Jörg Nowaks ernüchterndes Fazit zu den Streiks in Frankreich. Wenn er im Anschluss darauf verweist, dass der Wahlsieg der Sozialisten ein Effekt der Arbeitskämpfe war, ist damit angesichts der Politik der europäischen Sozialdemokratie keinesfalls gesagt, dass in diesem Wahlsieg auch ein politischer Erfolg der Streikenden lag. Alexander Gallas zeigt in seinem Großbritannien-Schwerpunkt, wie sich Gewerkschaften, Studierende und soziale Bewegungen in ihren Kämpfen in den Jahren 2010 und 2011 aufeinander bezogen haben. Überzeugend argumentiert er, dass es nur so möglich ist, einen gesellschaftlichen Einfluss zu erreichen – die Gewerkschaften alleine seien dazu nicht mehr in der Lage, da sie durch die drastische Deindustralisierung in Großbritannien massiv geschwächt worden seien.
Auch in Griechenland und Spanien, wo in den letzten Jahren die meisten Generalstreiks stattgefunden haben, die aber oft nur Aktionstage waren, ist es nicht gelungen, wenigstens Teile des Krisenprogramms zu verhindern. Olga Karyoti, die die griechische Basisgewerkschaft der Übersetzer vertritt, spricht sogar von ritualisierten Generalstreiks, die ohne politische Erfolge zu Enttäuschung und zum Rückzug der Aktivisten führen (S. 168).
Ähnlich selbstkritische Äußerungen finden sich vor allem in den zehn Länderbeiträgen, in denen linke BasisgewerkschafterInnen zu Wort kommen, wobei die Begründungen durchaus unterschiedlich ausfallen: So analysiert Christine Lafont vom Gewerkschaftsdachverband Solidaires, (den ehemaligen SUD-Gewerkschaften, Anm. d. Red.) wie in Frankreich die zögerliche Haltung der mitgliederstärkeren CGT-Gewerkschaft die letzten großen Streiks gegen die Sozialpolitik von Sarkozy in eine Niederlage führte (S. 145ff.). Deolinda Martin, die dem oppositionellen Flügel der portugiesischen Gewerkschaft CGTP angehört, beschreibt dagegen, dass der dritte Generalstreik seit 2010 im Januar 2012 von der Masse der Bevölkerung ignoriert wurde (S. 150ff.). Bisher wenig bekannte Informationen über das Streikgeschehen in Rumänien und im ehemaligen Jugoslawien liefert Boris Kanzleiter in seinem knappen, aber informativen Aufsatz (S. 114).
So beteiligten sich am 18. April 2012 an der größten Demonstration seit der slowenischen Unabhängigkeit fast 1000000 Menschen an einer Großdemonstration in der slowenischen Hauptstadt Ljubljana gegen die Kürzungspolitik im öffentlichen Sektor. „In einem Land nur zwei Millionen EinwohnerInnen zählenden Land war dies eine Demonstration der Stärke der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes und des Gewerkschaftsdachverbandes ZSSS“, schreibt Kanzleiter (S.115). In Kroatien wiederum bildete sich in Universitätsprotesten zwischen 2008 und 2010 eine neue Linke heraus, die sich im Zuge der Finanzkrise auch mit streikenden Arbeitern und protestierenden Landwirten solidarisierte. „So hielten bereits im Dezember 2009 protestierende Milchbauern an der Philosophischen Fakultät von Zagreb ein Plenum ab“, so Kanzleiter (S.119). Auch in verschiedene lokale Arbeitskämpfe habe die studentisch geprägte Linke in den letzten beiden Jahren interveniert. Als Treffpunkt der neuen kroatischen Linken habe sich das jährlich im Mai in Zagreb stattfindende Subversive Festival“ etabliert, in dem neben kulturellen Darbietungen auch politische Debatten eine wichtige Rolle spielen. In Serbien, wo sich durch die Dominanz des Nationalismus eine landesweite neue Linke bisher nicht herausgebildet hat, listet Kanzleiter in den letzten Jahren lokale Streiks auf, unter Anderem im Textilkombinat Raska. Der bekannte Aktivist dieses Streiks Zoran Bulatovic wurde anschließend mehrmals tätlich angegriffen und lebt daher mittlerweile im Ausland. Auch in Rumänien, wo sich bisher keine neue emanzipatorische Linke formieren konnte, haben im Januar 2012 massive soziale Proteste zum Rücktritt der dem Präsidenten nahestehenden neoliberalen Regierungskoalition geführt. Seitdem liefern sich der Präsident und die neue sozialliberale Regierung einen erbitterten Machtkampf. Eine eigenständige parteiabhängige soziale Bewegung hat sich aber bisher in dem Land nicht herausbilden können.
Mehrere Beiträge beschäftigen sich mit Streiks in Deutschland. So erinnert Heidi Scharf, erste Bevollmächtigte der IG-Metall Schwäbisch Hall, an vergessene Arbeitskämpfe der letzten Jahrzehnte, die den Charakter politischer Streiks angenommen hatten. Dazu zählten Arbeitsniederlegungen gegen den heute weitgehend vergessenen „Franke-Erlass“, benannt nach dem ehemaligen Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit: Dieser verfügte Mitte der 80er-Jahre, dass Lohnabhängige, die während eines Streiks von den Unternehmen ausgesperrt wurden, keine Unterstützung vom Arbeitsamt mehr bekommen sollten (S. 212). Auch der Frauenstreiktag vom 8. März 1994, der für Scharf und eine weitere Gewerkschafterin einen Strafbefehl wegen Rädelsführerschaft zur Folge hatte, weil die Aktivistinnen eine nicht für den Fußgängerübergang vorgesehene Straßenkreuzung überquerten, wird noch einmal in Erinnerung gerufen (S. 214). Der ehemalige IG Medien-Vorsitzende Detlef Hensche ruft ein Problem in Erinnerung, das sich für jede Geschichtsschreibung über politische Streiks stellt, wenn er schreibt, dass diese in der BRD nie so benannt wurden, weil die offiziell verboten sind. Hensche fordert dazu auf, sich das Recht auf politische Streiks zu erkämpfen. „Die Gewerkschaften sind unter ihren Möglichkeiten geblieben (S. 220)“, skizziert er sehr vorsichtig die Rolle der DGB-Gewerkschaften, die vom politischen Streik in der Mehrheit bis heute nichts wissen wollen und auf die Gesetzeslage verweisen. Dagegen richtet auch sich der „Wiesbadener Appell“ für ein Recht auf politischen Streik, den der Initiator und hessische IG Bauen Agrar Umwelt-Sekretär Veit Wilhelmy im Buch vorstellt und begründet (S. 227).
Leider fehlt aus Deutschland ein Beitrag von einer Basisgewerkschaft außerhalb des DGB. Schließlich waren in den letzten Jahren die GDL, die UFOs in den letzten Jahren oft viel streikfreudiger gewesen, als die DGB-Gewerkschaften. Die anarchosyndikalistische FAU befürwortet seit Langem politische Streiks. Dafür wäre der Schlusstext (S. 232ff.), eine Eröffnungsrede des Linken-Politikers Klaus Ernst auf der schon erwähnten Konferenz der Rosa-Luxemburg-Konferenz im Mai 2012, entbehrlich gewesen, weil er keine neuen Argumente liefert.
Das Buch liefert insgesamt einen guten Überblick über das politische Streikgeschehen im gegenwärtigen Europa. Das politische Fazit lautet, dass Streiks auch heute noch eine wichtige politische Kampfform im Europa der Krise sind. Die Länderbeispiele zeigen aber auch, dass dafür eine Basisorientierung der Gewerkschaften und eine Kooperation mit sozialen Bewegungen Voraussetzungen für einen erfolgreichen Ablauf sind. In Deutschland aber muss das Thema ohnehin erst einmal auf die Tagesordnung von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen gesetzt werden.
Denn die Veränderungen der Arbeitsverhältnisse in vielen europäischen Ländern haben gerade kampferfahrene Gewerkschaften geschwächt. Isolierte Arbeitsverhältnisse im Dienstleistungssektor, die in vielen Ländern boomen, sind auch nicht die besten Voraussetzungen für solidarische Kämpfe. In Deutschland, wo sich die DGB-Gewerkschaften sich als Sozialpartner begreifen und politische Streiks keine Tradition haben, war es schon ein relativer Erfolg, dass auf Initiative von außerparlamentarischen Linken auch die DGB-Gewerkschaften in Berlin am 14. November zu einer Kundgebung mit anschließender Demonstration aufriefen. Die Krisenproteste des Jahres 2012 vom antikapitalistischen Aktionstag am 31. März über die Blockuppy-Aktionstage Mitte Mai bis zum 14. November machen noch einmal deutlich, dass die Konzentration auf mit großen Aufwand organisierte Aktionstage verpuffen, wenn es an Widerstand im Alltag fehlt. Dass er möglich ist, zeigt der MieterInnenwiderstand in verschiedenen Städten. So hat sich n Berlin in den letzten Wochen ein Bündnis gegen Zwangsräumungen von Mietern, die ihre Miete nicht zahlen konnte, gebildet. Mit der Parole „Mieten runter – Löhne hoch“ wurde der Zusammenhang zwischen der MieterInnenbewegung und Arbeitskämpfen zumindest beim Motto hergestellt. Hier bieten sich Ansätze für Proteste, die da ansetzen, wo bei den Leuten die Krise ankommt.

Peter Nowak
Alexander Gallas / Jörg Nowak / Florian Wilde (Hrsg.): „Politische Streiks im Europa der Krise.“ VSA-Verlag, Hamburg 2012, 240 Seiten, 14,80 Euro, ISBN 978-3-89965-532-2

Das Buch erscheint unter einer gemeinfreien Creative Commons License und steht auf der Homepage der Rosa Luxemburg-Stiftung zum Download zur Verfügung: http://www.rosalux.de/publication/38866/politische-streiks-im-europa-der-krise-2.html

Veranstaltungshinweis zum Buch:
Die HerausgeberInnen haben Interesse an Diskussionsveranstaltungen zu dem Buch: In Berlin wird sie am 6.Februar 2013 im Stadtteilladen Zielona Gora in der Grünbergstr. 73 stattfinden. Kontakte vermittelt der VSA-Verlag: maren.schlierkamp@vsa-verlag.de oder gerd.siebecke@vsa-verlag.de

aus Express 12/2012
http://www.express-afp.info/newsletter.html

„Ihr Arbeitslosengeld fällt komplett weg“

Während Bild gegen selbstbewusste Erwerbslose hetzt, gehört ein Totalentzug von Hartz IV-Leistungen zur scharfen Waffe der Jobcenter

„Die Minderung erfolgt für die Dauer von drei Monaten und beträgt 100 % des Arbeitslosengeld II“, teilte die Sachbearbeiterin des Forster Jobcenters dem erwerbslosen Bert N. mit. Als wäre diese Mitteilung nicht schon aussagekräftig genug, wurde, wird im nächsten Absatz des Schreibens noch einmal wiederholt: „Ihr Arbeitslosengeld II fällt in diesem Zeitraum komplett weg.“

Als Grund für den Komplettentzug von Hartz IV wurde vom Jobcenter in dem Schreiben angegeben, N. sei einem PC-Grundkurs des Bildungswerks Futura GmbH unentschuldigt ferngeblieben. „Ich wurde zum dritten Mal in den gleichen Computerkurs geschickt, der aber immer von unterschiedlichen Trägern veranstaltet wurde“, erklärte der Erwerbslose gegenüber Telepolis. Dort seien den Kursteilnehmern die Grundlagen der Internetnutzung beigebracht worden, damit sie das es bei den Bewerbungen nutzen können. Da N. seit Jahren mit Computern umgehen kann, langweilte er sich in dem Kurs schon beim ersten Mal. Dass ihn die Sachbearbeiter im Jobcenter gleich dreimal zum Kursbesuch aufforderten, interpretiert N. genauso als Schikane wie der Totalentzug des ALGII.

Für den Kauf der dringend benötigten Lebensmittel wurde ihm vom Amt ein Gutschein im Wert von176 Euro ausgehändigt. Das Landessozialgericht NRW hatte 2009 entschieden, dass das Jobcenter zeitgleich mit dem vollständigen Wegfall von Hartz IV-Leistungen auch darüber entscheiden muss, ob dem Hartz IV-Bezieher Sachleistungen oder geldwerte Leistungen wie Lebensmittelgutscheine zur Verfügung gestellt werden. Diese Verpflichtung ergibt sich für das Gericht aus dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes. Genussmittel dürfen damit mit dem Gutschein nicht erworben werden. Zudem muss der gesamte Betrag bei einem Einkauf ausgeben werden, sonst verfällt der Restbeitrag, weil kein Wechselgeld ausgezahlt werden darf. Nach dem Ende der Sperre werden die Gutscheine allerdings mit 10 % von seinen Hartz IV-Leistungen abgezogen


Gefahr der Obdachlosigkeit droht

Seit der Streichung des ALG II kann N. auch die Miete nicht bezahlen. „Ich habe es dem Vermieter noch gar nicht gesagt, weil ich befürchte, dass er mir sofort die Kündigung schicken wird“, meint N. Mittlerweile hat er einen Anwalt eingeschaltet, der Klage gegen den Totalentzug von Hartz IV eingereicht.

Seine Erfolgsaussichten sind nicht schlecht. Eine 100 % Sanktion sei generell rechtmäßig, im Detail aber an sehr vielen Punkten angreifbar, erklärt der Referent für Arbeitslosen- und Sozialrecht beim Verein Tacheles Harald Thome gegenüber Telepolis. „Erfolge gibt es regelmäßig. Ich würde behaupten, dass in der juristischen Prüfung ca. 75 % der Sanktionsbescheide kassiert werden.“ Thome vertritt auch die These, dass eine Sanktion, die einen Wohnungsverlust zur Folge hat, verfassungswidrig ist. Das ist für ihn zumindest die Konsequenz aus den BVerfG- Urteilen zur Höhe von Hartz IV und zum Asylbewerberleistungsgesetz vom Februar 2009 und Juli 2012. Allerdings ist ein Weg durch die juristischen Instanzen zeitaufwendig. Ein Mensch, dem sämtliche Leistungen gestrichen wurden und der befürchten muss, die Wohnung zu verlieren, hat aber diese Zeit oft nicht.

Widerstand gegen Hartz IV-Regime

In Forst hat sich mittlerweile eine Gruppe gebildet, die für Anfang Februar eine Veranstaltung zum Thema „Zwang und Widerstand unter Hartz IV“ plant Eingeladen ist mit Ralph Boes auch ein Erwerbslosenaktivist, der in den letzten Wochen mit einen Hungerstreik gegen Sanktionen der Jobcenter zur Zielscheibe populistischer Boulevardmedien und deren Leser wurde. Dabei ist ein kritisches Hinterfragen der von Boes gewählten Hungerstreikaktion sicherlich berechtigt. Doch Bild hat in ihm nur einen neuen Angriffspunkt für ihre sozialchauvinistische Hetze gegen Erwerbslose gefunden, die eigene Interessen vertreten und die offen sagen, dass sie das Hartz IV-Regime ablehnen.

Wie schon bei ähnlichen Kampagnen gegen „freche Arbeitslose“ wird Bild dabei von einen Teil der Leserschaft unterstützt und überboten. Der Soziologe Berthold Vogel vertritt die These, dass eine von Absturzängsten geplagte Mittelschicht mit den Ressentiments gegen die zu Überflüssigen erklärten „Unterklassen“ reagiert. Dazu gesellen sich noch Menschen im Niedriglohnbereich, die gerade, weil sie sich ausbeuten lassen, alle Kritiker an dem System besonders stark angreifen. Dass nicht ein Totalentzug von Hartz und eine damit zumindest billigende Inkaufnahme von Obdachlosigkeit für Schlagzeilen sorgt, sondern ein Erwerbsloser, der gegen das Sanktionsregime kämpft, ist das eigentliche Problem. Die Zahl der Totalsanktionierten wächst. Allein in Forst sind 5 Fälle bekannt.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/153474
Peter Nowak

Argument gegen Dogma

In Ansprachen und Interviews stimmten verschiedene Spitzenpolitiker in der Jahreswende die Bevölkerung erneut auf schwere Zeiten ein. Damit sollen Lohnabhängige und Erwerbslose auf weitere Opfer für den Standort eingeschworen werden. Je mehr die Rechte der abhängig Beschäftigten beschnitten werden, desto besser geht das Land aus der Krise hervor, lautet die Propaganda, die in allen europäischen Ländern verbreitet und von vielen Menschen geglaubt wird.

So hat sich im März 2012 in der Schweiz in einer Volksabstimmung eine Mehrheit gegen eine Ausweitung der Ferien ausgesprochen. Mehr Urlaub würde dem Wirtschaftsstandort Schweiz schaden, so lautete die Begründung. Ein vom Schweizer Gewerkschaftsbund (SGB) in Auftrag gegebenes Dossier mit dem Titel »Der liberale Wirtschaftsmarkt der Schweiz – Entzauberung eines Mythos« liefert einmal mehr den Beweis, dass schon diese Grundannahme falsch ist. Weniger Rechte für Lohnabhängige führen nicht zu einer Senkung der Arbeitslosigkeit. Damit kann man gegen die wirtschaftsliberalen Dogmen argumentieren, die in vielen Medien verbreitet werden. Damit es allerdings wirklich zu dem »Umdenken in der Arbeitsmarktpolitik« kommt, das die Autoren des Dossiers anmahnen, ist die Selbstorganisation der Lohnabhängigen und Erwerbslosen nötig. Schließlich ist die Verzichtspolitik keine Folge falscher Zahlen und Untersuchungen, sondern eine Politik im Interesse der Wirtschaft.

Nur kollektiver Widerstand von unten kann hier zu Veränderungen führen. In der Schweiz haben das die Beschäftigten des Bahnausbesserungswerkes von Bellinzona vorgemacht, die mit ihrem Streik 2008 die Schließung verhindert haben. Der erfolgreiche Kampf fand europaweit Beachtung. Tatsächlich gilt es auch 2013 gehen die Verzichts- und Standortlogik in den Köpfen vieler Lohnabhängiger zu kämpfen. Für Diskussionen mit diesen Menschen können Ergebnisse von Studien wie die des SGB nützlich sein.

Projekte wie das Internetportal »Nachdenkseiten« leisten hier gute Vorarbeit, sind aber gerade bei vielen Betroffenen noch zu wenig bekannt. Daher sollten auch der DGB und linke Projekte solche Studien als Argumentationshilfen herausgeben und massenhaft verbreiten.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/808883.argument-gegen-dogma.html
Peter Nowak

Kein liberaler Arbeitsmarkt


Neues Dossier vom Schweizer Gewerkschaftsbund entkräftet Mythos von wirksamen Arbeitnehmerrechten

Steuerparadies, Heimat der Millionäre, aber was ist mit guter Arbeit? Laut eines neuen Dossiers des Schweizer Gewerkschaftsbundes SGB gehört das Land was Rechte von Beschäftigten angeht zum europäischen Schlusslicht.

Die Schweiz gilt hierzulande als Paradies für Millionäre. Doch wie sieht es mit der Situation der abhängig Beschäftigten aus? Darauf hat kürzlich ein Dossier des Schweizer Gewerkschaftsbund SGB mit dem Titel »Der »liberale« Arbeitsmarkt der Schweiz – Entzauberung eines Mythos« eine klare Antwort gegeben: Das Land gehört bei den Rechten der Beschäftigten zum europäischen Schlusslicht. So verweisen die Autoren des Dossiers, Daniel Lampart und Daniel Kopp auf OECD-Studien, die belegen, dass die Schweiz beim Kündigungsschutz den Rang 31 unter 34 erfassten Ländern inne hat. Nur unwesentlich besser schneidet die Schweiz bei Mindestlöhnen, befristeten Arbeitsverhältnissen und bei der Leiharbeit ab.

Vertreter von Wirtschaftsverbänden und Kommentatoren wirtschaftsnaher Zeitungen preisen den schwachen Arbeitnehmerschutz als Ausdruck »liberalen Arbeitsmarktes«, der dafür sorge, dass die Arbeitslosigkeit in der Schweiz sehr niedrig sei. Da es in der Schweiz leichter sei, den Beschäftigten zu kündigen kämen mehr Investoren in das Land, die wieder neue Stellen schaffen, lautet die nicht nur in der Schweiz bekannte Argumentation, die die Autoren des Dossiers untersuchen und widerlegen

»Der Zusammenhang dürfte gerade umgekehrt sein. Weil die Gefahr der Arbeitslosigkeit vor allem früher relativ gering war, haben die Schweizer Arbeitnehmenden einen schlechteren Schutz akzeptiert«, schreiben die Autoren. Mittlerweile wirke sich aber der schwache Arbeitnehmerschutz negativ aus, beschreiben Lampart und Kopp die veränderte soziale Situation. »Seit den 1990er Jahren ist die Arbeitslosigkeit in der Schweiz stark gestiegen. Atypische Arbeitsverhältnisse wie die Temporärarbeit, die den Arbeitnehmern im Vergleich zu Normalarbeitsverhältnissen ein geringeres Schutzniveau bieten, nehmen zu«. Gleichzeitig werde es zunehmend schwieriger, sozialpartnerschaftliche Regelungen zu erwirken.

Vor allem in den stark gewachsenen Dienstleistungsbranchen, wie den Call-Centern, Kurierdiensten und Kosmetikinstituten kann es auf absehbare Zeit keine Gesamtarbeitsverträge geben, weil die Ansprechpartner auf Seiten der Arbeitgeber fehlen.

In einigen Branchen weigern sich die Arbeitgeber offen, mit den Gewerkschaften Verhandlungen aufzunehmen. So hat der der Verbandspräsident der Schweizer Schuhgeschäfte mehrmals betont, dass er sich aktiv gegen einen Tarifvertrag einsetzen wird. In der Branche sind die Arbeitsbedingungen besonders schlecht und die Löhne niedrig.

Das Dossier kann auf der Homepage der SGB www.sgb.ch heruntergeladen werden.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/808884.kein-liberaler-arbeitsmarkt.html
Peter Nowak

Medizin ohne Kommerz


Europäische Organisationen fordern gemeinsam eine andere Gesundheitsversorgung
Verschiedene europäische Organisationen aus dem Gesundheitsbereich wollen sich künftig gegen die zunehmende Kommerzialisierung des Gesundheitswesens zusammentun.

»Die Organisation des Gesundheitswesens ist eine öffentliche Aufgabe. Als Gesundheitsprofessionelle sind wir damit betraut, die Krankheiten unserer Patienten zu diagnostizieren, zu behandeln und nach
Möglichkeit zu verhüten. Wir sollten diese Aufgabe ohne Ansehen der Person wahrnehmen.“ Diese Erklärung unterzeichneten 19 europäische Organisationen des Gesundheitspersonals, der Krankenschwestern, Ärzte und Studierender der Medizin. Sie ist Teil eines Manifests des eines europäischen Gesundheitsnetzwerkes, das gegen die zunehmende Kommerzialisierung des Gesundheitswesens länderübergreifend aktiv werden will. Im Oktober Am 5. Oktober hat sich diese Kooperation erstmals praktisch bewährt. An diesem Tag beteiligten sich Vertreter der in dem Gesundheitsnetzwerk vertretenen Organisationen aus mehreren europäischen Ländern an einer Demonstration in Warschau, mit der die polnische Gewerkschaft der Krankenschwestern und Hebammen (OZZ PiP) unterstützt werden sollte, die eine wichtige Rolle bei der Entstehung des europäischen Netzwerkes gespielt hat. Vor fünf hatte ein wochenlanger Streik der polnischen Krankenschwestern, die in Warschau Zelte, das sogenannte „Weiße Städtchen“ errichteten, wesentliche Impulse für die polnische Gewerkschaftsbewegung und die europaweite Zusammenarbeit gegeben. Im Anschluss an die Demonstration fand am 5. Oktober in Warschau ein Kongress des europäischen Gesundheitsnetzwerkes statt. Obwohl das Manifest von 7 Organisationen aus Deutschland unterzeichnet wurde, ist das Netzwerk hierzulande bisher noch kaum bekannt. Dazu gehört die Göttinger Basisgruppe Medizin, die Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie, der Verein demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten und der Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VdÄÄ). „Wir merken, dass Ärztinnen und Ärzte in der Öffentlichkeit nach wie vor eine sehr hohe Akzeptanz haben und versuchen diese zu nutzen, um für eine bedarfsgerechte und sinnvolle medizinische Versorgung einzutreten, die nicht wieder nur den „Leistungserbringern“ und der Gesundheitsindustrie noch mehr Geld in die Taschen spült“, beschrieb die Leiterin der VdÄÄ-Geschäftsstelle Nadja Rakowitz die Pläne ihrer Organisation. Die europäische Vernetzung hat auch große Bedeutung, weil die gegenwärtige Krise unterschiedliche Folgen für das Gesundheitssystem der verschiedenen Länder hat. Besonders in der europäischen Peripherie, vor allem in Spanien und Griechenland, gibt es in einigen Städten Notlagen auf medizinischem Gebiet. In Deutschland hingegen ist in vielen Bereichen eine Überversorgung aus ökonomischen Gründen zu beobachten, betont Rakowitz. Als Beispiel führt sie überflüssige individuelle Gesundheitsleistungen im ambulanten Sektor, die vom Patienten selber bezahlt werden müssen, oder die medizinisch nicht erklärbaren Fallzahlensteigerungen bei Operationen in den Krankenhäusern an. Die Verschlechterungen bei den Arbeitsbedingungen des Gesundheitspersonals hingegen sind in allen europäischen Ländern zu beobachten. Dabei könnte das Gesundheitsnetzwerk eine zentrale Rolle bei einem europaweiten Widerstand bekommen.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/808686.medizin-ohne-kommerz.htm
Peter Nowak

Beim Recht alleingelassen?

Bernhard Jirku / ver.di-Bereichsleiter für Arbeitsmarkt- und Erwerbslosenpolitik

nd: Herr Jirku, die Gewerkschaft ver.di hat eine Unterschriftenkampagne gegen einen Gesetzentwurf zur Beratungs- und Prozesskostenhilfe begonnen. Warum?Jirku: Der Gesetzesentwurf des FDP-geführten Justizministeriums würde den Zugang zur Beratungs- und Prozesskostenhilfe für die unteren Einkommensschichten verbarrikadieren. Dabei sind die Fallzahlen seit Jahren relativ stabil, Tendenz sinkend, obwohl die Einkommen in den unteren Schichten schrumpfen, also eigentlich eher mehr als weniger Bedarf für Rechtshilfen besteht.

2.) Sie sehen noch weitere Konsequenzen?
Antwort: Untersuchungen haben gezeigt, dass der überwiegende Teil der Beratungs- und Prozesshilfe nicht im Bereich des Sozial- und Arbeitsrechts sondern beim Familienrecht notwendig wird. Dabei geht es beispielsweise um das Sorgerecht für die Kinder, um die Zahlung von Alimenten und so weiter. Eine Einschränkung des Zugangs zur Beratungs- und Prozesshilfe würde also bedeuten, dass der Rechtsweg für sehr viele Familien praktisch weitgehend verschlossen würde, viele in die Verschuldung gedrückt würden. Wir sehen darin eine abermalige Benachteiligung insbesondere für Frauen und Kinder.

3.) Warum interveniert verdi in diesem Bereich und nicht eine Erwerbsloseninitiative?
Antwort: Die Absenkung des Schwellenwertes für den Zugang zur Beratungs- und Prozesskostenhilfe um nahezu 100 Euro und die Verkomplizierung von Verfahren betrifft vor allem die Erwerbstätigen mit Niedriglöhnen und auch solche, die ihren Lohn durch Arbeitslosengeld II aufstocken müssen. Bei dem in Deutschland boomenden Hungerlohnsektor sind sehr viele Menschen betroffen. Das sind Mini-Jobberinnen ebenso wie Schein-Selbstständige, Leiharbeiter ebenso wie befristet Beschäftigte. Es trifft auch Familien, die auf den Kindergeldzuschlag angewiesen sind, und zahlreiche Kinder, deren Eltern mittlere Einkommen haben.

4.) Müsste bei einem solch großen Kreis der Betroffenen der Protest nicht größer sein?
Antwort: Es haben sich bereits viele Sozial- und Erwerbslosenverbände, aber auch Juristenorganisationen in ihren Stellungnahmen klar gegen die Pläne der schwarz-gelben Bundesregierung ausgesprochen. Auch viele Frauenverbände setzen sich mit dem Thema auseinander, gerade wegen der Barrieren für den Zugang zur Rechtspflege im Bereich des Familien-, Scheidungs-, Sorge- und Unterhaltsrechts.

5.) Aber auch nach der geplanten Regelung kann doch weiterhin Beratungs- und Prozesskostenhilfe beantragt werden.
Antwort: Die Betroffenen müssen dazu zum Rechtspfleger im Gericht gehen, der den Vorgaben der jeweiligen Landesjustizverwaltung unterliegt. Dort werden Barrieren aufgebaut und am Ende wird mit Kennziffern gearbeitet, mit denen die Zahl der Betroffenen gesenkt werden soll.

6.) Sind von verdi neben der Unterschriftensammlung weitere Proteste gegen den Gesetzentwurf geplant?
Antwort: Zunächst konzentrieren wir uns auf die Unterschriftenaktion. Sie soll über den Anhörungstermin im Bundestag, der ursprünglich für Februar 2013 angesetzt war, weiterlaufen. Das Ziel unserer Kampagne ist es, eine öffentliche Debatte anzuregen und deutlich zu machen, dass die Bundesregierung Menschen mit geringen Einkommen auch weiterhin stark benachteiligen will. Die Unterschriftenlisten können übrigens über unter http://erwerbslose.verdi.de/aktuelles_aktionen/beratungs-prozesskostenhilfe ausgedruckt werden.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/808516.beim-recht-alleingelassen.html
Interview: Peter Nowak